Das Leben geht weiter - Wilko Johnson - E-Book

Das Leben geht weiter E-Book

Wilko Johnson

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Beschreibung

Als der legendäre Gitarrist Wilko Johnson im Jahr 2012 zum Arzt geht, um einen Knoten im Bauch untersuchen zu lassen, bekommt er folgende Diagnose: »Sie haben diese Masse in ihrem Magen und ihrer Bauchspeicheldrüse. Leider können wir nicht operieren. Sie haben Krebs.« Man sagt ihm, er hätte noch etwa zehn Monate zu leben. Statt in Panik zu verfallen, überkommt Johnson eine innere Ruhe. Und er beschließt, die letzten Monate intensiv zu erleben und all das zu tun, was er schon immer vorhatte. Er geht auf große Abschiedstour, reist an Orte, die er immer schon sehen wollte, nimmt ein Farewell-Album mit Roger Daltrey von The Who auf, das auf Platz 3 der Charts klettert … und macht einfach immer weiter, ohne zu sterben. Die Autobiografie von Wilko Johnson ist eine unglaubliche Überlebensgeschichte, die Mut und Hoffnung macht.

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Seitenzahl: 314

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Das Buch

Nachdem ihm seine Ärzte 2012 mitteilten, er habe nur noch wenige Monate zu leben, entschied sich die Rocklegende Wilko Johnson dazu, in seiner verbleibenden Zeit für den Moment zu leben. Johnson machte sich auf, die letzten Schritte seines Lebens mit Abschiedskonzerten und letzten Plattendeals zu verbringen. Aber etwas lief nicht nach Plan – er starb nicht. Ein zufälliges Treffen mit einem Fotografen namens Charlie Chan löste schließlich eine Kettenreaktion aus, an deren Ende eine lebensrettende Operation stand …

Aufgewachsen auf Canvey Island (auch bekannt als »Oil City«), lebte Wilko Johnson ein Leben zwischen schwindelerregenden Höhen und tiefsten Tiefen. Nachdem er in den Sechzigern dem Hippie-Trail nach Afghanistan und Indien gefolgt und danach in Essex Shakespeare unterrichtet hatte, gründete er in den Siebzigern die kultige Punkvorläuferband Dr. Feelgood. Nicht zuletzt sein einzigartiger Gitarrenstil und seine energiegeladene Bühnenshow sorgten dafür, dass Dr. Feelgood international Furore machten. Doch Streit zwischen den Musikern führte dazu, dass er die Band verlassen musste.

Als Solokünstler und an der Seite des unberechenbaren Ian Dury und dessen Blockheads rückte er wieder ins Rampenlicht, befreundete sich mit John Lydon und Lemmy, und erhielt dank seines eindringlichen Blicks die Rolle des Henkers Ilyn Payne in der Fernsehserie Game of Thrones.

In seiner bewegten und bewegenden Autobiografie erzählt Johnson aus einem prallen Leben zwischen den Extremen, an dessen Ende ihm der gute Humor nicht selten das Leben rettete.

Der Autor

Wilko Johnson, geboren am 12. Juli 1947 als John Peter Wilkinson, ist ein englischer Sänger, Gitarrist, Songwriter und Schauspieler. Bekannt wurde er in den 1970er-Jahren als Gitarrist der einflussreichen Pubrockband Dr. Feelgood, die für viele Punkbands ein Vorbild waren. Anschließend spielte mit Ian Dury bei den Blockheads und startet eine Solokarriere. 2012 wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium festgestellt, woraufhin er sich auf Abschiedstournee begab. 2014 unterzog er sich einer weiteren Operation, in deren Verlauf ihm drei Kilogramm Tumor entfernt wurden. Daraufhin wurde er für krebsfrei erklärt.

WILKO JOHNSON

Das Leben Geht Weiter

Aus dem Englischen

von Philip Bradatsch

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Don’t You Leave Me Herebei Little, Brown, an imprint of Little, Brown Book Group, London

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Copyright © 2016 by Wilko Johnson

Zeile aus »Tu Kitni Achchi Hai – O Ma« Copyright © Anand Bakshi 1968

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Petra Bradatsch

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung des Originalumschlags von Bekki Guyatt – LBBG

Umschlagillustration: © REUTERS/Paul Hackett; Rückcover © Brian Rasic/Getty

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20154-8V002

Für Irene Knight 1948 – 2004

PROLOG

Wir landeten im strömenden Regen von Tokio. Im August ist es in der Stadt so heiß und feucht wie in einer Sauna. Wenn du aus dem klimatisierten Bereich rauskommst, haut es dich fast um. Der warme Regen fällt senkrecht, reichlich und unerbittlich. Ich war mit meiner Band nach Japan gekommen, um ein allerletztes Mal auf dem Fuji-Rock-Festival zu spielen. Das krebsartige Geschwür, das mich umbringen würde, schwoll mittlerweile sichtbar aus meinem Magen, und die Ärzte vermuteten meinen Tod innerhalb der nächsten paar Monate.

Auch auf dem Festivalgelände regnete es unaufhörlich, der Boden unter den Füßen war vollkommen aufgeweicht. Die Tropfen hämmerten auf Zelte, Regenschirme und Tausende von Menschen.

Nachts spielten wir in einem gerammelt vollen Zirkuszelt, das aus allen Nähten zu platzen drohte. Dass meine Krankheit im Endstadium war, wussten mittlerweile alle, und so betraten wir die Bühne unter wildem Applaus, der die ganze Show lang anhielt. Nun, unter solchen Umständen kann im Grunde nichts schiefgehen. Wir waren richtig gut drauf, und die Leute konnten nicht genug von uns kriegen.

