Das letzte Mahl - Karla Zárate - E-Book

Das letzte Mahl E-Book

Karla Zárate

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Beschreibung

Nach einer von Kriminalität geprägten Jugend heuert John Guadalupe als Küchenchef in einem texanischen Hochsicherheitsgefängnis an. Hier kocht er für die Belegschaft und die Insassen – und er bereitet die Henkersmahlzeit für die zum Tode Verurteilten zu. Schon als Kind konnte John Guadalupe seine Gefühle am besten in der Küche ausdrücken, und die Gerüche und Aromen erinnern ihn an wichtige Stationen in seinem Leben. Für andere zu kochen, kann ein Akt der Liebe sein, oder das Gegenteil, davon ist John überzeugt. Doch eines Tages ändert sich alles, denn der gefürchtete Killer Ryan Gomez fordert den Küchenchef auf, den Gefängnisdirektor zu töten. Nun geht es für John Guadalupe ums nackte Überleben.

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Zum Buch

Nach einer von Kriminalität geprägten Jugend heuert John Guadalupe als Küchenchef in einem texanischen Hochsicherheitsgefängnis an. Hier kocht er für die Belegschaft und die Insassen – und er bereitet die Henkersmahlzeit für die zum Tode Verurteilten zu. Schon als Kind konnte John Guadalupe seine Gefühle am besten in der Küche ausdrücken, und die Gerüche und Aromen erinnern ihn an wichtige Stationen in seinem Leben. Für andere zu kochen, kann ein Akt der Liebe sein, oder das Gegenteil, davon ist John überzeugt. Doch eines Tages ändert sich alles, denn der gefürchtete Killer Ryan Gomez fordert den Küchenchef auf, den Gefängnisdirektor zu töten. Nun geht es für John Guadalupe ums nackte Überleben.

Zur Autorin

Karla Zárate wurde 1975 in México-City geboren. Sie hat hispanische Literatur studiert und für ihre Abschlussarbeit die Gabino-Barreda-Medaille für herausragende Leistungen erhalten. Danach promovierte sie an der University of California in Los Angeles. Derzeit studiert sie Psychoanalytik. Nach Erscheinen ihres zweiten Romans »Das letzte Mahl« wird sie in ihrer Heimat als weibliche Antwort auf Quentin Tarantino gefeiert.

Karla Zárate

DAS LETZTE MAHL

ROMAN

Aus dem Spanischen von Daniel Müller

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Llegada la hora

bei Dharma Books, México

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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@heyne.hardcore

Copyright © 2019 by Karla Zárate

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Nina Lieke

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagmotiv: © Profstudio/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28255-4V001

»Blutflecken auf Tischdecken, ganz gleich ob von einer Unachtsamkeit mit dem Schnitzmesser oder einem Mord, sind kein Problem. Man muss das Tuch nicht einmal abnehmen, um die Flecken zu beseitigen, sondern kann sie durch kräftiges Reiben mit dem noch warmen Kochwasser des Stängelkohls aus dem Stoff entfernen.«

Leonardo da Vinci in seinen Aufzeichnungen zur Kulinarik

01

ICHHABEBEGRIFFEN, dass der Tod der eigentliche Auftrag des Menschen ist, sei es durch das Versorgen der Körper, die sterben müssen, oder die Vergiftung von Zechbechern. Wir werden geboren, um zu leben und zu töten. Manchmal langsam, wenn wir unseresgleichen misshandeln, quälen oder foltern. Manchmal durch das Abfeuern einer Pistole, das Spalten eines Schädels, das Umdrehen eines Hühnerhalses. Der Tod ist die Substanz des Lebens, die scharfe Salsa auf den Tacos, das Grinsen von La Pelona, die Häme gegenüber den Hochmütigen und Protzigen, das Ruhegeläut des Homo sapiens. Er wird auf kleiner Flamme erhitzt, bis er köchelt.

Der Tod ist gierig, denn manchmal schlingt er ganz ohne Hunger.

So ist es, so wird es immer sein.

02

ESHATETWASMAKABRES, die Henkersmahlzeit für einen Menschen zu bereiten. Es ist erregend.

Beim Kochen genieße ich den Gedanken, dass die zum Tode Verurteilten mein Gericht weder kritisieren noch loben können. Dazu haben sie keine Gelegenheit mehr. Sie schlingen hinunter, was später mitsamt ihren Körpern verrottet – ein Festmahl für die Würmer –, da mein Essen weder verdaut noch wie gewöhnlich ausgeschieden wird. Es sei denn, sie pissen, kacken oder kotzen sich voll, wenn sie das kalte Gift der Todesspritze spüren.

Es gibt da allerdings eine Sache, die möglicherweise noch ein wenig sadistischer ist: nämlich den zu töten, der für das Töten zuständig ist.

