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Sofia, obdachlos und einsam, ist auf unerfüllte Erinnerungen reduziert und in einer Leere verlorener Träume verblasst. Bei einer zufälligen Begegnung mit einer sterbenden Frau erfährt sie von einem Geheimnis, das ihr Leben in vielerlei Hinschicht verändert. In einer dramatischen Wendung der Ereignisse wird Sofia in das Leben anderer hineingezogen, die wie sie um die Überwindung von Armut und Trauer kämpfen.
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Seitenzahl: 104
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Copyright © 2018 by Bea Eschen
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Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin in irgendeiner Form, sei es mit elektronischen oder mechanischen Mitteln, einschließlich Informationsspeicher- und Abrufsystemen, reproduziert werden, außer durch die Verwendung von kurzen Zitaten in einer Buchbesprechung.
Vorwort
1. Das Leben der Sofia
2. Die Wiege der Weißen Löwin
Über die Autorin
Bücher von Bea Eschen
Kurzgeschichten von Bea Eschen
Es handelt sich hierbei um ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebendig oder tot, oder mit tatsächlichen Ereignissen ist rein zufällig.
Ziellos laufe ich durch die Seitenstraßen der Stadt. Der Nachtnebel setzt ein und ich friere in der kühlen Feuchtigkeit. Wie üblich kommen meine Schmerzen zurück und mein sperriger Rucksack fühlt sich schwerer an als je zuvor. Alles, was von meinem vorherigen Leben übergeblieben ist, habe ich darin aufbewahrt. An der nächsten Bushaltestelle mache ich eine Pause und bin erleichtert, dass ich meine Last auf den eingebauten Sitz ablegen kann.
Der kleine Raum unter dem Teil-Dach könnte mir Schutz geben, aber das Licht der Straßenlampe und die Offenheit setzen mich den Blicken der bösen Menschen aus, die gerne alte wehrlose Frauen wie mich treten und vergewaltigen. Also bleibe ich nur eine kurze Weile und dann gehe ich, wohin meine Beine mich tragen.
Es ist einer dieser Tage, an denen nichts richtig läuft. Die Leute in der Kapelle schüttelten den Kopf, als sie mich kommen sahen. Ich traute ich mich nicht einmal, eine Frage zu stellen. Sie hätten mir wenigstens einen Schlafplatz auf der Veranda anbieten können, aber da die Polizei uns letzte Woche von dort vertrieben hat, traut sich niemand mehr, dort zu schlafen.
Eine der Parolen des neuen Bürgermeisters, Alex Graham, heißt ‘die Stadt zu säubern’, und weil es in den Medien viele Beschwerden und Diskussionen über die Obdachlosen gibt, wurde die Parole zu einer Zielsetzung gemacht; ein Versprechen, das dem Bürgermeister die Stimmen gab, die Wahl zu gewinnen. Jetzt muss er sein Versprechen, das einen Krieg zwischen Arm und Reich ausgelöst hat, einlösen.
Niemand hat damit gerechnet, außer mir. Ich weiß, dass Reichtum auf der Armut anderer aufbaut. Es kommt jedoch eine Zeit, in der die Verarmten zurückschlagen. Außer mir. Ich überlasse den Kampf den jüngeren Generationen, weil ich vom Kämpfen müde bin und mein Schicksal nehme, wie es kommt. Ich bin gerne allein; weg von Lärm, Aggression und Angst. Nicht, dass ich keine Angst hätte. Ich fürchte mich sehr, wenn ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. So wie jetzt. Aber ich will die Angst der anderen vermeiden, will die Sorgen nicht mit anderen teilen müssen, weil sich dadurch meine seelische Last verschlimmern würde.
