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Bestseller-Autorin Hera Lind erzählt in »Das letzte Versprechen« die wahre Geschichte von Anni aus Siebenbürgen, die im Deutschland der Nachkriegszeit vergeblich auf Mitgefühl hofft und schließlich ein zweites Mal durch die Hölle gehen muss. Weihnachten 1944 bricht im Banat die Hölle für die kleine Anni aus: Sie wird von bewaffneten Partisanen aus den Armen ihrer jungen Mutter Amalie gerissen – und in ein jugoslawisches Kinderheim verschleppt, während Amalie mit 180 Frauen des Dorfes in ein Arbeitslager nach Sibirien muss. Annis Großmutter lässt die 5-Jährige allen Gefahren zum Trotz nicht allein – wie sie es deren Mutter versprochen hat. Heimlich fährt sie mit und ermöglicht der Kleinen die Flucht. Für Anni wird ihre Oma zum Licht in der Dunkelheit, das ihr auch Jahre später noch leuchtet. Denn im Deutschland der Nachkriegszeit hat niemand Zeit für die seelische Not eines Kindes. Erst als Anni dem Bauernsohn Hans begegnet, glaubt sie, ein wenig Glück gefunden zu haben. Bis ihre Liebe zum Leben und dem, was gut ist an den Menschen, erneut auf ungeahnte Weise auf die Probe gestellt wird … Berührend, dramatisch und voller Hoffnung erzählt der Schicksalsroman von Bestseller-Autorin Hera Lind, wie Anni mit den Gespenstern ihrer traumatisierenden Vergangenheit ringt – und den Kampf niemals aufgibt.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2022
Hera Lind
Roman nach einer wahren Geschichte
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Brutal wird die kleine Anna 1944 in Siebenbürgen aus den Armen ihrer jungen Mutter gerissen – und mit ihren gerade einmal fünf Jahren in ein Straflager verschleppt. Nur dank der Kraft der absoluten Verzweiflung gelingt es dem Kind schließlich, mit bloßen Händen ein Loch durch die kalte, harte Erde unter dem Zaun zu graben.
Doch statt Freiheit und Geborgenheit bei ihren Großeltern wartet auf Anna hinter dem Stacheldraht nur neues Grauen. Als sie sechs Jahre später endlich wieder mit ihrer Mutter vereint ist, kann ihr die schwer traumatisierte Frau keine Liebe mehr geben. Und im Deutschland der Nachkriegszeit ist kein Platz für das Leid der vergessenen Generation.
Erst als Anna dem Bauernsohn Fritz begegnet, glaubt sie, ein wenig Glück gefunden zu haben. Bis die Schrecken der Hölle sie einholen …
VORBEMERKUNG
ANNA
AMALIE
ANNA
HERA und ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
AMALIE
ANNA
NACHWORT
Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht.
Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.
Für alle Leserinnen und Leser erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagenhaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.
Lazarfeld, Oktober 1944
Nebenan bei den Nachbarn polterte es harsch gegen die Tür.
»Was ist das?« Ängstlich hob ich den Kopf. »Das macht mir Angst!«
»Ach, die haben nur Besuch, das gilt nicht uns. Mach dir keine Sorgen, kleine Anni.«
Meine Großmutter Barbara drückte mich liebevoll an sich, mich, ihre mollige kleine Enkelin mit den blonden Zöpfen, die zusammengekuschelt auf ihrem Schoß saß. Ich war fünf Jahre alt, und nachdem meine junge hübsche Mama in traditioneller Tracht auf dem Kirchweihfest im Gasthaus bediente, ruhte ich mich nun in der Geborgenheit des großmütterlichen Schoßes aus. Auch wir hatten den reichlich bestückten Erntedank-Festzug bestaunt, bis mir zu kalt geworden war. Wie immer hatte ich meiner Großmutter fasziniert dabei zugesehen, wie sie sich das schwarze Kopftuch unter dem Kinn zusammengebunden hatte.
Das tat sie dann, wenn sie Besuch erwartete oder selbst vor die Tür ging. Warum behielt sie jetzt so eine unheimliche Ruhe?
»Schau, jetzt zeige ich dir noch, wie eine Zwickmühle geht.« Ihr Zeigefinger, der sonst so routiniert die Perlen des Rosenkranzes bewegte, zog die runden abgegriffenen Spielsteine zielbewusst über das vergilbte Spielbrett. »Siehst du? Egal, wie du den mittleren Spielstein ziehst, es ist immer eine Mühle.«
Ich gluckste vor Erstaunen, mein kleiner Kinderfinger zog begeistert den Stein hin und her.
Nebenan wurden Schreie laut; Männerstimmen befahlen etwas, eine Frau kreischte, man hörte Türen schlagen. War das nicht die nette rotwangige Bäckermeisterin, die mir immer Kuchenränder zusteckte, während sie mit Großmutter über dem täglichen Einkauf plauderte? Schon morgens um fünf zog der verführerische Duft frisch gebackenen Brotes über den benachbarten Hof in mein kleines Schlafgemach, und die Gewissheit, auch heute wieder ein köstliches Frühstück zu bekommen, ließ mich immer wieder in süße Träume versinken.
»Oma! Ich habe Angst!«
»Also los, Anni. Bau dir deine Zwickmühle!«
Meine kleine heile Kinderwelt begann in diesem Moment zu bröckeln, ohne dass ich das Ausmaß der vor mir liegenden Hölle auch nur ansatzweise erahnen konnte. Noch gelang es meiner Oma, mich auf das Spiel zu fokussieren, obwohl ich an ihrer angespannten Haltung bemerkte, dass etwas in unserem heiteren und harmonischen Leben ganz und gar nicht mehr in Ordnung war. Wie symbolisch war doch da die Zwickmühle! Egal wie ich den Stein hin und her zog; der Spielgegner wurde langsam, aber sicher ausgehungert, zerstört, erledigt. Bis er nur noch mit drei Steinen bewehrt um sein armseliges Leben hüpfen konnte! Aussichtslos, wie ich mit meinem kleinen Gehirn schon bald feststellen konnte! Die gegnerischen Spielsteine lagen schon bald darauf wie Trümmer am Rande des Spielfeldes. Wie einfach, konsequent und herrlich grausam das war! Was für ein Triumph für die fünfjährige Siegerin! Ich klatschte in die Hände und strampelte mit den Beinen.
»Das muss ich unbedingt heute Abend mit der Mama spielen! Die wird Augen machen!«
»Vorsicht, du trittst der Oma gegen die Knie!« Meine Großmutter verzog schmerzlich das Gesicht. »Du weißt doch, dass ich vom vielen Bücken und Knien auf dem Feld schon Rheuma habe!«
Meine Großeltern waren die fleißigsten Menschen der Welt. Mit ihrer Hände Arbeit hatten sie nicht nur unser geräumiges Haus und den üppigen Garten, sondern auch die Gaststätte, Ställe, Scheunen und Felder erschaffen, auf denen es im Frühling sprießte und blühte.
Jetzt im Herbst, nach der Ernte und im Winter war die Zeit der Riten und Bräuche, der traditionellen Kirchweihfeste und der Vorbereitungen für die Weihnachtsspiele.
»Entschuldige, liebe Oma.« Sofort ließ ich das Zappeln sein. »Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.«
»Schon gut, mein kleiner Liebling.«
Die Oma pflückte mich von ihrem Schoß ab und setzte mich auf meinen Kinderstuhl, den mein geliebter Papa mir geschnitzt hatte. Ihr Gesicht war angespannt, ihr Blick starr. Denn nun polterte es auch an unserer Tür. Und zwar so heftig, dass ich fürchtete, die Tür würde zersplittern.
Ich erstarrte. »Wer kommt da?«
»Bleib ganz ruhig, ja, Anni?« Sie legte warnend den Finger auf den Mund. »Spiel weiter und versuch, dir eine Zwickmühle zu bauen!«
Die Oma knotete ihr Kopftuch noch fester unter dem Kinn zusammen und öffnete die Haustür, bevor sie von außen eingetreten werden konnte. Mehrere gefährlich aussehende Männer in deutschen Wehrmachtsuniformen polterten mit schweren Stiefeln in den Hausflur. Wir Banatdeutschen hatten die deutschen Soldaten mit unserer sprichwörtlichen Gastfreundschaft aufgenommen, und meine Großeltern hatten sie beköstigt und bewirtet und ihnen Unterkunft gegeben, wo sie doch fern von ihrer Heimat waren.
»Heil Hitler, Frau Pfeiffer. Wo sind der Jakob und der Hans?« Redeten die etwa von meinem geliebten Papa und seinem Bruder, meinem Onkel Hans?
»Unser Ältester ist wie immer in der Gastwirtschaft! Und der Hans in der Metzgerei!«
»Warum haben sie sich nicht freiwillig zur SS-Freiwilligen-Gebirgsdivision Prinz Eugen gemeldet?«
»Sie können doch nicht weg! Wir betreiben die größte Gastwirtschaft mit angrenzender Metzgerei im Ort, das wisst ihr doch, ihr trinkt doch selber jeden Abend euer Bier bei uns und lasst euch den Rinderbraten servieren!«
»Heute sind wir in offizieller Mission hier! Bis jetzt haben sich aus Lazarfeld nur acht Schwaben freiwillig gemeldet, wie sollen wir da einen Krieg gewinnen?«
Ich hörte die Männer bellend lachen.