Mein Name ist John Guadalupe Ontuno, ich bin Küchenchef der Strafanstalt Polunsky Unit und habe den Gefängnisdirektor Chief Brown erledigt. Ich hatte eine heftige Reaktion erwartet: wild verdrehter Hals, Schaum vorm Mund, krampfender Körper, zitternde Extremitäten, Blut schwitzende Haut. Aufmerksam betrachtete ich die Szene, sah dem mit Whiskey abgefüllten Kerl beim Sterben zu.

An jenem Abend gab ich mir große Mühe bei der Zubereitung seines Lieblingsgerichts. Chief Brown hatte mich mehrfach über seine Vorliebe für Kobe-Rind unterrichtet, Tiere, die von ihren Züchtern mit klassischer Musik, Massagen und Bier statt Wasser verwöhnt werden. Von mir bekam er allerdings stets Fake-Kobe vorgesetzt, normales Rindfleisch eben, das ich lediglich mit einem Fleischklopfer bearbeitete, was der arme Idiot jedoch nie bemerkte. Wie hätte ich bei dem lausigen Küchenbudget auch echtes Kobe-Rind besorgen sollen?

Ich briet das Fleisch und garnierte den bestellten Burger mit Zwiebeln, Salat und Tomatenscheiben. Die Schälchen mit Ketchup, Mayonnaise und Senf stellte ich daneben, die Pommes frites kamen auf einen Extrateller. Die Küche war vom Duft der selbst gebackenen Burgerbrötchen erfüllt. Ich malte mir aus, wie das Aroma über die Zellenflure bis in die Nasen der Insassen schwebte, und lächelte.

Die Teller stellte ich auf ein Tablett und dieses auf einen Servierwagen mit weißem Tischtuch und klassisch gefalteter Stoffserviette. Dazu kamen eine Flasche Jack Daniel’s, der Lieblingswhiskey von Chief Brown, ein Eiswürfelbehälter und zwei Gläser. Eins der Gläser war bereits gefüllt, das andere (vom Chief einige Tage zuvor benutzt und von mir ungespült aufbewahrt) war leer.

Mein Weg ähnelte dem, den ich beim Servieren der Henkersmahlzeiten nehme. Ich ging langsam und pfiff dabei die Titelmelodie von Der Clou, die sich mir ins Gehirn ge-brannt hatte, da der Chief mich bei jedem seiner Anrufe zur Essensbestellung erst mal in die Warteschleife verbannte, in der dieses unsägliche Lied vor sich hin dudelte. Unterwegs betrachtete ich aufmerksam den schwarzen Fleck an der Wand, der wie ein gekreuzigter Christus aussah, die Treppenstufe mit der abgebröckelten Kante, die Tür, die quietschte wie eine läufige Katze. Anstatt dann aber weiter zu den Zellen zu gehen, bog ich in Richtung des Büros von Chief Brown nach rechts ab.

An den Kontrollpunkten grüßte ich wie jeden Tag die Wachen, was diese mit müden Gesten quittierten. Der Verdruss darüber, ihre Tage bis in die Haarspitzen gelangweilt hinter Gittern verbringen zu müssen, um die Todgeweihten im Polunsky zu bewachen, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Alle anderen Mitarbeiter der Haftanstalt hatten schon Feierabend.

Die Bürotür war geschlossen. Gut möglich, dass meine indigene Küchenhilfe Tiwa gerade auf der anderen Seite dem Chief einen blies. Mir war bekannt, dass er ihr bei Verweigerung sexueller Gefälligkeiten drohte, ihren Vater für einen Mord einfahren zu lassen, von dem er Wind bekommen hatte. Sie also auf den Knien, kräftig lutschend und massierend, um es hinter sich zu bringen. Er vor ihr, die Hände in ihren Haaren versunken und voller Lust, sie zu vögeln, wissend, dass sein Saft in ihrer Pussy im Fall der Fälle zu seinen Ungunsten ausgelegt werden könnte. Vielleicht besprach er sich aber auch gerade mit Bosco. Ich öffnete, er war allein und saß in seinem Schreibtischsessel.

»Na, kommt jetzt endlich meine Bestellung?«, fragte er, als ich noch auf der Schwelle stand.

Ja, deine Eier mit Knoblauchdressing, beschissener Gringo,und dazu noch eine ganz besondere Delikatesse, hätte ich am liebsten geantwortet.

Brown biss in den Burger und kaute mit offenem Mund, dann leckte er sich den Tomatenketchup von den Fingern. Ich goss Whiskey in das zweite Glas. Er trank es in einem Zug leer. Während ich nachfüllte, nahm er noch einen Bissen.