Ich sehne mich nach einem bequemen, warmen Bett. Wie oft habe ich heute die letzten Münzen gezählt, die ich in meiner Tasche habe? Meine Finger berühren jede Einzelne von ihnen und ich zähle sie von Neuem. Mir fehlen zwei Münzen, um im Leichenschrank unterzukommen. Es ist ein seltsamer Name für eine Unterkunft, aber sie ist tatsächlich wie ein Leichenschrank gebaut. Jede Schublade oder Kapsel ist gerade groß genug, um sich hineinzulegen und zu schlafen. Die Teureren haben TV- und Internetanschluss, aber meine Münzen reichen nicht einmal für die Billigste aus. Ich gehe weiter.
Meine geschwollenen Füße schmerzen in meinen Schuhen und langsam schlurfe ich um die Ecke in Richtung des öffentlichen Krankenhauses. Dort bin ich vorher schon einmal für eine Nacht hingegangen. Als letzter Ausweg sozusagen. Die Wartehalle ist groß und hat viele Stühle und Sofas. Es kann dort laut sein, besonders wenn betrunkene und von Drogen aufgeputschte, oder von sinnlosen Straßenkämpfen verwundete Menschen da sind. Es ist jedoch ein Ort, an dem ich mich in Sicherheit ausruhen kann. Wenn ich Glück habe, wird mir sogar eine Tasse heiße Suppe angeboten.
Als ich ankomme, blendet mich das grelle Licht der Neon-Breitstrahler. Meine Augen sind im Laufe der Jahre lichtempfindlich geworden; ich denke, es ist eine ganz normale Alterserscheinung. Auch mein Sehvermögen hat nachgelassen. Ich habe noch eine Lesebrille im Rucksack, trage sie aber nicht so gerne, weil ich befürchte, dass sie zerbrechen könnte. Gegen das grelle Licht kann ich mich jedoch nicht schützen; meine Sonnenbrille ist schon seit Langem kaputt. Also suche ich nach einem etwas dunkleren Platz in der Halle.
Ich lasse meinen Blick über die Köpfe schweifen und versuche, den Blickkontakt mit anderen zu vermeiden. Es ist schwer, denn fast alle starren mich an. Was sehen sie, außer einer alten, ungepflegten Frau mit einem großen Rucksack? Ich werde mir meiner grauen, ungewaschenen und wild gewachsenen Haare, meiner schmutzigen, abgebrochenen Fingernägel und meiner alten, lumpigen Kleidung bewusst. Der Mantel, auf den ich einst so stolz war, ist stellenweise zerrissen, schmutzig und stinkt. Seitdem ich obdachlos bin, habe ich stark abgenommen. Mein einst wohlgeformter und fester Körper hat sich in Haut und Knochen verwandelt und mein Gesicht zeigt tiefe Falten des Leidens und der Trauer. Und doch fühle ich mich innerlich lebendig. Mein Herz ist erfüllt von Mitgefühl für andere. Ich genieße es, Kindern beim Spielen zuzusehen, den Wind über mein Gesicht gleiten zu lassen und den Geräuschen eines Wasserspiels zu lauschen. Es ist noch ein Stück Freude in mir, die ich in Augenblicken der Verzweiflung aufbringe, um die langen Tage des Daseins zu überleben. Aber hier und heute vor diesen wartenden Menschen zu stehen, ist mir peinlich. Ich stehe im Rampenlicht und mein Aussehen erschreckt die kleinen Kinder, die sich von mir abwenden und sich zum Schutz an ihre Mütter und Väter klammern. Einige zeigen mit dem Finger auf mich und sagen etwas, das ich nicht hören kann und will.
Plötzlich verschwimmt die Szene vor mir. Ist es meine Sehkraft, die sich verschlechtert, sind es Tränen in meinen Augen oder habe ich einen Schwächeanfall? Ich spüre, wie meine Beine anfangen zu zittern und suche verzweifelt nach einem Sitz. Die Krankenschwester ruft eine Familie zu sich und es werden drei Plätze in der Mitte des Raumes frei. Meine Füße schleppend, schlurfe ich auf die frei gewordenen Stühle zu, während ich alle Augen auf mich gerichtet spüre. Zwei Teenager-Mädchen, beide stark geschminkt und Kaugummi kauend, stürzen sich ebenfalls auf die freigewordenen Sitze zu. Ich weiß, dass sie mich beobachtet haben und jetzt versuchen sie, vor mir dorthin zu gelangen. Wut steigt in mir auf und lässt mich nach vorne springen. Eine Sekunde, bevor die Mädchen ihr Ziel erreichen, werfe ich mich mit Sack und Pack auf den mittleren Stuhl.