Tags darauf spielten wir auf der großen Außenbühne. Es regnete immer noch. Ich wartete hinter den Kulissen und drehte nervös Runde um Runde, während das Adrenalin sich breitmachte. Meine Gitarre lag nicht mehr flach an meinem Bauch, sondern zeigte nach vorn, angeschoben von dem Tumor. Wenn ich spielte, wiegte das verdammte Ding hin und her. Kurz bevor wir auf die Bühne gingen, hörte es plötzlich auf zu regnen, die Wolken teilten sich, und die Sonne begann zu scheinen. Die Menge, die sich vor unseren Füßen bis in die Ferne zog, brach in einen gewaltigen Willkommensschrei für uns und die Sonne aus.

Wieder lief alles wie von selbst. Auf der Bühne gibt es dieses ganz besondere Gefühl: Du siehst die Reaktionen der Zuschauer auf deine Musik, lachende Gesichter und rudernde Arme, alle feiern mit dir, verschwören sich mit dir, haben Spaß. Ein sehr menschliches Gefühl. Ich ließ mich davon mitziehen, mein Herz lief über vor Freude und Liebe für Tausende Fremde, während mir mein drohender Tod durch den Kopf schoss. Aber das Gefühl der Freude wurde stärker – diese Leute würden weiterleben, sich an all das hier erinnern und noch viele gute Zeiten erleben, nachdem ich längst tot war, und ich wünschte ihnen allen das Beste. Nach der Show fing es wieder an zu schütten.

Jemand hat mir mal erzählt, in Japan nennen sie Leute, die gutes Wetter bringen, »sonnige Menschen« …

KAPITEL 1

Mein Name ist Wilko Johnson. Ich wurde 1947 als John Wilkinson auf Canvey Island geboren, einer Insel in der Themsemündung. Ich habe eine drei Jahre ältere Schwester und einen Bruder, Malcolm, der ein Jahr jünger ist. Canvey Island war mal Sumpfgebiet, zur Besiedelung zurückgewonnen von holländischen Pionieren im siebzehnten Jahrhundert. Flaches Land, umgeben von Ufermauern zum Schutz vor Hochwasser – ich prahle gern damit, unter dem Meeresspiegel zur Welt gekommen zu sein.

In meiner Kindheit war die Insel ein Ort voller Bauernhöfe und unbefestigter Straßen. Die Menschen lebten in roh verputzten Bungalows, Wohnwagen, sogar Eisenbahnwaggons. Nach Westen hin waren die ebenen Äcker von Ölförderanlagen begrenzt. Ich kann mich noch an das ständige Pochen der Pfahlrammen erinnern, auch an die Schornsteine und Türme, die in den westlichen Horizont wuchsen, als die Shell-Haven- Ölraffinerie gebaut wurde, gleich hinter dem kleinen Fluss. Meine Mutter erzählte mir damals, der große Turm hieße Cat Cracker, also Katzenzermalmer – und das war schon ein starkes Stück für einen kleinen Jungen.

Die Raffinerie schaute meine gesamte Kindheit lang auf mich herab. Nachts das Schimmern der elektrischen Lichter und großen Flammen, die aus den Schornsteinen leckten. War der Himmel zugezogen, spiegelten die Flammen sich in den Wolken wider und warfen ein flackerndes, Milton’sches Licht auf die Insel, als wäre sie ein entlegener Vorort des Hades. Im Tageslicht aber sahen die Türme in der Ferne blau und ätherisch aus, eine Traumstadt außer Reichweite.

Im Februar 1953 – ich war gerade fünf Jahre alt und in die Schule gekommen – zerstörte eine desaströse Flut Canvey Island. Hohe Springfluten und Sturmwinde erzeugten eine große Welle, die über Ostengland und die Themsemündung hinwegfegte, wo sie auch Canvey Island traf. Inmitten einer frostigen Nacht brach ein Teil der dreihundert Jahre alten Ufermauer ein, und das Meer bahnte sich seinen Weg in die Bungalows und Wohnwagen, bis zu ihren schlafenden Bewohnern. Sechsundfünfzig Menschen verloren ihr Leben.

Da mein Vater als Gasinstallateur auf Abruf arbeitete, hatten wir dieses seltene Gerät: ein Telefon – Canvey 113, Apparat 9 –, verbunden mit der Schaltzentrale der Gasfirma. Deshalb wurden wir vorgewarnt und konnten unsere Flucht vorbereiten. Ich erinnere mich, wie ich am frühen Morgen in Erwartung der Evakuierung aus dem hinteren Küchenfenster sah. Wo sich vorher flache Felder bis zu den Öltanks ausgedehnt hatten, befand sich plötzlich das Meer. Graues Wasser und Wellen, die an unsere Tür schlugen. Unser Haus stand im Meer. Ich verstand vollkommen, was geschehen war, und dennoch faszinierte mich dieser surreale Anblick: böige See statt grüner Felder. (Es hat unser Haus total zerstört. Flutwasser ist nicht einfach nur Wasser, sondern Schlamm. Und Gipskarton und Porenbeton sind nicht wasserdicht.)

Die Insel wurde komplett geräumt – nur die Armee und unersetzliche Arbeiter durften bleiben. Mein Vater wurde gebraucht, um die Gasleitungen instand zu halten. Also blieb er zurück, in tiefem frostigem Wasser watend, um Wartungsarbeiten zu verrichten. Das ruinierte seine Gesundheit. Von da an kämpfte er mit Beschwerden in der Brust, Bronchitis, Pneumonie, Asthma, so ziemlich allem außer Krebs. Und Herbst für Herbst wurde es schlimmer. Zu dieser Jahreszeit war Canvey meist in Dunst und Nebel gehüllt, schön und mysteriös, allerdings nichts für geschädigte Lungen. Er konnte nicht atmen. Schließlich musste er seinen Installateurjob für eine Tätigkeit im Innendienst aufgeben und Geschäfte betreuen. Jedes Jahr, wenn der Nebel kam, wurde seine Lunge schwächer. Nach zehn Wintern, im Alter von sechsundfünfzig Jahren, starb er daran. Und obwohl ihn seine Tätigkeit für die Gasfirma das Leben gekostet hatte, erhielt meine Mutter niemals die volle Witwenrente, weil er ein paar Monate vor der erforderlichen Dienstzeit gestorben war. Dafür adressierten sie noch lange nach seinem Tod Gasrechnungen an seinen Namen.