»Ausgezeichnet!«, grunzte er, rülpste und aß weiter.

Kurz darauf setzte er zu einem dieser faden und heillos übertriebenen Monologe über seine früheren Heldentaten an. Ich kannte die Storys alle auswendig und hatte weder Zeit noch Geduld dafür.

»Ich sag dir, wie es ist, Koch, ich hab mein Leben riskiert. Ich war an verdammt vielen Manövern gegen kriminelle Organisationen beteiligt, aber diese Mafiatruppe hochgehen zu lassen, war mein größter Coup. Dafür hab ich zum Glück auch die Anerkennung bekommen, die mir zusteht, aber das weißt du ja.« Er zeigte auf eine golden glitzernde Medaille mit blau-rot-weißen Bändern an der Wand hinter ihm.

»Ich bin mir sicher, dass auch der liebe Herrgott oben im Himmel Sie dafür belohnen wird, Chief.« Wieder füllte ich sein Glas bis zum Rand.

Er schwadronierte weiter. Die Spitzen seines Schnurrbarts tanzten auf und ab, er strich sich über die linke Augenbraue. Ich ließ ihn quatschen, unterbrach ihn nur für Lob und Anerkennung. Wenn ich etwas sagte, sprach ich absichtlich stammelnd und stockend, wie ein ehrfürchtiger Untertan, der den Großtaten seines Herrn huldigt.

Er stand auf und ging aus dem Raum.

Durch die offen stehende Tür hörte ich, wie sein Urinstrahl in das Wasser der Kloschüssel klatschte.

Als er zurückkam, war sein Haar feucht, sein Gesicht gerötet, sein Schritt wankend. Er setzte sich. Vor ihm wartete das Glas, das ich bereits in der Küche vorbereitet hatte. Wie die vorherigen leerte er es in einem Zug.

Ich bekam Lust, mit ihm zu trinken, mit ihm anzustoßen, auf uns, mein Leben und seinen Tod. Lust, ihm zu sagen: Salud, mein Freund, und wohl bekomm’s! Wir sehen uns irgendwann in der Hölle wieder. Und Glückwunsch noch mal, du Mistkerl, du hast eben dein Ticket ins Jenseits gelöst. Zu gern hätte ich gesehen, wie er Blut spuckend über den Boden kriecht und mich um Hilfe anbettelt. Aber es sollte nicht sein. Angst kam in mir auf, Zweifel meldeten sich. Ich wusste, dass ich ein großes Risiko eingegangen war. Der Chief lehnte sich nach hinten, grunzte ein-, zweimal und fing an zu schnarchen. Er war weggetreten, mit offenem Mund.

Ich hielt ein paar Meter Abstand und beobachtete ihn in seinem Koma. Die Luft fühlte sich schwer und drückend an, kalter Schweiß benetzte meine Haut. Der Chief schnarchte weiter. Ich sah auf die Uhr. Ein unangenehmer Geruch nach Tabak, Alkohol und Essen schlug mir entgegen, als ich näher an ihn herantrat. Zwei Pommes lagen auf seinem Hemd, drumherum hatten sich Fettflecken gebildet. Sein Kopf hing zur Seite, in seinen leicht geöffneten Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Aus seinen Gehörgängen wucherten dicke schwarze Haare. Er lag in dem Sessel wie ein soeben erlegtes Tier. Die Pranken hingen unbeweglich an den Seiten herab, aber noch hob und senkte sich die Brust langsam im Rhythmus seiner Atemzüge.

Ich stellte das zuletzt von ihm geleerte Glas zurück auf den Wagen. Das andere füllte ich mit Eiswürfeln und Whiskey und schob es zu seiner geöffneten Hand.

Dann ging ich.

Ich weiß nicht, ob mich das Bild von Chief Brown nachts heimsuchen wird, ob ich sein Gesicht in jedem Kind auf der Straße sehen werde, in jedem Verkäufer, jeder Frau, die stehen bleibt, um mich nach der Uhrzeit zu fragen. In dem von Don Pascual, meinem Vater.

Man lernt, mit seinen Toten zu leben.

03

EDENISTEINEKLEINESTADT ziemlich genau in der Mitte von Texas. Die Bevölkerung ist überwiegend hispanoamerikanisch, gelangweilt vom Bibellesen und versessen auf Reality-TV. Eine Wüste in der Wüste, staubtrocken, kaffeebraun und absolut unfruchtbar, die nur dank einer außerhalb der Stadt gelegenen Fabrik für Tischtücher und Teppiche überlebt. Es gibt einen See, der für seine Welse bekannt ist, zu dem aber nie jemand geht. Im Zentrum findet man ein kleines Krankenhaus, ein Restaurant mit Bar, eine Post, eine Bank, eine Bibliothek, einen Lebensmittelladen und eine Männerhaftanstalt, in der auch Don Pascual einmal wegen einer im Rausch angezettelten Straßenschlägerei einsaß.

