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Bayern: Da denken viele an idyllische Seenlandschaften, an prächtige Schlösser vor Bergpanoramen und an pittoreske Barockkirchen inmitten saftiger Wiesen. In seiner Vermessung der bayerischen Naturräume und Geschichtslandschaften eröffnet der Historiker Bernhard Löffler dagegen neue, ungewöhnliche Zugänge zu einem Bayern jenseits der Klischees. Er nimmt uns mit auf eine Reise vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, von Altötting bis nach Aschaffenburg, von Oberammergau bis zum Obersalzberg, vom Walchensee bis nach Wackersdorf. Durch erhellende Beispiele und kurzweilige Geschichten lässt er 200 Jahre bayerische Geschichte lebendig werden und zeigt, dass manche scheinbar alte Traditionen doch erstaunlich jung sind. Wohl gibt es in Bayern tatsächlich Berge, Wiesen, Wälder und Seen, Schlösser, Klöster und Kapellen, aber dieses weithin dominante Bild ist sehr selektiv. Oft genug erweisen sich Räume und Landschaften eher als Projektionsflächen für Maler und Literaten, Historiker, Ethnologen und Naturschützer, Urlauber und Enthusiasten der Wander- und Waldvereine. Und sie werden instrumentalisiert von Ideologen, Politikern und Marketingexperten, vermessen, organisiert und in Dienst gestellt von Bürokraten, Kartographen, Statistikern und Verkehrsplanern. Bernhard Löffler erhellt in dieser erfrischenden Darstellung die Hintergründe «staatsbayerischer» Geschichte, erzählt von Landschaften, Regionen, vom bayerischen Eigensinn in der Welt – von deren Entstehung, Prägung und anhaltender Wirkungsmacht.
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Bernhard Löffler
Das Land der Bayern
Geschichte und Geschichten von 1800 bis heute
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Einleitung: Land, Landschaft, Räume – oder: Die Ungerechtigkeit der Welt beginnt mit der Verteilung der Berge
I «Allen Untertanen ein gemeinsames Vaterland»: Bayern 1800–2000
1. Revolution und Beständigkeit: Territorium und Grenzen seit 1800
2. Vermessung und Vermessenheit: Die kartographisch-statistische Erfindung des Raumes Bayern
3. Von der Postkutsche zum Transrapid: Der Wandel von Mobilität, Kommunikation und Raumroutinen
Technische Grundlagen und Verkehrsmittel
Raumwahrnehmungen und Distanzempfinden
Wirkungen und Folgen der Verkehrsrevolutionen
4. Wie ordnet man den Raum? Eine komplizierte Geschichte der (ökonomischen) Landesplanung
Landesplanung avant la lettre
Landesplanerische Hochkonjunktur (I): die Zeit des Nationalsozialismus
Landesplanerische Hochkonjunktur (II): die 1960er/70er Jahre
Grenzen und Ambivalenzen der Planung
II Regionen, Identitäten und Geschichte
1. Stämme, Gaue, Landesväter: Die Sprache des Regionalismus in Bayern
2. Flüsse, Kreise, Gebietsreformen: Bürokratie, Ideologie und lokale Identifikation
Kreise und Kreisnamen
NS-Gaue als Konkurrenzgliederungen mit eigenen Raumideologien
Neuordnung vor Ort: die Gebietsreformen der 1970er Jahre
Von Montgelas zu Goppel: Reformtechnokratie und ihre Gefahren
3. Wappen, Trachten, Vereine: Wie der Staat Geschichte macht
4. Meistererzählungen: Wie die Landesgeschichtsschreibung Staat macht
5. Vom Pfälzerwald bis in die Sudeten: «Geschichtslandschaften» und das Verständnis der Regionen (jenseits Altbayerns)
Die Pfalz
Franken
Bayerisch-Schwaben
Sudetendeutsche – der «vierte Stamm» nach 1945
«Altbayern» – eine Randnotiz
6. Heilige Orte, seltsame Orte, monströse Orte: Von Altötting über den Obersalzberg zum virtuellen Bayern
«Heilige Orte»
«Kunstorte» und «Kunstlandschaften»
Monströse Orte und schuldige Bauten – die NS-Hinterlassenschaften
«Orte der Demokratie» und modernes virtuelles Bayern
III Hohe Berge, Touristenträume und Wasserwerfer: Natur, Landschaft und Umwelt im Bild des modernen Bayern
1. Des Königs Ethnologe: W. H. Riehl und die problematische Suche nach der «naturgeschichtlichen Prägung des Volkscharakters»
2. Vom Walchensee bis Wackersdorf: Naturschutz, Umweltbewegung und Heimatpflege
Naturschutz, Heimatbewegung und Umweltdebatten im 19. Jahrhundert
Naturschutz, Rassismus, Nationalsozialismus
Von «konservativ» zu «links»: Kontinuität und Wandlung der Umweltbewegung
Anti-Atomkraft, Nationalparks und das Paradoxon der modernen Gesellschaft
3. Natur, Klischee, Tourismus: «Barockes Bayern» und die Produktion von landschaftlichen Sehnsuchtsräumen
Und immer kommt ein Berg: Formate und Transporteure der Bayernklischees
Sehnsuchtslandschaft Nummer 1: Alpen, Neuschwanstein und Co.
Wälder, Seen, Flüsse – zwischen Nationalcharakter und Regionalspezifik
Das romantisch-mittelalterliche Franken-Bayern
IV Bayern und die Welt, Bayern in der Welt
1. Zitherspiel am Nil, Völkerschau daheim: Bayern und die fremden Welten
Ein Herzog auf großer Fahrt
Völkerkunde, Völkerschauen, Kolonialismus
Beten für Tansania, Jodeln in Chicago: Missionare, Kaufleute und Weltausstellungen
Graf in New York, Fernost in den Bergen: Auswanderer, Touristen, Künstler
2. Arge Alp, Bayerische Tapas und Grüne Bänder: Übergangsräume und Verflechtungszonen
Alpine Welt und europäische Flüsse: grenzüberschreitende Naturräume
«Böfflamott» – Sprache, Essen, Kultur und Wirtschaft jenseits von Grenzen
Vom «Eisernen Vorhang» zum «Grünen Band» – Grenzwandlungen
3. Eigensinn und Unterordnung: Die Kraft des Regionalen und Föderativen in Deutschland und Europa
Vom Rheinbund zur Bundesrepublik: der «nationale» Handlungsrahmen
Europäische Einigung und Europäisierung
Diskurse, Begriffe und Leitbilder regionaler politischer Selbstvergewisserung
Schlussbemerkung: Geschichte und Geschichten vom Land der Bayern
Dank
Anmerkungen
Einleitung: Land, Landschaft, Räume – oder: Die Ungerechtigkeit der Welt beginnt mit der Verteilung der Berge
I «Allen Untertanen ein gemeinsames Vaterland»: Bayern 1800–2000
II Regionen, Identitäten und Geschichte
III Hohe Berge, Touristenträume und Wasserwerfer: Natur, Landschaft und Umwelt im Bild des modernen Bayern
IV Bayern und die Welt, Bayern in der Welt
Schlussbetrachtung: Geschichte und Geschichten vom Land der Bayern
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Ortsregister
Zum Buch
Vita
Impressum
Jeder kennt Neuschwanstein. Die Ansicht des königlichen Märchenschlosses vor alpiner Landschaft mit Wald, Bergen und See ist eine bavaristische Ikone, millionenfach photographiert, auf unzähligen Souvenirs zu finden, ein globaler Werbeträger Bayerns, eine Art «Weltidyll». Eine ganz ähnliche ikonische Wirkung entfaltet das Bild der Ramsauer Kirche St. Sebastian bei Berchtesgaden mit rauschendem Flüsschen und der mächtigen Reiteralpe im Hintergrund. Auch das ist in allen Abreißkalendern zu finden und wurde 1960 unter dem Titel «Church in Bavaria» sogar von einem leibhaftigen US-Präsidenten, Dwight D. Eisenhower, aquarelliert, als Weihnachtsgeschenk für die Mitarbeiter im Weißen Haus reproduziert und in der Soldatenzeitschrift «Stars and Stripes» abgedruckt.