Ich hatte ihn gehasst – er war dumm, ignorant, ungebildet, böse und unbeherrscht gewesen. Auch gewalttätig. (Einmal schlug er mich in einem Wutanfall mit einer Säge. Ich fiel hin, und die Säge schnitt quer über mein Bein. Da war ich noch ein Kind.) Ich war zwar nie der grausamen Gewalt ausgesetzt, von der man Tag für Tag in der Zeitung liest – nichts dergleichen –, nichts, was in einer Arbeiterklassennachbarschaft Besorgnis hervorrufen würde; aber ich kenne den Schrecken eines Kindes, das gewaltsam von einem Erwachsenen misshandelt wird, noch dazu von gerade dem Erwachsenen, der ihm Schutz und Zuflucht bieten sollte. Ich habe meinen eigenen Kindern niemals auch nur ein Haar gekrümmt.

Die Atmosphäre in unserem Haus war durch ihn vergiftet. Er hatte einige Jahre als Soldat gedient, in Indien an der nordwestlichen Grenze des britischen Herrschaftsgebiets, und später im Zweiten Weltkrieg. Er besaß eine Reihe von Medaillen, die er am Volkstrauertag anlegte, wenn er mit uns zum Kriegerdenkmal ging, um die Zeremonie anzuschauen. Ich weiß nicht, womit er sich diese Medaillen verdient hatte – ich möchte gerne glauben, dass er etwas Tapferes getan hat. Als ich eines Tages im Alter von sechzehn Jahren nach Hause kam, war er tot. Und ich freute mich, fühlte mich frei …

Wie auch immer, nachdem wir vor der Flut gerettet worden waren, kamen wir zu Verwandten nach Sheffield. Als wir dort ankamen, lief gerade eine Radioübertragung aus dem Auffanglager, wo sich die Flüchtlinge von Canvey Island zusammenfanden. Ein Mann namens Wilfred Pickles, damals ein bekannter Radio- und TV-Ansager, befragte die Menschen vor Ort. Er sagte: »Hier haben wir den kleinen Johnny Martin, und er wird jetzt einen Song für uns singen.« Das war echt mein Kumpel Johnny Martin von nebenan. Er sang »Me And My Teddy Bear«. Und so wurde »The Big Figure« zum ersten Dr-Feelgood-Mitglied, das es ins Radio schaffte. Und das sogar landesweit.

Wir blieben eine ganze Weile in Sheffield – Malcolm und ich gingen dort sogar zur Schule, obwohl er dafür zu jung war. Den anderen Kindern wurden wir als Flüchtlinge von Canvey Island vorgestellt. Canvey war damals die Titelstory schlechthin.

Als Brüder standen wir uns sehr nahe, obwohl wir ziemlich unterschiedlich veranlagt waren. Malcolm war schon immer ein äußerst gelassener Typ. Ich habe ihn nie im Zorn erlebt. Er ist ein talentierter Maler und klassischer Gitarrist. Ich bin nichts davon, und gelassen zu sein fällt mir nicht gerade leicht. Aber Malc und ich waren unser ganzes Leben lang richtig gute Freunde.

Da hörten wir nun also unserem Kumpel Johnny Martin beim Singen über das »Drahtlose« zu, und uns blieb die Luft weg. Johnny Martin. The Big Figure.

Figures’ Mum und Dad waren für unsere Working-Class-Nachbarschaft einigermaßen unkonventionell und künstlerisch – sein Vater spielte Gitarre, seine Mutter Akkordeon. Außerdem leitete sie einen Tanzkurs namens »Peggy Martin’s Troupe«. Figure und ich liebten alles, was albern war. Als wir noch zur Grundschule gingen, saßen wir im Unterricht nebeneinander. Ich zeichnete eine große schwarze Spinne ins Innere meines Schreibtisches, und einmal, als wir gerade Puppen bastelten, erfanden wir dieses Ding namens Snitch Snatcher, den »Petzenentführer«. Das war ein Streifen Papier, verdreht zu einem Propeller und auf die Nase der Puppe geklebt. Was der Sinn dahinter war, weiß ich nicht mehr, aber wir taten’s einfach und werden’s auch nie vergessen. Ich bin mir sicher, er könnte euch heute noch einen basteln, würdet ihr ihn darum bitten.

Solche Albernheiten verkörperten unsere Freundschaft in unserer Kindheit und Jugend. Johnny (wir gaben ihm den Spitznamen »The Big Figure« zu Ehren seines amtlichen Körperumfangs während der Teenagerzeit, und er behielt ihn als nom de guerre für Dr Feelgood) war mein Kumpel.

Als wir nach der Flut nach Canvey Island zurückkehrten, war es verwüstet. Auf den Straßen standen Lastwagen der Royal Air Force herum, die heiße Luft in die durchnässten Bungalows pumpten, um sie zu trocknen. Wohltätigkeitsorganisationen hatten brauchbare Möbel, Stühle und Tische geschickt – viele Menschen hatten alles verloren. Eines Tages, nach der Schule, marschierte man mit uns in einen Raum voller gespendeter Spielsachen, und jeder durfte sich etwas aussuchen (die meisten Kinder hatten ihre Weihnachtsgeschenke verloren, auch um so was kümmerten sich die Hilfsorganisationen). Ich erinnere mich an verschiedene Delta-Wing-Flugzeuge mit Friktionsantrieb. Sie faszinierten mich, aber ich habe es nicht geschafft, eins zu ergattern. Ich sehe diese Dinger heute noch vor mir – Aluminium mit blauer Beschriftung und ein heulender Sound, wenn man damit über den Boden fuhr. Ich kann mich nicht erinnern, was ich stattdessen bekam.