»Divisionsstärke kann mit einer Handvoll Soldaten wohl nicht erreicht werden!«
»Wir sollten uns doch wohl besser aus diesem Krieg heraushalten«, versuchte Großmutter, die aufgeregten Männer zu beruhigen. »Kommt lieber heute Abend auf ein Freibier und auf ein gutes Geselchtes, ich sage dem Jakob und dem Hans Bescheid.«
Während meine Finger andachtsvoll die Spielsteine von einer Zwickmühle zur anderen zogen, spitzte ich doch die Ohren. Eine Gänsehaut überzog mich, trotz meiner warmen Strickjacke, in die die Oma mich gesteckt hatte. Schon jetzt wurde mir die Tragweite der Situation bewusst, in der wir Lazarfelder Bürger in diesen späten Kriegstagen steckten.
»Das wird noch Folgen haben, Pfeifferin, sag das deinen Söhnen! Wir holen sie uns alle für den deutschen Endsieg!«
Die Männer verschwanden türenknallend, ich beobachtete durch den Küchentürspalt, wie uniformierte Arme mit Hakenkreuz grüßend in die Höhe schnellten.
»Heil Hitler!«
Die Oma antwortete nur mit einem schlichten »Vergelt’s Gott«.
»Oma, was wollten die Männer von meinem Papa?«
Ahnungsvoll hatte ich den Kopf auf meine Hand gestützt, wie ein Blümchen, von dem sich die Sonne abgewendet hat und das ganz langsam einknickt. Es wurde nicht nur draußen Herbst, wie es schien.
»Sie wollen, dass der Papa und der Onkel Hans für die Deutschen in den Krieg ziehen.«
»Aber warum …? Die haben doch mit keinem Menschen auf der Welt Streit!«
»Schau, Anni.« Die Oma ließ mich wieder auf ihren Schoß krabbeln, wo ich sofort begann, in alter Gewohnheit mit den Zipfeln ihres Kopftuches zu spielen. Das gab mir ein Gefühl von Geborgenheit.
»Wir Banater Schwaben leben schon seit weit über hundert Jahren friedlich Wand an Wand mit unseren Nachbarn in diesem Land. Wir haben es fruchtbar gemacht mit harter Arbeit und viel Fleiß. Hier blüht und gedeiht alles, und jeder hat seinen Platz gefunden.«
»Das weiß ich doch, Oma. Es gibt bei uns Ungarn, Rumänen, Kroaten, Slowenen, Serben, Dobrowolzen, Katholische und Evangelische …«, zählte ich an meinen Kinderfingern auf. »Griechisch-Orthodoxe, nee, warte mal … römisch Orthodoxe …« Ich hatte keine Ahnung, was da der Unterschied war, aber ich zählte mal weiter auf. »Und alle kommen in unser Gasthaus und trinken Bier und essen Onkel Hansens Bratwurst.«
Die Oma musste sich ein Lachen verbeißen. »Dobrowolzen gab es nur im Ersten Weltkrieg. Das ist zum Glück lange her. Aber die anderen …« Sie zog sich das Kopftuch ab, weil ihr plötzlich heiß zu werden schien … »die leben schon seit Langem friedlich und freundschaftlich in diesem wunderschönen Landstrich. Und warum sollten wir Deutschen gegen unsere eigenen Nachbarn kämpfen? Das käme uns doch gar nicht in den Sinn.«
»Aber die Nazis wollen das, Oma. Ich hab es genau gehört.«
»Kind. Die Nazis leben ganz weit entfernt von uns. In Deutschland. Hier gibt es keine Nazis.«
»Warum wollen die dann, dass der Papa ins Gebirge geht, mit diesem Prinz Eugen?«
»Das ist völliger Unsinn, Anni. Im Gebirge gibt es Partisanen, die sind sehr gefährlich. Dein Papa könnte keiner Fliege was tun, dein Onkel Hans tötet nur Tiere, damit wir was zu essen haben, und deshalb sind sie in unserem Gasthaus auch am besten aufgehoben.«
Das stimmte. Ich kannte meinen heiteren und gut gelaunten Papa nur von fröhlichen Festen, wo sich die Vereine trafen, da wurde Karten gespielt und gesungen, geraucht, getanzt und gelacht. Mein lieber Opa und mein Papa und Onkel Hans waren immer mittendrin. Und meine wunderschöne blutjunge Mama, die zur Freude der Gäste dort in Landestracht die köstlichsten Gerichte servierte, zierte das Familienunternehmen.
Dafür hatte ich zu Hause meine Oma für mich allein. Denn kleine Mädchen, so war sich die ganze Familie einig, hatten in einer Gastwirtschaft nichts verloren.
»Oma! Oma! Was ist da draußen los? Wer sind diese Männer?«
Ich stand am Fenster auf der Küchenbank, drückte meine Wange gegen die Scheibe und beobachtete mit Schrecken, was sich auf der Hauptstraße unserer Stadt abspielte. Eine Menge fremder Soldaten, die ganz andere Uniformen anhatten als mein Papa – sie hatten ihn inzwischen doch zum Krieg abgeholt –, marschierten mit Gewehren über der Schulter hinter einem grässlich aussehenden Panzer her, der knirschend den Asphalt niederwalzte, und auch alles andere, was ihm zufällig in den Weg kam! Und dann kamen noch mehr Panzer, eine ganze Menge! Sie sahen aus wie eiserne grässliche Raubtiere, und sie fraßen alles, was ihnen vor das gierige Eisenmaul kam! Eine Parkbank, eine Mülltonne und ein Kinderwagen wurden einfach platt gewalzt wie der Kuchenteig, den meine Oma gerade unter dem Nudelholz knetete und mit Mehl bestäubte!
Grauenvolles Geschrei von draußen ließ mich meine Hände auf die Ohren pressen.
Eine junge Frau rannte kreischend zu dem, was gerade noch ihr Kinderwagen gewesen war.
»Oma! Ich habe Angst!«
Schon war meine liebe Oma zur Stelle. Wie immer, wenn fremde Augen sie taxierten, hatte sie sich in Windeseile ihr schwarzes Kopftuch umgebunden.
»Bleib ganz ruhig, kleine Anni.« Behutsam zog sie mich in den Schutz des bunten Küchenvorhangs, den sie und meine Mama selbst genäht hatten. »Die Männer ziehen hier nur durch, die tun uns nichts.«
»Aber sie schreien und schießen! Und sie schlagen die Leute, schau doch nur!« Die junge Frau hatte sich über die Reste ihres Kinderwagens geworfen und hielt irgendwas in den Händen, das aussah wie ein Puppengesicht.
Tatsächlich hatten sich ihnen inzwischen einige unserer Nachbarn entgegengestellt, mit Mistgabeln, Äxten und anderen Gerätschaften, die sie in der Eile hatten greifen können, und es kam zu einer regelrechten Straßenschlacht. »Oma, sie werfen mit Steinen!«
Zu meinem Entsetzen musste ich mit ansehen, wie meine Tante Christa, die im Nachbarhaus wohnte und mit dem Bruder meines Papas, Onkel Hans, verheiratet war, von zweien dieser Soldaten an den Haaren zu Boden gerissen wurde. Was sie da mit ihr taten, war ganz unbegreiflich! Onkel Hans war aus seiner Metzgerei herbeigeeilt und versuchte, seine junge Frau aus dieser grässlichen Lage zu befreien, und prügelte mit seinem Fleischerbeil auf die russischen oder serbischen Soldaten ein. Da hatte er einen erwischt! Doch das hätte er besser nicht getan, denn jetzt stürzten sich gleich fünf oder sechs von den fremden Männern auf meinen Onkel und verprügelten ihn. Gleichzeitig walzte der Panzer nun ganze Vorgärten und Mauern nieder, und die entsetzten Schreie der Nachbarinnen und Nachbarn gellten in meinen Ohren. Hunde und Katzen flüchteten schreiend mit aufgestellten Nackenhaaren, und Kühe und Pferde galoppierten in wilden Sprüngen über die Felder.
»Komm da weg vom Fenster, Kind!«
Meine Oma, deren eigener Sohn gerade vor ihren Augen misshandelt wurde, riss mich mit sich und rannte mit mir die Holzstiege hinauf in ihr Schlafzimmer. »Versteck dich da unter dem Bett, Anni, und rühr dich nicht!«
Zitternd am ganzen Leibe, krabbelte ich auf die kahl geschrubbten Holzdielen und hielt mir im Schutz der schweren Matratzen und ihrer eisernen Federn die Ohren zu.
Draußen schrie und tobte der Mob, und ich begriff nur eines: Meine kleine heile Welt, die ich gerade mal fünf Jahre lang gelebt und genossen hatte, schien nun endgültig zu Ende zu sein. Lange, sehr lange hatten die Großeltern und auch Mama und Papa die Stimmen gesenkt, wenn sie von den Geschehnissen draußen berichteten, und immer wieder hatten sie mich mit Spiel, Gesang und Gebet abgelenkt. Ja, das Gebet half eigentlich immer.
Lieber Gott, betete ich in meine gefalteten Hände hinein, bitte, lieber Gott, lass dem Onkel Hans und der Tante Christa nichts geschehen! Sie sind doch so liebe, lustige Leute, die immer nur singen und lachen und zu allen Menschen nett sind!