An diesem Ort wuchs ich auf, und von diesem Ort ging ich fort, um nie wieder zurückzukehren. Genauso gut hätte ich bleiben, die Tochter des Sheriffs heiraten, ein halbes Dutzend Kinder zeugen und mich der Rinderzucht widmen können oder aber dem illegalen Verkauf von Drogen und gepanschtem Alkohol, was den scheinheiligen Gemeindemitgliedern sicher insgeheim gut in den Kram gepasst hätte.

Meine Mutter, Doña Elvira, nahm mich jeden Sonntag mit in die Kirche unseres Viertels. Es handelte sich um einen einfachen Saal mit grauen Wänden und einem Kreuz hinter der Kanzel. Zu den Gottesdiensten in dieser Kirche, der Iglesia de los Santos Arrepentidos, gingen fast nur Latinos. Sie war klein, und der ihr eigene Geruch nach Feuchtigkeit sorgte bei mir stets für Übelkeit. Sie hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der Hölle: Im Sommer war es in ihrem Inneren unerträglich heiß, im Winter kroch einem die Kälte in die Knochen. Weder Klimaanlage noch Heizung vermochten je Abhilfe zu schaffen.

Meine Mutter verbrachte lange Stunden dort, kniend, mit geschlossenen Augen und andächtig gefalteten Händen. Ich spazierte derweil durch die Gänge, an den Reihen der Metallstühle entlang, um den Altar herum und versteckte mich manchmal in dem Kämmerlein, das als Beichtstuhl diente. Ich tat, als würde ich mir die Sünden der Gemeindemitglieder hinter dem Gitter anhören, um ihnen anschließend ihre Verfehlungen zu vergeben und Bußen aufzuerlegen. Der Frau, die mit dem Freund ihres Ehemanns vögelte. Dem Kerl, der mitten in der Predigt einen Ständer bekam. Der Teenagerin, die ihrem viel älteren Freund den Schwanz lutschte. Dem Burschen, der die Patene klaute, um sich mit den heiligen Hostien an schwarzer Magie zu versuchen. Ich nahm ihnen allen die Beichte ab, sprach aber schwere Strafen aus: Bei mir mussten die Sünder für immer und ewig dem Bingo entsagen, der Countrymusik der Schokolade oder dem Oralsex.

Mit der Zeit verlor ich die Angst vor dem blutenden Jesus mit der Dornenkrone auf der zerkratzten Stirn und der klaffenden Wunde zwischen den Rippen. Und auch die vor den Heiligen, die mit leicht geöffnetem Mund den Blick zum Himmel wandten und um Vergebung flehten. Wenn Mamá aus der Kirche kam, waren ihre Lider geschwollen und die Ärmel und der Ausschnitt ihres Pullovers mit feuchten Taschentüchern vollgestopft. Oft spendierte sie mir dann eine Limonade oder ein Eis oder ging sogar mit mir einkaufen, zum Beispiel um sich eine neue Brosche zu gönnen. Aber nicht einmal so konnte sie die Traurigkeit abschütteln.

Dabei hatte die Geschichte, wie die meisten eigentlich, gar nicht so schlecht begonnen. Don Pascual stammte aus Cuitzeo, Doña Elvira aus Pátzcuaro, beides Kleinstädte in Michoacán. Sie lernten sich in der Hauptstadt kennen, wo sie im selben Haus wohnten. Er arbeitete als Maurer, sie kochte und wusch für andere Leute. Eines Tages bot meine Mutter ihm etwas von ihrem Essen an. Rasch wurden sie ein Paar, da er ihr versprach, sie aus der Not zu führen und ihr eine Menge Söhne zu schenken. Dann ertappte sie der Vermieter beim Knutschen im Flur. Der Mann wollte keine Pärchen in seinem Haus und setzte beide auf die Straße. Sie entschieden, in den Norden zu gehen und dort, auf der anderen Seite, ihr Glück zu suchen. Sie setzten alles auf eine Karte, wohlwissend, wie gefährlich die Sache war.

Wenn ich fragte, wie sie diese strapaziöse Reise gemeistert hatten, wechselte sie das Thema, antwortete mit Banalitäten oder erwähnte nur Offensichtliches, Gründe, die immer passten und immer überzeugten, selbst wenn es sich dabei nur um Halbwahrheiten handelte: Sie seien immigriert, um mehr Geld zu verdienen, die Familie zu unterstützen und dem Kind in Mamás Bauch – das war ich, der einzige Sohn, den sie bekam – eine Zukunft bieten zu können.