Nachdem wir uns unser Spielzeug ausgesucht hatten, führte man uns in einen anderen Raum, in dem es internationale Hilfssendungen gab – Rosinen aus Kalifornien, eine Blechbüchse norwegischer Sardinen, irgendein Käse aus Holland. Und so weiter. Wir waren dankbar für die Päckchen aus aller Welt, so winzig und unzureichend sie auch waren. Die kalifornischen Rosinen kamen in einer hellen farbigen Box und erschienen uns wie ein Geschenk der Götter. Jeder bekam einen »Flutteppich«. Die meisten Teppiche in Canvey waren von der Überschwemmung ruiniert, und so kam ein Flutteppich in nahezu jeden Haushalt. Sie waren offensichtlich aus zweiter Hand, zerschnitten und zerstückelt, um irgendwie in den Raum zu passen. Unser Flutteppich beeindruckte mich mit seinem seltsamen arabischen Muster. Für Jahre bedeckte er unseren Wohnzimmerboden.

Ich bestand die Elf-Plus-Prüfung und musste von nun an jeden Tag die Reise von Canvey aus zur Schule antreten (erst mit dem Bus, dann mit dem Dampfzug – um 8:20 von Benfleet – und mit noch einem Bus, der Linie 21, nach Westcliff), da es in Canvey kein Gymnasium gab. Das trennte mich von meinen Schulfreunden, die von nun an Fred’s Academy besuchten, eine Art Dotheboys Hall der Sechzigerjahre. Eine moderne Sekundarschule, die der drakonische Direktor Fred Watkins leitete.

Abgeschnitten von Canvey Island und meinen einstigen Freunden trug ich jetzt einen blauen Blazer und schleppte eine Tasche voller Hausaufgaben mit mir rum. Auch Johnny Martin ging zur Fred’s Academy. In der Schule war ich umgeben von Mittelschicht-Jungs (die ersten, die ich je zu Gesicht bekam), und die hätten nicht im Traum daran gedacht, jemals nach Canvey Island zu gehen – für die war das der Wilde Westen, das schlimme Viertel der Stadt. Mein Englischlehrer stellte mich immer vor die Klasse und ließ mich Wörter wie »bottle« oder »little« oder »Battle of Hastings« aussprechen, um der Klasse den Horror verschluckter Ts oder Hs im Anlaut zu verdeutlichen. Doch anstatt mich als Canvey-Island-Proleten zu demütigen, gaben mir diese Lehrstunden vielmehr die Gelegenheit, mächtig auf den Putz zu hauen. Ich habe mir von denen nie beibringen lassen, anständig zu sprechen.

Mit zwölf bekam ich eine Ratte als Haustier. Eine schwarz-weiße Laborratte, überaus intelligent – sie konnte schwimmen, Gegenstände fangen und Befehle ausführen. Wenn man ihr einen Keks hinhielt, saß sie da und wartete wie ein Hund auf den Befehl loszurennen, um den Keks zu holen. Sie konnte apportieren. Ich bastelte eine Leine aus einer Schnur und ging mit ihr um den Block. Wir hatten einen länglichen Garten. Nachdem ich mich nach Katzen umgesehen hatte, befahl ich ihr, am Gartenende sitzen zu bleiben, und ging zurück in die Küche. Sie bewegte sich nicht von der Stelle, bis ich pfiff, dann stürmte sie den Garten runter bis in die Küche und unter mein Hemd. Ich nahm sie mit zum Fußballplatz und ließ sie frei herumrennen. Sie kam immer, wenn ich rief. In unserer Familie gab es kaum Zuneigung, und ich denke, ich gab diesem Nagetier deshalb umso mehr davon.

Sie starb unter dubiosen Umständen und ich war untröstlich. Das war meine erste Erfahrung mit der schrecklichen Einsamkeit des Todes.

KAPITEL 2

Eines Tages, ich muss um die fünfzehn gewesen sein, kamen wir für die Erdkundestunde in ein anderes Klassenzimmer. Aus irgendeinem Grund lehnte an meinem Tisch eine elektrische Gitarre. Ich war sofort fasziniert von dem Ding. Das Glänzen der Saiten und Bundstäbe, die Knöpfe und Schalter, die abgefahrene Korpusform. Ich konnte mich nicht beherrschen und schlug eine Saite an. Twang. Und schon war’s um mich geschehen. Ich musste so ein Ding haben. Nur der Gedanke daran, mit einer Gitarre bewaffnet dazustehen und von den Girls ringsum angehimmelt zu werden … Das war … erregend.

Zu Weihnachten bekam ich dann eine billige E-Gitarre. Mein alter Freund Johnny Martin bekam ein Schlagzeug. Wir müssen einen Heidenlärm veranstaltet haben. Ich war ganz besonders stümperhaft zugange. Ich bin Linkshänder, und so war alles spiegelverkehrt. Alles an der Gitarre war billig, es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, darauf zu spielen. Selbst ein fähiger Gitarrist hätte seine liebe Not damit gehabt – die Saiten verliefen einen guten Zentimeter über dem Griffbrett. Einen Akkord oder eine Note zu halten glich einer mittelalterlichen Foltermethode. Ich kam also nur mühsam voran.

Dann tat sich die Gelegenheit auf, ein besseres Instrument zu kaufen – eine Watkins Rapier, der Fender Stratocaster nachempfunden. Sie war billig, aber eine für damalige Verhältnisse anständige Gitarre. Die drei Tonabnehmer sahen aus wie chromfarbene Blechdeckel. Sie hatte einen sehr windigen Tremolohebel, Lautstärke- und Tonregler und zwei Schaltknöpfe, wie sie damals an vielen Haushaltsgeräten üblich waren. Meine Watkins war eine normale Rechtshändergitarre, ich musste also umlernen. Ich redete mir selbst ein, blutiger Anfänger zu sein, hauptsächlich um mir weniger dumm vorzukommen. Es war ein echter Kampf. Es ging mir gegen den Strich. Ich mühte mich mit dem Ding ab wie mit einem störrischen Klappstuhl. Den ganzen Tag hatte ich das Gefühl, als wäre irgendwas nicht richtig. Als wäre alles verkehrt rum. Aber ich blieb dran, bis es sich irgendwann richtig anfühlte. Heute könnte ich gar nicht anders spielen (bei der »Luftgeige« allerdings halte ich den Bogen immer noch in der Linken).

