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Nach dem Tod seines Vaters übernimmt Magnus Wohlfahrt die Leitung des Familienunternehmens. Doch schon bald stößt er auf dubiose Machenschaften: Sein Vater war keineswegs ein sauberer Geschäftsmann, sondern arbeitete mit der Drogenmafia zusammen. Musste er dafür mit seinem Leben bezahlen? Magnus weigert sich, weiter Drogengelder zu waschen, doch damit macht er sich übermächtige Feinde. Als diese seinen Bruder ins Visier nehmen, beschließt Magnus, die Flucht nach vorne anzutreten. Ein tödliches Spiel beginnt, in dem er entweder gewinnt - oder alles verliert ...
Die Kriminalromane von SPIEGEL-Bestsellerautorin Rebecca Gablé bei beTHRILLED in der richtigen Reihenfolge (jeder Krimi kann für sich gelesen werden):
Jagdfieber
Die Farben des Chamäleons
Das letzte Allegretto
Das Floriansprinzip
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 500
Krimis:
Das Floriansprinzip
Die Farben des Chamäleons
Jagdfieber
Historische Romane:
Die fremde Königin
Teufelskrone
Hiobs Brüder
Das zweite Königreich
Das Lächeln der Fortuna
Das Haupt der Welt
Die Waringham Saga
Der Palast der Meere
Der dunkle Thron
Der Hüter der Rose
Von Ratlosen und Löwenherzen
Der König der purpurnen Stadt
Das Spiel der Könige
Nach dem Tod seines Vaters übernimmt Magnus Wohlfahrt die Leitung des Familienunternehmens. Doch schon bald kommt er dubiosen Machenschaften auf die Spur: Sein Vater war keineswegs ein sauberer Geschäftsmann, sondern hat mit der Drogenmafia zusammengearbeitet. Musste er dafür mit dem Leben bezahlen? Magnus weigert sich, weiterhin Drogengeld zu waschen, doch damit macht er sich übermächtige Feinde. Als die seinen Bruder ins Visier nehmen, beschließt Magnus, die Flucht nach vorn anzutreten. Ein tödliches Spiel beginnt, in dem er entweder gewinnt – oder alles verliert …
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.
Rebecca Gablé studierte Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik in Düsseldorf, wo sie anschließend als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig war. Heute arbeitet sie als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann am Niederrhein und auf Mallorca. Ihre historischen Romane und ihr Buch zur Geschichte des englischen Mittelalters wurden allesamt Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Besonders die Romane um das Schicksal der Familie Waringham genießen bei Historienfans mittlerweile Kultstatus.
REBECCA
GABLÉ
DAS LETZTE ALLEGRETTO
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 1998 by Rebecca Gablé
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Karin Schmidt
Covergestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: pashabo | Harsanyi Andras | nikkytok | hvoya
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2161-5
be-thrilled.de
lesejury.de
Europa schläft. Die Menschen in Deutschland glauben, die Mafia sei ein Gespenst. Dabei könnten sie sie sehen, wenn sie vor ihre Haustür treten. Sie müssten nur die Augen öffnen. Bald wird Europa Albträume haben.
Giovanni Falcone, Richter (ermordet am 23.5.1992)
Die multinationalen Verbrechersyndikate verfügen über die größten beweglichen Geldvorräte der Welt. Der EG-Binnenmarkt wird die größte Konzentration von Reichtum, die es je gab, entstehen lassen. Dieses immense Chancen bietende Terrain wird naturgemäß kriminelles Kapital anziehen. Europa wird für Gangster der ideale Platz sein.
Charles Saphos, Experte für organisierte Kriminalität,
Interpol USA
Sie würden ihn nicht kriegen. Nie und nimmer. So, wie er sich fühlte, hätte er Carl Lewis über hundert Meter auf einem Bein hüpfend geschlagen. Das Blut rauschte beinah gemächlich durch seine Adern, er konnte fast spüren, wie es durch die geweiteten Gefäße pulsierte.
Er lief, aber er rannte noch nicht. Sein Schritt war leicht und gleichmäßig, ›flink‹ war das Wort, das ihm in den Sinn kam, flink wie ein Hase. Er überquerte die Straßenbahnschienen, während die Jäger noch über den dunklen, verwaisten Parkplatz des Einkaufszentrums stolperten. Vielleicht hatte er sie mit seinem hasengleichen Zickzackkurs verwirrt. Möglicherweise hatte er sie schon abgehängt. Er lachte lautlos, nicht viel mehr als ein Lächeln und ein kurzer Wechsel in seinem Atemrhythmus. Dann pumpte er wieder Luft in seine Lungen, in langen, gleichmäßigen Zügen.
Er hörte ihr Getrampel, als sie hinter ihm zur Parkplatzausfahrt kamen. Ihre Schritte erschienen ihm unglaublich laut und polternd. Er lief ein Stück die Schienen entlang und überquerte dann die Straße.
»Warte doch mal, Taco!«, brüllte einer der Jäger. Er klang kurzatmig, frustriert, ein bisschen ängstlich vielleicht. »Wir wollen doch nur reden!«
Oh, klar doch, klar doch. Wenn du reden willst, warum rufst du mich nicht an, Sackgesicht? Was kann so wichtig sein, dass es unbedingt hier und jetzt sein muss, um halb drei an einem eiskalten, nebligen Montagmorgen? Nein, ich kann nicht so richtig dran glauben, dass du mit mir reden willst, dachte Taco. Aber er sparte seinen Atem. Sein Vorsprung war nicht groß genug, um auch nur einen Meter zu verschenken, indem er zurücksah.
Er kam an die Bahnunterführung. Ein Zug donnerte über seinen Kopf hinweg und übertönte das Elefantengetrampel seiner Verfolger. Wohin jetzt? Weiter die Straße entlang? Nichts rührte sich hier um diese Zeit. Die Fenster der geistlosen Nachkriegshäuser waren alle dunkel, kein Mensch auf der Straße, und nur in der Ferne ab und zu ein Auto. Er fasste einen schnellen Entschluss, wandte sich nach rechts und lief in die funzelig beleuchtete Halle des kleinen S-Bahnhofs. Der Kiosk und der Blumenladen waren natürlich geschlossen. Ein Penner saß neben der Aufzugtür an der Wand, seine blaue Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Er schlief, und er wachte auch nicht auf, als Taco pfeilschnell an ihm vorbei die Treppe hinaufschoss. Eine breite, graue Bahnsteigtreppe. Dreißig Stufen. Vierzig höchstens. Er nahm je zwei auf einmal, und als er auf dem Bahnsteig ankam, spürte er den ersten, verräterischen Stich in der Seite. Er weigerte sich, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Eine schummrige, flackernde Leuchtstoffröhre beleuchtete den Fahrkartenautomaten. Sie war die einzige Lichtquelle.
Er hörte Schritte auf der Treppe, sprang auf die Gleise und lief tief geduckt Richtung Güterbahnhof. Der Schotter knirschte unter seinen Schuhen, und er versuchte, nur auf die Schwellen zu treten. Er sprang von Schwelle zu Schwelle, immer noch leichtfüßig. Kein Hase mehr, überlegte er, eine Antilope. Die Stiche in seiner Seite verschlimmerten sich, und er hatte angefangen, durch den Mund zu atmen. Die kalte Nachtluft tat ihm in der Kehle weh.
Hinter ihm knirschte Schotter. Sie waren ihm immer noch auf den Fersen. Dichter als vorher, hätte man meinen können, aber das hielt er für ausgeschlossen. Unmöglich, dass irgendwer ihn einholen konnte. Trotz der Seitenstiche war er nicht langsamer geworden. Im Gegenteil, wenn’s sein musste, konnte er sogar noch einen Schritt zulegen.
Er legte einen Schritt zu.
Sieben oder acht Lastwagen standen nebeneinander, unförmige, große Schatten, nicht nachtblau, sondern tiefschwarz. Er lief daran entlang und kam zu zwei langen Reihen von Containern, zwischen denen eine schmale Gasse lag. Er taumelte jetzt leicht, fühlte sich ein bisschen schwindelig und streifte im Laufen mit der rechten Hand über die gewellten Containerwände. An welchen Ort der Welt würden sie wohl reisen, diese Container? Hongkong? Neuseeland? Curaçao vielleicht? Oder kamen sie von einem dieser Orte und waren schon am Ziel? Waren sie beladen oder leer? Vielleicht wäre es nicht dumm, sich in einem Container zu verstecken, bis die verdammten Seitenstiche aufhörten.
Die Schritte hinter ihm schwollen an. Sie hallten in der schmalen Gasse.
Seine Knie funktionierten nicht mehr richtig. Eben noch waren ihm seine Beine wie gefühllose, unermüdliche Kolben erschienen, jetzt hatte er ein waberndes Gefühl in den Knien, und sie wollten einknicken. Er senkte den Kopf und drückte das Kinn auf die Brust. Endlich kam er an das Ende der Gasse. Er umfasste die Kante des letzten Containers, um sich in einer möglichst engen Kurve nach rechts zu katapultieren, und schlug der Länge nach hin.