Don Pascual erinnerte mich ständig daran, dass ich Unheil über Mamá gebracht hätte, meine Geburt ein schlechtes Omen gewesen und sie allein durch meine Schuld erkrankt sei. Aber das war gelogen, ich glaubte ihm nicht. In Wirklichkeit war er es, der ihr das Leben vergällt hatte.

Am siebenundzwanzigsten August regnete es wie aus Kübeln. Don Pascual war schon in aller Frühe zu einer Baustelle aufgebrochen. Elvira erwachte matter als gewöhnlich und mit Schmerzen. Dennoch wischte sie den Boden, reinigte die Wohnung, staubte die Regale ab. Zum Frühstück trank sie einen Kaffee und aß ein süßes Brötchen, als Mittagessen bereitete sie sich eine Hühnersuppe mit Reis. Sie hob Pascual einen Teller fürs Abendessen auf.

Um die Mittagszeit hatte es angefangen zu nieseln. Die Luft war für diesen Monat ungewöhnlich frisch. Der Regen wurde von Stunde zu Stunde stärker. Dann begann das Gewitter, und ein starker Wind zog auf, der an den Ästen der Bäume und Doña Elviras Nerven zerrte. Später erzählte sie, noch nie habe man in Eden so viele Blitze und Donnerschläge erlebt. Und mit dem gleißenden Licht und dem Krachen im Himmel kamen die Stöße und Tritte, mit denen sich das kleine Wesen in ihrem Bauch bemerkbar machte.

Die Nacht brach herein. Die Blitze warfen ihr Licht auf die zerwühlten Laken, die Wasserschüsseln, die Stofftücher, die Bettdecke, kurz: das wenige, das Elvira hatte vorbereiten können. Stirn, Rücken, ihr ganzer Körper schwitzte. Niemand war da, um sie zu unterstützen. Sie schaffte es nicht, allein aufzustehen, um die ganz in der Nähe wohnende Hebamme zu holen.

Sosehr sie auch schrie, das Sturmgetöse verschluckte die Hilferufe meiner Mutter. Bald war es nur noch ein raues Bellen, ihre Stimme schien mit jeder Wehe kratziger zu werden. Ihre Eingeweide verknoteten sich zu einem derben Knäuel, ganz so, als wüte das Baby in ihrem Bauch wie ein wildes Tier, um dem Ort zu entfliehen, an dem es neun Monate lang so viel Wärme und Geborgenheit gefunden hatte. Die Kratzer, Bisse und Schläge, die sie in ihrem Inneren spürte, fühlten sich an, als hätte ich mit ihren Organen gespielt, sie herumgeworfen, in sie hineingekniffen. Nass von Schweiß, Fruchtwasser und dem Blut, das aus ihrer Vagina strömte, legte sie sich aufs Bett. Sie betete zur Jungfrau Guadalupe, zum lieben Herrgott und auch zum Teufel, damit die Schmerzen ein Ende hätten. Irgendwie schaffte sie es, sich hinzusetzen. Dann öffnete sie die Beine und presste.

Mein blutiges Köpfchen kam zum Vorschein, beim nächsten Pressen folgte mein ganzer Körper. Und ich.

Mein Weinen und ihr Wehklagen ließen das Peitschen des Sturms verstummen.

Dann drückte sie mich an die Brust, und ich begann zu saugen. Doña Elvira stillte mich, bis ich fast vier Jahre alt war. Sie sagte später, ich hätte mit viel Kraft an ihren großen dunklen Brustwarzen gesogen, sie auch gebissen, obwohl ich gewusst hätte, welche Schmerzen ihr das bereitete. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich meinen Mund mit der warmen, süßen Milch aus ihrer Brust füllte und diesen Moment kurz auskostete, bevor ich sie, was für ein Genuss, hinunterschluckte, um gleich darauf wieder zu saugen.

Sie bemühte sich, einen wohlgenährten, widerstandsfähigen und kräftigen Burschen aus mir zu machen. Brot, Tortillas, Hühnchen oder was auch immer gerade da war, alles stopfte sie in mich hinein, ob ich Hunger hatte oder nicht, zu jeder Tageszeit. Don Pascual hingegen bestrafte mich, wann immer er konnte und stets ohne Grund, indem er mich ohne Abendessen ins Bett schickte.

Seither weiß ich, dass sowohl das Kochen als auch das Essen ein Akt der Liebe ist.

Oder das Gegenteil.

04

ICHHEISSEJOHNGUADALUPE Ontuno Macías, und mein Name ist mir durchaus wichtig, auch wenn mich manche einfach nur Lupe oder John nennen. Die Gefangenen im Polunsky-Gefängnis hingegen spricht man mit ihrer Gefangenennummer an oder mit Namen, die auf ihre Verbrechen anspielen. Hey, du, Knochenmann, Kinderwürger, Guillotine!