Die Motive unterscheiden sich allerdings in einem Punkt. Um das zu erkennen, muss man die Urteile des Europäischen Gerichtshofs konsultieren. Dort hat sich der Freistaat Bayern nämlich bestätigen lassen, dass Neuschwanstein kein Ort ist, sondern vor allem eine Kopfgeburt. Das Verfahren zog sich seit 2005 durch mehrere Instanzen, zunächst auf deutscher, dann auf europäischer Ebene. Ziel des Freistaats war es, das Schloss als Bild-Marke eintragen zu lassen, um für ein entsprechendes Warensortiment von der Edelmetallgabel bis zum Strumpfhalter exklusiv Lizenzgebühren erheben zu können. Dagegen hatte der «Bundesverband Souvenir Geschenke Ehrenpreise» geklagt und noch 2011 vor dem Bundesgerichtshof Recht bekommen: Neuschwanstein sei zuallererst eine konkret lokalisierbare Attraktion. Der EuGH kassierte dieses Urteil 2018. Für die europäischen Richter liegt Neuschwanstein zwar an einem «geografischen Ort», aber es ist keiner. Es könne «nicht als geografischer Ort angesehen werden». Neuschwanstein sei vielmehr eine Marke, weil das Wortzeichen so bekannt sei, dass es vom Verbraucher sofort als Produkt erkannt werde. Die Ansicht des Ramsauer Kirchleins hingegen wurde nicht als Wort-Bild-Marke eingetragen; sie ist Allgemeingut und vor allem ein physischer Ort. Dafür ziert sie den Wikipedia-Artikel «Bayern».[1]
Die Beispiele zeigen, dass sich Raum, Ort oder Landschaft keineswegs in ihren topographischen Realitäten erschöpfen. Um diese Vielschichtigkeit geht es in diesem Buch. Es nähert sich der bayerischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Spiegel der räumlichen Zusammenhänge an und möchte daran strukturelle Entwicklungsstränge erfassen. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Erfassung, Gliederung und Ordnung wie nach den Wahrnehmungen, Wirkungen und Verflechtungen des Raumes. Was ist gemeint oder kann gemeint sein, wenn von Bayern die Rede ist? Wie und mit welchen Medien werden Raum, Landschaft, Region in Bayern vermessen, eingeteilt, kartographiert, visualisiert, verstanden und erzählt? Nach welchen Kriterien und Deutungsmustern, mit welchen Strategien und Instrumenten, Semantiken und Bildrepertoires geschieht das? Von welchen politischen, ökonomischen, technischen, kulturellen, sozialen Rahmenbedingungen und Perspektiven hängt es ab? Von welchen Akteuren, Agenten und Agenturen werden Räume mit ihren Zentren und Peripherien, Grenzen und Differenzen, Nachbarschaften und Überlappungen gegliedert, wie die diversen Raumbilder produziert, verteilt, instrumentalisiert? Wie wird aus einem Ort eine Marke, aus einer Region eine Geschichtslandschaft, aus einer lokalen Zugehörigkeit eine «raumbezogene Identität», aus einer Raumvorstellung ein Faktor politischer Loyalität? Wann und wo sind Natur und Landschaft physische Materialitäten, wann und wie werden sie zu metaphysischen Images, Ikonen und Identifikationsgrößen? Wie ist das Verhältnis zwischen einerseits den Wirkungen und Prägungen des natürlichen Raumes auf die Menschen und andererseits den Zuschreibungen und Veränderungen des natürlichen Raumes durch die Menschen? Wie verlaufen die Wechselwirkungen zwischen Topographie/Geographie und ideellen «Gedächtnislandschaften»/«mental maps», «sozialer Geographie», «Metageographie», «imaginativer Geographie»? Welche Stereotype, Ästhetisierungen, «kulturellen Spannungen, Phobien, Idiosynkrasien, Überlegenheits- oder Minderwertigkeitskomplexe» werden mit Begriffen und Kategorien wie «Landschaft», «Umwelt», «Natur», «Region» oder «Heimat» verhandelt?[2]
Das moderne, um 1800 entstandene Staatsbayern als Bezugsrahmen und Untersuchungsgegenstand eignet sich für dergleichen Fragen in beinahe exemplarischer Weise. Es war eine staatliche Neubildung, entstanden in einer Phase territorialer Revolution, gekennzeichnet durch viele interne Brüche und unterschiedliches historisches Herkommen, mit einigem regionalistischen Eigensinn und mehreren binnenräumlichen Loyalitätsoptionen. Zugleich zeigte es, zumal im innerdeutschen Vergleich, eine erstaunliche territoriale Konstanz. Es bot räumliche Referenzmuster, das «Eigene» zu definieren, vom «Fremden» abzuheben und bayerische Eigenständigkeit zu markieren, und war doch stets größeren politisch-räumlichen Einheiten (Nation, Reich, Europa) zu- und untergeordnet, in übergreifende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Beziehungen integriert, unter Umständen sogar Teil weltumspannender Verflechtungen und Transfers. Nicht zuletzt wurden und werden Selbst- wie Fremdbild Bayerns entscheidend von naturräumlichen Bezügen und Wahrnehmungsmustern geprägt. Wie wenige andere Regionen erscheint das Land der Bayern verwoben mit einem ganz bestimmten Bild von Landschaft, das uns bereits in den Ikonen Neuschwanstein und Ramsau begegnet ist: Es ist ländlich und bergig und luftig-blau, niemals urban und flach und stickig-grau. Hohe Berge, blaue Seen, grüne Wiesen und sanfte Fluren, dazwischen manche Schlösser und Kapellen, so sieht das etablierte Image eines «der Herrgottswinkel unserer deutschen Heimat schlechthin» aus.[3]
Wohl gibt es die Berge, Seen und Wiesen in der materiellen Realität. Aber es ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein sehr selektives Klischee handelt, um bewusste Konstruktionen, Ausschnitte und Versatzstücke von «realen» Landschaften. Diese Selektionen und Projektionen prägen jedoch weithin das Gesamtbild und schaffen sich so ihre eigene Realität: Kaum jemand assoziiert mit Bayern das Land in seiner geographischen, topographischen oder politischen Differenziertheit. Niemand denkt in erster Linie an Schweinfurt und Fürth, an Wunsiedel oder die Rhön, an Ludwigshafen oder die Pfalz und auch nicht unbedingt an Nürnberg, seine Kaiserburg und Butzenscheiben. Das wird anderen Gedächtnislandschaften zugeschlagen: der städtisch geprägten Industriegesellschaft mit ihren rauchenden Schloten, ihren Chancen und Problemen (von der sich die Entwicklung Bayerns so signifikant zu unterscheiden scheint und auch unterscheiden will[4]) oder den Traditionen des Alten Reiches (die Bayern eher zwangsweise integriert hat), der deutschen Kaiser- und nicht der bayerischen Königsherrlichkeit. Selbst die einzige Metropole, München, wird gekapert vom Klischee, wenn Wilhelm Hausenstein schreibt, die hochhauslose Stadt ziehe «die ethnographischen Eigentümlichkeiten des Oberlandes» in sich hinein, oder Lion Feuchtwanger sarkastisch kommentiert, die Stadt der «bayerischen Hochebene» besitze einen «dörflichen», «stark bäuerlichen Einschlag». Noch bei der heutigen Hauptstadt sprechen manche vom «Millionendorf» mit «quasi-ländlicher Biergartenidylle», wird ihre Attraktivität vornehmlich auf ihre Biere, Bierfeste und Biertempel bezogen. Die «‹mental-map› des Freistaats» kommt weitgehend «ohne die Assoziation des Urbanen» aus.[5]
Auf dem ökonomischen Feld werden die Zusammenhänge noch handfester. So sind die Berge etwa im Tourismus ein Standortfaktor ersten Ranges, der sich in Euro und Cent auszahlt. Schon 1953 wusste das die Landesplanungsstelle und postulierte, «Bayern lebt in einem gewissen Umfang von seiner Landschaft». Aktuelle Statistiken bestätigen, dass sich die Position Bayerns als deutsches Urlaubsland Nummer eins – neben und zusammen mit München und dem Oktoberfest – vor allem den Landschaften der Alpen- und Voralpengebiete verdankt. Der Kabarettist Helmut Qualtinger brachte das einmal lakonisch auf den Punkt, die Ungerechtigkeit der Welt beginne bereits mit der ungleichen Höhe und Verteilung der Berge. Aber auch dafür gilt: Die Berge wirken nicht einfach für sich und aus ihrer Natur heraus, sondern nur als Teil sich wiederholender Images und als Resultat aktiven Produktmarketings. Außerdem wurden sie erst geschätzt, seitdem sich die ältere, bis ins 18. Jahrhundert hinein gängige Wahrnehmung von den gefährlichen, unnützen Bergen gewandelt hatte und diese von «Orten des Schreckens» zu solchen «der Sehnsucht» geworden waren.[6]
Bemerkenswerterweise unterscheidet sich das Tourismusbild in vielem kaum von der idealisierten Binnensicht der Bayern. Das verdeutlichen repräsentative Generationenstudien von 2003 und 2009, in denen unter anderem das «Heimatgefühl» in Bayern erhoben wurde. Bei Fragen zu «Spontanassoziationen zum ‹Leben in Bayern›» bzw. zu «Vorteilen des ‹Lebens in Bayern›» und zu bayerntypischen Eigenheiten erzielten dort die Kategorien «Landschaft und Natur» bzw. deren «Freizeitwert», «Berge und Seen», «Wälder und Alpen» und daneben «Brauchtum/Trachten» oder «Gemütlichkeit/Biergarten/Essen» durchweg die höchste Zustimmung – vor der «CSU», den «BMW» und dem «FC Bayern München» (mögliche Alternativen wie der Nürnberger «Club» oder die Münchner «Löwen» kamen gar nicht vor). Befragt nach den Gründen für ihren Heimatstolz, zeigten sich die Bayern zu 91 Prozent «sehr stolz» oder «stolz» auf die «schönen Landschaften». Offenbar kann man auch stolz sein auf einen geologischen Zufall wie Berge und deren Auffaltung als Leistung Bayerns verstehen.[7]
Es wundert daher nicht, dass dieses landschaftsbezogene Bayernbild seinen Niederschlag auch in der politischen Werbung findet und entsprechend instrumentalisiert wird. Zahlreiche Kampagnen der CSU stellten bewusst Landschaft und Regionalität in den Mittelpunkt. Die bayerische Staatspartei reklamierte für sich stets auch die typische bayerische Landschaft und präsentierte sich als Wahrer von deren Harmonie mit Kultur, Technik und Moderne. Zur Ikone verdichtet sich das in einem Klassiker der Wahlpropaganda: Ein CSU-Plakat von 1970 zeigt eine Photographie der im oberbayerischen Raisting stehenden riesigen Satellitenantenne neben Zwiebelturmkapelle und vor Alpenpanorama. Und als Franz Josef Strauß in einer Rede um die Mitte der 1980er Jahre die Identität von bayerischer Heimat und CSU betonen wollte, griff er zu der pointierten Formulierung, wer heute Bayern, den weiß-blauen Himmel und die bayerische Landschaft vor Augen habe, «in Natur oder in seiner Phantasie», der denke «automatisch, sozusagen als Impulsivreaktion» an die CSU und nie an die SPD; das erscheine «ja fast widernatürlich». Dass freilich auch bayerische Sozialdemokraten die Berge für ihre Argumentation in Anspruch nehmen konnten, zeigte Wilhelm Hoegner. Als 1968 über die Finanzreform des Bundes und die Gefahren einer Zentralisierung beraten wurde, reagierte Hoegner pathetisch: «Solange unsere Berge stehen, werden wir für das Recht Bayerns auf Staatlichkeit kämpfen.» Mittlerweile stockt die Impulsivreaktion ohnehin, das Wahlvolk denkt vermehrt auch an andere Parteien.[8]
Technische Moderne vor bayerischer Bilderbuchlandschaft – Plakat der CSU zur Landtagswahl 1970 mit einer Photographie der Erdfunkstelle Raisting und der Wallfahrtskirche St. Johann im Landkreis Weilheim-Schongau
Entscheidend ist bei alldem, dass der spezifische Blick auf die bayerische Landschaft über einen längeren Zeitraum aufgebaut wurde, dass damit aktiv eine Wirklichkeit geschaffen und kanonisiert wurde und dass dieser Bildkanon flächendeckend und auf verschiedenen Feldern angewandt wird: Das, was John Urry als den affirmativen «tourist gaze» charakterisiert, findet sich in der touristischen oder politischen Werbung und in den Medien ebenso wie in Literatur und Malerei oder in der musealen Geschichtsvermittlung und der Landesgeschichtsschreibung. Erst die damit verbundenen gegenseitigen Referenzoptionen machen die Wirksamkeit und Dynamik des Bild- und Vorstellungsensembles aus.[9]