Ich fand also meinen Weg und entwickelte ein Gespür für Musik – Akkorde, Riffs und so. Es war die Zeit der Rolling Stones. Deren Outlaw-Image und ihre aufregende Musik, adaptiert von Rhythm-and-Blues-Größen wie Chuck Berry und Bo Diddley, von den großen Männern des Chicago Blues – Muddy Waters, Howlin’ Wolf und all den anderen Künstlern vom Chess Label –, das war die Musik, die ich spielen wollte.

Es gab eine ganze Menge großartiger Gitarristen auf diesen Platten. Mein Held jedoch war ein Kerl aus England: Mick Green von Johnny Kidd & The Pirates. Ich weiß noch, wie ich ihn das erste Mal hörte. Ich hing bei uns zu Hause rum, als der Radio-DJ sagte: »Hier kommen Johnny Kidd & The Pirates!« Ich war gefesselt vom Sound der Gitarre. Ich sehe mich noch heute vor mir: Wie in einem ewigen Standbild festgehalten lauschte ich diesem magischen Klang. Schneidende Töne, abgehackte Akkorde und ein simples, kraftvolles Solo.

Am selben Abend sah ich sie in der Fernsehshow Thank Your Lucky Stars. Unglaublich, dass die nur einen Gitarristen hatten! Wo war der andere? Fast alle Bands hatten zwei, Lead und Rhythmus. Wahrscheinlich war der andere krank geworden. Dieser Typ, der da so seelenruhig rumstand, konnte doch unmöglich all diese Klänge fabrizieren. Aber genau das tat er! Als ich rausfand, dass Mick Green mit einer Gitarre besser klang als alle anderen Bands mit zwei, wusste ich, was zu tun war. Genau so wollte ich spielen können.

Ich hasste die Schule. Ich hasste dieses ständige Gefühl der Unterwerfung. Ich hasste es, von unbedeutenden Menschen tyrannisiert zu werden, die in der echten Welt nie solch eine autoritäre Position hätten ausüben dürfen. Ich starrte aus dem Klassenzimmerfenster und über die Sportfelder. Ich sah einen einsamen Fahrradfahrer. Ich fühlte bitteren Neid, wie ich ihn in die Pedale treten sah, außerhalb der Schulzäune. Er war frei. Er konnte überall hin, wann er wollte. Er musste auf keine Glocke warten oder irgendjemanden mit »Sir« anreden.

Sobald sich die Gelegenheit bot, ging ich von der Schule ab. Ich war sechzehn, ergatterte einen Job in einem Dickens’schen Büro in der Londoner Chancery Lane, musste Stückzahlen begutachten. Sie begutachteten dort eine Menge. Man zeigte mir, wie ich was berechnen musste und das trug ich dann in eine Spalte mit Zahlen ein. Ich überprüfte die Ergebnisse von irgendjemand anderem. Taschenrechner gab’s nicht – kann man sich das heute noch vorstellen? Neben dieser trübseligen Tätigkeit durfte ich auch noch für die Belegschaft Tee kochen. Da gab es diese Telefonistin. Immer wenn ich ihr eine Tasse Tee brachte, sagte sie: »Ooh, danke – Lebensretter!« Jedes Mal.

Ich hatte meinen eigenen kleinen täglichen Ausbruch aus dieser Hölle: Jeden Mittag nahm ich die zwei Treppen runter in die Chancery Lane im Galopp und lief den ganzen Weg zur Denmark Street. Dort gab es Dutzende Musikgeschäfte. Ich brachte meine Mittagspause damit zu, die Fender-Gitarren in den Schaufenstern anzuglotzen. Sie waren unerschwinglich und glänzten wunderschön. Ich bekam schon beim bloßen Anblick der Dinger einen Adrenalinschub und träumte davon, eines Tages eine zu besitzen. Mein Gehalt von drei Pfund und zehn Schilling deckte grad mal die tägliche Zugfahrt ab. Eine Fender war also weit außer Reichweite. War die Mittagspause vorbei, riss ich mich von den Schaufenstern los. Ich rannte zurück zur Chancery Lane, Zahlen überprüfen und Tee kochen. »Ooh, danke – Lebensretter.«

Allein der Weg zur Arbeit jeden Morgen war ein Elend. Zwischen all den Pendlern fühlte ich mich klein und bedeutungslos. Es war schlimmer als die Schule. Ich verkroch mich bis in die hinterste Ecke der Bahnhaltestelle und schaute über das Sumpfland bis zur Raffinerie. Die rätselhaften Türme in ihrem blassen Blau im Morgenlicht – wie eine entrückte, mystische Stadt. Ich nannte sie Babylon. Ein Ort, an dem die Geister frei waren. Ich fühlte mich hilflos angesichts meines unerreichbaren Traums.

Mir wurde klar, dass ich mich auf dem falschen Weg befand. Ich ging zurück zur Schule, um mein Abitur nachzuholen.