»Mist …«
»Taco! Wo bist du?«
Hier, Sackgesicht. Keine zwanzig Meter vor dir liege ich mit der Nase im Dreck. Er widerstand einem mächtigen Drang, die Augen zu schließen, rappelte sich wieder auf und lief gekrümmt über eine kleine Freifläche. Ein hoher Maschendrahtzaun trennte das Gelände des Verladebahnhofs vom Rest der Welt. Das Metall schimmerte schwach in der Dunkelheit, und ein halb singendes, halb rasselndes Geräusch erklang, als Taco daran hochsprang. Er klammerte sich mit gespreizten Fingern an den Waben des Maschendrahtes fest und versuchte, mit den Schuhspitzen Halt zu finden. Es klappte nicht. Seine Turnschuhe waren vorne zu rund. Er strampelte, versuchte einen Klimmzug, als eine Hand ihn am Hosenbund packte. Die Hand zerrte ihn abwärts, der Draht schnitt in seine Finger, und sie gaben nach. Er fiel, und sie fingen ihn auf. Sie waren zu dritt. Zwei drehten ihm die Arme auf den Rücken, so dass er sich nicht rühren konnte. Taco stand leicht gekrümmt, um seine verdrehten Schultern zu entlasten und weil er sich völlig verausgabt hatte. Er rang nach Luft, keuchte und betrachtete die Schuhe seines Gegenübers.
»Wenn ich mich nicht irre, waren wir verabredet«, stellte Ali Sakowsky – das Sackgesicht – fest. Er keuchte auch.
Taco hob den Kopf und versuchte, entwaffnend zu lächeln. »Tut mir leid. Ich hab’s vergessen.«
»Macht ja nichts. Jetzt haben wir uns ja gefunden. Also?«
»Ali … nächste Woche. Ehrenwort.«
»Ich glaub, ich hör nicht richtig.«
»Ich wollt es dir wirklich heute geben, aber es hat einfach nicht geklappt. Hör mal … Ich kann verstehen, dass du wütend bist, aber wenn du mir jetzt in den Magen boxt, musst du damit rechnen, dass ich dir auf deine Guccischuhe kotze.«
»Sag mal, weißt du eigentlich, wie viel Geld du mir schuldest?«
Taco überschlug die Summen im Kopf und rundete auf. »Fünftausend?«
»Zwölf.«
»Oh, Scheiße. Ist das wahr?«
»So wahr ich hier stehe.«
»Ich hab … irgendwie den Überblick verloren.«
Ali packte ihn bei den Haaren. »Das scheint mir auch so. Ich war wirklich geduldig mit dir, Taco, aber ich kann das nicht einreißen lassen. Ich muss an meinen Ruf denken. Also, was hast du mir anzubieten?«
»Tausend hab ich dabei. Das ist alles.«
Alis Pranke landete links und rechts in seinem Gesicht, und etwas wie eine schrille Glocke ertönte in seinem Kopf.
»Ich glaube, du willst mich verscheißern.«
Taco atmete tief durch und versuchte, die Zähne zusammenzubeißen. Er hatte Angst. Einer von Alis Freunden zog das Portemonnaie aus seiner Hosentasche und reichte es Ali. Er klappte es auf, zog ein paar zerknitterte Scheine heraus und zählte. »Zwölf, vierzehn, sechzehnhundert. Also gut. Das ist ein Anfang. Der Rest nächsten Sonntag, Taco.«
»Einverstanden.«
»Es kann doch nicht so schwierig sein, bei deinem steinreichen Daddy ein paar Scheine lockerzumachen.«
Doch. Es war schwierig. Es war sozusagen unmöglich. »Nein, nein, ich regle das schon.«
Ali legte ihm eine seiner massigen Hände auf die Schulter. »Nächsten Sonntag ist die allerletzte Frist. Deadline. Hast du verstanden?«
»Ja, sicher.«
»Gut. Siehst du, mit ein bisschen gutem Willen lässt sich doch alles klären. Lasst ihn los«, wies er seine Getreuen an.
Taco richtete sich erleichtert auf und verkniff es sich, mit der Linken die rechte Schulter zu massieren.
»Also, Taco. Bis Sonntag. Solltest du mich wieder versetzen, werde ich schwer enttäuscht sein. Und Leuten, die mich enttäuschen, breche ich eine Hand.« Er lächelte warmherzig. »Klar?«
Taco schluckte und unterdrückte mit Mühe ein Schaudern. »Ich … vergess es bestimmt nicht.«
»Nein, das glaub ich auch nicht.« Ali donnerte ihm seine Hammerfaust mitten in den Magen und brachte seine Guccischuhe rechtzeitig in Sicherheit.
Magnus stand am Fenster, band seine Krawatte und sah auf den Rhein hinunter. Dicker Nebel stieg vom Wasser auf und hüllte die langen Lastkähne ein, die langsam vorbeiglitten. Sie wirkten schemenhaft, wie Geisterschiffe. Dichter Morgenverkehr herrschte auf der Straße, die Abgase vermischten sich mit dem Nebel zu einem dicken, grauen Brei. Kein erfreulicher Anblick. Aber in ein, zwei Stunden würde der Nebel sich lichten, und die Sonne würde hervorkommen, um den Fluss, die pastellfarbenen Fassaden der alten Häuser und das bunte Laub der Bäume entlang der Straße anzustrahlen. Goldener Oktober, keine Jahreszeit stand Oberkassel besser.
Er zog sein Jackett an und ging in seine geräumige Küche hinüber, ein heller, hoher Raum mit einem großen Tisch in der Mitte und altmodisch anmutenden Küchenutensilien. Er hatte keine Zeit zum Frühstücken. Er trank einen Becher Kaffee im Stehen und warf einen Blick in die Zeitung. ›Bundesbank senkt dritten Leitzins‹, stand unten rechts auf Seite eins. Magnus lächelte zufrieden. Schönen Dank auch, die Herren. Machen Sie nur weiter so …
Er sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Japaner waren überpünktlich, und es wäre ausgesprochen unhöflich, sie warten zu lassen. Durch einen kurzen Flur gelangte er in den vorderen Teil der Wohnung auf der Westseite, wo sein Büro lag. Der Raum war einmal der Salon der Beletage gewesen, mit Stuckdecke und einem Erkerfenster mit verzierten Rundbögen und allem, was man sich nur denken konnte. Jeder, der den Raum betrat, war gebührend beeindruckt. Als Büro war er daher hervorragend geeignet, aber als Wohnzimmer für einen allein wäre er zu groß gewesen. Seit seiner Kindheit hatte Magnus eine Aversion gegen große Räume, er fühlte sich immer verloren darin. Sein Wohnzimmer war das kleine Kaminzimmer neben der Küche, ein anheimelnder Raum mit ein paar Bücherregalen und wenigen Möbeln. Klein genug, um sich nicht einsam zu fühlen. Er war daran gewöhnt, allein zu leben. Es machte ihm nichts mehr aus, aber es entsprach nicht seiner Natur.
Die Schlüssel und alle Unterlagen, die er brauchen würde, lagen griffbereit auf seinem Schreibtisch. Er steckte sie in seine Aktenmappe, warf sich den Mantel über den Arm und ging. Unten auf der Straße sah er noch einmal auf die Uhr, rang einen Augenblick mit sich und ging dann kurz beim Bäcker vorbei. Er aß sein Croissant auf dem Weg zum Parkplatz, klopfte ein paar Krümel von seinem Jackett und machte sich auf den Weg.
Er kam zwei Minuten zu früh, aber die Japaner waren schon da. Zwei ältere Herren mit grauen Schläfen und passenden Anzügen, ein junger Kerl, der respektvoll einen Schritt hinter den anderen stand.
Magnus machte eine kleine Verbeugung. »Guten Morgen. Mein Name ist Magnus Wohlfahrt.«
Die Japaner erwiderten den Gruß stumm, und nach einem Augenblick murmelte einer der älteren etwas über die Schulter. Der jüngere machte einen halben Schritt vorwärts. »Dies sind Herr Haschimoto und Herr Ojinaki.« Magnus konnte nicht ausmachen, welcher welcher war, aber das war ja auch egal. Er machte zwei kleine Diener in dieselbe Richtung. »Haschimoto-san, Ojinaki-san.«
Die Herren nickten mit versteinerter Miene. »Mein Name ist Susami, wir hatten telefoniert«, fuhr der Junge fort. Er schien ziemlich nervös. Magnus nickte freundlich, aber es war keine Verbeugung. Er wusste nicht viel über Japaner, aber ein paar Faustregeln der Höflichkeit hatte er gelernt, es machte das Leben leichter und vor allem erfolgreicher. Regel Nummer eins war: Dem Ältesten gebührt immer die größte Hochachtung, dem Jüngsten die sparsamste.
Er kramte den Schlüssel aus der Aktentasche. »Wollen wir hineingehen? Es ist gleich hier.«
Es war ein Bürogebäude aus den sechziger Jahren auf der Trinkausstraße, nicht gerade ansprechend, die Fassade graubraun, eine altmodische Glastür und kleine Fensterchen wie ein Legohaus und weit und breit keine Parkplätze. Die beiden graumelierten Herren sahen missmutig daran hoch.
Magnus tat, als bemerkte er ihre Skepsis nicht. »Wenn Sie erlauben, gehe ich vor.« Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn verstehen konnten, aber sie folgten ihm willig hinein. Das Büro lag in der zweiten Etage. Zweihundertdreißig Quadratmeter, sieben Büros unterschiedlicher Größe, Teeküche, zwei Toiletten. Es sah schäbig und verwohnt aus, wie verlassene Räume es immer tun. Die Japaner nahmen sich viel Zeit, alles genauestens zu begutachten. Schwarze Augen folgten den schmuddeligen Laufspuren auf dem Teppichboden und betrachteten vergilbte Wände mit rechteckigen Flecken, wo Bilder gehangen hatten. Sie redeten in kurzen, abgehackten Sätzen. Sie klangen uneins und unzufrieden, fast wütend. Aber irgendwie klangen sie immer so, das musste nicht unbedingt etwas heißen.