Trotz der Bedeutung von Raum, Landschaft, Natur und ihrer Wahrnehmung ist die Thematisierung raumhistorischer Fragen forschungsgeschichtlich höchst umstritten und begründungspflichtig. Üblicherweise verfährt Geschichtswissenschaft chronologisch. Die Zeit sei die entscheidende Variable, Chronologie die historische Methode par excellence. Zumal in Deutschland hat sich diese Präferenz mit der Tradition des Historismus seit dem 19. Jahrhundert etabliert; dem Wesen eines historischen Phänomens komme man nur auf die Spur, wenn man die Dinge auf ihre Genese zurückführe, auf die «Entfaltung des menschlichen Wollens in der Zeit». Auch wenn dabei selbstverständlich Raumbezüge eine gewisse Rolle spielten – den Raum als generelle, hauptsächliche Zugriffskategorie zu nutzen, kam dieser Schule kaum in den Sinn. Ja mehr noch: Eine «Naturalisierung» von geschichtlichen Prozessen, ihre Herleitung aus räumlichen Faktoren, wurde strikt abgelehnt. Noch tiefergehend diskreditiert wurde Raumgeschichte dann im 20. Jahrhundert: mit der Kompromittierung der Geopolitik durch die rassistisch-eliminatorische Raumexpansion der Nationalsozialisten, ihre Argumentation vom «Volk ohne Raum», ihre Bindung menschlichen Charakters an «Blut und Boden». Jede Form von geopolitischem Determinismus und alle ethnogeographischen Ansätze waren für längere Zeit politisch wie diskursiv geächtet, wobei anachronistisch alle möglichen Kulturgeographen und -anthropologen des 19. Jahrhunderts (Riehl, Ritter, Ratzel) als geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus (im Weiteren: NS) gebrandmarkt wurden.[10]
Unter diesen Vorzeichen konnten sich dezidiert raumbezogene Herangehensweisen eher in kleineren Neben- oder Nachbarfächern der Nationalgeschichtsschreibung halten. Sie sind zu finden neben der Volkskunde, Kulturgeographie und Politischen Geographie in der Wirtschafts-, Sozial- und Agrargeschichte, Kulturraumforschung oder Geschichtlichen Landeskunde, wo sie sich unter anderem mit den Namen Karl Lamprecht, Hermann Aubin, Werner Conze oder Rudolf Kötzschke verbinden. Zu nennen sind teilweise auch die Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie mit ihren Modellen von Regionalität/Lokalität/Zentrum-Peripherie (Johann Heinrich von Thünen, Walter Christaller), ferner die frühe Raumsoziologie (Georg Simmel), mitunter auch noch die Militärgeschichte mit ihren Karten. Und selbstverständlich gab es durchgehend mit der Landes- und Regionalgeschichte eine weitere Subdisziplin, für die der Raum eine zentrale Kategorie war und ist. Sie definiert sich ja durch die Konzentration auf umgrenzte Räume oder Territorien mittlerer oder kleinerer Größe unterhalb der Nationalstaaten, um da zeitlich möglichst weite Perspektiven und thematisch möglichst tiefe Sondierungen anzusetzen.[11]
Viele dieser Teil- oder Nebenfächer gerieten nach 1945 unter ideologischen Rechtfertigungsdruck. Das Fach Politische Geographie etwa musste in Deutschland jahrzehntelang «gegen den Schatten der Geopolitik» ankämpfen. Eine Disziplin wie die Volkskunde war gezwungen, sich praktisch neu zu erfinden (als Kulturwissenschaft, Ethnologie oder Kultursoziologie). Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie Kulturraumforschung, die vor 1945 nicht selten unter dem Signum der Volkstumsgeschichte forschten, gaben sich ein neues Gesicht, indem sie sich als moderne Struktur- und Sozialgeschichte definierten. Für die Landesgeschichte als klassische Territorial- und Einzelstaatsgeschichte war dieser Rechtfertigungsdruck noch am wenigsten vorhanden. Zumal die bayerische Landesgeschichte agierte nach 1945 geradezu als Legitimationswissenschaft der neuen Ordnung und verstand es, sich als Wahrer der «guten» historischen Tradition zu etablieren. Mit dem Föderalismus wurde gleichsam auch die Landesgeschichte zum NS-Opfer erklärt und beider Revitalisierung nach 1945 als antitotalitäre, freiheitssichernde Präventionsmaßnahme verstanden.[12]
Zudem muss man immer festhalten, dass das politische Verdikt der Raumgeschichte vornehmlich Deutschland betraf. So repräsentierte beispielsweise in Frankreich die Schule der «Annales» einen methodisch ausgesprochen einflussreichen Hauptast strukturhistorischer Forschung. Sie griff intensiv soziogeographische Ansätze auf und thematisierte Fragen nach der «besonderen Art» der «géographie humaine», einer «Geographie, die vor allem menschliche Faktoren berücksichtigt» (F. Braudel). Lucien Febvres Studie zum Rhein und seine Geschichte interpretierte den Naturraum eines Flusses als politische Projektionsfläche und analysierte den Milieutypus des binationalen «Rheinländers». Fernand Braudels berühmtes Werk «Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.» begann bewusst mit Landschaften, Küstenverläufen, Bodenbeschaffenheit, Klima, Zentrum-Peripherie-Verhältnissen und deren prägenden Wirkungen auf das soziale Leben, Denken und Fühlen. Auch die zeitgleiche französische soziologische Forschung beschäftigte sich eingehend mit räumlichen Zusammenhängen und betonte in erster Linie Aspekte sozialer Konstruktivität von Räumlichkeit. Vor allem Henri Lefebvre mit seiner Definition dreier räumlicher Ebenen ist zu erwähnen: des «espace perçu», des erfahrenen, wahrgenommenen Raumes, also der durch das Alltagshandeln bestimmten räumlichen Praxis; des «espace conçu» als gedachte, vorgestellte oder geplante «Repräsentationen des Raumes»; und des «espace vécu», des erlebten Raumes oder «Raumes der Repräsentation», der Bilder, Symbole und künstlerischen Darstellungen.[13]
Nicht zuletzt erwuchs den französischen Denktraditionen das wirkungsvolle Konzept der «lieux de mémoire», der «Erinnerungsorte». Der Mentalitätshistoriker Pierre Nora hat es 1980 geprägt, geleitet von der Frage nach räumlichen Referenzfeldern, auf die sich die nationalen Identifikationsprozesse bezogen haben, und nach «Orten», «in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat». Als «Erinnerungsorte» können sowohl konkrete materielle Relikte und Orte («Panthéon», «Eiffelturm», «Verdun») fungieren wie überörtliche Symbolträger und imaginäre Erinnerungsspeicher, in denen sich nationale Bräuche oder Mythen bündeln und Räume «als Metaphern» wirken («Marseillaise», «La forêt», «La terre»). Das Konzept wurde breit rezipiert und in andere nationale Kontexte übertragen, inklusive eines mehrbändigen deutschen Parallelwerks. Es ließ sich in den Diskussionen überdies gut kombinieren mit den Überlegungen von Jan und Aleida Assmann zum «kulturellen und kommunikativen Gedächtnis» und zur «Konstruktion kultureller Erinnerungsräume». Und auch die landeshistorische Forschung hat sich inspirieren lassen, nach den «Erinnerungsorten eines Landes» gefragt und die Einflüsse von «regionalen Geschichtsagenten» (Geschichtsvereine, Denkmalschutz, Tourismuszentralen) damit in Beziehung gesetzt.[14]
In den letzten 25 Jahren wurde der Raum dann beinahe allgegenwärtig und die Rede von unterschiedlichen Raumkonfigurationen – von den «territorial-politischen» und «sozialen» über die «gedanklichen» und «körperlichen» bis zu den «hybriden» und «postkolonialen» – nachgerade inflationär. Liest man dazu vier oder fünf soziologische, kulturwissenschaftliche oder historische Untersuchungen, so kommt man zu sechs oder sieben Kategorisierungsvorschlägen. Unter dem Schlagwort vom «spatial turn» wird all das subsumiert – einem internationalen Trend, zunächst angestoßen vom amerikanischen Kulturgeographen Edward Soja und in Deutschland besonders eindringlich und früh vertreten vom Osteuropahistoriker Karl Schlögel. Die spatialen Forschungen geben manche Anregungen und eröffnen einige Erkenntnisse im Detail. Sie beweisen in der Tat die Komplexität von Räumlichkeit oder Grenzziehungen, betonen deren Konstruktivität und Brechungen sowie ihre symbolisch-metaphorischen Ebenen, machen konkret auf die große Aussagekraft und Bedeutung von Karten und Plänen als Deutungs- und Herrschaftsinstrumente aufmerksam. Auch dieses Buch profitiert davon.[15]
Wie bei jedem der modischen «turns» der letzten Jahrzehnte schwirrt einem allerdings auch etwas der Kopf angesichts der zahlreichen Redundanzen und irgendwie auch Selbstverständlichkeiten, die in diesem Kontext im Gefolge der großen Meister mit enormem Getöse und abnehmendem Grenznutzen produziert werden. Nicht weniges an Aufschlüssen zur Vielgestaltigkeit von Räumen wird da als Weltrevolution verkauft oder bis ins Artifizielle hinein gesteigert, was doch so neu eigentlich auch nicht ist und in manchen älteren Studien durchaus bereits zur Kenntnis genommen wurde: Raum bedeutet immer mehreres gleichzeitig. Es gibt nicht den einen, vorstrukturierten Raum als a-priori-Entität oder unhinterfragte materiell-objektive Realität. Es gibt keinen eindeutigen «Containerraum», in dem sich Staat, Gesellschaft oder Kultur vollziehen, der «modellhaft schon vor den Geschichtsforschenden gegeben» ist und in dessen festem Rahmen «die Landeshistoriker [oder alle anderen Historiker] dann arbeiten».[16] Raum besitzt neben Fläche, natürlichen Grundlagen, Territorium und politischen Grenzen stets symbolische und imaginäre Dimensionen. Seine Wirkung leitet sich nie nur aus «Fakten» her, sondern immer auch aus den Köpfen und Emotionen. Zugehörigkeitsgefühle, Verbundenheiten, Identifikationen oder Loyalitäten zu Räumen – gleich ob lokaler, regionaler, nationaler oder übernationaler Natur – sind immer variabel, dynamisch und hängen von den jeweiligen Situationen und Kontexten, Perspektiven und Projektionen ab. Man kann da vieles gleichzeitig sein – Schwabinger, Münchner, Oberbayer, Staatsbayer, Deutscher und Europäer – und fühlt sich während einer Urlaubsreise anderen Raumbezügen verpflichtet als während eines Spiels der «eigenen» Fußballnationalmannschaft. Einmal abgesehen davon, dass selbst dann räumliche Zusammenhänge immer nur eine Bezugsgröße individueller oder sozialer Selbstverortung sind und es daneben oft wichtigere Faktoren gibt, die soziale Stellung, die ökonomische Lage, das Geschlecht oder die Konfession. Es wäre daher unangemessen und ziemlich borniert, die räumlichen Bewusstseinsgrößen zu superiorisieren oder zu romantisieren, aus den Räumen eine naturwüchsig-typische «identitäre Essenz» oder «ethnische Substanz» mit Homogenitätsansprüchen zu folgern. Wenn und wo es solche Vorstellungen und Klassifikationen gibt, dann und dort sind sie aktiv «gemacht» und werden aus politischen Gründen propagiert – an erster Stelle und am einflussreichsten, aber nicht nur und allein, vom modernen Staat mit seiner «Macht zu benennen, zu identifizieren, zu kategorisieren, zu erklären, was was und wer wer ist».[17]
Begeben wir uns im Folgenden auf eine historische Raumreise durch das 19. und 20. Jahrhundert, auf die Suche nach den verschiedenen Formen und den maßgeblichen Protagonisten der Raumordnung, Raumbezüge und Raumaneignung in Bayern. Schauen wir auf das Land der Bayern mit seinen vielen unterschiedlichen Räumen, Territorien und Landschaften und mit seiner gänzlich ungerechten Verteilung der Berge.