Im Standesamt von Eden diktierten Pascual und Elvira dem Beamten vor ihnen die ersten Kennzahlen des Fleischbrockens in ihren Armen. Oder war ich da schon ein Kind, das laufen konnte? Wie war das gleich noch mal? Man erschafft die Vergangenheit ständig neu, modifiziert die Erinnerungen, je nachdem, wie es gerade besser passt. Man verändert Situation und Szenerie, fügt nie gesprochene Dialoge hinzu, improvisiert, ergänzt Personen oder lässt sie verschwinden.

Der Park, in dem ich damals spielte, war grün, immer grün, und mit Schaukeln, Klettergerüsten und Rutschen ausgestattet. Es gab dort auch einen Sandkasten, in dem ich meine Spielzeugautos vergrub. Wenn ich am nächsten Tag zurückkehrte, erwarteten sie mich schon, die unter Sandhügeln verborgenen Schätze. Dieser fröhliche Ort war vielleicht inzwischen schon dem Erdboden gleichgemacht und von einem Gebäude ersetzt worden. Möglich ist es. Aber ich weiß es nicht. Sicher ist nur, was geschrieben steht: Den offiziellen Dokumenten zufolge kam ich an irgendeinem siebenundzwanzigsten August um 21.24 Uhr lebend zur Welt. Als Sohn von Pascual Ontuno und Elvira Macías, beide aus Mexiko. Außerdem steht da, ich hätte fünf Pfund gewogen und sei achtundvierzig Zentimeter groß gewesen. Padre Alonso, der Pfarrer des Viertels, taufte mich einige Tage später. Meinen Namen habe ich von meinem Großvater Juan Macías, dem Vater von Doña Elvira, und der Jungfrau von Guadalupe, die sie um meinen Schutz bat.

Padre Alonso machte mich zum Messdiener, als ich gerade einmal sieben Jahre alt war. An den Sonntagen unterstützte ich ihn in der Kirche und ging mit dem Klingelbeutel herum, in den die Gemeindemitglieder während der Messe ihre Münzen warfen. Einen Teil der Geldstücke gab ich der Kirche, der andere landete in meiner Hosentasche, da mir das Trinkgeld von Padre Alonso armselig vorkam. John Guadalupe, der Teufel wird versuchen, dich zu verführen. Du musst lernen, ihm zu widerstehen, andernfalls endest du in der Hölle und wirst auf dem Rost braten.

Er riet mir zum Pfad der Tugend. Manchmal zog er mich auch an den Ohren und nervte mich damit, dass ich den Satan in mir trüge und ihn endgültig herausreißen müsse, dass ich das Licht in meine Seele lassen solle, damit Doña Elvira endlich Frieden finden könne, anstatt weiter in Kummer und Sorge zu leben. Ich gebe zu, manchmal hätte ich ihn gern mit seiner eigenen Stola erdrosselt, hätte am liebsten an den Enden des Stoffstrangs gezogen, bis sich sein Gesicht erst rot, dann violett verfärbt hätte und er erstickt wäre. Ich dachte auch daran, ihn mit dem Kelch niederzustrecken, ihm mit dem Gefäß den Schädel zu spalten, um seine Seele hinauf zum Schöpfer zu schicken.

Ich besaß damals eine Keksdose, mittlerweile verbeult und rostig, in der ich meine Schätze aufbewahrte: eine Sammelkarte von Captain America, die ich einem Schulkameraden gestohlen hatte, ein Gummiband, einen getrockneten Froschschenkel, drei Murmeln und anderen irgendwo aufgelesenen Krimskrams wie Schrauben, Glassplitter, Steinchen, Bonbonpapiere, kleine Zweige und Laub. Eine Zeichnung war auch unter den Kostbarkeiten, darauf eine schmale Straße, eine gelbe Sonne und eine Kulisse aus grünen Bergen. Am unteren Bildrand stand ich, mit einem spitzen Gegenstand in der Hand, bei dem ich weder weiß noch erkennen kann, was es eigentlich war.

Das Bild hatte ich auf einer Reise nach San Antonio gezeichnet. Doña Elvira, Don Pascual und ich wollten damals Verwandte besuchen, die auch über die Grenze in den Norden gekommen waren. Ich ließ das Seitenfenster unseres Vans herunter, drehte mit Kraft an der Kurbel, bis die Glasscheibe in der Tür verschwand. Der Fahrtwind klatschte mir ins Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und verzog den Mund, eher unfreiwillig, zu einem Grinsen. Draußen auf den Feldern wogte der Weizen mit seinen zersplissenen Kronen wie ein Meer aus goldenen Wellen. Gäbe es in meiner Schatzkiste ein Foto, das die Essenz meiner Kindheit festhielte, es würde genau diesen Moment zeigen: mein Lächeln gegen den Wind.