Der Junge wurde herbeigewinkt und war sogleich zur Stelle. Sie gaben ihm ein paar barsche Anweisungen. Er wandte sich an Magnus.
»Wie hoch sollte die Miete gleich wieder sein?«
Sie wussten genau, wie hoch. Sie hatten drei Tage lang Zeit gehabt, das Exposé zu studieren und sich an die Höhe der Mietforderung zu gewöhnen. Aber Magnus spielte bereitwillig mit. Er öffnete seine Aktentasche, zog die Unterlagen heraus, blätterte einen Moment und sah dann stirnrunzelnd auf. »Zehntausenddreihundertfünfzig.«
Der Junge blinzelte bestürzt. »Kalt?«
Magnus rang um ein ernstes Gesicht. »Kalt, Susami-san. Aber die Nebenkosten machen den Braten nicht fett.«
»Wie bitte?«
»Sie erhöhen die monatlichen Kosten nur unerheblich.«
»Wie unerheblich?«
»Nun, Ihre Stromkosten kann ich nicht vorhersagen, aber Heizung und Wasser und so weiter belaufen sich schätzungsweise auf fünfhundert Mark.«
Haschimoto/Ojinaki stellte eine Frage, die Susami folgsam übersetzte. »Wer trägt die Renovierungskosten?«
»Der neue Mieter. Aber mehr als ein neuer Boden und ein paar Eimer Farbe sind nicht notwendig. Telefon- und Datenleitungen liegen in allen Räumen. Wenn nötig, können Sie auch im Waschraum ein Modem anschließen.« Er meinte das nicht als Scherz. Es gab genug Leute, Japaner und andere, die daran glaubten, dass Zeit immer Geld sei, ganz gleich, wo man sie verbringt.
Haschimoto/Ojinaki sah ihm direkt in die Augen. »Es ist sehr teuer«, verkündete er nahezu akzentfrei.
Magnus nickte und senkte den Blick. Das war Regel Nummer zwei. Nie zu lang in die Augen sehen, es wirkt anmaßend.
»Das ist es. Aber dafür ist es nur zehn Schritte von der Königsallee entfernt. Viele Menschen glauben, das Prestige der Lage rechtfertige die Preise. Und die Büroflächen hier lassen sich leider nicht vermehren.« Er überlegte, ob er sein zweites Angebot auf der Hüttenstraße ins Gespräch bringen sollte. Die Räumlichkeiten waren viel ansprechender, in besserem Zustand und deutlich preiswerter. Aber wer konnte ahnen, ob Haschimoto/ Ojinaki seinen Vorschlag nicht als beleidigend, als drohenden Gesichtsverlust verstehen würde. In dem Fall könnte er sich das Geschäft des Monats aus dem Kopf schlagen.
Er machte eine einladende Geste. »Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Sehen Sie sich in Ruhe um. Der nächste Besichtigungstermin ist erst morgen früh. Sie haben also Zeit bis heute Abend, sich zu entscheiden.«
Haschimoto/Ojinaki blinzelte beinah unmerklich. »Warum sagen Sie das?«
Magnus verstand nicht sofort, was er meinte. »Bitte?«
»Finden Sie es klug, mir das zu sagen? Warum sagen Sie nicht, Sie hätten heute noch fünf weitere Besichtigungen? Warum sagen Sie nicht … wie heißt das? Man rennt Ihnen das Tor ein?«
»Tür.«
»Das Tür.«
»Die.«
»Ah.«
»Weil ich einigermaßen sicher bin, dass Sie es nehmen werden, Herr … tut mir leid, ich bin nicht sicher, wer wer ist.«
»Haschimoto.« Ein kleiner Faltenkranz bildete sich um seine Augen. »Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, zu behaupten, Sie seien ein ehrenhafter Geschäftsmann.«
Magnus grinste. »Wer weiß. Vielleicht bin ich das.«
»Sie meinen also, ich werde es nehmen?«
»Es ist mein Eindruck. Ich mag mich irren.«
Haschimoto wandte sich mit einem kleinen Nicken ab und machte einen gemächlichen zweiten Rundgang. Ojinaki schloss sich ihm an, Susami bildete die Nachhut und zog den Kopf ein.
Magnus stand mit seiner Aktenmappe unter dem Arm in der mickrigen Diele und bemühte sich, ganz entspannt zu wirken, so, als habe er alle Zeit der Welt. Ein erster Sonnenstrahl brach durch die Hochnebeldecke. Er ließ die Flecken auf dem gelbsuchtfarbenen Teppichboden noch etwas deutlicher hervortreten, aber er machte die leeren Büroräume merklich heller.
Endlich kam das Trio zu ihm zurück. Haschimoto nickte ihm ernst zu. »Es ist in keinem guten Zustand und viel zu teuer. Aber leider waren vergleichbare Angebote noch wesentlich schlechter. Ich schätze, Sie haben recht. Ich würde es gern nehmen.«
»Schön.«
»Aber Ihre Provision ist zu hoch.«
Magnus unterdrückte ein Seufzen. »Mag sein. Aber sie ist bedauerlicherweise kein Verhandlungsgegenstand. Ich gehöre einem Maklerverband an, der die Provisionen festschreibt.«
Haschimoto zeigte ein sekundenschnelles Haifischlächeln. »Ist das so? Wie ausgesprochen vorteilhaft für Sie.«
»Es hat Vor- und Nachteile.«
Es herrschte ein kurzes Schweigen. Haschimoto und Ojinaki wechselten einen Blick.
»Die Hälfte jetzt, die zweite Hälfte in drei Monaten«, sagte Haschimoto. Es klang nicht wie ein Vorschlag, sondern wie eine Anordnung.
Magnus erkannte einen Granitblock, wenn er ihn vor sich hatte. »Einverstanden.«
Eine Unzahl kleinerer und größerer Verbeugungen wurden ausgetauscht. Haschimoto und Ojinaki unterschrieben einen Vorvertrag. Susami wurde losgeschickt, den Wagen zu holen. Und Magnus versuchte, nicht wie ein Trottel vor sich hin zu grinsen.
Sie trennten sich auf der Straße.
»Ich schicke Ihnen die Verträge«, versprach Magnus.
Haschimoto schüttelte den Kopf. »Rufen Sie an, wenn sie fertig sind, ich lasse sie abholen.«
»Wie Sie wollen.«
»Ich danke für Ihre Mühe.«
Magnus verneigte sich.
»Möglicherweise werde ich Sie weiterempfehlen.«
»Ich wäre sehr geehrt, Haschimoto-san.«
Mit einem rätselhaften kleinen Lächeln stieg der ältere Mann in den Fond seiner Nobelkarosse. Magnus wartete, bis sie in die Kö abbog und verschwand, dann ging er zu seinem Wagen zurück. Er pfiff leise vor sich hin. Die Sonne schien, er hatte gerade ein Geschäft abgeschlossen, das es ihm rein theoretisch erlaubt hätte, sich für den nächsten Monat auf die faule Haut zu legen. Er fühlte sich unbeschwert und jung und gesund, im Einklang mit der Welt. Zufrieden war vermutlich das richtige Wort. Er versuchte, es auszukosten, solange es währte. Er wusste, es konnte nicht lange so bleiben, er gehörte nicht zu den Menschen, die lange zufrieden sein können. Ihm war klar, es war flüchtig und vergänglich.
Er war schon mit den Schmerzen in der Brust aufgewacht. Es war ein grauenhaftes Gefühl, eine Art Enge, als könne er spüren, wie die schon verengten Gefäße sich noch weiter zusammenzogen. Heute schien es besonders schlimm. Aber er hatte dieses Gefühl zu oft, um deswegen noch in Panik zu geraten. Er hatte sich beinah daran gewöhnt. Zumindest damit arrangiert. Er glaubte eigentlich nicht, dass heute der Tag war, an dem er sterben würde.
Carla sah ihn über den Frühstückstisch hinweg besorgt an. »Meinst du nicht, es wäre besser, du bliebest heute zu Hause?«
Er sah schuldbewusst auf sein unberührtes Frühstück hinab. Der Anblick des inzwischen kalten Vollkorntoasts mit dem breifarbenen Schonkostaufstrich zog ihm die Kehle zu.
»Ich würde gerne«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber es geht nicht.« Er rang sich ein unbeschwertes Lächeln ab.
»Aber …«
»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Es ist nicht so ernst, wie es aussieht.«
Sie drückte ihre Zigarette aus, stand auf und kam zu ihm hinüber. Ihre kühlen Hände legten sich über seine Stirn, als wolle sie die tiefen Falten glätten. Er schloss die Augen. Es war ein himmlisches Gefühl.
»Ich wünschte, du würdest mehr auf Professor Berger hören. Du nimmst alles auf die leichte Schulter.«
Er nahm eine ihrer Hände in seine und führte sie an die Lippen. »Nein, das tue ich nicht. Ich weiß, ich bin ein Invalide.« Seine Stimme klang ironisch.