«Räume sind nicht, Räume werden gemacht.»
Hans-Dietrich Schultz[1]
Am Anfang des modernen Staatsbayern stand eine territorialpolitische Revolution, so könnte man Thomas Nipperdeys berühmtes Diktum «Am Anfang war Napoleon» variieren. Staat und Gesellschaft gingen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hierzulande wie in ganz Mitteleuropa durch einen gleichermaßen gewaltigen wie gewaltsamen Prozess der Veränderungen, wurden in mehreren Etappen räumlich wie politisch neu geschaffen. Daraus resultierten Probleme und Herausforderungen, sich angesichts unterschiedlicher historisch-staatlicher Traditionen, vitaler Binnenregionalismen und einer topographisch anspruchsvollen Flächigkeit zu ordnen und zu einem Staatsganzen zu integrieren. Es musste zusammenwachsen, was nicht von vorneherein zusammenpasste. Vor dieser Ausgangslage beschäftige ich mich in diesem Kapitel zunächst mit den Entwicklungen des territorialen Bestands Bayerns und danach auf einer ersten, grundlegenden politisch-infrastrukturellen Ebene mit drei spezifischen Aspekten der Erfassung, Wahrnehmung und Handhabung dieses Raumes. Mit ihnen werden Strategien und Instrumente zu seiner Neukonstituierung sichtbar, ebenso manche Verschiebungen von Raumgewichten. Konkret wird es gehen um die kartographisch-statistische Vermessung, um die Kommunikations- und Verkehrsströme sowie um die staatliche Landesplanung.
Die neue bayerische Staatsnation war das Produkt eines Wechselspiels von äußerem, kriegerischem Druck und innerer, reformerischer Anpassung – revolutionäre Gewalt und die Reaktionen darauf bedingten sich gegenseitig und führten in einem längeren katalysatorischen Prozess von gut 20 Jahren zu tiefgreifenden territorialpolitischen Umwälzungen. Den allgemeinen äußeren Entstehungshintergrund bildeten anfangs die atemberaubend erfolgreichen Revolutionskriege und die Expansion des imperialen Frankreichs unter Napoleons Führung, danach dessen ebenfalls gewaltsame Zurückdrängung und Niederlage und damit immer parallellaufend die Beendigung und Abwicklung des Alten Reiches. Daraus resultierte der erwähnte Außendruck, das war gewissermaßen die offensive Komponente. Hinzu kam ein eher reaktiv-defensiver Part, der jedoch seinerseits stets auf kreative Lösungen und flexible Wendungen baute. Das meint die Konzepte und Aktionen der reformbereiten bayerischen Bürokratie, an deren Spitze Maximilian von Montgelas (1799–1817 Minister des Äußeren) stand, und des von ihm geleiteten Wittelsbacher Herrschers Max IV./I. Joseph. Sie versuchten, den Staat in der Phase der großen territorialen «Flurbereinigung» Mitteleuropas zu sichern, zugleich zu arrondieren und zu reformieren, zuerst in aufgeklärter Sympathie mit Frankreich, später in Kooperation mit der Koalition seiner Gegner und des mächtigen Nachbarn Österreich.
Die zeitlichen Eckdaten der Vorgänge kann man mit den Jahreszahlen 1801 und 1814/16 markieren. Am 9. Februar 1801 traten im Frieden von Lunéville Kaiser und Reich das linke Rheinufer an Frankreich ab und vereinbarten die Grundprinzipien der künftigen territorialen Verschiebungsmechanismen. Zwischen 1814 und 1816 wurde in den Pariser Friedensschlüssen, auf dem Wiener Kongress und in verschiedenen bayerisch-österreichischen Abkommen die Neuordnung der nachnapoleonischen Epoche besiegelt. In der ersten Phase profitierte Bayern von einer im August 1801 geschlossenen und im Vertrag von Brünn im Dezember 1805 gefestigten Allianz mit Frankreich. Im Windschatten der napoleonischen Erfolge und seit 1806 unter dem hegemonialen Schutz des französisch dominierten Rheinbundes wurde es nicht nur am 1. Januar 1806 zum Königreich erhoben, es dehnte auch seine Grenzen erheblich aus. Ebenso entscheidend war dann freilich, dass Bayern gerade noch rechtzeitig, mit dem bayerisch-österreichischen Vertrag von Ried am 8. Oktober 1813, den abermaligen Bündniswechsel schaffte, um seine Gebietsgewinne auch nach Napoleons Niederlage noch in erklecklichem Umfang bewahren zu können. Insgesamt bildeten also der Aufbau und die Abwicklung des napoleonischen Hegemonialsystems die Basis.
Seine größte Ausdehnung und auch prekäre Überdehnung erreichte der Staat Bayern zwischen 1805/06 und 1810. Bis dahin waren ihm in mehreren Schüben – 1802/03 (fixiert im Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803), 1805/06 (fixiert im erwähnten Vertrag von Brünn, im Frieden von Preßburg vom 26. Dezember 1805 und in der Rheinbundakte vom 25. Juli 1806) sowie 1810 (fixiert im Pariser Vertrag vom 28. Februar 1810) – zahlreiche «neubayerische» Territorien zugewachsen. Man erfasst diesen Vorgang mit den Begriffen der Mediatisierung und Säkularisation, die formell der Entschädigung der mittleren und größeren Reichsfürsten für die erlittenen linksrheinischen Verluste an Frankreich dienten. Für Bayern bedeutete das vor allem Entschädigung für den Großteil der Kurpfalz (auch der rechtsrheinischen Teile mit Heidelberg und Mannheim), die Herzogtümer Simmern und Jülich, die Fürstentümer Lautern und Veldenz, ferner für einige Herrschaften in den Niederlanden und in Belgien sowie für das Herzogtum Berg. Die territoriale Verfügungsmasse dafür boten die kleineren und im aufgeklärten Zeitgeist als unnütz erachteten, obendrein wehrlosen weltlichen und geistlichen Reichsstände.
Konkret handelte es sich bei «Neubayern» – erstens – um säkularisierte vormals geistliche Herrschaften, genauer um die Gebiete bzw. Teilgebiete der ehemaligen Erz- bzw. Hochstifte Augsburg, Bamberg, Eichstätt, Freising, Passau, Regensburg (dieses erst 1810 als Fürstentum Regensburg von Erzprimas Dalberg gekauft) und Würzburg (Letzteres nach 1805 zeitweise dem habsburgischen Großherzog von Toskana übergeben und erst 1814 in Bayern integriert), darüber hinaus um die Enklave Mühldorf (die man vom Erzstift Salzburg übernommen hatte) sowie um die Territorien nicht weniger Reichsabteien (unter anderem des Fürststifts Kempten, der Reichsabteien Ottobeuren und Waldsassen oder, 1810, der Reichsstifte Obermünster, Niedermünster und St. Emmeram in Regensburg). Hinzu kamen – zweitens – mediatisierte weltliche Herrschaftsgebiete, als da waren: die vormaligen Reichsstädte (unter anderem Augsburg, Nürnberg, Lindau und ab 1810 Regensburg) sowie die Territorien der diversen kleineren Reichsfürsten, Reichsgrafen und Reichsritter (vornehmlich in Franken und Schwaben), schließlich diejenigen der ehemals preußischen Markgrafentümer Ansbach und Bayreuth (das letzte 1810 gekauft). Eine dritte Gruppe waren die nur vorübergehend gewonnenen Territorien: In den Jahren 1805 und 1810 hatte das Kurfürstentum bzw. Königreich große österreichische bzw. ehedem salzburgische Gebiete zugeschlagen bekommen, 1805 unter anderem Tirol, Brixen, Meran und Vinschgau, Trient und Vorarlberg, 1810 dann Salzburg und die Fürstprobstei Berchtesgaden, das Innviertel und Teile des Hausruckviertels im Salzkammergut. Damit erstreckte sich Bayern im Süden zeitweise bis an den Gardasee (mit dem Salzach-, Inn-, Eisack- und Etschkreis).
In erster Linie die letzte Gebietsgruppe markiert die besagte räumliche Überdehnung, denn mit diesen Territorialgewinnen hatte sich das neue Königreich erhebliche Probleme eingehandelt. Der verlustreiche Volksaufstand in Tirol gehörte dazu, aber auch die Tatsache, dass etwa die Gebietsgewinne von 1810 recht teuer erkauft wurden (allein für die Bayreuther Domänen beispielsweise mit 11,2 Millionen Gulden) oder nur durch Gebietstausch gesichert werden konnten. So musste Bayern recht bald das südliche Tirol unterhalb von Klausen an das napoleonische Königreich Italien, Osttirol an die französischen Illyrischen Provinzen wieder abtreten. Zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse hat dieses Wechselspiel nicht beigetragen. Und nach dem Bündniswechsel von Frankreich zu Österreich (mit den beiden bayerisch-österreichischen Vertragswerken von Paris und München vom Juni 1814 bzw. April 1816) war Bayern bei eingeengten Verhandlungsspielräumen ohnehin gezwungen, das im Südosten gewonnene Gebiet zurückzugeben. Die Grenzen wurden «restauriert» und «bereinigt», ein endgültiger «Schlußstein der territorialen Neuordnung […] nach 24 Jahren der Kriege und Veränderungen» gezogen. Tirol, Vorarlberg, das Inn- und Hausruckviertel sowie Salzburg fielen – mit Ausnahme der ehemaligen Fürstprobstei Berchtesgaden und der Gerichte links von Saalach und Salzach – an Österreich zurück. Jedoch konnte Bayern andernorts auch in dieser Phase noch Erfolge verbuchen. Es bekam das Großherzogtum (ehemalige Hochstift) Würzburg samt Aschaffenburg, das davor unter Mainzer Landeshoheit gestanden war. Für seine Abtretungen an Österreich wurde es überdies rechts des Rheins mit einigen fuldaischen, böhmischen und hessischen Ämtern (Hammelburg, Brückenau, Teile von Bieberstein, Redwitz, Alzenau, Miltenberg, Amorbach und Heubach) entschädigt. Außerdem erhielt es nach der französischen Niederlage einen Teil seiner linksrheinischen Gebiete zurück, nämlich den Rheinkreis, den späteren Regierungsbezirk Pfalz inklusive der Saarpfalz. Ansprüche auf die rechtsrheinischen, ehedem kurpfälzischen Besitzungen um Heidelberg und Mannheim konnten dagegen nicht durchgesetzt werden. Diese wurden dem Großherzogtum Baden zugeschlagen.[2]
Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass in diesem Prozess über einen längeren Zeitraum hinweg Territorien ganz unterschiedlichen landschaftlichen Charakters und verschiedener staatspolitischer Wurzeln recht beliebig getauscht, geteilt und neu zusammengewürfelt wurden – und mit ihnen die Menschen, die darin lebten; rund 1,6 Millionen wechselten so in gut 20 Jahren mehrmals den Landesherren. Ebenso deutlich dürfte sein, dass die Vorgänge der Mediatisierung und Säkularisation sowie die mit dem ganzen territorialpolitischen Komplex verbundenen legitimatorischen Argumentationsfiguren der «Entschädigung», «Restitution» oder «Modernisierung» nur einen (kleinen) Teil der räumlichen Verschiebungen abbilden: In vielem handelte es sich schlicht um außenpolitischen Länderschacher, der ganz in der Tradition der alten Kabinettspolitik stand und in der Folge auch erhebliche Loyalitätsprobleme schuf und entsprechende alternative Legitimationsstrategien nötig machte.