„Verdammte stinkende Schlampe“, sagt eine.
„Selbst Schlampe“, zisch ich sie an.
„Was hast du gesagt?“, fragt sie und nimmt einen Kopfhörer aus dem Ohr.
„Ich sagte, selbst Schlampe!“
Meine Worte sind laut und deutlich, so dass alle Anwesenden aufsehen. Das Mädchen sieht mich fassungslos an. Sie hatte keine Antwort erwartet, zumindest nicht diese Worte. Das andere Teenager-Mädchen, das genauso verblüfft, aber kompromissbereiter erscheint, sagt:
„Warum rutschst du nicht nach links oder rechts, damit wir alle sitzen können?“
„Okay“, sage ich und rücke auf den linken Stuhl.
Jetzt haben die Mädchen ein neues Problem. Keines von ihnen will neben mir sitzen. Ich bin ruhig und genieße ihre Auseinandersetzung. Letztendlich gehen beide weg und lassen mich zufrieden mit mir selbst zurück. Langsam werden die Sitze um mich herum leer, da jeder woanders hingeht. Ich bin froh und auch traurig. Zufrieden und genervt. Dann stelle ich meinen schweren Rucksack vor meine Füße, lege meine schmerzenden Beine darauf, schließe meine brennenden Augen und nicke ein.
Jemand berührt mich sanft an der Schulter. Träume ich? Ich öffne meine Augen. Eine Krankenschwester mit einem freundlichen Gesicht bittet mich, mit ihr zu kommen.
„Oh nein“, sage ich verärgert, "ich bin nicht deswegen hier."
„Warum sind Sie dann hier?“, fragt sie.
„Um Schutz zu haben“, antworte ich und schaue nach unten.
„Wie dem auch sei, ich glaube, wir müssen uns Ihre Beine ansehen, sie sind sehr geschwollen.“
Ich schaue auf meine Beine. Sie sind doppelt so dick wie normal. „O.K.“
Die freundliche Krankenschwester hilft mir aufzustehen und trägt auch meinen Rucksack. Die Wartehalle des Krankenhauses ist jetzt fast leer; ich muss stundenlang geschlafen haben. Meine schmerzenden Beine bringen mich fast um den Verstand und nur mühsam folge ich der Krankenschwester. Sie hält mich am Arm und führt mich in einen Aufzug. Wir fahren in den zweiten Stock, laufen durch einen Flur und betreten ein Zimmer mit zwei Betten, die durch einen Vorhang getrennt sind.
"Ich schlage vor, Sie duschen, bevor der Arzt Sie untersucht“, höre ich die Krankenschwester sagen. „Legen Sie Ihre Sachen in den Korb und ziehen Sie diese an."
Sie gibt mir saubere Wäsche und zeigt mir das Gemeinschaftsbad. Ich habe schon lange nicht mehr geduscht oder meine Kleidung gewechselt und freue mich jetzt auf diese Aktion. Das Badezimmer ist geräumig und riecht nach Bleichmittel. Ich ziehe meine schmutzige alte Wäsche aus und wage es, mich im Wandspiegel anzusehen. Abgesehen von meinen Beinen, die dick und blau sind, bin ich so dünn wie eine Bohnenstange. Lose Hautfalten hängen von meinem Körper herunter. Die Haut meiner Arme und meines Gesichtes ist ledrig geworden. Meine Brüste sehen aus wie ausgetrocknete Würste, die fast bis zum Bauchnabel reichen. Es gibt keine Schamhaare mehr und auch meine Vagina hat ihre normale Form verloren. Wie, frage ich mich, kann sich ein menschlicher Körper so dramatisch von schön zu schlichtweg hässlich verändern?