Sie machte sich von ihm los. »Du hast gesagt, wir würden wegfahren, sobald du zu Hause bist.«
»Das werden wir auch. In drei, vier Wochen, ich verspreche es dir.«
Sie stellte sich vor ihn. »Ich will es nicht für mich, weißt du. Ich mache mir Sorgen. Du bist viel zu früh aus der Rehaklinik gekommen und hast sofort wieder angefangen zu arbeiten. Du tust, als wäre nichts gewesen.«
Er trank einen Schluck lauwarmen Kamillentee. Widerlich. Er setzte die Tasse mit einer verstohlenen Grimasse ab und sah sie wieder an. »Das ist nicht wahr. Das könnte ich weder dir noch mir einreden. Es war der zweite Infarkt, viel schlimmer als der erste, es war keine Lappalie. Und ich bin sicher, dir ist nicht entgangen, dass ich weder rauche noch trinke. Ich habe fast zwanzig Pfund abgenommen. Ich versuche, auf mich aufzupassen. Aber ich muss arbeiten, Carla.«
»Weil du sonst glauben müsstest, du seist ein alter Mann?«
Er schüttelte den Kopf und sah kurz auf die Hände in seinem Schoß. »Es gibt Schwierigkeiten.«
Sie war nicht überrascht. »Ein Grund mehr, dass du dich aus der Firma zurückziehst. Du hast doch weiß Gott genug Geld, Arthur. Und mir würde es nichts ausmachen, wenn wir zurückstecken müssten. Ich will dich. Nicht dein Geld.«
Ihre Worte trösteten ihn. Vor allem ihre Stimme tat es. Doch die Dinge waren bei weitem nicht so einfach, wie sie sich das in ihrer fortschreitenden Weltfremdheit vorstellte.
»Es ist kein finanzielles Problem. Trotzdem kann ich mich derzeit nicht zur Ruhe setzen, selbst wenn ich wollte. Aber ich verspreche dir, dass ich mich nicht übernehmen werde.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf.
Sie rückte seine Krawatte zurecht und küsste ihn auf die Wange. »Vor allem darfst du dich nicht aufregen. Komm bald wieder. Und iss etwas.«
Er nickte. »Was ist mit Taco? Schläft er noch?«
»Er ist nicht nach Hause gekommen«, verkündete Rosa mit unverhohlener Missbilligung. Sie kam mit einem leeren Tablett herein, um den Frühstückstisch abzuräumen, und hatte seine letzten Worte gehört. Carla war überzeugt, nein, sie wusste, dass Rosa den halben Tag damit zubrachte, an angelehnten Türen zu lauschen. Ihr entging nichts. Aber Rosa gehörte schon so lange zur Familie, dass es im Grunde niemanden störte, wenn sie über alle dunklen Geheimnisse Bescheid wusste. Sie war von geradezu fanatischer Loyalität.
»Nicht nach Hause gekommen?«, wiederholte Arthur stirnrunzelnd.
Rosa schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Wahrscheinlich ist er bei ihr. Sie wissen schon, diese Negerin …«
Arthur und Carla wechselten einen amüsierten Blick. Rosa war Portugiesin und sah aus wie eine alte Indianersquaw, aber sie hatte unerschütterliche Vorurteile gegen alles Fremde – Protestanten eingeschlossen –, und sie war leidenschaftlich rassistisch.
»Sie haben Ihr Frühstück nicht gegessen«, bemerkte sie anklagend.
Er schüttelte kommentarlos den Kopf, küsste Carla und nahm die Gelegenheit beim Schopfe, sich ohne weitere Diskussionen aus dem Staub zu machen.
Carla trat niedergeschlagen an die Terrassentür und sah in den Garten hinaus. Der Nebel lichtete sich zögerlich, aber den hinteren Zaun konnte sie nicht ausmachen. Die Bäume an der Grundstücksgrenze ragten wie geisterhafte Schatten auf.
»Wenn er so weitermacht, bringt er sich um«, erklärte Rosa unverblümt.
»Ja«, stimmte Carla leise zu.
»Wenn ich Sie wäre, würde ich dafür sorgen, dass er Sie vorher heiratet.«
Carla fuhr wütend herum. »Scher dich raus!«
Mit einem zufriedenen Gackern trug Rosa ihr Tablett davon.
Die Autofahrten kamen ihm immer vor wie eine paradiesische Ruhepause von allen Anfechtungen. Ächzend ließ er sich in das weiche Polster der Rückbank sinken und schloss für einen Moment die Augen.
»Büro?«, fragte Fernando sparsam.
Arthur nickte. Er öffnete die Augen und traf Fernandos weisen, unendlich geduldigen Jägerblick im Rückspiegel. Ohne ein Wort fuhr er los. Fernando war das komplette Gegenteil von Rosa. Er machte den Mund nur auf, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ.
Sie fuhren über die wenig belebte Landstraße, durch kleine Dörfer und vorbei an Stoppelfeldern. Von Nordwesten kamen sie in die Stadt. Der Verkehr verdichtete sich schnell, ungezählte Scheinwerferpaare warfen helle Kegel und beleuchteten für einen Augenblick die mikroskopisch kleinen Wasserpartikel in der Luft. Sie schimmerten wie Vorhänge aus winzigen Glasperlen.
Fernando fuhr über die Oberkasseler Brücke in die Innenstadt, schlängelte sich zwischen bimmelnden Straßenbahnen und langen Autokolonnen zur Graf-Adolf-Straße, und schließlich glitt der große Wagen durch die höhlenartige Zufahrt der kleinen Tiefgarage und hielt.
»Zwölf?«, fragte Fernando.
»Sagen wir, halb eins.«
Fernando nickte, öffnete das Handschuhfach und reichte ihm ein kleines weißes Röhrchen nach hinten. »Pillen. Zwei jetzt, zwei am Mittag.«
Arthur schloss seine Hand um das Röhrchen. Eine Hand, auf der blaue Venen hervortraten wie Flüsse auf einer Landkarte, und sie war übersät mit braunen Flecken. Die Hand eines alten Mannes. Er hasste seine Hände. Er hätte es bereitwillig erduldet, alt zu sein, aber die dicken Venen auf seinen Händen beschworen immer bedrohliche Wörter herauf, Wörter wie Cholesterin und Bluthochdruck. Sie erinnerten ihn daran, wie vergänglich er war.
»Danke, Fernando.«
Fernando stieg aus und öffnete ihm die Tür. Er nahm ungebeten seinen Oberarm und half ihm heraus. Das hätte ihn geärgert, vielleicht sogar aggressiv gemacht, wäre es irgendein anderer gewesen. Bei Fernando war es egal. Jemand, mit dem man gemeinsam alt geworden war, stellte keine Gefahr dar. Er würde nie dazu neigen, einen zu unterschätzen. Einen mit einem Schulterzucken abzutun.
Sie trennten sich wortlos, wie sie es seit dreißig Jahren taten, und Arthur nahm den Aufzug zu seinem Büro.
Natalie sah über den Rand ihrer eleganten Brille kurz von ihrem Bildschirm auf. »Guten Morgen.«
Er kämpfte mit den Knöpfen an seinem Mantel. »Morgen. Anrufe? Katastrophen? Wie war der Dollar in Tokyo?«
»1,5489. Meyer will uns um ein Viertelprozent drücken. Die Entscheidung der Bundesbank stärkt ihm den Rücken. Ich hab ihm gesagt, er soll sein Glück anderswo versuchen. Mason … Sie wissen schon, dieser Gernegroß aus Los Angeles, winselt um einen Termin, scheinbar hat er endlich gemerkt, dass ihm bei Bellock die Felle schwimmen gehen. Ambrosini erbittet Rückruf. Er wollte keine Nachricht hinterlassen. Und Haschimoto hat unser Angebot abgelehnt. Er ruft noch mal an, aber er hat schon mal gesagt, ergebensten Dank, aber jemand anders hat ein besseres Objekt für ihn gefunden.« All das sagte sie, ohne ihre Zettelsammlung zurate zu ziehen.
Arthur seufzte leise. »Und wir wissen, wer sich Haschimoto an Land gezogen hat, oder?«
»Wir haben so eine Ahnung.«
Er befreite sich mit einem Schulterzucken aus seinem Mantel und wandte sich an die Assistentin seiner Assistentin. »Birgit, seien Sie so gut, bringen Sie mir die Bellock-Akte.«
»Sofort.«
»Und ein Glas Wasser.«
Er betrat sein Büro und setzte sich in den ausladenden Sessel hinter dem polierten Mahagonischreibtisch. Das alte Leder knarrte vornehm. Er lehnte einen Moment den Kopf zurück und versuchte, sich zu entspannen. Im Grunde wusste er, dass er all dem noch nicht wieder gewachsen war. Meyers Projektfinanzierung, die Sanierung von Bellock und dieser kleine Dilettant Mason … Von all den anderen Dingen ganz zu schweigen … Aber er musste ja irgendwie wieder anfangen. Langsam. Behutsam. Er war kein Workaholic, aber dies war nicht der Moment, um sich zur Ruhe zu setzen. Wirklich nicht. Gerade jetzt gab es zu viele lose Fäden. Er musste es nur mit Ruhe tun. Und das konnte er auch. Er würde seine Pillen nehmen. Er würde auf Carla hören und mit ihr in die Berge fahren. Nächsten Monat. Danach würde er wirklich erholt und wieder voll einsatzfähig sein. Er war zuversichtlich. Das war er wirklich. Verdammt, er war erst vierundsechzig Jahre alt.
Birgit brachte ihm die Akten, und auf den Ordnern balancierte sie ein kleines Tablett mit einem Glas Wasser, seinem Tee, ein paar Vollkornkeksen und einer zierlichen Vase mit einer einzelnen zartrosa Rose. Sie machte sich immer Mühe mit seinem Tablett, es war jeden Tag liebevoll hergerichtet.
Heute musste er sich einen Ruck geben, um zu zeigen, dass er ihre Aufmerksamkeit zu schätzen wusste. »Ach, das sieht aber wieder hübsch aus. Vielen Dank.«
Sie errötete beinah vor Freude. »Gern geschehen.«
Ihr ergebener, schüchterner Hundeblick amüsierte und rührte ihn zugleich. Er fragte sich manchmal, wie es nur kam, dass sie dieses kleine alltägliche Ritual offenbar brauchte wie die Luft zum Atmen.