Entstanden sind Grenzen nach mechanischer diplomatischer Länderarithmetik und willkürlicher politischer Natur, kaum solche von historischer Tradition oder längerer kultureller Zusammengehörigkeit. Sie umfassten 1816 ein Gesamtstaatsgebiet von rund 76.000 Quadratkilometern mit ungefähr 3,7 Millionen Einwohnern, das aus zwei, durch die Großherzogtümer Baden und Hessen getrennten Teilgebieten bestand: Das weitaus größere des rechtsrheinischen Bayern aus Altbayern, Franken und Schwaben (mit rund 70.000 Quadratkilometern und über 3,2 Millionen Einwohnern) umschrieb ein «in nordwestlicher Richtung langgestrecktes, nach den Seiten vorspringendes Viereck». Es reichte vom Nordrand der Alpen und dem Bodensee im Süden bis zu den waldgebirgigen und kargen Gebieten von Fichtelgebirge, Frankenwald, Haßberge und Rhön im Norden. Im Osten wurde es durch den Verlauf von Salzach und Inn sowie dem Kamm des Böhmerwaldes begrenzt, im Westen durch die Iller, das nördliche Donauries und die Mittelgebirgszüge von Frankenhöhe, Odenwald und Spessart, die freilich in der unterfränkischen Mainsenke gegen Aschaffenburg um einiges bis an die hessische Grenze durchbrochen wurden. Im Süden und Osten wurde dieses Territorium vollständig vom größten Nachbarn Österreich umfasst, nach 1918 im Nordosten zudem von der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik. Angrenzer im Westen waren Württemberg, Baden und Hessen. Die nördliche Nachbarschaft reichte von Hessen-Nassau (seit 1866 preußische Provinz) über die thüringisch-sächsische Kleinstaatenwelt bis zum Königreich Sachsen. Der viel kleinere Teil des Königreichs Bayern (mit knapp 6000 Quadratkilometern und fast 450.000 Einwohnern) lag weiter im Westen und wurde eingegrenzt von Elsaß-Lothringen, der preußischen Rheinprovinz, dem Großherzogtum Hessen und dem Verlauf des Rheins gegen Baden hin: die vorübergehend französisch annektierte Rheinpfalz, das eigentliche Stammland der regierenden Pfälzer Linie der Wittelsbacher.[3]
Dieses etwas diffuse Territorium provozierte manche Nachfragen und Arrondierungswünsche, erwies sich auf lange Sicht aber als erstaunlich stabil. Zunächst wurde die Lage von Zeitgenossen als räumlich zersplittert und als wenig günstig empfunden. Vor allem die fehlende Landverbindung zwischen rechts- und linksrheinischem Bayern galt vielen als problematisch. Der Rheinkreis, abgetrennt vom «Mutterlande» und eingeengt «durch die fremden Mauthlinien», sei ein «wahres Exarchat von Baiern», und man dürfe die «Besorgniß nicht bergen, daß der erste politische Windstoß denselben leicht gefährde», so monierte es der liberale Kammerabgeordnete, Reformbeamte (Regierungspräsident des Unterdonaukreises 1832–36) und Statistiker Ignaz von Rudhart 1825. Er fuhr dann jedoch andererseits fort: «In politischer und commerzieller Beziehung» sei diese Verbindung zugleich von einem unschätzbaren Wert, könne der Rheinkreis doch dank seiner französischen Prägungen und der Stärke des politischen Liberalismus den Bayern «stets die geläuterten Grundsätze der Einrichtung und Verwaltung der bürgerlichen Gesellschaft» vorhalten und diese auch, gleich einer «wirksamen Impfanstalt», dem erfolgreichen Praxistest unterziehen. Davon, dass die Pfalz mit den Regionen um Ludwigshafen (ein Zentrum der chemischen Industrie) und Sankt Ingbert (Schwerindustrie) überdies zu einem Zugpferd der Industrialisierung und Modernisierung Bayerns wurde, konnte Rudhart noch nichts ahnen; es hätte seine Einschätzung sicher untermauert. Aber auch so kam er zu dem letztlich versöhnlichen Fazit, Bayern sei eben angesichts seiner komplizierten territorialen Lage, der verwickelten Grenzverläufe und zahlreicher wirtschaftlicher Verflechtungen (vor allem mit Österreich und Preußen) auf «andere physische und moralische Mittel der Unabhängigkeit als auf seine [konfrontative] Ausdehnung und Gränzen» verwiesen – nämlich auf die Verbindung und Kooperation mit den Nachbarstaaten. Von dem Begründungsmuster, die territoriale Zersplitterung prädisponiere einen Staat zum Schließen von fremden Landkorridoren durch gewaltsame Expansion oder genealogische Herrschaftssukzession, wie es uns aus der preußischen Geschichte geläufig ist, finden wir bei Rudhart jedenfalls nichts.[4]
Die expansive Option gewann auch später kaum wirkliche Relevanz. Argumentationen in diese Richtung waren in der bayerischen Politik zwar nicht gänzlich unbekannt, aber es blieb doch bei eher zarten Ansätzen und wenig durchschlagskräftigen Gedankenspielen. Ein erster Versuch wurde bereits 1819 mit Nachdruck unterbunden. In diesem Jahr widerriefen die europäischen Großmächte im Frankfurter Generalrezess sehr deutlich jede Möglichkeit einer bayerischen Anwartschaft auf das badische Erbe (beim Aussterben der dort regierenden Linie) und damit auf die rechtsrheinische Pfalz um Heidelberg und Mannheim. Damit sollte von vorneherein eine bayerische Dominanz in Süddeutschland verhindert werden – zum ausgesprochenen Ärger des späteren Königs Ludwig I.[5]
Ein letztes Mal und abermals vergeblich aufgewärmt wurde die Vorstellung einer Gebietserweiterung nach Westen, als König Ludwig II. im Zuge der Reichsgründungsverhandlungen von 1870 eine Landbrücke von Unterfranken über den Odenwald zur Rheinpfalz hin als Ersatz für die 1866 an Preußen abgetretenen Rhöngebiete forderte. Bismarck lehnte das rundweg ab, und damit war die Sache auch erledigt. Auf die noch weiter gehenden phantastischen Kolonialspinnereien Ludwigs II., sein Königreich auf die Kanarischen Inseln, Zypern, die Ägäis, die Krim, den Hindukusch oder manche noch fernere Überseeinseln (von Fidschi und La Réunion bis Tahiti und Tonga) auszudehnen oder entsprechende Territorien um- und einzutauschen, um dort prächtige Schlösser errichten zu können, brauchen wir an dieser Stelle nicht ernsthaft einzugehen. Zwar wurde für die Suche nach dergleichen «Zukunftsreichen» der Direktor des bayerischen allgemeinen Reichsarchivs, der renommierte Rechtshistoriker Franz von Löher, eingespannt, sogar erste Verfassungsentwürfe hat man erarbeitet. Aber mehr als spöttische Sottisen, da lasse jemand einen Professor als «Privat-Kolumbus weiland Seiner Majestät» (Johann Baptist Sigl) sondieren, brachte das dem König nicht ein. Die Pläne können als ein Ausweis für spezifische Wahrnehmungsformen fremder Räume und Welten und die dahinter stehenden subjektiven Projektionen gelten, tatsächliche territorialpolitische Wirkungen hatten sie nicht.[6]
Durchweg politisch problematischer, wenngleich letztlich ebenfalls utopisch, waren die Forderungen König Ludwigs III. im Laufe des Ersten Weltkriegs, die zeitweise, bis 1916, auch von Kronprinz Rupprecht oder Graf Hertling vertreten und in manchen Intellektuellenkreisen in München ventiliert wurden. Kern war die Überlegung, das bisherige Reichsland Elsaß-Lothringen Bayern zuzuschlagen, womöglich als Ausgleich für eine Annexion Belgiens oder baltischer Gebiete durch Preußen. Vor allem von Ludwig III. wurde ein solcher Annexionismus mit einigem Starrsinn bis Kriegsende vorgetragen. Er war bei ihm in erster Linie wirtschaftspolitisch begründet. Teilweise (bei Rupprecht oder Hertling) entsprang er auch förderalismuspolitischen Erwägungen, Bayern als ein möglichst starkes Gegengewicht zu Preußen zu festigen. Erfolgsaussichten hatte dergleichen kaum, zu stark war von Beginn an der Widerspruch anderer süddeutscher Staaten und auch Preußens. Der stockende Kriegsverlauf und die deutsche Niederlage machten die Pläne ohnehin obsolet. Eine friedensfördernde Maßnahme waren sie indes zu keiner Zeit.[7]
Aufs Ganze gesehen ist freilich ein anderes territoriales Moment noch einmal viel deutlicher hervorzuheben: Es ist die – mit einer größeren Ausnahme – bemerkenswerte Konstanz der politischen Außengrenzen Staatsbayerns im 19. und 20. Jahrhundert – trotz ihrer verwickelten, kriegerischen Ursprünge und der vielen binnenbayerischen Pluralitäten und Brüche. Im rechtsrheinischen Hauptgebiet umschreiben die 1815 etablierten Grenzen im Grunde noch den heutigen Freistaat Bayern. Dort gab es nur marginale Verschiebungen oder Grenzberichtigungen, allesamt als mittel- oder unmittelbare Folgen von Kriegen: Nach dem sogenannten deutsch-deutschen Krieg von 1866 mussten die Bezirksämter Gersfeld (in der Rhön) und Bad Orb (im Spessart) an Preußen abgetreten werden. Das war der bayerischen Kriegsniederlage geschuldet, die damit sehr glimpflich abgegolten wurde. 1920 trat das ehemalige Herzogtum Sachsen-Coburg bzw. der Freistaat Coburg durch Volksabstimmung und anschließenden Staatsvertrag dem Freistaat Bayern bei. Es lag vornehmlich an den praktischen ökonomischen Hoffnungen, im großen Agrarland noch halbwegs gefüllte Fleischtöpfe vorzufinden, dass die Coburger Bayern gegen die Alternative eines Anschlusses an Thüringen den Vorzug gegeben hatten. Nach dem Kriegsende von 1945 schließlich bekam Bayern noch die Thüringer Exklave Ostheim vor der Rhön. Einen vorübergehenden verfassungsrechtlichen Sonderstatus besaßen zwischen 1945 und 1955 außerdem Stadt und Kreis Lindau. Sie waren nicht der amerikanischen, sondern der französischen Besatzungszone zugeschlagen worden und gehörten vorübergehend weder Württemberg noch Bayern an, sondern wurden von einem «Kreispräsidium» in gemeinsamer Abstimmung mit Württemberg-Hohenzollern selbst verwaltet. Formal zum 1. September 1955, faktisch zum 27. März 1956 wurde Lindau dann nach Bayern rückgegliedert. Trotz dieses Einzelfalls einer «territorialen Sonderstellung», die auch nie die prinzipielle Zugehörigkeit zum bayerischen Staatsgebiet in Frage gestellt hatte, gilt aber: Die enorme territoriale Stabilität, die sich doch einigermaßen markant von der Geschichte der allermeisten anderen deutschen Einzelstaaten unterschied, ist als bewusstseinsbildendes Faktum nicht zu vernachlässigen und gewann, eingebettet in die historiographische Meistererzählung der langen Dauer beinahe immerwährender bayerischer Existenz, durchaus staatspolitisches Gewicht.[8]