Und lass meinen lieben Papa auch heil aus dem Krieg zurückkommen! Er ist doch gar kein Nazi, wir sind zwar Deutsche, aber wir wohnen doch gar nicht in Deutschland! Wir sind doch die Donauschwaben, die vor vielen Hundert Jahren auf kleinen Schiffen auf der Donau hierher in das Banat gekommen sind, um uns hier nützlich zu machen!
Wie oft hatten meine Großeltern mir die Geschichte unseres kleinen Auswander-Völkchens erzählt! Und während ich zitternd unter dem Bett hockte, führte ich mir die überlieferten Berichte meiner Vorfahren vor Augen und verlor mich in meiner Fantasiewelt.
Vor ungefähr hundertfünfzig Jahren hatte ein reicher Mann namens Lazar bei einer Auktion in Wien einen Großgrundbesitz hier in der Region ersteigert. Damals war es eine Einöde, unfruchtbar und unbewohnbar. Kurzerhand war er mit seiner Frau und seinen vier Söhnen hierher, in dieses noch völlig unbebaute Land, umgesiedelt und hatte so ziemlich aus dem Nichts einen Acker und Felder urbar gemacht. Ich hatte Bilder gesehen von den ersten Siedlern; sie hatten ganz schön erschrocken geschaut, als sie vor verwilderten Sümpfen und vertrockneten Mooren standen! Das sollte nun ihr Land sein? Da gab es noch nicht mal eine einzige Hütte! Nur Morast und Schilf, soweit das Auge reichte! Der Familienvater mit dem fein geschneiderten Anzug und dem breitkrempigen Hut hat sich nicht lange geziert, er hat die Ärmel hochgekrempelt und mithilfe der Schilfhölzer fürs Erste eine armselige Hütte gebaut, während die Frau Blätter und Früchte gesammelt hat, damit ihre Kinder nicht verhungerten. Die vier Söhne hatten alle ganz fleißig mit angepackt, und als sie alle erwachsen waren und ihre Bräute nachgeholt hatten, da war schon nach kurzer Zeit eine ansehnliche Ansiedlung aus fünf Häusern mit einigen Familien entstanden. Obwohl sie gar keine richtigen Schwaben waren, hatte ihr Fleiß und ihr Geschick sich unter der hiesigen Bevölkerung herumgesprochen, und weil sie auf der Donau mit Holzbooten gekommen waren, wurden sie »Donauschwaben« genannt.
Aus der Familie von Lazar wurde schließlich die ansehnliche propere Siedlung Lazarfeld, in der meine Großeltern, meine Eltern und schließlich 1939 auch ich geboren waren.
Warum nun plötzlich die Russen und Serben so böse auf uns waren und behaupteten, wir hätten hier nichts verloren, konnte ich nicht begreifen. Ich wusste wohl, dass in Deutschland und eigentlich im Rest der Welt Krieg herrschte, aber das betraf doch nicht unsere Insel der Seligen …? Wir hatten doch das letzte Jahrhundert noch gar nicht so richtig abgeschlossen, so wie die Menschen hier gekleidet waren …
Endlich hörte ich meine Oma wieder die Treppe heraufeilen.
»Liebes, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, Oma. Ich habe gebetet.« Hastig krabbelte ich wieder aus meinem Versteck hervor.
»Das hast du gut gemacht, Anni.« Meine Großmutter zog ihren Rosenkranz aus der Schürzentasche, sank auf die Bettkante, nahm mich in den Arm und begann mit dem schmerzensreichen Rosenkranz.
»Am Anfang betet man immer das Vaterunser … komm her, Anni, wir beten zusammen.«
Bei »sondern erlöse uns von dem Bösen« war es mit meiner Geduld zu Ende. Ich wusste ja, dass jetzt unendlich viele »Gegrüßet seist du, Maria« kommen würden. Mindestens tausend. Und Jesus hat Blut geschwitzt, und Jesus wurde gekreuzigt und ist in den Himmel aufgefahren und all das.
»Oma, wer waren diese Soldaten? Und was ist mit Tante Christa und Onkel Hans?«
»Liebes, das war eine Vorhut der Sowjets, sagt Onkel Hans. Er und Tante Christa haben eine Menge Beulen und Striemen, die bösen Männer haben ihnen wirklich wehgetan.« Meine Oma wischte sich verstohlen mit dem Zipfel ihres Kopftuches die Tränen aus dem Augenwinkel. »Die Männer mit dem Panzer sind heute Morgen aus Krajisnik gekommen, aber jetzt sind sie wieder abgezogen. Die Lazarfelder haben sich tapfer gewehrt, und jetzt verbinden sie sich gegenseitig ihre Wunden.« Sie schluckte schwer. »Manche Wunde wird auch nicht mehr heilen … Christa war doch in guter Hoffnung …«
»Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, sagst du doch immer!« Ich legte meine Händchen auf ihre Wangen und versuchte, sie zu trösten.
»Diese Hoffnung ist leider doch gestorben…« Das verstand ich nicht.
»Wie schade, dass der Papa nicht dabei war und Onkel Hans und Tante Christa nicht beschützen konnte.« Ich hielt meine Hände um den Rosenkranz gefaltet, so wie die Oma mir das gezeigt hatte. »Aber der liebe Gott wird uns doch beschützen? Der weicht doch nicht von unserer Seite, und wenn ich auch gehe im finstern Tal?«
Meine liebe Oma nickte und verbiss sich weitere Tränen, die sie hastig mit dem Betttuchzipfel wegwischte. Tapfere Kinder durften nicht weinen, wenn sie an Gott glaubten, das Gleiche galt ja wohl für tapfere Omas.
»Der Papa kämpft schon irgendwo gegen die Partisanen, und wir sollten beten, dass er heile wieder nach Hause kommt.«
Und das taten wir dann auch. Mindestens zehn Vaterunser, zwanzig EhreseidemVater und tausend GegrüßetseistduMaria.
»…und seht, was in dieser hochheiligen Nacht
der Vater im Himmel für Freude uns macht!«
Obwohl der Weihnachtsbaum in hellen Lichtern erstrahlte und darunter für mich ein paar wunderschön eingepackte Geschenke warteten, hörten sich die Stimmen der Erwachsenen ganz zittrig an, und ich spürte, dieses würde unser letztes gemeinsames Weihnachten in unserer Heimat werden.
Dabei hatte der liebe Gott doch unsere Gebete erhört! Mein heiß geliebter Papa war wieder da! Er hatte nämlich vier ganze Tage Urlaub aus dem Krieg, und wir waren heute Mittag bereits beim Fotografen gewesen, für ein Familienfoto! Die Oma hatte mich fein gemacht und in ein selbst genähtes Kleidchen gesteckt, und auch meine Mama hatte die Landestracht angelegt, und dazu ein etwas streng wirkendes Kopftuch. Mein Papa hatte seine Uniform an, die mit den blank geputzten goldenen Knöpfen.
Die nette Fotografin hatte ihren schwarzlockigen Kopf unter ein Tuch gesteckt und gerufen: »Hier kommt gleich ein Vögelchen raus!«, während Papa in seiner Uniform und Mama in ihrer Tracht mit dem streng gebundenen Kopftuch mich in ihre Mitte genommen hatten.
Da sie gar kein bisschen lächeln wollten, hatte ich wenigstens gelächelt. Es war doch Weihnachten! Und wir waren wieder zusammen! Vielleicht kriegte ich bald ein Geschwisterchen? Bei Tante Christa war der Klapperstorch schon gewesen, aber er hatte das Baby wieder mitgenommen. Das hatte irgendwas mit den Russen zu tun, die so gemein zu ihr gewesen waren! In letzter Zeit passierten ganz schreckliche Dinge, vor denen meine liebe Oma mich nicht immer schützen konnte, sosehr sie sich bemühte!
Heute Morgen war mir nämlich schon aufgefallen, dass mein gerade mal achtundzwanzigjähriger Papa nach seinen sechs Monaten im Krieg so sehr gealtert war, dass er fast schon aussah wie mein vierundfünfzigjähriger Großvater. Seine Augen lagen in tiefen schwarzen Höhlen, und seine Kieferknochen standen kantig und scharf hervor. Er lachte gar nicht mehr, er erzählte keine Geschichten und wollte fast gar nicht mehr singen. Sein Blick war ganz traurig und leer. Papa hatte wohl nicht so viel zu essen bekommen, da, wo er im Wald gegen die Partisanen kämpfen musste. Auch meine Mama, die sonst immer so lustig war und so viel sang, schaute nur traurig und geradezu ängstlich drein.
»Bitte einmal lächeln!«, hatte die Fotografin vergeblich gerufen und mit den Fingern geschnippt, aber die Einzige, die ihr diesen Gefallen tat, war ich. Mit meinen fünfeinhalb Jahren ahnte ich ja noch nicht, was sich inzwischen in der großen weiten Welt, und leider auch in unserem kleinen beschaulichen Paradies Lazarfeld, achtzig Kilometer nördlich von Belgrad zwischen Donau und Theiß gelegen, zugetragen hatte.