Die Oberstufe war um einiges erträglicher – im Grunde genommen war sie ein Witz. Zu dieser Zeit kam der Rebell in mir zum Vorschein. Ich belächelte alles und jeden. Eines Tages machten wir mit der Schule einen Ausflug in die Tate Gallery. Unser Kunstlehrer hatte seine Freundin mitgebracht, und ich trieb ihn mit meiner Ignoranz in den Wahnsinn. Ich beschloss, mich abzusondern und die Ausstellung auf eigene Faust zu erkunden. Und mit einem Mal tat sich dieses Fenster in eine andere Welt auf. Eine Welt voller strahlender Lichter und Farben. Ein gewaltiger Traum, der zum Leben erweckt worden war: Dalis »Metamorphose des Narziß«. Es hatte mich gepackt. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden von den sonnendurchfluteten Landschaften und Fantastereien. Wie ein Farbfoto aus einer anderen Welt – der Welt der Träume. Begeistert erzählte ich meinem Kunstlehrer, was ich gesehen hatte. Mein ätzender Zynismus war vergessen.

Er aber meinte nur: »Ach, vergiss diesen Müll. Schau dir lieber Mark Rothko an.« Auf Mark Rothko konnte ich getrost verzichten. Ich wollte lieber wieder in diese unglaubliche neue Welt eintauchen.

Zurück in der Schule belegte ich den A-Kurs in Kunst. Ich wollte lernen, wie man malt. Ich wollte meine eigenen fantastischen Farbwelten erschaffen.

Auch in Englisch belegte ich den A-Kurs. Ich verliebte mich in die Literatur, besonders Shakespeare und Lyrik im Allgemeinen hatten es mir angetan. Das verlorene Paradies mit seinem gewaltigen Rhythmus. Die Intensität William Blakes. Ich grübelte über Wordsworths Ode an die Unsterblichkeit. Niemals wollte ich mein »Leuchten« verlieren. Ich entwickelte sogar selbst dichterische Ambitionen. Meiner Freundin Irene versicherte ich, mir an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag die Kehle durchzuschneiden, sollte aus mir bis dahin kein großer Dichter geworden sein.

Von nun an also die Malerei, Gedichte und die Gitarre.

Als das erste Album der Rolling Stones erschien, schwänzten ich und ein paar Freunde die Schule. Im Plattenladen entdeckte ich eine gebrauchte 45er von Johnny Kidd & The Pirates, »A Shot Of Rhythm And Blues/I Can Tell«. Der Bo- Diddley-Song »I Can Tell« sollte später eine von Dr Feelgoods Lieblingsnummern werden. Oft begannen wir damit unser Set. Den ganzen Nachmittag hörten wir das Album der Stones rauf und runter. Zwischendrin legte ich die Johnny-Kidd-Single auf. Ich fuhr vollkommen auf die Stones, Rhythm and Blues und Mick Greens Gitarre ab. Ich musste einfach spielen können wie er. Ich legte nur noch Johnny-Kidd-Platten auf und setzte alles daran, diesen abgehackten Sound hinzubekommen. Meine heldenhaften, aber dennoch zum Scheitern verurteilten Versuche, Mick Green zu werden, brachten irgendwann meinen eigenen, eigenwilligen Stil zum Vorschein.

Mein Bruder Malcolm und ich gründeten eine Skiffle-Band. Ich übernahm Mundharmonika und Geige (die ich an meinen Bauch gedrückt spielte), Malcolm Gitarre und Banjo. Aus einer Teekiste, einem Besenstiel und einem Seil bauten wir einen Bass, den Tony Maguire bediente. Wir schmissen unsere Instrumente in die Teekiste und schafften alles zu Canveys kleiner Strandpromenade. Dort spielten wir auf der Straße für Kleingeld. Songs von Leadbelly und alte Bluesnummern. Wenn das Pub dichtmachte, sattelten wir um auf Sentimentalitäten wie »You Are My Sunshine«. Nach dem Kneipenbesuch waren die Leute spendabel. Für Hot Dogs und einige Runden am Flipper reichte es zumindest immer.

Eines Tages kamen drei Jungs zu uns rüber und wollten alles wissen über die Musik, die wir da spielten. Sie waren einige Jahre jünger als wir – vielleicht vierzehn oder so –, aber ihr Anführer wirkte auf mich nicht wie ein Kind. Er war wild. Eine ungeduldige, nervöse Energie ging von ihm aus. Er sprach treffend und klug. Nachdem er wieder verschwunden war, redeten Malcolm und ich noch eine Weile über ihn. Er besaß eine auffällige Persönlichkeit, schien fasziniert von unserer Musik. Sein Name war Lee Collinson. Er und seine Freunde John Sparkes und Chris Fenwick gründeten wenig später ihre eigene Jug-Band.

Ich fing an, in lokalen R’n’B-Bands zu spielen. Eine von ihnen hörte auf den lächerlichen Namen The Flowerpots. (Es gab in dieser Band ständige Besetzungsänderungen. Ich schätze, dass sich einfach niemand jemals in der Position wähnte, zu sagen: »Ähm, wegen dem Namen ...«)

Was ich mir von Mick Green so abgeschaut hatte, zahlte sich langsam aus. Ich war richtig gut geworden. Nur eines fehlte noch zu meinem Glück: Eine Fender Telecaster, wie Mick Green sie spielte.

Es gab eine solche Fender Telecaster im Musikladen in Southend. Sie stand dort im Schaufenster, nur war sie leider unfassbar teuer. Hundertundsieben Pfund. Und das zu einer Zeit, in der das durchschnittliche Gehalt für einen Arbeiter fünfzehn bis zwanzig Pfund betrug. Ich stand also da und starrte sie durchs Fenster an. Ich musste sie haben.

Gleich daneben hatten sie eine wunderschöne rote Fender Stratocaster. Das war damals die ultimative Gitarre. Elegant, geschwungen, ein Designklassiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Tausendmal kopiert und doch unerreicht. Neben dieser stromlinienförmigen Schönheit kam die Tele wie ein zweckdienlicher Prototyp daher. Simpel, ohne große Schnörkel, ein Stück Holz mit einem Schlagbrett aus Plastik und ein paar Chromteilen drauf. Dennoch war das die Gitarre meiner Träume. Es war die Einfachheit, die mich anzog. Eine Maschine. Hinter dem Glas jedoch erschien sie mir Millionen Meilen weit entfernt. Für meine Mutter wäre es nie infrage gekommen, auf Kredit zu kaufen, und in jenen Tagen war die elterliche Zustimmung für Finanzgeschäfte bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr erforderlich.