Die erwähnte größere Ausnahme stellt die bayerische Rheinpfalz dar. Diese wurde in mehreren Etappen von Bayern abgetrennt. Bereits das 19. Jahrhundert hindurch hatten die pfälzischen Gebiete strukturelle Eigenheiten aufgewiesen. Die Pfalz besaß bis 1900 ein eigenes Rechtssystem nach «bürgerlichen» Prinzipien des französischen Code civil. Justiz und Verwaltung waren früh getrennt. Überdies hatte sich eine eigene evangelische Kirchenorganisation, eine spezielle Gewerbestruktur oder eine spezifische Parteienstruktur mit stärkerer Gewichtung des Liberalismus ausgebildet. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verschärfte sich der Trend zur Separation. In drei Etappen kam es zur Loslösung der Pfalz.[9]
Der erste Schub erfolgte in der Weimarer Zeit – im Zuge der Kriegsniederlage und besatzungspolitischer Vorgaben. Wohl blieb die Pfalz zunächst staatsrechtlich weiterhin bei Bayern. Aber sie war nun als Teil einer der rheinländischen Besatzungszonen bis 1930 französisch besetzt, außerdem seit 1920 verkleinert um Stadt und Bezirksamt Sankt Ingbert sowie Teile der Bezirksämter Homburg und Zweibrücken; die Gebiete wurden dem Saargebiet unter Treuhänderschaft des Völkerbunds unterstellt und kehrten auch nach der Saar-Volksabstimmung 1935 nicht mehr zu Bayern zurück. Unter diesen Rahmenbedingungen kam es bis 1924 immer wieder auch zu Initiativen eines pfälzischen Separatismus. Sie waren zwar in breiten Bevölkerungskreisen kaum wirklich dauerhaft durchsetzungsfähig, aber ein wichtiges Stimmungsbild für die prekäre Position der Pfalz im bayerischen Staatsverbund gaben sie schon damals ab: etwa in den Debatten um die Wiederherstellung einer selbständigen Kurpfalz, um die Gründung einer autonomen «Pfälzischen Republik im Reichsverband» oder um die Eingliederung der Pfalz in eine größere «Rheinische Republik». Zeit- und teilweise wurden dergleichen Separierungsmodelle im Jahr 1923 auch mit französischer Unterstützung verfolgt. Sie fanden aber bereits im Februar 1924 auf britischen Druck hin wieder ihr Ende.
Erfolgreicher waren, das ist die zweite Etappe, die Aktivitäten nach 1933, nunmehr unter den Maßgaben des NS-Regimes und seiner spezifischen Überlappungen zwischen traditionell staatlicher Ordnung und parteilicher Gaugliederung. Sie sind für das westdeutsche Gebiet vornehmlich mit dem Namen des Gauleiters Josef Bürckel verbunden, der im größeren Maßstab eine eigene frankophobe Grenzlandpolitik verfolgte und dafür auch den Zugriff auf die Pfalz reklamierte. Die «Geißel des Bavarianismus» galt ihm hingegen nur noch als administratives Relikt der alten Zeiten. Tatsächlich gelang es Bürckel, 1935 die Reichsgaue Pfalz und Saar zur «Saarpfalz» zu vereinigen und die Pfalz sukzessive von der bayerischen Verwaltung zu trennen. Mit Neustadt wurde eine eigene Gauhauptstadt gegen den alten Regierungssitz Speyer etabliert. 1940 wurden die von Bürckel bekleideten staatlichen Ämter des Reichskommissars für das Saarland und des pfälzischen Regierungspräsidenten zusammengelegt und obendrein mit der Zivilverwaltung im besetzten Lothringen verbunden. Das Konglomerat verschmolz letztlich zur neuen Institution des «Reichsstatthalters in der Westmark». Die Pfalz war damit nicht de jure, aber faktisch aus Bayern herausgelöst. Die pfälzische Regierung firmierte nach 1941 auch nur noch als «Dienststelle Speyer des Reichskommissars für die Saarpfalz».
Der letzte Abschnitt der Entwicklung folgte nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Saarland eine extraterritoriale Sonderstellung bekam und die größten Teile der alten bayerischen Rheinpfalz im August 1946 formal in das neu gebildete Land Rheinland-Pfalz integriert wurden. Einer Rückgliederung nach Bayern, für die etwa Ministerpräsident Hoegner unter dem Motto «Bayern ruft die Pfalz» ebenso wie der 1950 eingerichtete «Pfalzausschuss» des bayerischen Landtags geworben oder die Politlobbyisten des «Bundes Bayern und Pfalz» unter dem Schlachtruf «Freiheit für den Pfälzer Löwen» gestritten hatten, scheiterte 1956 am Votum der Pfälzer. Lediglich 7,6 Prozent der Wahlberechtigten stimmten in einem Volksbegehren über eine Neugliederung des Landes für einen Volksentscheid über den Anschluss an Bayern. Die 10-Prozent-Marke war damit verfehlt, das Volksbegehren gescheitert. Als letzte Reminiszenzen Pfälzer Existenz im bayerischen Staatsverbund blieben Pfälzer Wein, die Pfälzer Weinstube an der Münchner Residenz und der (semantisch transformierte) Pfälzer Löwe im bayerischen Staatswappen.
Was sich mit dem Jahr 1945 überdies änderte und dann bis 1989/90 eine politische Konstante bayerischer Territorialität blieb, war die Wandlung des Charakters der Nord- und Ostgrenze Bayerns. Sie mutierte in ihrem Verlauf zur DDR (mit 419 Kilometern) und zur CSSR (mit 356 Kilometern) zu einem – bei allen Formen eingeschränkten Kontakts und lebensweltlichen Mit- und Nebeneinanders – nur schwer durchlässigen, mitunter lebensgefährlichen «Eisernen Vorhang». Er ließ den Freistaat schlagartig zum Grenzland des Kalten Krieges werden, zum «Zonenrandgebiet», das behördlich auf eine Tiefe von 40 Kilometern festgelegt wurde. Bezogen auf ganz Westdeutschland machte das fast 20 Prozent des Territoriums aus, in dem knapp 12 Prozent der Bevölkerung lebten. Damit verbanden sich enorme Strukturprobleme einer «unterentwickelten» Peripherie, «wo alle Straßen enden», die ehedem Bestandteil eines lange gewachsenen, sehr vitalen Zusammenhangs mitteldeutscher Zentralität oder bayerisch-böhmischen Austauschs gewesen war. Wir werden noch näher zu erörtern haben, wie sich dort die Verschiebungen der territorial-, sozial- und wirtschaftspolitischen Raumachsen, die Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das gewaltsame Ende alter kultur- und wirtschaftsräumlicher Verflechtungen auswirkten und zu welchen landesplanerischen Konsequenzen sie führten. Seinerzeit wurden neue Strukturen und Rahmenbedingungen geschaffen, die ihrerseits langfristige Folgen hatten. Sie wirkten auch über die nächste Zäsur hinweg, mit der sich die Raumparameter ein weiteres Mal grundlegend änderten. 1989/90 öffnete sich der «Eiserne Vorhang» unerwartet wieder. Das schuf neue Verbindungen und politische, ökonomische, soziale und ökologische Kooperationsmöglichkeiten. Allerdings lebten auch manche überkommene Raumrelikte fort: Gedenkstätten des Kalten Krieges, langfristige Spuren und Symbole von «Entfremdungen», erinnerungskulturelle Manifestationen von Brüchen und «verlorenen Heimaten». Der «Eiserne Vorhang» selbst mutierte zum «Grünen Band», in dem sich gleichermaßen (neue oder revitalisierte) Zusammengehörigkeiten wie der europaweite «ökologische Fußabdruck» eines (alten) Grenzregimes spiegelten.[10]
Im Jahr 2005 stand ein Roman von Daniel Kehlmann auf den Bestsellerlisten: «Die Vermessung der Welt». Es handelt sich um eine Art von belletristischer Doppelbiographie des Naturforschers Alexander von Humboldt und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß. Beide stehen in dem Buch auf je eigene Weise für eine Denkströmung ihrer Zeit: für den Versuch einer aufgeklärt-rationalen Erfassung und möglichst exakten Berechnung der Welt durch den Menschen. «Ein Hügel», so lässt der Autor seine Helden sagen, «von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft». Nur wer exakte Atlanten besitze, könne sich zum wirklichen Herrn über Land und Leute aufschwingen, «die Besiedlung einer Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken». Manchmal sei ihm (dem fiktiven Gauß) gewesen, «als hätte er den Landstrich nicht bloß vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen.»[11]
Nicht bloß vermessen und ordnen, sondern erfinden und beherrschen – damit ist das doppelte Wesen von Kartographie umschrieben, der es nicht nur um das Abbilden naturgegebener topographischer, geographischer, geologischer oder hydrologischer Zustände geht. Zwar ist diese «Wirklichkeit» ein wichtiger Referenzpunkt; Augenscheinkarten versuchten sie vor Ort zu ergründen, indem deren Zeichner die Landschaft unmittelbar abschritten; in Notariatsakten dienten Karten nach direkten Vorortschauen der Objektivierung und Dokumentation von Recht und Eigentum. Auch bedeutete die moderne kartographische Vermessung, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert etablierte, eine enorme empirische Leistung und einen «kolossalen Gewinn an präzisem Wissen über die Welt».[12]
Zugleich aber handeln Karten immer von weit mehr: vom anthropologischen Grundbedürfnis nach räumlicher Orientierung und Ordnung; vom Ziel, die dreidimensionalen Naturgegebenheiten in eine zweidimensionale Form mit Linien zu bannen, also das komplexe geographische Neben- und Übereinander zumindest auf dem Papier mit klaren Strukturen zu versehen; nicht zuletzt vom Bestreben, sich diese Räume kreativ anzueignen und sie überhaupt erst zu erschaffen. Territorien, Räume, Grenzlinien und ihre Darstellungen sind also immer auch Kopfgeburten und Projektionen, abhängig von den Intentionen und Erwartungen, Maßgaben und Perspektiven der Kartographen oder ihrer Auftraggeber. In diesem Sinne hat der Soziologe Georg Simmel formuliert, kartographische Grenzen seien weniger «räumliche Tatsache» denn «die Kristallisierung oder Verräumlichung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse». Und die moderne Definition von «Karte», wie sie durch die Internationale Kartographische Vereinigung vorgenommen wird, liest sich ähnlich: eine «versinnbildlichte Repräsentation geographischer Realität, die auf der Kreativität und den Entscheidungen eines Kartographen beruht und bestimmte Aspekte und Charakteristika darstellt, um räumliche Beziehungen abzubilden». Karten und Pläne besitzen folglich von Anfang an die Funktion, Ansprüche auf Territorien zu erheben, sie nach außen abzugrenzen und nach innen eine homogene eigene Herrschaft zu organisieren, Zugehörigkeitsgefühl zu wecken und zu stabilisieren gegenüber alternativen oder konkurrierenden Herrschaftsansprüchen und Loyalitätsoptionen. Karten sind gleichzeitig Dokumentationen sozio-politischer Macht und Werkzeuge ihrer Durchsetzung – je komplizierter die territorialen Verhältnisse, desto mehr.[13]