Sie schlüpfte hinaus, und er vergaß sie auf der Stelle, schlug den obersten Aktendeckel auf, und mehr Fernandos eindringlicher, stummer Blick als Carlas ängstliche Fürsorge bewog ihn, wirklich zwei von diesen Pillen zu nehmen. Er spülte sie mit einer Grimasse hinunter. Sie waren groß, und wenn man sie nur eine Sekunde auf der Zunge behielt, hatte man stundenlang einen bitteren Geschmack im Mund. Er verdrängte den Gedanken an die Pillen und begann, sich wieder in den eigentlich vertrauten Vorgang einzulesen.
Etwa eine halbe Stunde später klopfte Natalie energisch an seine Tür und trat unaufgefordert ein. »Hier ist die Post. Und Ambrosini hat noch mal angerufen, aber …«
Sie sah von ihrer Mappe auf und brach ab. Er war in seinem Schreibtischsessel zusammengesunken, eine Hand zerrte kraftlos an seinem Kragen. Seine Augen waren eigentümlich starr und verdreht und sein Kopf so rot, als wolle er gleich in tausend Stücke zerspringen. Natalie machte auf dem Absatz kehrt, trat an ihren Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.
Kurz vor Mittag kam Magnus nach Hause. Er war ausgehungert. Alle Termine hatten länger gedauert als geplant, er hatte seit dem mickrigen Croissant heute früh nichts gegessen. Er drückte mit der flachen Hand gegen die Haustür, die tagsüber immer unverschlossen blieb, weil in der zweiten Etage eine Arztpraxis war. Dann angelte er die Post aus dem Briefkasten und lief die Stufen zum Hochparterre hinauf. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er wandte sich um.
»Taco … Mein Gott, wie siehst du denn aus?«
»Kann ich mit reinkommen?«
»Natürlich.«
Er schloss auf, lud ihn mit einer Geste ein, ihm zu folgen, und führte ihn durch sein Büro und den kleinen Flur auf die stille Rückseite der Wohnung in die Küche.
»Setz dich. Hast du Hunger?«
»Nein.«
»Aber ich. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich koche, während du mir von deinen jüngsten Missgeschicken erzählst.«
Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Taco starrte einen Augenblick darauf. Ein Kaschmirmantel. Sehr elegant.
Magnus folgte seinem Blick und verzog einen Mundwinkel. »Es kann dir nicht neu sein, dass ich eitel bin. Längst nicht meine abscheulichste Schwäche.«
Taco sah über den Mantel hinweg ins Leere. »Ich hab mir so oft gewünscht, ich könnte so sein wie du.«
»Ich könnte nicht unbedingt sagen, dass das so erstrebenswert ist«, erwiderte Magnus trocken. Tacos Anfälle von Selbstzerfleischung waren ihm nur zu vertraut. Sie waren immer heftig, erbarmungslos manchmal, aber sie führten nie zu etwas. Besser, man nahm sie nicht allzu ernst.
Er warf einen Blick in den Kühlschrank, holte Sahne, eine kleine Zwiebel, einen Rest Parmaschinken und ein Paket frischer Pasta heraus. Während er Wasser aufsetzte, fragte er: »Willst du’s mir erzählen?«
Taco fuhr ruhelos mit den Zeigefingern über die Tischkante. »Ich brauche Geld.«
»Wie viel?«
Er antwortete nicht. Stattdessen griff er in seine Hosentasche, holte ein kleines Silberdöschen hervor und stellte es vor sich auf den Tisch. Seine Finger schienen leicht zu zittern, als er den Deckel aufklappte. Behutsam nahm er eine Prise des feinen weißen Pulvers heraus, streute sie in die kleine Mulde des Handrückens zwischen Daumen und Zeigefinger, führte sie an die Nase und sog sie auf. Dann reichte er Magnus die Dose. »Hier.«
»Nein, im Augenblick nicht, danke.«
»Bist du solide geworden, Magnus?« Seine Stimme klang verächtlich und ängstlich zugleich. Niemand rennt gern allein ins Verderben.
»Keineswegs. Frag mich heut Abend noch mal.« Er lehnte neben dem Gasherd an einem der Küchenschränke und hatte die Hände auf die weiße Arbeitsplatte aufgestützt. An der Wand über seiner linken Schulter hing ein Bild. Eine braune, amerikanische Papiertüte. Sie war zerknittert. Neben der Tüte stand eine Kartoffel mit Ärmchen und Beinchen. Die Tüte war unten aufgeschlitzt, und die Kartoffel streckte hilfreich die Hände aus, um einer zweiten, halb drinnen, halb draußen, zur Flucht zu verhelfen. Escape stand unter dem Bild.
Sie sahen sich an. Taco blinzelte häufig, so, als würden seine Augen brennen. Sein Gesicht war geschwollen, auf dem linken Jochbein prangte ein Bluterguss. Er war hohlwangig und unrasiert. Seine Haut, normalerweise schon ungewöhnlich hell, schien fast durchsichtig, gebleicht und trocken wie Papier. Seine dunklen Augen waren unnatürlich geweitet, und seine langen dunklen Locken hingen ihm ins Gesicht und machten es noch schmaler. Sie waren sich ähnlich. Magnus hatte die gleichen schwarzen Augen und dunklen Haare, das gleiche ausgeprägte Kinn, aber er war weder bleich noch mager. Er fühlte sich fast beschämend gesund, wenn er ihn ansah. Taco war erst fünfundzwanzig, sieben Jahre jünger als er. Aber an Tagen wie heute sah er alt aus. Verlebt und verbraucht.
»Ich lass dir ein Bad ein, was hältst du davon?«
»Vielleicht gleich.«
»Iss was. Schlaf ein paar Stunden.«
»Herrgott noch mal, Magnus … Ich würde dich nicht darum bitten, aber ich stecke wirklich in der Klemme.«
»Ja, ich weiß. Wie viel?«
»Elftausend.«
Magnus sagte nichts. Er war sprachlos. Elftausend Mark waren viel Geld.
»Verdammt … Was hast du getrieben?«
Taco stützte die Stirn auf die Faust. »Willst du das wirklich wissen?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du so viel? Wirst du’s mir leihen?«
Leihen war kaum der richtige Ausdruck. Er hatte Taco schon viel Geld geliehen. Man sah nie einen Pfennig davon wieder.
»Sicher.« Er wandte sich ab, schälte die Zwiebel und schnitt sie in Würfel. Dann stellte er einen kleinen Topf auf und goss etwas Olivenöl hinein. Das Wasser kochte. Er gab die Pasta hinein und stellte die Flamme kleiner. Sie musste nur ein paar Minuten ziehen. Dann dünstete er die Zwiebel in dem heißen Öl, gab den Schinken dazu, löschte mit der Sahne. Von der Fensterbank pflückte er ein paar kleine Basilikumblätter.
Taco stand auf und trat neben ihn. »Hm. Riecht gut.«
»Genug für zwei.«
»Überredet.«
Taco deckte den Tisch, während Magnus die Pasta abschüttete, und für ein paar Minuten herrschte eine wortlose, unkomplizierte Eintracht. Magnus füllte zwei Gläser mit einem leichten, eiskalten Frascati. Sie aßen, ohne zu reden.
Schließlich schob Magnus seinen Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an. »Elftausend Mark für Kokain, Taco? Ist das Zeug so teuer geworden? Oder ist die Sache völlig aus dem Ruder?«
Taco führte die letzte Gabel zum Mund, kaute langsam und schluckte. Die grelle Herbstsonne stahl sich langsam zum Küchenfenster herein. Staubteilchen tanzten in der Luft. Es war sehr still.
»Ungefähr die Hälfte sind Spielschulden. Aber vermutlich kann man sagen, die Sache gerät aus dem Ruder.« Er hielt den Blick gesenkt. Er schämte sich. Aber wie eh und je verspürte er das Bedürfnis, Magnus ins Vertrauen zu ziehen. Um ihn zu schockieren, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen oder vielleicht auch, weil er die Hoffnung nicht ganz aufgeben wollte, dass er irgendwann einmal auf Magnus’ Stimme der Vernunft hören würde. »Es ist nicht so, dass ich ohne das Zeug nicht leben kann.«
»Aber du hast keine große Lust, ohne das Zeug zu leben?«
»Hm. Irgendwas in der Richtung.«
»Aber warum nicht? Das kann ich wirklich nicht verstehen. Du hast eine echte Begabung, groß genug, um erfolgreich zu sein. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, dass du dein Leben lang darunter leiden müsstest, der Sohn eines reichen Mannes zu sein, du hast die besten Chancen, selbst was auf die Beine zu stellen. Aus eigener Kraft. Du hast …«
»Tu mir einen Gefallen, erzähl mir nicht, wie glücklich ich bin, ja.«
»Geh in eine Klinik, Taco.«
Taco verdrehte die Augen. »Ach, hör doch auf …«
Das Telefon klingelte. Magnus war dankbar für die Unterbrechung und griff nach dem schnurlosen Gerät, ehe der Anrufbeantworter sich einschaltete.
»Wohlfahrt.«
»Magnus.«
Er spürte einen schwachen Stich im Magen. »Carla …«
»Ich bin im Krankenhaus. Er hatte wieder einen Infarkt. Sie sagen …« Ihre Stimme klang ruhig, aber sie sprach sehr leise, und sie brachte den Satz nicht zu Ende.