Mamá hatte Kuchen, Obst und Getränke eingepackt, mit denen wir uns auf der Fahrt stärkten. Die im Wagen zurückbleibenden Krumen, Schalen, Verpackungen und Plastiktüten sorgten im Laufe der Fahrt für ein unverwechselbares Aroma aus überreifen Orangen und trockenem Brot.

Ab und an drehte sich meine Mutter zu mir um.

»Was machst du, John Guadalupe?«

»Nichts.«

»Menschen können nicht nichts tun. Wir denken immer an irgendetwas, bewegen uns, laufen herum.«

»Ich schau mir die Wolken an.«

»Und was siehst du?«

»Wolken.«

Ich weiß nicht, ob diese Autofahrten drei Stunden oder einen ganzen Tag dauerten. Ich erinnere mich auch nicht daran, ob Pascual gut fuhr oder wie viele Dosen Bier er dabei trank. Damals war Elvira noch nicht krank. Ihre schwarzen Augen glänzten noch wie die Kerne von Großen Sapoten, und ihre Lippen hatten die Farbe reifer Pflaumen, wie es sie in ihrer Heimat gab. Ich saß auf dem Rücksitz und spielte mit ihrem langen schwarzen Zopf, der von rotem Garn zusammengehalten wurde. So wie andere den Schwanz oder die Pfote eines Hasen als Glücksbringer benutzen, hätte ich gern dieses Anhängsel meiner Mutter besessen, um es für immer bei mir zu tragen und in meiner Schatzkiste zu verstecken. Sie liebte Rancheras und trällerte ständig irgendeins dieser Liedchen vor sich hin. Ihre Stimme klang lieblich, ein wenig schief vielleicht, dazu wippte sie mit den Schultern und lächelte. Zumindest in meiner Erinnerung.

Wie es dazu kam, dass unsere Reisen mit dem Auto irgendwann aufhörten, weiß ich nicht. Vielleicht war es in dem Sommer, als ich meinen ersten Job als Hilfskellner in einem asiatischen Restaurant bekam. Auf unseren Fahrten über die texanischen Highways war immer auch mein Hund Canas dabei – eine Promenadenmischung, klein, mit hellgrauem Fell. Er war ganz unerwartet in die Familie gekommen, ganz ähnlich wie die Menschen, die uns bewegen und unser Leben verändern, auch wenn sie dann irgendwann ohne Vorankündigung verschwinden oder sterben. Besonders mochte ich den Geruch seines warmen Atems, diese Mischung aus Speichel und Trockenfutter. Wenn ich Rindfleisch paniere, rieche ich sie manchmal, diese trockene, intensive und ganz eigene Note, die mich an andere meiner Lieblingsdüfte erinnert: Milch kurz vor dem Kochen, Eiswürfel frisch aus dem Gefrierfach, meine verschwitzten Handinnenflächen, erlöschende Zündhölzer, mein Sperma, trocknendes Blut.

Canas und ich hockten hinten im Auto wie zwei Komplizen, während meine Eltern vorn über Dinge sprachen, die ich nicht verstand oder vorgab, nicht zu verstehen. Ich kraulte ihn hinter den Ohren, und gemeinsam genossen wir, zufrieden und träge, die Ruhe dieser sonnengetränkten Nachmittage.

Eines Tages begann er zu murren, sobald er aufstand oder sich umdrehte. Ich vermutete, es könnten die Nachwirkungen von einem der Fußtritte sein, die Don Pascual dem Tier häufig versetzte. Sicher würde er sich bald davon erholen. Ein paar Wochen später konnte Canas fast nicht mehr laufen. Er lag auf dem Boden und winselte mit flehendem Blick. Wochen zuvor hatte Canas meine Lieblingsschuhe zerfetzt, ein Paar schwarze Converse. Meine Wut darüber war so groß gewesen, dass ich mit ihm schimpfte und ihn anschrie. Dann kamen die Schmerzen. Heute denke ich, dass die Sache mit den Schuhen eine Art Rebellion war, ein Versuch, meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich hatte es nicht verstanden. Ich hob ihn ins Auto und legte ihn in seine Transportbox, um ihn zum Tierarzt zu bringen. Dort angekommen, hievte ich ihn auf das kalte Metall des Behandlungstischs. Canas konnte nicht einmal mehr die Augen öffnen. Er hatte einen Tumor in der Wirbelsäule.

»Für so gute Burschen wie dich gibt es einen Hundehimmel, das weißt du schon, oder? Voller Trockenfutter, Hachsen mit Knochen und Gummibällen«, flüsterte ich Canas zu. Er blinzelte mich nur verzweifelt an.