Nicht von ungefähr untersuchte man diese Funktionen von Karten daher besonders intensiv für die Gründung der europäischen Kolonialimperien des 19. Jahrhunderts, die fast ausnahmslos zunächst am grünen Kartentisch entstanden. Grundlagen waren zumeist «paper partitions» – Schreibtischelaborate – völlig unabhängig von gewachsenen räumlichen oder politischen Strukturen vor Ort, in die Welt gesetzt von den Staatskanzleien, Kolonial- und Außenministerien und exerziert von deren Kartographen. Sie haben entsprechende Kartensprachen, Symbole und Ikonographien entwickelt, die seit dem 19. Jahrhundert durch internationale Normierungen Verbindlichkeit gewannen: die Fixierung vereinheitlichter Maßstäbe, Entfernungsrelationen und eines Hauptmeridians als Referenzpunkt; die visuellen Techniken von Höhenlinienzeichnungen oder Geländebeschreibungen mittels unterschiedlicher Schraffurstärken; die bewusste Ausrichtung und Hierarchisierung mit einer Nord-Süd-Perspektive oder der Stellung Europas in der Kartenmitte; die monochromen Färbungen oder Schraffuren von Flächen, um Einheitlichkeit und «Regierbarkeit» zu demonstrieren (auch wenn die Herrschaftsgebiete zersplittert waren); die Markierung angeblich klarer linearer Grenzen (auch wenn in der Realität lange Zeit oft eher hybride Grenzräume existierten); die unterschiedliche typographische Signifikanz, Größe, Dicke von Städtemarkierungen (und damit die Klassifikation von Stärke/Zentralität/Gewichtigkeit und Schwäche/Peripherie/Marginalität) oder von Grenzen; die Zeichnung von Bewegungspfeilen, mit denen Migrationsströme oder militärische Aktionen betont, relativiert oder marginalisiert werden können.[14]
Was für die große Welt thematisiert wurde, gilt auch für das kleine Bayern. Ja mehr noch: An diesem regionalen Beispiel lassen sich die Fragestellungen in sehr verdichteter Weise analysieren. Auch dort lagen administrative räumliche Schöpfungen am Grünen Tisch vor, und auch in diesem Zusammenhang wiesen Kartographie, Statistik und bürokratische Landesplanung einen zentralen Weg zur dauerhaften staatlichen Konsolidierung. Das setzte bereits ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der komplexen territorialen Realität des Alten Reichs wie unter den Auspizien aufgeklärter Fürsten. Einerseits sträubte sich diese Welt gegen einfache Vermessung, Linienzeichnung und Flächenfärbung, andererseits provozierte sie ebendies als Ausfluss modernen Denkens und machtvoller Staatsbildungspolitik. Und mit der territorialen Revolution um 1800 dynamisierte sich das Geschehen noch weiter: wegen der Herausforderungen durch enormen außenpolitischen Druck und starke interne Zentrifugalkräfte in einem großflächiger werdenden, aber recht künstlich zusammengewürfelten Staat, sowie wegen spezieller ideengeschichtlicher Einflüsse insbesondere französischer Herkunft. Geometer, Geodäten, Kartographen und ihre Vermessungsprodukte haben in dieser Phase das Land des modernen Staatsbayern und dessen räumlich-politische Wirklichkeit recht eigentlich erst konstituiert. Sie haben es getan in engem Verbund mit Statistikern, Volkszählern, Landesbeschreibern und -planern, den Sachverständigen fürs Sammeln, Beschaffen und Gewichten von differenzierten Raum- und Sozialdaten im großen Maßstab, mit fiskalischen Haushältern, Wirtschafts- und Verkehrsexperten und deren neuartigen Ansprüchen der möglichst exakten Bürgererfassung und infrastrukturellen Staatsordnung. Sie alle agierten als Teil eines größeren Ideen-, Denk- und Handlungsverbundes, der sich als Träger und Wahrer der «raison d’être», der Daseinsberechtigung, des neuen Staatsganzen begriff: einer frankophilen Reformbürokratie unter Führung des allgegenwärtigen Staatsministers Montgelas, die sich den Maßgaben von Aufklärung und Empirismus verpflichtet sah, kombiniert teilweise noch mit spätabsolutistischem Merkantilismus und orientiert an Sehnsüchten nach einem geometrisierten Raum, «aus dem alle dunklen Stellen getilgt sind».[15]
Die Start- und Inkubationsphase moderner Kartographie lag wie erwähnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und die unbestrittene Vorreiterrolle spielte das aufgeklärte, etatistische Frankreich. Dort wurde gezielt und systematisch damit begonnen, Länder zu vermessen und Räume zu beschreiben. Entsprechend früh wurden die modernen technischen Grundlagen des Vermessungswesens erprobt und etabliert. In Großprojekten wie der «Carte géometrique de la France» (1750–93), die als groß inszenierte «Haupt- und Staatsaktion» erarbeitet wurde, setzte man die ersten Standards für eine geometrisch exakte Methodik und für die Normen der kartographischen Darstellungen. So perfektionierte man die trigonometrische Landaufnahme und Triangulationsmethode mit der Konstruktion umfassender Dreiecksnetzsysteme, wie sie von der Gelehrtenfamilie Cassini de Thury entwickelt worden war, vereinheitlichte den metrischen Maßstab, verfeinerte die Geländebeschreibung mittels einer eigenen Symbolsprache.[16]
Die Motive und Ziele dieser Vorhaben entsprangen zunächst und erstens den Forderungen des Militärs nach genauem Kartenmaterial. Dazu trat, zweitens, recht bald das administrative Streben nach flächendeckender fiskalischer Erfassung der Grundstücke und Gemarkungen für die Grund- und Gebäudesteuererhebung. Schließlich verbanden sich die Vorhaben, drittens, mit Initiativen einer statistischen Erfassung als genereller Grundlage für eine planvolle Gesellschaftspolitik, eine intensivierte staatliche Wirtschaftsförderung, Landeskultivierung und Verkehrs-, Zoll- und Mautpolitik. Auch für Bayern sind diese drei großen Entwicklungsstränge auszumachen.
Dass Bayern von Frankreich dabei besonders stark beeinflusst war, ist angesichts der engen politischen Verbindung der beiden Staaten zwischen 1800 und 1813 nicht überraschend. Was den größeren Rahmen betrifft, ist dabei auf die Wirkungen des Rheinbundes als beinahe hegemoniales Kontroll- und Transfersystem zu verweisen, konkret auf die Einflussnahme der Ingenieurgeographen der französischen Rheinarmee. Fundiert wurde die Rezeptionsbereitschaft aber sicherlich auch durch die geistige Nähe des Montgelas’schen Reformbeamtentums zu Frankreich und dessen aufgeklärten Methoden. Diese sind zumal auf dem kartographischen Feld oder dem Gebiet des Mautkartenwesens in Umrissen schon vor 1800 zu erkennen, etwa in manchen Forschungsprojekten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (in Kooperation mit Cassini und Henry de Saint Michel) oder in den regen Aktivitäten des Straßen- und Wasserbauingenieurs Adrian von Riedl seit den 1780er Jahren (unter anderem mit der Erstellung des «Riedlschen Reise- und Straßenatlanten» sowie eines eigenen «Stromatlanten»). Riedl war später auch einer der Protagonisten bei der Gründung des «Topographischen Bureaus», das er 1808/09 selbst leitete. Da erscheinen die ideellen Übergänge also fließender, als das der nachrevolutionäre Innovationsgestus postulieren mochte. Und dennoch, entscheidend forciert und institutionalisiert wurde die topographische Landesaufnahme Bayerns um 1800 dann doch erst auf bewusste Anregung der französischen Heeresleitung: zuerst mit einer bayerisch-französisch besetzten «Commission des Routes» in München (unter anderem mit bayerischen Fachleuten wie Joseph von Utzschneider, Joseph von Hazzi oder Georg von Grünberger) und 1801 mit der Gründung des besagten «Topographischen Bureaus» in Entsprechung des «Bureau topographique militaire» der Rheinarmee. Bayern wurde zunächst nach den Methoden Cassinis und bis 1807 unter direkter französischer Anleitung mit einem flächendeckenden Triangulationsnetz überzogen und in ein grobmaschiges, aber präzises Raster aus Dreiecken aufgeteilt. Als zentrale altbayerische Basislinie, auf die hin die Vermessungsdreiecke abgezirkelt wurden, bestimmte man die sogenannte «Base de la Goldach». Sie verlief von München-Oberföhring nach Aufhausen, fixierte als Nullpunkt den nördlichen Turm des Münchner Frauendoms und wurde unter Leitung des französischen Ingenieurgeographen Oberst Charles Rigobert Bonne vermessen. Von dort ausgehend arbeitete man sich zur topographischen Detailaufnahme vor und verband sukzessive das altbayerische Dreieckssystem auch mit anderen regionalen Dreiecksnetzen, dem fränkischen (mit der Basis bei Nürnberg), dem rheinpfälzischen (mit der Basis Speyer-Oggersheim) und dem badischen sowie württembergischen.[17]
Das mit alldem bezweckte Anliegen, eine umfassende Kriegskarte «Carte de la Bavière commencée» im Maßstab 1:100.000 zu erstellen, wurde zwar letztlich 1818 unvollendet aufgegeben. Dennoch bildeten diese Ansätze die technische Grundlage für alles Weitere und markierten auch den frühen und ersten Hauptstrang der bayerischen Kartographie, den man den französisch inspirierten militärtopographischen nennen könnte. Sein vornehmstes Resultat war der 1867 abgeschlossene Topographische Atlas mit 112 Blättern im Maßstab 1:50.000, bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Hauptkartenwerk Bayerns. Hinzu kamen Kartenblätter im Maßstab 1:100.000, die zwischen 1871 und 1901 als Teile einer großen, einheitlichen «Karte des Deutschen Reiches» hergestellt wurden, ferner die Topographischen Positionsblätter im Maßstab 1:25.000, erarbeitet von 1872 bis 1960. Das waren auch über Bayern hinaus rezipierte große technische Leistungen. Anlässlich der Weltausstellungen 1862 (London) und 1873 (Wien) bekam das Topographische Bureau dafür die Goldmedaille bzw. die Große Fortschrittsmedaille verliehen. In der Folge kam es zu weiteren technischen Modernisierungsschüben, zunächst mit der Verbesserung der Schraffen- und Höhenliniensysteme (plastische Geländeerfassung), später mit der 1961 begonnenen Installierung von Großrechneranlagen zur Digitalisierung der Vermessungs- und Darstellungstechniken und seit 1975 mit der Einrichtung einer Luftbilderfassungsstelle und der Nutzung satellitengestützter Vermessungssysteme wie GPS.