Und erst recht ahnte ich unschuldiges Mädchen, das mit seinem kleinen Herzen noch ganz fest an das Christkind glaubte, nicht, was sich noch heute Abend, am Heiligen Abend 1944, in unserem Städtchen zutragen würde! Diesmal waren die Weihnachtsspiele nämlich ausgefallen, was ich ganz schade fand. Es gab keinen Umzug in der Stadt, und niemand hatte das Christkind in der Krippe aus der Kirche geholt.
»Stille Nacht, heilige Nacht«, stimmte mein Großvater gerade noch mit bebender Stimme an, als auch schon die Gewehrkolben dieser wütenden fremden Soldaten gegen unsere Haustüre donnerten. Onkel Hans und Tante Christa waren auch da, und niemand wollte so recht mit einstimmen. Ihre Blicke zuckten panisch durch den Raum und erstarrten.
»… alles schläft, einsam wacht …«, blieb mein helles Kinderstimmchen im Raume hängen, wie ein letztes vergessenes weißes Tüchlein an der Wäscheleine, von der Sturm und Regen schon alles andere abgerissen hatten.
»Aufmachen! Wir wissen, dass ihr zu Hause seid!« Russische gebellte Befehle mischten sich mit deutschen Stimmen, und hässliches Gelächter unterstrich den Hausfriedensbruch: »Am Heiligen Abend sind nämlich alle Deutschen zu Hause, da gehen sie uns alle ins Netz!«
Von den vielen Fremden, die nun in unsere geschmückte Wohnstube polterten, war mir nur der Dorfvorsteher vertraut. Er war regelmäßiger Stammgast im Gasthaus meiner Großeltern und Eltern, war gut mit ihnen bekannt und per Du. Sein Männergesangsverein probte dort immer mittwochs, und das Bier floss in Strömen. Jedenfalls früher. In den guten alten Zeiten, wie die Erwachsenen sie mittlerweile nannten.
Bevor meine Familie überhaupt nur begreifen konnte, was vor sich ging, wurde auf Russisch ein Befehl gebrüllt, der vom Dorfvorsteher übersetzt wurde.
»Alle Frauen zwischen achtzehn und fünfunddreißig haben sich unverzüglich vor dem Gasthaus Pfeiffer einzufinden!«
Obwohl mir weder der Ton noch das Benehmen der Männer gefiel, schoss mir als Erstes durch den Kopf: »Die treffen sich alle bei uns! So schlimm kann es also nicht werden!«
Doch dann wurde mir schlagartig klar, dass aus unserem Paradies die Hölle geworden war.
Meine Mama und Tante Christa wurden harsch an den Armen gepackt: »Los, wird’s bald, oder braucht ihr eine Extraeinladung?!« Mama war sechsundzwanzig, Tante Christa zweiundzwanzig Jahre alt.
»Was habt ihr mit ihnen vor?« Mein Großvater stellte sich tapfer vor seine Schwiegertöchter und schaffte es sogar noch, seine Söhne Jakob und Hans daran zu hindern, mit Stuhlbeinen auf die unwillkommenen Eindringlinge einzuschlagen.
»Die Banater Schwaben sind Faschisten, Verräter und Kriegsverbrecher«, übersetzte der Dorfvorsteher die gebrüllten Wortfetzen der fremden Männer. »Die jugoslawische Volksbefreiungsarmee hat von den sowjetischen Besatzern jedwede Macht über uns erhalten. Wir sind sozusagen Freiwild, und sie können und werden nach ihrem Gutdünken mit uns verfahren! Die Frauen werden zum Arbeitseinsatz abkommandiert!«
Der Dorfvorsteher selbst war also auch nicht freiwillig hier, sondern als ihr Handlanger!
In der plötzlich entstehenden Panik wurden auch schon die Türen der Nachbarhäuser eingeschlagen oder eingetreten, und aus allen Häusern wurden junge Frauen und Mädchen herausgetrieben, gezerrt und geprügelt. Manche wurden an den Haaren herausgerissen, anderen wurden noch ganz andere schreckliche Dinge angetan, die ich mit meinen Kinderaugen noch nicht einordnen und begreifen konnte. In der eben noch friedlich verschneiten Weihnachtsnacht läuteten die Kirchenglocken, aber nicht so, wie sie Weihnachten läuten sollten, sondern in wilder Panik, in gellendem Alarm!
Kreischende, wimmernde, weinende Frauen wurden vor der Gaststätte meiner Familie zusammengetrieben, mit Knüppeln, mit Gewehrkolben, mit Fußtritten von harten Stiefeln.
Manche Frauen bluteten, wimmerten, wurden an Armen oder Beinen durch den Schnee geschleift, während ihre Kinder kreischend und schreiend neben ihnen herliefen.
»Jede Frau soll so viel warme Kleidung mitnehmen, wie sie tragen kann«, wurden Gerüchte weitergetragen und hallten wie Peitschenhiebe durch die eiskalte schwarze Nacht. Die Schreie prallten an den Hausmauern ab und knallten mir um die Ohren wie die Schüsse, die Schläge und das Weinen. Ältere Frauen klammerten sich an ihre Töchter, flehten um Gnade, fielen vor den Partisanen auf die Knie.
»Nicht meine Tochter! Sie ist doch erst siebzehn, sie geht noch zur Schule!«
»Nehmen Sie mich statt meiner Tochter! Meine Kleine ist krank und hat Fieber!«
»Und meine Tochter hat gerade ihre erste Blutung und schreckliche Bauchkrämpfe!«
Doch die Mütter der jungen Mädchen und Frauen wurden mit dem Gewehrkolben weggestoßen oder mit harten Fußtritten verscheucht.
»ALLE FRAUEN! SOFORT!«
»Jede Frau soll so viele warme Sachen anziehen, wie sie hat! Es wird eine lange Reise!«
Das Weinen und Jammern breitete sich zu einer undurchdringlichen Klangwolke aus Wehklagen und Schreien über den dunklen Himmel aus, aus dem es ununterbrochen schneite.
Während meine Oma mich an sich klammerte, schnürten meine Mama und ihre Schwägerin Christa schluchzend ihre Bündel. Großvater stopfte in ihre Bettbezüge, was er aus der Speisekammer greifen konnte: kleine Mehlsäcke, Zucker, Gläser mit Eingemachtem, Wurst und Käse, das Brot, das sie heute Morgen noch gebacken hatten, Butter und Schmalz. Die jungen Frauen knickten unter der Last schier zusammen.
»Nehmt die Federbetten mit!« Meine Oma ließ mich stehen und hastete die Holztreppe hinauf. Zitternd stand ich an der Wand neben dem Klavier und starrte tränenblind auf das Chaos.
Wohin musste meine Mami denn jetzt gehen? Mitten in der Nacht? Wann käme sie denn wieder? Was hatte sie denn Böses getan? Meine Mama hatte selbst noch ein rundes Kindergesicht und einen weichen Hals, um den sie ein kleines Kreuz am Kettchen trug. Heute hatte sie für den Kirchgang ein selbst besticktes, fast bodenlanges dunkelblaues, weit fallendes Kleid getragen, dazu Riemchenpumps mit niedrigem Absatz. Die Haare hatte sie zur Feier des Weihnachtsfestes nicht unter ein Kopftuch, sondern kunstvoll unter einen Turban drapiert, in gleichmäßigen dunklen Löckchen. Ich fand, dass sie bis eben noch wunderschön ausgesehen hatte, aber jetzt war sie in mehrere Mäntel, Mützen und Tücher gewickelt und sah aus, als hätte sie nie eine Heimat gehabt und befände sich auf der Flucht.
»Das können wir nicht tragen!«, heulten die Frauen verzweifelt, als sie versuchten, die Packstücke anzuheben.
»Doch, ihr müsst! Wenn es hier schon bitterkalt ist, wie kalt wird es da sein, wo sie euch hinbringen!«
»Oh, bitte nicht nach Sibirien, bitte nicht nach Sibirien …« Ich hatte das Wort noch nie gehört.
»So, raus hier, lange genug gejammert und gefackelt!« Die jugoslawischen Volksbefreier, wie sie sich selbst nannten, prügelten die Frauen die Stiege hinunter und aus dem Haus.
Die ganze Zeit stand ich wie eingefroren neben dem Klavier, an dem wir eben noch gesungen hatten, und starrte auf die Szenerie, in der Hoffnung, nur in einem kindlichen Albtraum gefangen zu sein. Bald würde es wie jeden Morgen nach frisch gebackenem Brot riechen, und ich könnte mich noch einmal umdrehen und weiterschlafen, in Großmutters weichem Bett, meine Puppe und das Märchenbuch auf dem Kopfkissen.
Großmutter jedoch warf mir mein Mäntelchen über und zerrte mich hinter sich her.
Die ganze Stadt war in dieser Heiligen Nacht auf den Beinen und begleitete die völlig verzweifelten jungen Frauen zum Treffpunkt und Abmarschbefehl um Mitternacht.
Die Turmuhr des Kirchturmes schlug dumpf und drohend zwölfmal.