Er konnte sich vorstellen, was sie gesagt hatten. Das Gleiche wie beim letzten Mal. Sie gingen auf Nummer sicher mit dem, was sie sagten, und wenn sie ihn dann doch noch mal auf die Beine brachten, stolzierten sie mit stolzgeschwellter Brust einher.
»Ich komme sofort.«
»Danke.«
Er schaltete das Telefon aus und stand auf.
Taco sah ihn mit seinen riesigen Augen ängstlich an. »Schlimm?«
»Scheint so. Kommst du mit?«
»Natürlich.«
Sie beeilten sich. Magnus steckte seinen Schlüssel ein und folgte Taco, der schon ungeduldig an der Wohnungstür wartete. Die Situation hatte beinah etwas Vertrautes. Sie hatten eine gewisse Routine entwickelt. Sie äußerten keine Mutmaßungen und keine Plattitüden. Er würde sich erholen oder er würde sich nicht erholen, es machte keinen Unterschied, was sie sagten oder taten. Sie beeilten sich auch nicht, weil sie glaubten, es würde irgendetwas ändern, wenn sie da waren und im Flur der Intensivstation nervös auf und ab gingen. Sie beeilten sich, damit Carla keine Sekunde länger als nötig allein dort war.
Im Warteraum der Intensivstation saß eine junge Frau kerzengerade auf einem Stuhl. Ihr Gesicht war sehr bleich, ihre Lippen blutleer. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß zu Fäusten geballt und kneteten ein durchweichtes weißes Stofftaschentuch. Sie starrte ihnen entgegen, als sie eintraten. Es war nicht Carla.
Magnus nickte ihr mitfühlend zu. Sie reagierte nicht.
»Wo ist sie?«, fragte Taco verwirrt, beinah ungeduldig, als sei er verstimmt, dass irgendwer von dem vertrauten Ritual abwich.
»Vielleicht haben sie sie schon zu ihm gelassen. Komm, lass uns nachsehen.«
Sie gingen zurück auf den Korridor. Die Milchglastür, die zu den Zimmern der Intensivstation führte, wurde schwungvoll geöffnet, und eine sehr junge Ärztin kam mit entschlossenen Schritten auf sie zu.
»Herr Wohlfahrt?«
»Ja?«, sagten sie beide.
Sie sah von einem zum anderen und entschied sich schließlich, Magnus in die Augen zu sehen. »Es tut mir sehr leid. Ihr Vater ist tot.«
Taco machte auf dem Absatz kehrt, ging zwei Schritte, legte eine Hand über die Augen und weinte.
»Wo ist Carla?«, fragte Magnus.
Natalie verließ das Büro gegen halb sieben. Es war dunkel, und ein feiner Sprühregen überzog ihren Mantel mit einer dünnen Schicht glänzender Wasserperlchen. Sie fror. Vermutlich war es nicht einmal so kalt, sie fror vor Müdigkeit. Sie schlug den Kragen hoch, ging die belebte Graf-Adolf-Straße entlang Richtung Horten und fragte sich, was jetzt werden sollte. Alle schienen zu glauben, sie müsse es wissen. Dabei hatte sie nicht die geringste Ahnung. Vermutlich war sie ratloser als alle anderen.
Der Tag war ihr endlos vorgekommen. Ein Gefühl, wie man es manchmal in Albträumen hat. Man versucht zu rennen, aber alles bewegt sich langsam wie in Zeitlupe. Der Anruf aus der Uniklinik war irgendwann am frühen Nachmittag gekommen, und als habe jemand einen Stein in ein stilles Gewässer geworfen, verbreitete sich die Nachricht wellengleich im Flüsterton. Gegen Abend riefen schon die ersten Geschäftsfreunde an. Ist das wirklich wahr? Wohlfahrt ist tot? Wie geht es jetzt weiter? Das Geschäft hängt in der Luft, mit wem soll ich verhandeln? Wer übernimmt jetzt die Projektplanung? Sie hatte vertröstet und beschwichtigt, hatte aus dem Stegreif ein paar Entscheidungen getroffen, für die sie eigentlich keine Kompetenzen hatte, und Wohlfahrts Anwalt angerufen. Sie nahm an, es gab ein Testament. Sie nahm an, Wohlfahrt hatte für diesen Tag irgendwelche Vorsorgen getroffen. Es war ja nicht völlig unerwartet eingetreten, dieses Ereignis. Arthur Wohlfahrt war seit vielen Jahren ein schwer kranker Mann gewesen.
Sie bog in die Berliner Allee ein und erwog, sich einen Hamburger zu holen. Aber sie hatte eigentlich keinen Hunger. Ich müsste dringend mal essen, dachte sie schuldbewusst. Aber ein Hamburger war einfach zu reizlos.
Ihre Wohnung lag über einem türkischen Obst- und Gemüsegeschäft in einem halbwegs sanierten Altbau. Der Laden war noch hell erleuchtet, und der Inhaber war dabei, ein paar welke Salatblätter vor der Tür zusammenzukehren.
»Guten Abend, Frau Blum.«
»Guten Abend, Herr Özdemir.«
Er stützte sich auf seinen Besenstiel und nickte ihr lächelnd zu. »Wie wär’s mit ein paar Auberginen? Eben gekommen. Wunderschön, wie gemalt.«
»Nein, vielen Dank. Ich glaube, heute bin ich zu erledigt, um noch zu kochen.«
Er zog seine glatte Jungenstirn in Falten und drohte dem Fast-Food-Laden auf der anderen Straßenseite mit der Faust. »Sie leben zu ungesund, wissen Sie.«
Sie verbiss sich ein Lachen. Sie mochte ihn gern. Er meinte es wirklich gut, es ging ihm gar nicht darum, ihr seine Auberginen zu verkaufen. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass man sich um seine Nachbarn kümmert wie um seine Familie, hatte er ihr einmal erklärt, und das tue er auch, und selbst wenn er in dieser ganzen unmenschlichen Stadt der Einzige sein sollte. Seine Frau stellte ihr manchmal eine Tupperdose mit einem ihrer sagenhaften Gemüseeintöpfe vor die Tür. Sie aß sie immer mit Heißhunger, brachte die Dose zurück, bedankte sich und durfte nie einen Pfennig bezahlen. Herr und Frau Özdemir kümmerten sich beharrlich um ihr leibliches Wohl, weil das die einzige Form von Fürsorge war, die sie zuließ. Sie fänden es bedenklich, dass eine junge Frau ganz allein lebt, hatte er ihr durch die Blume zu verstehen gegeben.
Er zog langsam die Schultern hoch, als wolle er sagen, ihr sei nicht zu helfen. »Ach übrigens, hatten Sie einen Klempner bestellt?«
Ihr Kopf fuhr hoch. »Einen Klempner? Nein. Wieso?«
»Heute Nachmittag war einer hier. Er hat gesagt, der Vermieter schickt ihn, er sollte Ihren Heißwasserboiler reparieren. Und ob ich einen Schlüssel hätte.«
Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. »Ach so, ja, stimmt. Der Boiler funktioniert nicht richtig. Aber das ist nichts Neues. Ich hatte den Vermieter schon vor Monaten angerufen. Ich werd mit dem Klempner einen Termin ausmachen.«
Er sah sie einen Moment scharf an, dann nickte er und begann wieder zu kehren. »Wie Sie wollen.«
»Danke. Schönen Abend.«
»Ihnen auch.«
Mr Spock saß mitten auf dem Esstisch und imitierte eine ägyptische Statue. Spitzohren aufgestellt, Augen geradeaus, Schwanz eng an den Körper gelegt, Schwanzspitze ordentlich auf den Vorderpfoten. Seine grünen Augen starrten ihr entgegen, ohne zu blinzeln.
»Runter vom Tisch, du Ungeheuer.«
Er tat, als verstünde er sie nicht. Sie machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, und er erhob sich ganz langsam, um ihr zu zeigen, wer hier der Boss war, und sprang leichtfüßig auf die Heizung.
»Wenn du so weitermachst, kannst du die Nacht auf dem Balkon verbringen«, drohte sie.
Mr Spock änderte die Strategie, kam zu ihr herüber und strich ihr schnurrend um die Beine. Er umkreiste sie, schmiegte sich die ganze Zeit an sie und brachte sie fast zu Fall. Sie musste lachen. Langsam bewegten sie sich auf die Küche zu, und sie hockte sich einen Augenblick zu ihm herunter und fuhr ihm mit der flachen Hand über den Rücken. Er machte einen Buckel, streckte die Vorderpfoten aus und schnurrte.
Ihre Kaffeetasse vom Morgen stand noch auf der Spüle. Es schien hundert Jahre her zu sein, seit sie daraus getrunken hatte. Sie ging an den Kühlschrank, holte das Katzenfutter heraus und füllte seinen Napf. Auf der Stelle verlor er jedes Interesse an ihr und begann zu fressen.
Natalie ging ins Schlafzimmer und schleuderte die mörderischen Pumps von den Füßen. Sie zog das elegante dunkelblaue Kostüm aus, sprang kurz unter die Dusche und kam nach weniger als zehn Minuten in verwaschenen Levis und einer verschrammten Lederjacke wieder ins Wohnzimmer. Sie steckte nur ihr Portemonnaie und den Schlüssel ein.
»Ich muss noch mal weg«, teilte sie ihrem Kater mit. »Lass keine fremden Männer rein.«
Sie nahm die Straßenbahn zum Jan-Wellem-Platz und ging zu Fuß Richtung Altstadt. An der Heinrich-Heine-Allee lief sie die Stufen hinunter, die zur Einkaufspassage und zur U-Bahn führten. Die kleinen Läden waren alle längst geschlossen, aber die Passage war noch hell erleuchtet, und es herrschte reger Betrieb.