Telecasters waren damals nicht gerade angesagt. Es war die Zeit nach der Ankunft der Beatles, und die hippen Bands spielten Gibson und Rickenbacker. Meine Traumgitarre war also ein Ladenhüter. Um das Ding loszuwerden, senkten sie schließlich den Preis. Erst hundert Pfund, dann neunzig. Ich machte ihnen ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten: Ich legte zehn Pfund auf die Ladentheke und versprach, Woche für Woche, mit allem, was ich irgendwie zusammenkratzen konnte, wiederzukommen. Bis ich den vollen Betrag abgestottert hätte, würde die Gitarre im Laden bleiben.

Jeden Samstag kam ich wieder. Taschengeld, Essensgeld, alles Geld, das ich auftreiben konnte, brachte ich vorbei. Dann holten sie die Gitarre aus dem Hinterzimmer, und für ein paar Stunden durfte ich sie spielen, streicheln, anschauen, an den Knöpfen rumdrehen und so tun, als wäre ich Mick Green. Bei Ladenschluss verschwand sie wieder im Hinterzimmer und ich nach Canvey Island. Zu Fuß, um das Geld für den Bus zu sparen.

Da ich kaum was hatte, ging das eine ganze Weile so. Irgendwann begannen sie den Deal zu bereuen. Die Nachfrage nach Telecasters war inzwischen wieder gestiegen. Eric Clapton und Jeff Beck hatten sie wieder in Mode gebracht. Man wollte das Objekt der Begierde also wieder im Schaufenster hängen haben. Mir wurde sogar eine teure Gibson zum Tausch angeboten. Genauso gut hätten sie die Queen nach ihren Kronjuwelen fragen können. Ich hatte allerdings noch nicht mal zur Hälfte abbezahlt. Ein Ende war also nicht in Sicht. Ich musste handeln. Meine Freundin Irene hatte ein Sparbuch bei der Post. Unter größter Geheimhaltung (ihr Dad hätte mich kreuz und quer über Canvey Island geprügelt) hob sie das Geld ab. Die Telecaster gehörte mir. Gott, ich liebte dieses Mädchen. Die Gitarre habe ich bis zum heutigen Tag. Irene leider nicht.

Irene Knight war das schönste menschliche Wesen, das ich je kennengelernt habe. Sie war herzensgut und großmütig. Ihr freundliches Naturell strahlte durch ihr hübsches Gesicht. Ihr Lächeln war einfach wunderschön. Vierzig Jahre lang hat sie mich geliebt und umsorgt, mich beschützt und ertragen. In guten und in schlechten Tagen, was auch passierte, was ich auch tat, sie stand mir bei. Wenn ich mal umfalle und sterbe, wird sie mich zudecken. Sie war mir immer treu. Sie war mein Rückhalt in diesem Universum, auf sie war immer Verlass.

Wir waren noch Teenager, als wir uns trafen. Eines Abends, auf dem Heimweg vom Jugendzentrum, vor ihrer Tür, da küsste ich sie einfach. Es hatte mich voll erwischt. Mein Herz schlug wie wild. Alles drehte sich. Ich wusste: Die war es. Und von da an waren wir zusammen. Sie war ein Teil von mir. Meine bessere Hälfte. Jeder liebte sie.

Sie konnte auch anders – sie hatte vor niemandem Angst –, ihre hervorstechendste Eigenschaft aber war ihre Freundlichkeit. Vielleicht lag es an ihrem Lächeln. Sie behandelte jeden wie einen alten Freund. Selbst am Telefon. Geschäftsanrufe verwandelte sie in lange, warme Gespräche. Wenn sie krank zu Hause im Bett lag, fragte mich die alte Dame im Laden am Eck: »Wo haben Sie denn ihr Lächeln gelassen?«

Ich kann mir da auch nicht helfen – sie war mein Canvey- Island-Mädchen, und ich werde ihr immer treu ergeben sein.

Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal besuchte. Sie hatte ein paar von uns zum Kaffee eingeladen – mich, Figure und Malcolm. Ihre Eltern hießen uns freundlich willkommen und boten uns Kaffee an. Das kam mir seltsam vor. Allein der Gedanke daran, jemanden zu uns nach Hause einzuladen, war unvorstellbar. Unser Bungalow war ein dunkler Ort, erfüllt von der unheilvollen Gegenwart meines Vaters. Ich saß also in diesem Zimmer, und so langsam dämmerte mir, dass ich in einem tatsächlich glücklichen Heim gelandet war. Irene und ihre Eltern, Jim und Ivy. Man konnte die Zuneigung, die sie füreinander hatten, regelrecht mit Händen greifen. Mir war bis dahin nicht bekannt, dass so was überhaupt existierte. Ein gepflegtes, kleines Zuhause und eine Familie, die sich liebte und gerne Zeit miteinander verbrachte. Nicht wie bei uns, wo Misstrauen und Furcht herrschten. Ich war zwar mittlerweile zu groß geworden, als dass mein Vater es noch gewagt hätte, handgreiflich zu werden. Das schlechte Verhältnis zwischen uns aber war geblieben. Ich hätte Irene niemals zu uns eingeladen, solange er noch da war.

Von uns drei Kindern habe ich wohl am meisten unter seinen Wutausbrüchen gelitten. Margaret war ein Mädchen, und Malcolm war noch so klein. Er und ich standen uns sehr nah. Wir teilten uns ein Zimmer. Wir hatten unsere eigene Fantasiewelt, wenn das Licht ausging. Dann konnte ich Kapitän der Queen Mary sein, während Malcolm über die Royal Daffodil befehligte. Das war ein kleiner Ausflugsdampfer, auf dem wir als Kinder mal gewesen waren – Seeabenteuer, Piraten und so Zeug. Oder wir hörten dem mysteriösen Klang der Nacht zu. Wir lebten in ständiger Angst vor dem gemeinen Fensterputzer.