»Abmarsch! Los! Aber im Gleichschritt!«
»Schwiegermutter!« Meine Mama stand schon in der Reihe von insgesamt hundertdreiundachtzig Frauen und Mädchen, die nun auf einen zwölf Kilometer langen Fußmarsch in die nächste Stadt getrieben wurden, um dort in Viehwaggons eingepfercht zu werden. »Bitte pass mir auf meine kleine Anni auf!«
»Das tue ich, so wahr mir Gott helfe!«
»Lass sie nie aus den Augen!«, flehte meine arme Mama, während sich der Trupp der schwer beladenen Frauen bereits langsam in Bewegung setzte. Viele weinende Angehörige liefen in dieser dunkelsten Nacht ihres Lebens mit ihnen mit, halfen ihnen schleppen, schoben sperrige Handkarren durch den tiefen Schnee, wohl wissend, dass sie die verschleppten Mädchen und Frauen wohl lange nicht wiedersehen würden, vielleicht niemals mehr.
Soldaten prügelten Eltern, Geschwister und vor allem die Kleinkinder zurück, die sich an die Beine ihrer Mamas klammerten, und manche Mütter klammerten sich so sehr an ihre Töchter, und manche Töchter so sehr an ihre Mütter, dass diese schließlich mit ins Ungewisse gehen durften.
Ein Vater riss seine zwei Töchter in unbändiger Verzweiflung plötzlich aus der Reihe und zerrte sie zurück in seine Scheune, wo kurz darauf lodernde Flammen aus dem Heuschober schlugen. Er hatte sich und seine Töchter lieber selbst verbrannt, als seine Mädchen den Russen zu überlassen!
»Schwiegermutter, lass Anni nie aus den Augen«, brüllte meine Mami über die Schulter, während sie Arm in Arm mit Schwägerin Christa durch den Schnee taumelte, schwer beladen mit den Sachen, die Großvater ihnen noch in das Betttuch geknüpft hatte. Der Handkarren war ihnen entrissen worden.
»Ich verspreche es dir, bei meinem Leben!«, rief Großmutter ihr nach.
»Mami«, schrie ich aus Leibeskräften. »Mami, geh nicht! Bleib bei mir!«
Aus der benachbarten Scheune schlugen die Flammen, und grobe Strohfitzelchen, aber auch zerrissene Kleidungsstücke flogen durch die Luft. Es stank ganz fürchterlich! Schwarzer Ruß und beißender Rauch quollen uns entgegen, nahmen uns die Luft zum Atmen.
»Mami«, schluchzte ich bitterlich. »Geh nicht weg! Bleib bei mir! Ich habe Angst!«
Meine Oma schleppte mich, während ich laut weinte, aus der Gefahrenquelle. »Ich passe auf dich auf, Anni, ich bleibe bei dir, das habe ich deiner Mami versprochen!«
Meine Mami verlor sich mit den anderen Frauen und Mädchen im nächtlichen Schneegestöber, weit hinter der tobenden und beißenden Rauchwolke. Der taumelnde Elendszug entzog sich mehr und mehr meinen Blicken. Das jämmerliche Weinen und verzweifelte Schreien der auseinandergerissenen Mütter und Töchter, das Brüllen der Babys, das Kreischen und Jammern der Kleinkinder und das schaurige Glockengeläut zum Abschied dröhnten mir noch lange in den Ohren.
Nichts war mehr, wie es vorher war. Seit dieser grausamen Nacht der Verschleppung aller jungen Frauen von Lazarfeld in das sibirische Arbeitslager erlebte ich mit meinen noch nicht sechs Jahren nun täglich, wie unter dem grausamen Regime des äußerst brutalen Kommandos der jugoslawischen Befreiungskämpfer und der russischen Befehlshaber Hausdurchsuchungen, Raub, Verhaftungen, Prügelorgien, Morde und brutale Misshandlungen zur Tagesordnung gehörten. Es waren die sogenannten Blutgerichte, die täglich wieder von Neuem vollzogen wurden, je nach Laune und Grausamkeit der oft heftig betrunkenen Soldaten, deren Willkür wir Bürger von Lazarfeld nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.
Längst waren auch mein Papa und Onkel Hans in die kriegerischen Handlungen abgezogen worden, das Gasthaus meines Großvaters war zur Kommandozentrale der Russen und Jugoslawen geworden, und auf dem großen Platz davor spielten sich die grauenvollsten Szenen ab.
Täglich fanden öffentliche Hinrichtungen statt, regelmäßig peitschten Schüsse an der Mauer, wo Männer und Frauen einfach abgeknallt wurden. Keines meiner Märchen aus Grimms Märchenbuch war annähernd so grausam und unvorstellbar wie das, was ich mit eigenen Kinderaugen ansehen musste. Ihre Häuser, Höfe und Felder gingen in den Besitz der Partisanen über, die elternlosen Kinder konnten sich im besten Falle zu Verwandten oder Nachbarn retten, viele von ihnen wurden einfach erschossen oder totgetreten, verschleppt oder ins Feuer geworfen.
Fassungslos sah ich diesen entsetzlichen Szenen zu. Mein Kindermund verstummte, meine Schreie gellten in meinem Inneren, ich konnte es nicht begreifen und nicht fassen, was da in meiner kleinen heilen Welt geschah. Wie durch ein Wunder durfte ich noch bei meinen Großeltern im Hause leben, aber sie wussten, dass auch dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Meine Großeltern hatte ich immer als starke, selbstbewusste Menschen erlebt, sie waren der Mittelpunkt der kleinen Stadt gewesen, mit ihrem Gasthaus und Gastgarten, in dem sich sämtliche Familienfeiern, Chorfeste, Jagdvereinigungen und Brauchtumsfeste unter einem mächtigen Edelkastanienbaum abspielten. Im Frühling blühte er üppig weiß-gelb, im Sommer stand er im prächtigen grünen Blättergewand, im Herbst schenkte er uns Kindern die wunderschönen glänzenden Kastanien, die wir im Winter über dem Feuer rösteten. Immer waren meine Großeltern und Eltern fesch gekleidet in unseren traditionellen Trachten und waren die großzügigsten und beliebtesten Gastgeber, deren guter Ruf weit über die Puszta-Ebene verbreitet war. Mein Großvater wie auch mein Vater und Onkel Hans konnten die tollsten Witze erzählen, Großmutter, Mama und Tante Christa verstanden es zu kochen und zu backen, dass es sich in der ganzen Umgebung herumgesprochen hatte. Doch nun sah ich in meinen eigentlich noch jungen Großeltern zwei gebrochene Menschen, die ständig weinten und doch noch alles versuchten, um mich kleines Mädchen zu schützen und meine Seele möglichst unbeschadet zu lassen. Doch wie sollte das gehen? Wo sollten sie mich einsperren, dass ich die grauenvollen Szenen, die sich unmittelbar vor unserem Fenster abspielten, nicht mitbekam?
Täglich wurden vor meinen Augen unschuldige Nachbarn und Freunde mit Ochsenziemern, Gummiknüppeln oder Gewehrkolben am ganzen Körper brutal misshandelt.
»Raus aus deinem Haus, Frau«, brüllte einer der Männer, während er eine ältere Frau auspeitschte. Mit entsetzt aufgerissenen Augen beobachtete ich diese grässliche Szene. Die Frau war unsere Nachbarin, die ehemals rotwangige Bäckermeisterin, bei der wir immer unsere Brötchen gekauft hatten! Sie und ihr Mann waren jeden Morgen um drei Uhr aufgestanden, um Brot und Kuchen zu backen, die sie mithilfe ihrer Kinder und Schwiegerkinder bis weit in den Abend hinein freundlich und hilfsbereit am Ladentisch anboten! Ich als Kind hatte oft genug einen Keks oder einen Kuchenrand zugesteckt bekommen, und die Erwachsenen hatten in aller Harmonie ein Schwätzchen gehalten, während ich die Köstlichkeiten vergnügt auf der Theke hockend verdrückte.
Diese Bäckersfrau wurde aus ihrem Laden und ihrem Haus gepeitscht, unter höhnischem Gelächter der Peiniger. »Jetzt gehört Lazarfeld wieder uns Jugoslawen!«
Und was tat die robuste Bäckerin? Obwohl sie schon blutend und gebrochen am Boden lag, hob sie ihre Hände und zeigte ihnen alle zehn Finger. »WIEDER? EUCH?«, fragte sie spöttisch lachend. »DIESE zehn Finger haben Lazarfeld zu dem gemacht, was es heute ist. Früher war es ein Sumpf, und mit euch wird es wieder ein Sumpf sein!« Viel später wurde mir bewusst, dass diese Frau recht gehabt hatte. Sie starb unter den Peitschenhieben, Tritten und Schlägen der brutalen Männer. Es sollten ihre letzten Worte gewesen sein.
Aber auch in unserem Haus passierte Grauenvolles, was ich nicht begreifen konnte. Ich kannte die Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein, die war schlimm genug. Aber der böse Wolf wurde doch am Ende aufgeschnitten, und die sieben Geißlein kamen gesund und munter hervorgesprungen! Ich kannte auch die Geschichte von Hänsel und Gretel, wo die böse Hexe am Ende in den Ofen gesteckt wurde, aber die hatte es ja auch verdient!
Onkel Peter, der ältere Bruder meiner Großmutter, ein stiller, lieber Geselle, war seit dem Ersten Weltkrieg behindert. Er hatte ein Bein verloren, saß aber einfach nur zufrieden in einer Ecke und nahm oft schmunzelnd am Familienleben teil. Er konnte nicht mehr arbeiten, wurde aber von allen geliebt und geehrt. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen und machte sich oft durch handwerkliche kleine Arbeiten nützlich. Seine Holzschnitzwerke, Märchenfiguren, die er liebevoll mit der Laubsäge ausgearbeitet hatte, verzierten die Wände meines Kinderzimmers, und er konnte kunstvoll mit den Fingern Schattenspiele machen. Von ihm hörte ich ja immer diese grausamen Märchen, aber sie gingen gut aus!