Männer und Frauen mit Aktenkoffern waren auf dem Weg zu Geschäftsessen oder einem verspäteten Feierabend. Jugendliche mit Inlineskates überholten sie mit atemberaubender Geschwindigkeit, Menschen jeden Alters aus aller Herren Länder strebten eilig unbekannten Zielen zu.
Natalie sah den Mann aus dem Augenwinkel und steuerte langsam in seine Richtung. Sie kamen gleichzeitig an der Rolltreppe an, und sie stieg auf die Stufe gleich hinter ihm.
»Wohlfahrt ist tot«, sagte sie ohne Vorrede.
Der Mann wandte sich nicht um. »Ein Infarkt?«, fragte er die Wand.
»Das soll die Welt zumindest glauben. Ich habe die Bänder dabei.«
»Gut.«
»Was soll ich tun?«
»Ich nehme doch an, er hat Erben. Die Geschäfte werden irgendwie weitergehen, oder?«
»Ich schätze, ja.«
»Also bleibst du da.«
»Jemand hat versucht, in meine Wohnung zu kommen.«
»Erfolglos, hoffe ich.«
»Ja. Was hältst du davon?«
Sie waren oben angekommen. Beim Verlassen der Rolltreppe drängte sie sich an ihm vorbei, als habe sie es eiliger als er, und steckte zwei Minikassetten in seine weite Manteltasche.
»Geh nicht nach Hause. Zieh ins Hotel.«
Rosa öffnete ihm die Tür. »Man sollte meinen, du hättest einen Schlüssel zum Haus deines Vaters«, brummte sie.
Selbst wenn Magnus darauf eine Antwort eingefallen wäre, hätte er sie nicht anbringen können. Zwei gewaltige Rottweiler drängten sich an Rosa vorbei zur Tür und fielen bellend über ihn her. Magnus stolperte rückwärts gegen den Türpfosten.
»Anatol! Aljoscha! Aus! Schluss damit, ihr Flegel!« Rosa machte Anstalten, sie am Schlafittchen zu packen.
»Lass sie nur«, wehrte Magnus ab. »Ich bin immer dankbar, wenn sich hier irgendwer über mein Erscheinen freut.«
Er hockte sich zu ihnen hinunter und kraulte mit der einen Hand einen Nacken, mit der anderen zupfte er sanft ein braunschwarzes Schlappohr. Die Hunde waren nicht scharf. Sie waren verspielt und herzensgut und so kraftstrotzend, dass ihre freudige Begrüßung schon völlig ausreichte, einen potenziellen Einbrecher das Fürchten zu lehren. Dies hier war das einzige Haus in dieser Nobelgegend, das noch nie ausgeräumt worden war.
Magnus richtete sich wieder auf und fuhr beiden noch einmal kurz über die Stirn. »Ab mit euch.«
Sie trollten sich schnaufend, immer noch aufgeregt vor Wiedersehensfreude.
»Wie steht es?«, fragte er Rosa. Ihre Augen waren klein und gerötet, und sie hielt ein riesiges Taschentuch in der Hand.
Magnus beneidete sie. Er hatte keine Träne um seinen Vater weinen können, und das bestürzte und beschämte ihn.
»Ach, ach!« Sie rang die Hände wie ein Klageweib.
»Was macht Carla?«
»Sie schläft. Ich habe ihr eine Schlaftablette gegeben, irgendwann letzte Nacht. Sie lief heulend durchs Haus … nicht mitanzusehen. Dein Bruder hat seine Negerin geholt und …«
»Bitte, Rosa, ja.« Er ging an ihr vorbei, durchquerte die pompöse Eingangshalle und das kleine Wohnzimmer und betrat den Wintergarten.
Rosa folgte so dicht hinter ihm, dass sie ihm fast in die Hacken trat. »Warum darf ich nicht Negerin sagen? Ist sie das nicht?«
»Es ist ein widerliches Wort.«
»Nicht in meiner Sprache.«
»Doch, bestimmt. Du hast es nur noch nicht mitgekriegt.« Er fuhr sich mit der Hand über Kinn und Hals. Er hatte sich zweimal geschnitten beim Rasieren. Wenigstens etwas, wenn er schon nicht heulen konnte. »Sei lieber froh, dass er jemanden hat, der ihn tröstet. Er kann jeden Halt brauchen.«
»Hm.« Sie brummte gallig. »Das kannst du laut sagen. Sie gibt ihm Trost, kein Zweifel. Man hört sie durch zwei Türen hindurch, weißt du …«
»Ja, wenn man die Ohren genug spitzt, bestimmt.«
Sie ging darüber hinweg, ohne mit der Wimper zu zucken, und verlegte sich wieder aufs Händeringen. »Mein armer Fernando. Es bricht ihm das Herz.«
Er atmete tief durch. Sie ging ihm auf die Nerven. »Was muss ich tun, um einen Kaffee zu kriegen?«
»Sag bitte.«
Er biss sich auf die Unterlippe. »Bitte, liebste Rosa, kriege ich einen Kaffee?«
Sie wies auf eine der angrenzenden Türen. »Da drin steht Frühstück für ein ganzes Regiment.«
Er ließ sie stehen und betrat den Raum, der das ›kleine Esszimmer‹ hieß. Eine Fensterfront, drei taubenblaue Wände, hier und da ein gutes Stillleben. Einer der weniger bedrückenden Räume des Hauses. Beinah neutral. Nicht wie die düstere Bibliothek, die einen verschlang wie Treibsand, wenn man nur einen Fuß hineinsetzte, oder das große Wohnzimmer, in dem man zwangsläufig vereinsamte, wenn nicht wenigstens fünfzig Menschen darin waren.
Rosa hatte kaum übertrieben. Auf der Anrichte entlang der Wand stand ein Frühstücksbuffet wie in einem Hotel. Der Anblick verschlug ihm den wenigen Appetit, den er mit hergebracht hatte. Er füllte eine Tasse aus einer der silbernen Warmhaltekannen und trat damit ans Fenster. Das Wetter war umgeschlagen. Bleigrauer Himmel und Dauerregen, ein scharfer Wind riss an den gelben und rotbraunen Herbstblättern der alten Bäume im Garten. Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und dachte an den vergangenen Tag. Krankenhausgerüche, ein kleines Zimmer mit einer Unzahl von Maschinen, Schläuchen, Drähten und Monitoren. Sie waren alle ausgeschaltet. Das Gesicht seines Vaters war grau und erschöpft. Und er hatte immer geglaubt, tote Menschen wirkten friedvoll. Sein Vater sah eher so aus, als hätten Furien ihn hinübergejagt in die andere Welt. Und Taco stand neben ihm und schniefte fortwährend, und von Carla keine Spur. Professor Berger kam schließlich und geleitete sie höflich, aber bestimmt hinaus und berieselte sie mit schwer verständlichen medizinischen Details, dem Tonfall nach eine Apologie. Wir haben ihn in die Reha geschickt, wir dachten, er sei stabil und die neuen Medikamente hätten gut angeschlagen, wirklich sehr bedauerlich, aber Irrtümer gehören zum Berufsrisiko. Und selbstverständlich kann er gerne hierbleiben, bis Sie die entsprechenden … äh … Arrangements getroffen haben …
Die Stille machte ihn rastlos. Der Platz am Kopf des ovalen Esstisches war nicht gedeckt, aber drei Zeitungen lagen dort aufgefächert. So hatten sie immer dort gelegen, für jeden griffbereit, der zum Frühstück kam. Aber niemand hatte sie je angerührt, bevor sein Vater sie gelesen hatte. Niemand frühstückte so früh wie er. Die Zeitungen lagen für ihn da. Magnus beschloss, Rosa zu sagen, sie in Zukunft auf die Anrichte zu legen oder in Gottes Namen wegzuwerfen. Nur Carla sollte sie nicht so hier liegen sehen.
Er stellte seine Tasse beiseite, ging zurück in die Halle und stieg die Treppe hinauf. Vor der Tür zu ihrem Schlafzimmer verlor er den Mut. Sie schläft, hatte Rosa gesagt. Lass sie schlafen. Lass sie zufrieden. Aber das ging nicht. Wie von einer äußeren Kraft getrieben hob er die Hand, klopfte kurz und trat ein.
Die Vorhänge waren zugezogen, das trübe Herbstlicht ausgesperrt. Er konnte nichts erkennen. Ein schwacher Geruch nach Holz und Textilien hing in der Luft, überlagert von etwas anderem, einer Mischung aus ihrem Parfüm, ihrer Lotion, ihrem Make-up und ihren ureigensten Körpersäften. Er sog es tief ein. Langsam gewöhnten seine Augen sich an das Dunkel. Er sah erst Umrisse, dann Formen, genug, um zu erkennen, dass der Raum komplett umgestaltet worden war, seit er ihn zuletzt gesehen hatte. Links an der Wand stand das Bett. Er machte einen Schritt darauf zu und sah das Weiße ihrer Augen.
»Rosa sagte, du schläfst.«
»Offenbar hat Rosa sich geirrt.«
Er trat näher, fast bis an die Bettkante.