Dass am Beginn dieses Weges der Kartierung militärische Zwecke standen, mag nicht nur die Initiierung durch die französische Armee verdeutlichen, sondern auch die Tatsache, dass das Topographische Bureau von 1820 bis 1919 durchgehend dem bayerischen Generalstab angegliedert war. Nach einer kurzen Phase der Unterstellung unter das Reichsinnenministerium gingen die Kompetenzen 1922 wieder an Bayern über und ressortieren seitdem beim Finanzministerium. 1930/37 wurden die zentralen Zuständigkeiten im Landesvermessungsamt konzentriert, das sich seinerseits aus der Steuerverwaltung herausgebildet hat.
Das führt schon zum zweiten größeren Entwicklungsstrang des bayerischen Kartenwesens. Er entsprang inneren fiskalischen Interessen des Staates. Auf Anregung des Finanzreferendärs und Vorstands der Staatsschuldentilgungskommission Joseph von Utzschneider beschäftigte sich ein Teil der Ingenieurgeographen des Topographischen Bureaus in einem eigenen «Bureau de catastre» mit den technischen Problemen einer detaillierten Grundstücksvermessung. Ziel war damals, exakte Flurkarten und Katasterpläne als verlässliche Basis einer möglichst vollständigen Grund- und Haussteuererhebung zu erstellen. Diese Steuern bildeten das finanzielle Rückgrat des Staates. Dementsprechend wurden diese Aufgaben auch 1808 verselbständigt und gingen im Rahmen der bayerischen Finanzverwaltung an eine eigene Steuervermessungskommission über.
Förmlich sanktioniert mit dem Grundsteuergesetz von 1828, das als Basis der Grundsteuer den «für jeden einzelnen vermessenen und in Plan gelegten Grundbesitz» fixierte, wurden peu à peu die Ur-Katasterpläne lückenlos und in einheitlichem Maßstab von 1:5000 übers Land gezogen. 1868 war diese erste Grundstücksvermessung abgeschlossen. Auch dieses Werk wurde weithin international beachtet und in London oder Paris gerühmt als «vorzüglichstes» aller «Katastral-Messungs-Systeme», «probably the most perfect ever attempted». 1872 wurde dann ein eigenes, neues Katasterbüro gegründet, um die Pläne aktuell zu halten, nötige Neuvermessungen und Präzisierungen (etwa in späteren Flurkarten im Maßstab 1:2500) vorzunehmen, die Ausbildung der Geometer sicherzustellen und seit 1900 auch für die Anlage des Grundbuches zu sorgen. Seit 1915 führte das Katasterbüro die Bezeichnung «Landesvermessungsamt», das seit Anfang der 1930er Jahre auch für die Herstellung der topographischen Karten zuständig war. Darin flossen also die beiden skizzierten Entwicklungsstränge institutionell zusammen. Nach einer kurzen Phase der Reichszentralisierung des Vermessungswesens (seit 1934/38) fiel es 1945 wieder unter ausschließliche Länderhoheit. Das Landesvermessungsamt existiert unter der derzeitigen amtlichen Bezeichnung «Bayerisches Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung» bis heute.[18]
Die Aktivitäten dieses staatlichen Vermessungswesens standen schließlich im engen zeitlichen und sachlichen Konnex mit der parallel verlaufenden und nicht selten vom selben Personal getragenen Herausbildung der Amtlichen Statistik, Volksbeschreibung und Prognostik – der dritte, eher ökonomisch-landesplanerisch akzentuierte Komplex. Auch was dies betrifft, gab es frühe Formen im Reformabsolutismus und Kameralismus des späteren 18. Jahrhunderts, etwa die großen «Landes- und Volksbeschreibungen» bzw. «Volkszählungen» der Jahre 1770/71 (Johann von Dachsberg) und 1794 (Joseph von Hazzis «Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern»). Dieser Trend setzte sich fort bei den fortschrittsgläubigen Staatsreformern der Jahre nach 1800. Ebenfalls zuerst den praktischen Bedürfnissen der Militär- und Finanzverwaltung entsprungen, meinte «Statistik» in der kameralistischen Tradition dabei durchgehend mehr als bloß numerische Tabellen, zielte vielmehr immer auf die möglichst enzyklopädische, auch mit viel Text und Beobachtungsmaterial versehene Beschreibung sozialer «Tatsachen».
Von der Sache her ging es vornehmlich darum, eine möglichst verlässliche empirische Datenbasis für steuer- bzw. wirtschaftspolitische Prognosen und Maßnahmen rationaler Sozialplanung, beispielsweise gegen Hungerkrisen, zu gewinnen. Die grundsätzlichen Intentionen reichten aber noch weiter und zielten dezidiert auf eine staatsintegrative Wirkung. Indem man Gesellschaft beschrieb und Daten zusammenband, schuf man Einheit. Dementsprechend fanden auch die Initiativen zur statistischen Volksbeschreibung im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre festen staatlichen Institutionalisierungen: 1803 wurde eine Verordnung zur Ermittlung der Bevölkerungszahl auf Grundlage der systematischen Auswertung vereinheitlichter Pfarrmatrikel erlassen und 1808 ein separates Statistisch-topographisches Bureau unter dem Dach von Montgelas’ Außenministerium gegründet. Dieses publizierte 1809 eine erste umfassende Datenerhebung, die sogenannte «Montgelas-Statistik», und ergänzte sie jeweils im Zuge der territorialen Neuerwerbungen Bayerns. Ebenfalls seit 1808 bildeten sich eigene statistische Sektionen im Innenministerium und im Finanzministerium heraus. Sie wurden 1832 in einem Statistischen Bureau beim Innenministerium gebündelt, das vor allem regelmäßige Volkszählungen in Bayern vorzunehmen hatte. Diese wiederum waren nicht zuletzt durch einen Anstoß von außen befördert worden, durch die Gründung des Deutschen Zollvereins von 1833, der vorsah, dass «der Ertrag der in die Gemeinschaft fallenden Abgaben […] unter den vereinten Staaten nach dem Verhältnisse der Bevölkerung […] vertheilt» werden soll. Diese eher wirtschaftspolitische Ausrichtung zeigte sich auch daran, dass die Statistik in den Jahren 1848 bis 1871 vorübergehend dem Handelsministerium zugeordnet wurde. In den ausgehenden 1850er und den 1860er Jahren gewannen die Ansätze zur statistischen Erhebung und Volkserfassung überdies Dynamik, und es wurde ihnen zusätzliches empirisches Material zugeführt von zwei weiteren staatlich veranlassten und von einem ähnlichen Modernisierungsgeist getragenen Maßnahmen: Die flächendeckenden amtsärztlichen Physikatsberichte nach vorgefertigten Fragebögen umschrieben nicht nur eine «medizinische Topographie», sondern verfolgten den universelleren Anspruch, über Datenerhebung die Grundlagen für Gesellschaftsordnung zu schaffen und einen Staatsraum zu verwalten. Und das ethnographisch-landeskundliche Werk der «Bavaria» umfasste gleichfalls einen eigenen statistischen Teil, auf den die Administration fortan zurückgreifen konnte. Auch institutionell verfestigte sich das Anliegen: 1908 wurde ein dem Innenministerium unterstelltes, seit 1946 als selbständige Zentralstelle agierendes und bis heute existierendes Statistisches Landesamt etabliert. 1982 erfolgte dann die Verschmelzung mit dem 1970 gegründeten Bayerischen Landesamt für Datenverarbeitung (seit 2015 Bayerisches Landesamt für Statistik).[19]
Überblickt man die drei Entwicklungslinien – die militärtopographische Vermessung und Kartographie, die fiskalisch begründete Landeserfassung und die statistische Beschreibung von Land und Volk –, so schält sich dreierlei heraus: erstens die Bedeutung einer besonders katalysatorischen Zeitspanne, zweitens das dynamische Wirken einer typischen Trägerschicht und drittens die Wirkung einer spezifischen Handlungslogik, die weit in die Zukunft weist und dem modernen Bayern insgesamt Struktur verleiht. Zeitlich ist es vornehmlich die durch die französische Aufklärung geprägte Sattelzeit um 1800; personell sind es die frühen Exponenten oder zumindest Vorläufer modernen bürokratischen Experten- und Spezialistentums und die dahinterstehenden rationalistisch-aufgeklärten Denkströmungen; und methodisch oder praxeologisch sind es die eigendynamischen Prägekräfte planvoll-systematischer Expertise zum sozialen «monitoring», der zunehmende Anspruch von Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung und exakter Erfassung von Daten mit verbindlicher Normierung, transparenter Systematik und standardisierten Herangehensweisen.[20]
Man kann darin durchaus einen modernen statistisch-kartographisch-planifikatorischen Thinktank am Werk sehen, wie er uns auch heute in vielen Zusammenhängen in zahlreichen Expertengremien mit dem entsprechenden politischen Legitimationspotential begegnet: Protagonisten wie die Beamten Ignaz von Rudhart, Joseph von Utzschneider oder Joseph von Hazzi gehörten dazu, daneben Leute wie der Geologe, Mineraloge und Direktor des Bergwerks-, Salinen- und Münzwesens Mathias von Flurl oder die Astronomen, Geometer, Kartographen und Forsttaxatoren Ulrich Schiegg, Johann Georg von Soldner, Georg von Grünberger, Mathias von Schilcher und Johann von Rheinwald oder die Ingenieure und Erfinder optischer Präzisionsmessgeräte wie Georg von Reichenbach und Joseph von Fraunhofer. Sie etablierten ein Wissensregime von großer Wirkung und eigener Dynamik. Ihre Denkschriften, Instruktionen, Forschungen, Datensammlungen sind allesamt durchtränkt von einem rationalistischen, äußerst selbstbewussten, durchgehend etatistischen und bürokratisch anmutenden, auch ziemlich technokratischen und stets auf Nützlichkeit getrimmten und meist frankophil grundierten Reformgeist. Sie zeigen den fortschrittsoptimistischen Anspruch der empirischen Totalerfassung, verbunden mit den Annahmen eigener Objektivität, Bedeutung und Zukunftsfähigkeit und der Voraussetzung staats-, wirtschafts- und sozialplanerischer Machbarkeit.