Auch er war in jener letzten Weihnachtsnacht dabei gewesen, hatte sich aber gerade noch unter der Holzstiege verkriechen können, als die sowjetischen Besatzer kamen.
Denn inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass alle arbeitsfähigen Menschen aus dem Banat in sibirische Arbeitslager verschleppt wurden, um als lebende Sühneobjekte jene Kriegsopfer zu ersetzen, die von den Nazideutschen während des Krieges getötet worden waren. Und das waren so unfassbar viele, Abermillionen, dass die bunten Kugeln an meiner Rechenmaschine nicht dafür reichten, um sie mir vorzustellen. Die arbeitsunfähigen Menschen jedoch, die ihnen nichts mehr nützten, durften liquidiert werden, auf welche Weise auch immer. Da kam die Bestie in den selbst ernannten Volksbefreiern durch. Alle Alten und Behinderten wurden aus ihren Behausungen gerissen und in der Schule auf das Grausamste zu Tode gefoltert.
Mein armer lieber Onkel Peter, kaum sechzig Jahre alt, wurde gefesselt auf den Fußboden eines Klassenzimmers gelegt, wie viele seiner Leidensgenossen auch.
Die wild gewordenen Horden sprangen mit Stiefeln und voller Montur vom Lehrerpult immer wieder auf die hilflos am Boden Liegenden, hörten ihre Rippen brechen und ihre Knochen krachen und lachten sich dabei kaputt. In einer beispiellosen Sauforgie kletterten sie immer wieder auf das Lehrerpult und sprangen so lange auf die hilflosen zerschundenen Körper, bis diese ihr letztes Leben aushauchten. Als alle tot waren und der Spaß vorbei, brüllten sie nach dem Hausmeister der Schule: »Wegtragen, die Leichen! Bevor sie zu stinken anfangen!«
Der arme Hausmeister, ein Deutscher aus unserer Siedlung, schleppte eine Leiche nach der anderen in den Keller, wo er sie unter den Befehlen der Betrunkenen auf einen Haufen warf.
Dann schliefen die Mörder in der Turnhalle auf den Matten erst mal ihren Rausch aus und pissten an die Wände, kotzten vor die Tür und benahmen sich schlimmer als Tiere.
Dem Hausmeister wurde von den grölenden Horden befohlen, die Leichen während der Nacht hinter dem Schulhof in einer selbst ausgehobenen Grube zu vergraben. Sollte am nächsten Tag noch eine Spur von einer Leiche zu finden sein, sei er der Nächste!
So schuftete der Hausmeister die ganze Nacht, lud eine Leiche nach der anderen auf seinen Schubkarren und schleifte die leblosen Körper zu ihrem Massengrab, das er vorher aus dem hart gefrorenen Boden ausgehoben hatte.
Als er bei meinem Onkel Peter angelangt war und ihn unter den Armen packte, um ihn auf seine Schubkarre zu wuchten, entrang sich dem gepeinigten Onkel ein Röcheln.
»Peter? Lebst du etwa noch?«
»Wasser«, flehte er den Hausmeister an. »Bitte ein Schluck Wasser!«
Onkel Peter hatte die ganze Nacht mitten in dem Leichenhaufen gelegen, als der Hausmeister ihn fand! Dieser eilte um Wasser und brachte es ihm.
»Peter, was soll ich nur mit dir machen?«
»Mach dir keine Sorgen, ich sterbe in der nächsten Stunde.«
»Ich kann dir beim besten Willen nicht helfen, Mann!«
»Kümmere dich zuerst um die anderen, dann will ich der Letzte sein.«
Und so geschah es auch. Bei vollem Verstand lebte mein Onkel Peter noch eine Stunde, genau wie er gesagt hatte. Und bei Morgengrauen dieses entsetzlichen Februartages im Jahr 1945 starb er einen qualvollen Tod. Der Hausmeister schüttete direkt über ihm die kalte harte Erde auf das Massengrab. Hinter dem Schulhof der katholischen Volksschule, in die ich nächstes Jahr hätte kommen sollen. Ich konnte schon meinen Namen schreiben.
Gedicht der Anna Eckardt aus dem Jahr 1976 in Bad Aibling, als sie nach vierzehn Jahren mit dem Hausbau fertig war
»DU«
Es gibt Wunden, heimliche Wunden, du,
die heilen im Leben niemals zu.
Oft gibt es Stunden, da spürt man sie nicht,
da läuft man umher mit hellem Gesicht,
spricht wie die andern mit lächelndem Mund,
und fühlt sich glücklich und wähnt sich gesund,
bis jäh einer kommt und die Wunden berührt,
und man von Neuem das Brennen verspürt,
sich wieder vergräbt in altem Gram,
der dennoch nimmer zur Ruhe kam.
Das sind Wunden, heimlich Wunden, »Du«.
Deshalb schreibe ich meine Lebensgeschichte, so wie ich sie seit vielen Jahren herumtrage, auf. Vielleicht finde ich damit meinen inneren Frieden. Es ist die wahre Geschichte eines Kindes, das in eine heile und glückliche Welt geboren wurde und nur fünfeinhalb Jahre glücklich darin leben durfte.
Eigentlich wollte mein Vater Jakob Priester werden. Er konnte so wundervoll Geschichten erzählen und singen, dass er bestimmt ein wundervoller Pfarrer geworden wäre. Die Leute wären von nah und fern herbeigeströmt, um seine Predigten zu hören. Wahrscheinlich hätten sie in der Kirche sogar gelacht. Aber meine Großeltern brauchten jede Hilfe in ihrem Gasthaus, es war auch kein Geld zum Studieren da, und so erlernte mein Vater das Koch- und Kellner-Handwerk, während ihr jüngerer Sohn Hans Metzger in der angrenzenden Metzgerei wurde. So blieb die Gastronomie in der Familie, und mein Vater konnte seine Geschichten und Lieder auch in der Gaststube an den Mann bringen. Zum Beichten kamen die Leute sowieso alle zu ihm; denn wo wird mehr geredet und getratscht, gestritten und sich wieder versöhnt als in der Gaststube des Dorfes, wo es gleichzeitig gut zu essen und viel zu trinken gibt?
Leider war dieser Traum für sie auch ausgeträumt, als Jakob und Hans zum Militär mussten, obwohl sie niemals für Nazi-Deutschland kämpfen wollten. Sie hatten noch nicht mal eine Ahnung, was sich in Deutschland und dem Rest der Welt eigentlich abgespielt hatte.
Als am Heiligen Abend des Jahres 1944 meine Mama, ihre Schwägerin Christa und mehr als hundertachtzig andere Frauen und Mädchen aus dem Dorf getrieben und zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppt wurden, war mein Papa nur für vier Tage vom Kriegsdienst beurlaubt worden. Es sollte das letzte Mal sein, dass wir ihn sahen.
Weihnachten, 25. Dezember 1944
In Zweierreihen aufstellen und ab marsch!«
Bewaffnete russische Soldaten trieben uns hundertdreiundachtzig Frauen und Mädchen aus Lazarfeld durch das heftige Schneetreiben. Neben mir schwankte schluchzend Christa, meine junge Schwägerin. Wir beide schleppten je einen zentnerschweren Sack, zusammengebunden aus einem Betttuch, den unser gemeinsamer Schwiegervater uns in der Eile zusammengepackt hatte. Ich konnte es noch gar nicht fassen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war. Gestern um diese Zeit, als ich noch in der Gaststube stand und Bier ausschenkte, kam meine Schwiegermutter Barbara hereingestürmt, aschfahl im Gesicht, und zog mich beiseite: »Liebes, ich habe unglaubliche Gerüchte gehört, aber die anderen Frauen beim Einkaufen haben es schon bestätigt. Die Russen werden kommen und alle Mädchen und Frauen aus Lazarfeld abholen!«
Nein. Nicht jetzt. Nicht Weihnachten. Nicht, wo mein Jakob gerade mal vier Tage Urlaub hat. Nicht vor meinem fünfjährigen Kind. Ausgeschlossen. Mir blieb das Herz stehen. Kraftlos sank ich auf einen Stuhl, die Biergläser glitten mir aus der Hand. Das Blut rauschte mir in den Ohren und gefror in meinen Adern.
In der Gaststube herrschte reges Treiben, lautes Stimmengewirr drang durch die Rauchschwaden, Gelächter, Kartenspiel und lautstarke politische Diskussionen wurden von Handgreiflichkeiten und Flüchen durchbrochen.
»Amalie, vier Halbe noch mal an Tisch fünf!«
»Fräulein, wo bleibt mein Rinderbraten?«
»Was heißt das, abholen …?« Ich fühlte, dass mir alle Kraft aus den Gliedern gewichen war.