Der Tierarzt verabreichte ihm die Spritze in die Hüfte. Canas stöhnte, aber der Laut kam nicht aus seinem Maul, sondern aus seinen Eingeweiden. Langsam schlief er ein, für immer. Wir erlösten ihn von seinem Elend.

Irgendwann lernte ich die Reyes Latinos kennen, eine Straßengang. Sie trafen sich immer nachmittags, ganz in der Nähe meines Barrios. Ich gab mich möglichst tough und männlich, als könnte mich nichts überraschen oder erschrecken. Ihr Stammrevier war eine dunkle Gasse, verdreckt und abgelegen, in die sich niemand hineinwagte, weder am Tag noch in der Nacht. Zu ihren Aktivitäten zählten Schmuggeleien, kleine Überfälle und Drogengeschäfte. Außerdem rauchten sie gern Marihuana, tranken bis zum Filmriss und hörten Rapmusik mit spanglischen Texten, die mir irgendwie nie gefallen hat. Boss der Reyes war ein untersetzter Kerl, keine eins fünfzig groß, aber mit Furcht einflößender Visage. Seine Stirn war faltig und zerfurcht, als wäre sie eine einzige wulstige Narbe. Auf seiner haarlosen Brust baumelten dicke Goldketten. Er sah aus wie ein verkleidetes Kind. In meinem Kopf nannte ich ihn Chucky, die Mörderpuppe. Eines Tages blieb ich auf dem Heimweg vor einem kleinen Laden mit Haushaltsgeräten stehen, um mir in der Auslage einen Walkman anzusehen, der mich schon länger interessiert hatte.

»Willst du das Ding? Kein Problem, Mann, ich hab da einen Job für dich. Du musst mich nur warnen, wenn jemand kommt, die Polizei oder sonst irgendwer. Wenn du einer von uns sein willst, musst du auf Zack sein, Junge.« Chucky gab mir einen Fünfzigdollarschein. Mit dieser Anzahlung hatte ich den Auftrag akzeptiert.

Nun konnte ich mir den Walkman kaufen. Es bliebe sogar noch genug für eine der Broschen, die Doña Elvira so gern mochte. Ich steckte mir einen Kaugummi mit Traubengeschmack in den Mund, den ich in meiner Hosentasche gefunden hatte. Zuerst lutschte ich ihn nur und konzentrierte mich auf den Geschmack. Dann kaute ich ihn so heftig, dass mir der Kiefer wehtat. Ich machte Blasen, eine nach der anderen, war nervös wie ein Rennpferd in der Startbox. Die platzenden Blasen dröhnten in meinen Gehörgängen, als wären es kleine Explosionen. Ich kam mir vor wie in einem Videospiel, in dem andere dran glauben mussten, wenn ich nicht richtig aufpasste. Chucky und drei seiner Kollegen gingen in den Laden. Durchs Fenster sah ich, wie sie den Angestellten fesselten und knebelten und die Kunden in Schach hielten. Plötzlich tauchten zwei Personen an der Straßenecke auf, ein Mann und eine Frau. Gemächlichen Schritts kamen sie in unsere Richtung. Schweißperlen rannen mir über die Stirn, meine Hände zitterten, und ich verschluckte den Kaugummi. Ich wollte pfeifen, schaffte es aber nicht. Auch schreien konnte ich nicht, meine Stimme versagte. Ich lief in den Laden. Der Anblick meines verschreckten Gesichts reichte einem der Reyes, um zu kapieren, dass draußen Gefahr drohte. Als sie darauf ihre Pistolen zogen, war ich überzeugt, dass sie uns alle umbringen würden. Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab: Schüsse, Schreie, Blut, das Eintreffen der Polizei, ich im Gefängnis wegen Mittäterschaft, eine vom Kummer zerfressene Doña Elvira. Aber nichts dergleichen geschah. In weniger als zehn Minuten räumten die vier Reyes den Laden leer: Stereoanlagen, Fernseher, Bügeleisen, Mikrowellengeräte und sogar Skateboards schleppten sie zu einem in der Nähe geparkten Lieferwagen.

»Hey, gute Arbeit«, sagte das Pummelchen und gab mir den Walkman.

Ich rannte weg, meinen wohlverdienten Lohn in der Tasche.

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, und du sollst nicht ehebrechen, John Guadalupe. Außerdem heißt es, du sollst nicht stehlen. Verstehst du, was ich dir sage?«, predigte mir Padre Alonso, als er von dem Überfall in der Nachbarschaft erfuhr.

»Was passiert, wenn sich jemand ein bisschen Geld verdient, indem er einem anderen bei dessen Gaunereien hilft?«, fragte ich nach.