Eines nachts sahen wir hinter dem Vorhang einen bedrohlichen Schatten. Er sah aus wie ein böses Monster und jagte uns eine Riesenangst ein. Malcolm sagte: »Keine Angst! Dad kommt und dann schreit er »Donnerwetter!« und dann tötet er es!«

Wie alle jüngeren Brüder machte Malcolm mich in allem nach. Er kam mit mir Angeln (und fing die größeren Fische), wir gingen Radfahren und irgendwann packte ihn auch der Rock’n’Roll. Eines Tages aber entdeckte er Bach auf der Gitarre, und das war fortan sein Ding. Er studierte Musik und wurde klassischer Gitarrist. Er hatte seine Berufung gefunden. Außerdem war es etwas, das ich nicht konnte. Im Gegensatz zu mir blieb er auch an der Malerei dran. Aus ihm wurde ein herausragender Künstler, der viele Preise abräumte. Seine Kunst wurde sogar von der Royal Watercolour Society ausgestellt.

Unsere Mutter hielt den Laden am Laufen. Sie war eine kluge und gebildete Frau. Sie sorgte dafür, dass wir die Schule nie aus den Augen verloren. Sie arbeitete sehr hart dafür, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten. Sie schrubbte den Boden für die Gasfirma, um für unsere Schuluniformen zu bezahlen. Sie mochte ihr Leben nicht besonders. Sie hatte für Canvey Island, wohin sie dieser Soldat verfrachtet hatte, im Grunde nichts als Verachtung übrig. Sie lebte nicht unter den ihr angemessenen Umständen, und das machte sie jedem klar. So kam es, dass ich mich immer ein bisschen für meine Herkunft schämte. Es gab bei uns kaum Zuneigung. Ich kann mich nicht erinnern, meine Mutter jemals geküsst zu haben. Wir hielten das für normal, und wir kamen damit klar. Und deshalb konnte ich Irene nicht zu uns zum Kaffee einladen.

Aber sie war meine Freundin, und ich hatte meine Telecaster.

In der Zwischenzeit hatte Johnny Martin den Führerschein gemacht und fing an, sich für Autos zu begeistern. Große, schwere Limousinen wie Wolseleys oder Jaguare waren genau sein Ding. Lange Zeit fuhr er einen verbeulten Austin Westminster. Das war ein Riesenschiff im Stil der Fünfzigerjahre. Vor langer Zeit war das mal luxuriös gewesen. Angesagt waren damals zwar aufgemotzte Ford Anglias mit fetten Reifen, zu Figure jedoch passte der Westminster perfekt. Nur leider war er schrottreif. Wir rasten damit – heillos verspätet – zu meiner Hochzeit. Figure war mein Trauzeuge und hatte sein Bestes getan, den Westminster respektabel aussehen zu lassen. Doch der Fahrtwind riss die Bänder und Schleifen mitsamt der Kühlerfigur vom Auto und blies alles über unsere Köpfe. Immerhin schafften wir es pünktlich zum Standesamt.

Wir liebten es, durch die Nacht zu fahren. Figure tauchte für gewöhnlich bei uns zu Hause auf, wenn das Fernsehprogramm vorüber war. Dann ging’s los. Er sagte immer: »Weißt du, ich bin mir sicher, wir sehen heut Nacht noch ’ne fliegende Untertasse!« Die Straße von Canvey Island weg runter zu jagen versetzte uns einen Kick. Vorfreude hing in der Luft. Allerdings haben wir nie ein UFO gesehen. Haben nur Kaffee am Automaten der 24-Stunden-Tankstelle rausgelassen und dann zurück nach Hause.

Ich schrieb ein Gedicht über unsere nächtlichen Expeditionen. Ich benutzte mein Zickzack-Reimschema: Die vierte Silbe jeder Zeile reimte sich mit der letzten Silbe der nächsten.

Get your kicks on the B1014

He comes most nights – I hear his car pull up

Outside and catch the glancing blur of lights

Through curtains – drinking Nescafé, we watch

The Epilogue, laugh at the priest, then think

Where to drive that night. We catalogue

The usual suggestions and arrive


At the same decision as usual.


The road lies straight, lamps stream like amber flames

Shot down the wind as we accelerate,


Our talk of girls and cars, our journey’s end


The all-night filling station’s Robo-Serve


Coffee machine. That’s it – we talk until


We’re bored and then drive back. It’s a routine

Which kills night after night, yet always when


We move, cabined, through empty streets, the half-

Light seems loaded with strange drama and


We thunder down an apprehensive road.

Einmal fuhr uns Figure zum Damm, wo die Raffinerien sind. Figure hatte ein Faible für impulsive Aktionen, und anstatt anzuhalten und das Auto irgendwo zu parken, fuhr er einfach den steilen Damm hinauf. Wir drehten uns, und auf einmal hingen wir nur noch von der Gnade der Schwerkraft ab. Figure schrie: »Vollgas!«, während wir auf dem Damm wippten, drauf und dran, die Zwei-Tonnen-Karre in den Dammboden zu versenken. Ich weiß nicht, was letztendlich den Ausschlag gab, jedenfalls kam das Auto wieder in die richtige Position, und wir fuhren langsam zurück auf ebenen Boden. Dumm, lächerlich und sinnlos. Und wirklich gefährlich. Aber damals schien es uns eben eine gute Idee zu sein.

Figure war sehr abergläubisch. Wir verbrachten viel Zeit auf dem Friedhof, wo wir allerlei Mutmaßungen anstellten. Er erzählte mir von einer Kirche, die wohl das am meisten bespukte Gebäude in ganz Essex war. »Es stimmt wirklich!«

»Wie kommst du darauf?«

»Naja, hab’s in der Bücherei gelesen. In ’nem Sachbuch.«