»Sie verschleppen euch in ein sibirisches Arbeitslager, heißt es.« Meine Schwiegermutter umfasste meine Hände. »Liebes, du solltest auf alles gefasst sein!«
»Bube, Dame, König, Ass! Gewonnen! Fräulein! Was ist mit dem Bier?«
»Aber sie nehmen doch keine Mütter mit?!« Ich fasste mir ans Herz. »Unsere Anni ist gerade mal fünf!«
»Sie nehmen alle mit, Amalie. Auch und gerade die jungen Mütter. Sie wollen die Blüte von Lazarfeld zerstören und kein junges Leben mehr wachsen lassen.«
Diese Nachricht zerschnitt mein Innerstes! Ich konnte es nicht begreifen! So etwas konnten Menschen doch nicht tun! Tiere, ja, Tiere fraßen einander, weil sie Hunger hatten, aber dieser Plan war so perfide, dass es mein Vorstellungsvermögen übertraf. Die Angst überfiel mich wie ein schwarzes Ungeheuer und verbiss sich in meinen Eingeweiden. Ich hatte schon viel Schmerz erlebt und Grausames mit ansehen müssen, und die schrecklichsten Gerüchte hatten sich verbreitet, aber das hier zog mir den Boden unter den Füßen weg!
In Jugoslawien hielten jetzt die Kommunisten die Fäden der Macht in der Hand. Wir konnten nichts für den Krieg, den die Deutschen angezettelt hatten; wir hatten damit nichts zu tun. Aber für die jetzigen Machthaber waren wir mitschuldig. Sie waren derart voller Hass auf uns Donauschwaben, weil wir Deutsche waren, dass für uns, die wir nicht mehr rechtzeitig evakuiert werden konnten, seit den Herbstmonaten 1944 ein Martyrium begonnen hatte. Viele waren wie Vieh aus ihren Häusern und Dörfern in Konzentrationslager getrieben worden, wo sie auf den Feldern und in den Wäldern arbeiten mussten. Seit Monaten war die Staatspolizei OZNA im donauschwäbischen Gebiet unterwegs und hinterließ eine Blutspur nach der anderen. Sie nannten es ethnische Säuberung, aber es war brutalster Mord an Unschuldigen, an kleinen Kindern und ihren Müttern!
Wie man hier im Gasthaus erzählt hatte, wurden am 11. November 1944 neun Männer aus Lazarfeld aufgerufen und in den Schulhof getrieben. Sie wurden mit Draht gefesselt und unter Stock- und Gewehrkolbenhieben in den acht Kilometer entfernten Nachbarort Siegmundsfeld getrieben. Das war der Ort, aus dem mein Schwiegervater kam, Annis Großvater! Hier mussten sie sich ihr Grab schaufeln, und nachher wurden sie durch eine Maschinengewehrgarbe niedergestreckt. Mehrere Roma und Sinti, wir nannten sie Zigeuner, mussten mit Beilen in den Händen kontrollieren, ob alle tot waren, und allen die Köpfe spalten. Außer den in der Gaststube genannten Personen wurden bei dieser Gelegenheit auch einige Kroaten aus der Umgebung umgebracht, wie man sich am Stammtisch erzählte. Ich musste alles mit anhören, servierte ich doch den Männern Bier und Schnaps! Am 12. November, so hieß es, wurden die übrigen Gefangenen aus der ungarischen Schule, immer je zwei, an den Handgelenken zusammengefesselt. Danach wurde jedem Einzelnen ein Seil um den Leib gebunden, und so wurden sie ins Gemeindehaus der Stadt getrieben. Unterwegs wurde der Zug von einem außer Rand und Band geratenen Pöbel beschimpft, bespuckt und misshandelt. Im Gemeindehaus wurde der Zug zunächst in zwei Gruppen geteilt. Da kam gerade ein Kurier aus der russischen Kommandantur, der frische Arbeitskräfte anforderte. Daraufhin ließ man einige am Leben und scheuchte sie auf den Lastwagen. Sie wurden nie wieder gesehen. Den restlichen Gefangenen, bestehend aus Frauen, Männern und Kindern, sagte man, dass sie jetzt nach Hause gehen dürften. Es waren über sechzig Personen, die unter Tränen um ihr Leben flehten! Doch stattdessen führte man sie zum Schinderhaus. Hier wurden sie furchtbar misshandelt und nachher alle in einen Raum getrieben. Dann warf der Serbe eine Handgranate in den Raum, die einen Teil der Leute zerriss. Die noch Lebenden wurden abgeschlachtet, einige mit dem Beil erschlagen. Und während dieser Orgie von Brutalität, Gewalt und Mord sangen die Partisanen unter der Führung eines Kommissars und einer Partisanin Partisanenlieder.
Das alles musste ich mir anhören, während ich die Gäste bediente, und mir zitterten so sehr die Hände, dass ich immer wieder Gläser und Teller fallen ließ.
Und nun sollte es auch mich treffen! Sibirien! So unvorstellbar weit weg von meinem Kind!
Meine Schwiegermutter Barbara sah mich voller Mitleid aus ihren schwarzen Augen an.
»Es tut mir so leid, Kind! Du solltest gerüstet sein! Sag der Kleinen nichts, es wird ihr letztes Weihnachten mit uns allen gemeinsam sein …«
»Sie werden doch nicht ausgerechnet Weihnachten …« Mein Mund war wie ausgedörrt. Ich konnte nicht weitersprechen. Innerlich überkamen mich kalte Panikattacken und nahmen mir die Luft zum Atmen. Doch. Sie würden. Wenn das alles stimmte, was ich gehört hatte, dann würden sie genau das tun.
»Gerade deswegen tun sie es, Amalie. Weil es unser höchstes Fest ist.«
Meine Knie zitterten dermaßen, dass ich nicht wieder aufstehen konnte. »Was sagen wir denn nur der Kleinen?« Mein einziges Kind, unser aller kleiner blonder Sonnenschein!
»Wir dürfen keine Schwäche zeigen, sie kann das doch nicht begreifen!«
Weinend lagen wir uns in den Armen. Ich schluchzte um mein Leben.
»Und Jakob? Er hat nur vier Tage Urlaub und muss doch wieder in den Krieg!«
»Ihr müsst voneinander Abschied nehmen. Nur Gott weiß, ob und wann ihr euch wiederseht.«
Meine Schwiegermutter weinte bittere Tränen in ihr Taschentuch. »Dass ich so etwas Fürchterliches noch einmal erleben muss! Wir haben doch keinem Menschen etwas Böses getan!«
»Ach, wenn es doch nur ein Gerücht wäre!«
In heißen und kalten Wellen brach erneut die glühende Panik über mir zusammen.
Wie in Trance lief ich mit der Schwiegermutter nach Hause und versuchte, ein paar Sachen zusammenzupacken, während meine kleine Anni spielend und plaudernd um mich herumwuselte. Jedes »Guck mal, Mami!« mit ihrem glockenhellen Stimmchen rammte mir einen glühenden Pfeil ins Herz. »Morgen ist Weihnachten, Mami, ich freu mich so auf das Christkind! Gell, Mami, ich war doch brav, es wird mir etwas Schönes bringen?!«
»Ja, Anni. Du bist ein sehr braves Mädchen.«
Das Einzige, was ich in diesem Schockzustand einpacken konnte, war ein kleines gerahmtes Foto von ihr, das auf meiner Schlafzimmerkommode stand. Darauf hatte sie blonde Zöpfchen und lächelte mich mit ihren Milchzähnchen ganz niedlich an.
Wie ich den restlichen Tag und die gestrige Nacht verbracht hatte, wusste ich nicht mehr.
Ich wusste nur, dass ich Anni die ganze Nacht in den Armen gehalten und geweint hatte.
Und dann gingen wir alle noch zur Kirche, deren Glocken nicht aufhören wollten zu läuten. Wir wollten Gottes Segen, wir glaubten doch so fest an ihn!
Der letzte Gottesdienst zog an mir vorbei wie ein Film. Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich im Gebetbuch blätterte, wie ich mein Kind an mich zog und die Hand meines Mannes Jakob drückte. Wir waren beide wie eingefroren, wie Wachsfiguren, die keine Seele haben. Hilflos starrten wir einander an, die Tränen liefen uns über die Wangen, und wir blickten zum Kreuz, flehten unseren Herrgott an, uns doch zu verschonen, um unseres Kindes willen.
Doch der Herrgott war nur aus Holz.
Zu Hause versuchten wir uns für Anni an einer Bescherung, die Schwiegermutter hatte sogar noch die Kerzen am Baum angezündet. Mit zittriger Stimme hatte mein Schwiegervater ein Lied angestimmt, und der gehbehinderte Onkel Peter spielte dazu auf dem Klavier.
Dann polterte es erst bei den Nachbarn, dann bei uns an die Tür. Wir erstarrten, das Bild fror ein. Spielte er noch weiter? Sangen wir noch? Die letzten Töne tropften von den Wänden, das Stimmchen von Anni verhallte, unschuldig fragend: Warum singt keiner weiter?
Mein Schwiegervater ging gefasst zur Tür. Seine Kieferknochen mahlten. Hatte ich bis dahin noch flehentlich gebetet, dass das schreckliche Gerücht sich in weihnachtlichem Gotteswunder auflösen würde, so sah ich mich mit der grausamen Realität konfrontiert: Im Schneegestöber vor der Haustür standen zwei russische Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren, begleitet vom Bürgermeister.