Erleichtert stelle ich fest, dass die Duschkabine barrierefrei ist. Ich drehe den Hahn auf und vergesse mich im goldenen Regen des heißen Wassers. Zuerst fließt es in einer braunen Brühe an mir hinunter und nimmt den Stadtdreck der vielen Wochen mit sich. Erst nach längerer Zeit wird das Wasser klar. Mit beiden Händen stütze ich mich an der Duschwand ab und lasse den starken Wasserstrahl meinen Rücken massieren. Lange habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt. Nach einer Ewigkeit nehme ich den Duschkopf ab und leite den Strahl zwischen meine Beine. Das ist der Moment, nach dem ich mich gesehnt habe. Der Strahl trifft meine Klitoris. Dafür werde ich nie zu alt. Während ich das Kribbeln nach dem Höhepunkt genieße, empfinde ich eine wundervolle Befriedigung. Ich fühle mich etwas verjüngt und gehe langsam aus der Duschkabine hinaus, aber meine Beine erinnern mich sofort an mein körperliches Dilemma. Was für eine gute Krankenschwester sie ist, denke ich, während ich mir ein frisches Handtuch aus dem Regal nehme. Ohne mich zu untersuchen erkannte sie die medizinische Notwendigkeit, in der ich mich befinde. Ich trockne mich ab und ziehe die saubere weiße Kleidung an, bestehend aus einem warmen Unterhemd, einer wattierten Unterhose sowie einem langen, beidseitig offenen Nachthemd. Im Regal gibt es mehrere Körperpflegemittel. Ich nehme mir reichlich Zeit und entscheide mich für eine homöopathische Gesichtscreme und ein Körper-Öl für meine Arme. Mein Haar ist verfilzt; es erfordert viel Geduld und Mühe, es durchzukämmen. Endlich bin ich fertig und schaue mich wieder im Spiegel an. Besser jetzt, aber eine neue unerwartete Schwächeattacke verzehrt mich.
Das Bett ist sauber und weich. Ich lege mich hinein und falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich erwache, hagelt es gegen die Fensterscheibe. Der Sturm draußen bringt mich sofort in die Realität des Lebens zurück. Wohin würde ich bei diesem Wetter gehen? Besonders jetzt, wo der von mir gehasste neue Bürgermeister die Stadt von Obdachlosen befreien will. Meine Beine fühlen sich anders an. Ich ziehe die Decke zurück und bin überrascht, dass ich Strümpfe anhabe. In diesem Moment kommt die freundliche Krankenschwester herein.
„Hallo, haben Sie gut geschlafen!"
„Äh, geht so."
Sie steht vor mir und schaut mich nachdenklich an.
„Der Arzt untersuchte Ihre Beine, während Sie schliefen, und diagnostizierte ein schweres Ödem der unteren Extremitäten. Wissen Sie, was das ist?“
„Ja, ungefähr. Wasser in den Beinen, oder?“
„Richtig. Wir werden Sie für ein paar Tage hierbehalten. Sie brauchen viel Ruhe, auch weil Sie sehr erschöpft sind.“
„Sie müssen es wissen.“ Ich bin darüber nicht unglücklich. Es bedeutet ein schönes warmes Bett und gutes Essen, alles kostenlos.
„Auch habe ich eine unserer Sozialarbeiterinnen organisiert, die mit Ihnen Kontakt aufnehmen wird“, fährt die Krankenschwester fort.
„Aber warum denn?“, frage ich.
„Weil Sie obdachlos sind und wir Ihnen helfen möchten."
„Ich will obdachlos bleiben.“
„Nun, das können Sie mit unserer Sozialarbeiterin besprechen. Auch wenn Sie obdachlos bleiben möchten, bieten wir Dienstleistungen für Sie an.“