Sie richtete sich auf, bis sie kerzengerade im Bett saß. Sie bewegte sich langsam, schlaftrunken. Sie hob die Hand und rieb sich mit den Knöcheln die Augen, wie ein müdes kleines Mädchen. »Ich will nicht wach sein. Rosa soll mir noch eine Tablette bringen, ja?«
Er brachte es nicht fertig, ihr zu widersprechen. »Ich sag’s ihr.«
Sie zog die Knie an und legte einen Arm darum. »Trotz allem habe ich insgeheim immer gehofft, dass ich vor ihm sterben würde.« Sie sprach sehr leise. »Im Moment weiß ich nicht … was ich denn ohne ihn hier soll. Ich … Ich habe ihn so geliebt, Magnus.«
»Ja, ich weiß.«
Er fand, das hatte er gut hinbekommen, seine Stimme war sanft, sonst gar nichts, aber sie schien den Unterton gehört zu haben, der ihm entgangen war.
»Geh wieder, bitte. Ich bin sicher, du meinst es gut, aber du kannst mir nicht helfen.«
Er blieb, wo er war.
Sie hob den Kopf. »Hast du nicht gehört?«
»Doch.«
»Also? Was tust du überhaupt hier?«
Er hatte eine Entschuldigung parat. »Robert Engels hat mich hergebeten. Er sagte, hier, weil er mit uns allen sprechen will.«
»Dann schlage ich vor, du wartest unten auf ihn.«
»Natürlich. Entschuldige. Du hast vermutlich recht, ich bin taktlos. Ich bin ganz sicher nicht gekommen, um dich zu kränken oder dir irgendwie zu nahezutreten. Ich … Herrgott noch mal, was kann ich sagen? Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass er tot ist. Dass du ihn verloren hast. Ich denke an dich. Ich nehme Anteil an deinem Kummer. Das ist alles. Sonst nichts.«
Sie zog die Decke über ihre linke Schulter, kauerte sich zusammen und wandte den Blick ab. »Ich weiß. Warum du hier bist. Und wie es gemeint ist. Aber es hilft alles nichts.«
Er betrachtete ihr fein geschwungenes Profil, ihre schmalen Schultern, die feinen dunklen Haare, die lose bis auf den Rücken fielen. Und ihm ging auf, dass er gelogen hatte. Er war nicht gekommen, um irgendetwas zu geben, sondern um etwas zu bekommen. Trost, Absolution, was auch immer. Wie erbärmlich. Manchmal fand er sich schwer zu ertragen.
Das Läuten der Türglocke drang gedämpft herauf.
»Das wird Engels sein«, murmelte er, plötzlich erleichtert, dass er einen triftigen Grund für den Rückzug hatte.
Sie nickte langsam. »Ich komme gleich runter.«
Robert Engels war ein Studienfreund seines Vaters gewesen und über dessen Tod sichtlich erschüttert.
»Magnus … wie furchtbar.«
»Ja. Komm rein. Kaffee? Cognac? Frühstück?«
»Tee. Kaffee gehört der Vergangenheit an. Bauchspeicheldrüse.«
Magnus führte ihn in den Wintergarten, bat Rosa, Tee und Kaffee zu bringen, und als sie allein waren, setzte er sich ihm gegenüber in einen Sessel.
»Wie nimmt Carla es auf?«, fragte der Anwalt stirnrunzelnd.
»Sehr verstört, aber gefasst. Oder so scheint es jedenfalls.«
Engels nickte düster. »Was für eine Tragödie. Und dabei war er so zuversichtlich. Er hatte Pläne. Sie wollten reisen. Er wollte endlich aufhören, so furchtbar viel zu arbeiten. Endlich ein bisschen genießen.«
Plötzlich überfiel es ihn aus dem Hinterhalt. Jetzt hätte er heulen können. Auf einmal. Um all die Reisen, die sein Vater nicht mehr machen konnte, all die Freuden, die er sich versagt hatte, die Zeit, die er und Carla jetzt nicht mehr haben würden.
Engels sah ihn an und schüttelte den Kopf, ungeduldig mit sich selbst. »Entschuldige. Ich rede dummes Zeug. Lass uns zum Geschäft kommen, was meinst du?«
»Einverstanden.«
Engels schlug die Beine übereinander und trank einen Schluck aus seiner Tasse. Sein Aktenkoffer stand ungeöffnet neben ihm. »Ich habe eine Abschrift des Testamentes bei mir. Bis zur offiziellen Eröffnung dauert es noch ein paar Tage, weil gewisse Formalitäten erfüllt werden müssen. Aber inoffiziell kann ich dir heute schon sagen, wie es aussieht. Im Grunde ist es ganz einfach. Das Privatvermögen verteilt sich wie folgt: ein Batzen für Rosa und Fernando. Fünf Millionen für die Stiftung zur Erforschung von Herz- und Gefäßkrankheiten. Das Haus auf Mykonos und ein satter Treuhandfonds für Taco. Dieses Haus und der beachtliche Rest für Carla.« Er machte eine Kunstpause und fügte dann hinzu: »Die Hunde für dich. Und die Firma.«
Magnus hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen. Das ist ein Dschungel, den nur er beherrschen konnte. Ich würde mich verlaufen und irgendwelchen Raubtieren anheimfallen. Ich verzichte.«
»In dem Fall bekommen Taco und du den Pflichtteil, und der Rest geht an die Stiftung.«
»Wie bitte?«
Engels hob seinen Aktenkoffer auf den Schoß, ließ die Schlösser aufschnappen und öffnete den Deckel. Er nahm ein paar zusammengeheftete Blätter heraus und reichte sie ihm. »Hier, lies selbst. Für den Fall, dass du das Erbe ausschlägst, ändert sich das gesamte Testament. Und Carla geht leer aus.«
»Dein Bruder fährt schon wieder«, verkündete Lea. Sie stand am Fenster und hatte den Vorhang ein wenig beiseitegezogen. Magnus’ dunkelgrüner Jaguar rollte die asphaltierte Auffahrt hinab zum schmiedeeisernen Tor. Links und rechts der Auffahrt erstreckten sich weite Rasenflächen, nicht kleiner als Fußballfelder. Der Vorgarten. Sie war erschüttert über so viel Reichtum. Sie war zum ersten Mal in diesem Haus.
Taco nutzte die Gunst des Augenblicks, da sie ihm den Rücken zuwandte, und genehmigte sich ein Näschen voll. Ein scharfer Schmerz zuckte bis in die Nebenhöhlen hinauf, aber er war sofort wieder vorbei. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann sah er sie wieder an. Sie trug weiße Jeans und ein weites schwarzes Oberteil, von dem sich ihre hüftlangen Rastazöpfe kaum abhoben. Sie war beinah eins achtzig groß und hatte eine sagenhafte Figur, aber sie bewegte sich nicht mit majestätischer Würde, die ihr durchaus zugestanden hätte, sondern mit der selbstvergessenen Natürlichkeit einer Frau, der so ziemlich alles andere wichtiger ist als ihr Aussehen.
»Wie wär’s, wenn du dich wieder ausziehst?«
Sie wandte sich zu ihm um. »Wie wär’s, wenn du dich langsam mal anziehst? Der Anwalt wird auf dich warten, denkst du nicht?«
»Und wenn schon. Komm doch her.«
Sie fand es wie immer schwierig, seinen großen Kinderaugen standzuhalten. Sie kam langsam zum Bett zurück. Er streckte eine Hand aus und zog sie auf die Kante hinunter. »Hab ich dich …«
»Deine Nase blutet.«
Er wischte sich schuldbewusst mit dem Handrücken darüber. »Das hört gleich wieder auf.«
Sie nahm seine Hand von ihrem Gelenk und legte sie auf die Bettdecke. »Irgendwann wirst du krank von diesem Gift.«
»Bevor das passiert, hör ich auf damit.«
Sie nickte, als könne sie ihm glauben. Sie fand es wichtig, ihm in diesem Punkt etwas vorzumachen, damit er nicht den Glauben an sich selbst verlor. Er hatte so wenig Selbstvertrauen. Er zweifelte an sich selbst, an seinem Talent, er glaubte sogar, seine Aufnahme an der Robert-Schumann-Hochschule habe sein Vater ihm hinter seinem Rücken mit einer großzügigen Spende erkauft. Sie sorgte sich um ihn. Und manchmal hatte sie Angst. Nicht davor, dass er sie dazu verleiten könnte, den gleichen, unheilvollen Weg einzuschlagen. Er gab sich alle Mühe, sie so wenig wie möglich mit seinem Drogenkonsum zu konfrontieren. Aber sie fürchtete sich davor, dass er sich verändern würde. Sie hatte Angst, dass seine Persönlichkeit sich verzerrte, bis nichts mehr davon übrig war. Keine Persönlichkeit, keine Gabe, keine Liebe. Früher oder später würde es passieren, sie war sicher.
»Zieh dich an, Taco. Geh nach unten. Carla braucht dich doch bestimmt, meinst du nicht?«
»Du hast wahrscheinlich recht. Aber irgendwie graut mir davor, runterzugehen. Alles ist so furchtbar. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist. Ich will nicht, dass er tot ist. Und ich will nicht allein mit ihr sein. Das sieht Magnus doch wirklich ähnlich, dass er sich gleich wieder verdrückt.«
»Er wohnt nicht hier?«
»Ach, um Gottes willen. Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Er ist mit achtzehn ausgezogen. Er konnte es nicht erwarten, sich und der Welt zu beweisen, dass er es auch alleine schafft.«
»Hat er sich nicht verstanden mit deinem Vater?«
»Doch. Ich glaube, sie haben sich ganz gut verstanden. Magnus ist genau wie mein Vater. Seriös, zielstrebig, so sensibel wie eine Betonwand und absolut integer. Ich bin der Freak in der Familie.«
Sie lächelte. »Wahrscheinlich kommst du auf deine Mutter.«
Er seufzte. »Das wäre besser wahr.«