In Panik wich ich zurück, das Herz klopfte mir bis zum Halse. Genau diese Männer waren es, die in Häuser eindrangen und junge Frauen vergewaltigten, oft vor den Augen ihrer Kinder! Die Männer erschlugen sie mit der Axt, oder erschossen sie, und die Kinder …
»Grüß Gott, Amalie, guten Abend, Barbara, Jakob…« Der Bürgermeister drehte verlegen an seiner Hutkrempe. »Frohe Weihnachten zu sagen, wäre jetzt wohl nicht angebracht? Aber keine Angst, Amalie, sie tun dir nichts, das ist nur die russische Miliz.«
Was machte das für einen Unterschied? Nur die russische Miliz? Drang am Heiligen Abend in unser Wohnzimmer ein? Ich sollte keine ANGST haben? Die Angst fraß mich innerlich auf, sie brach über mir zusammen wie ein einstürzendes Gebäude, sie warf ihr eisernes Netz über mich und schmerzte in jeder Faser meiner Eingeweide wie brennende Widerhaken!
»Packt alles zusammen, was ihr tragen könnt, sowohl Essbares als auch warme Sachen. Da, wo ihr hingebracht werdet, ist es kalt!«
Das war alles, was der Bürgermeister zu uns sagte. Derselbe Mann, den ich seit meiner Heirat mit Jakob tagtäglich am Stammtisch bediente und der mit meinen Schwiegereltern Karten spielte!
Der gesamte Marktplatz vor unserem Gasthaus war auf vierhundert Meter mit Panzern und Eisengittern abgesperrt. Wie Vieh wurden wir hineingetrieben, zwischen die Absperrgitter. Niemand durfte zu uns Frauen, und wir Frauen durften nicht mehr zum Rest unserer Familie.
Mehrere Russen und Russinnen rissen uns an den Schultern, zählten uns ab und trieben uns in die Mitte des Platzes, und das alles unter höllischem Geschrei. Auch Soldatinnen waren in Mengen dabei, sie schrien uns an. Alles musste sehr schnell gehen, es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Unsere Mütter und Väter flehten darum, uns noch einmal unsere Kinder reichen zu dürfen, zum Abschied, doch diese Unmenschen schienen kein Herz im Leib zu haben.
Als wir schließlich in Zweierreihen vor unserem Gasthaus auf dem großen Marktplatz standen und die Glocken nicht aufhören wollten zu läuten, da gellte plötzlich doch der Befehl über die Menschenmenge: »Jede Frau darf sich noch einmal von ihrem Kind verabschieden, aber nur eine Minute!«
Das Weinen und Wehklagen der Mütter und Kinder, aber auch der dabeistehenden Großeltern und Verwandten war unbeschreiblich. Der eiskalte Wind trug unseren Jammer über die Felder fort. Jede Frau eilte noch einmal zu der Absperrung, um ihre Liebsten zu umarmen, wobei sie mit Gewehrkolben drangsaliert wurde.
»Dawai, dawai!«
»Versprich mir, dass du auf die Anni aufpasst, Schwiegermutter!«
»Ich verspreche es!«
Und dann wurden wir auch schon wie Schwerverbrecherinnen abgeführt, beladen mit unseren Lumpenbündeln, wankten wir jammernd und schluchzend durch den Schnee.
Alle weinten und schrien, sie konnten es nicht begreifen, was da geschah: Die Blüte der Stadt wurde abgemäht! Es sollte keine Nachkommen mehr geben, kein Kinderlachen, keine Mutterliebe, keine einzige heile Familie mehr! Die Alten hinter der Absperrung beteten laut um ein Wunder: »Herr, hilf, Herr, erlöse uns von dem Bösen, Herrgott, erbarme dich unser!« Aber der Herrgott, zu dem wir unser Leben lang gebetet hatten, erhörte uns nicht.
Zwischen all den Russen und Serben, die sowieso nicht an ihn glaubten, gab es keinen Herrgott mehr. Meine Schwiegereltern hatten noch meine Eltern verständigt, doch diese waren nicht mehr erschienen.
Meine Schwiegermutter Barbara, das schreiende Kind im Arm, lief noch eine Zeit lang mit unserem Zug mit, doch dann musste sie umkehren, da die Soldatinnen mit Knüppeln auf sie und meine arme kleine Anni einschlugen.
»Ich verspreche es!«, schrie Barbara noch einmal. »Ich lasse sie nicht aus den Augen!« Dann verschwand sie in der Menge.
Andere Mütter ließen sich gar nicht von ihren Töchtern trennen. Sie bestanden darauf, mit nach Sibirien zu fahren, komme, was da wolle! Trotz der Gewehrkolbenschläge klammerten sie sich an ihre Kinder und wollten sich lieber auf der Stelle totschlagen lassen, als ihre Töchter ihrem Schicksal zu überlassen. In einer Scheune brannte es lichterloh; ein Vater hatte seine beiden Töchter, siebzehn und achtzehn Jahre alt, aus dem Zug gerissen und sich mit ihnen in einem Strohhaufen angezündet. Die Mutter, die selbst noch mit nach Sibirien gewollt hatte, brach fassungslos zusammen, raufte sich die Haare und gab Töne von sich, die ich noch von keinem menschlichen Wesen gehört hatte. Die Schreie der Brennenden unterschieden sich kaum von denen, die an diesem Ort des Grauens vorbeigetrieben wurden.
»Dawai, dawai!« Schneller, schneller! Peitschen knallten, Pferde bäumten sich auf, aus ihren Nüstern stieg der heiße Atem, russische Militärfahrzeuge knatterten dicht hinter uns und drängten uns, schneller zu laufen.
Ganze zwölf Kilometer wurden wir in dieser Heiligen Nacht durch den Schnee getrieben, bis wir schließlich im Morgengrauen, völlig erschöpft, mit blutenden Füßen und erfrorenen Händen vom Tragen unserer Lasten, in Betschkerek angekommen waren. Betschkerek, der Ort, aus dem normalerweise die Einwohner zu uns nach Lazarfeld kamen, um unsere Weihnachtsspiele zu bestaunen! Fast alle Familien hatten schon jemanden aus Betschkerek bei sich aufgenommen, sie beköstigt, mit ihnen gefeiert, gesungen und gelacht.
Und jetzt hatte das Gegenteil zugeschlagen, wie eine Holzlatte, die einem ins Gesicht gedroschen wird. Wir alle weinten vor Erschöpfung und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach unseren Kindern war jetzt schon unerträglich! Das letzte Bild, das ich vor meinen Augen hatte, war die kleine Anni, die mit weit aufgerissenem Mund brüllte und sich mit beiden Ärmchen um den Hals meiner Schwiegermutter klammerte. Die Bürger aus Betschkerek standen stumm und betroffen an den Absperrungen und gafften uns Frauen an, die wir kein Christuskind in der Krippe mit uns trugen und keine schönen Trachten anhatten, sondern abgekämpft, mit Pferdedecken behangen und Säcke schleppend um unser nacktes Überleben kämpften. Aber ihre Türen öffneten sich nicht. Sie durften uns nicht helfen.
Aus allen umliegenden Dörfern brachte man Frauen in großen Scharen in die Kreisstadt. Es war ein gespenstischer Anblick, wie aus allen Richtungen erschöpfte, traumatisierte und vor sich hin starrende Mädchen und Frauen, bepackt mit ihren Bündeln, auf die Schule zutaumelten. Unter Stockschlägen von serbischen und russischen Soldatinnen wurden wir in die Klassenzimmer getrieben, die mit dünnen schmutzigen Strohsäcken ausgelegt waren.
Eng aneinandergedrängt hockten wir den restlichen Tag und die weitere Nacht nebeneinander und kamen fast um vor Angst. Wir mussten auf die weiteren Transporte warten, es kamen Hunderte, vielleicht tausend junge Frauen aus der ganzen Umgebung. Was hatten sie mit uns vor? Wo brachten sie uns hin? Würden wir vorher noch einer Massenvergewaltigung zum Opfer fallen? Einige der verzweifelten jungen Frauen versuchten, aus dem Fenster zu springen, aber sie wurden auf das Brutalste von den wachhabenden Soldatinnen zurückgeknüppelt. Unten im Schulhof standen die Militärfahrzeuge wie eine undurchdringliche Mauer, und die Soldaten standen rauchend und lachend davor. In der Aula hatten sie auf die Schnelle eine Art Verwaltungsbüro eingerichtet, auf Listen hakten die Offiziere und Offizierinnen in einer für uns unleserlichen Schrift unsere Namen ab und verhandelten mit kalter Stimme, wer von uns in welches sibirische Lager geschickt werden würde. Das alles nahmen wir nur noch schemenhaft wahr, es war, als ginge es uns gar nichts mehr an. In meinen Ohren rauschte es wie in einem dunklen Wald. Die Angst hatte uns derart unter Schock gesetzt, dass wir uns innerlich ausgeknipst hatten.
Christa und ich sanken schließlich eng aneinandergelehnt auf das Strohlager, und ergaben uns in unser Schicksal wie Schlachtvieh.
»Wisst ihr, dass in Südamerika fleißige Arbeiter gebraucht werden?« Meine Eltern saßen mit ihren Nachbarn zusammen und beratschlagten, wie sie Geld verdienen sollten. »Die Sklaverei ist dort abgeschafft worden, und es heißt, die Arbeiter aus dem Banat würden dort gut bezahlt. Es hat sich herumgesprochen, dass wir fleißige Schwaben sind!«
»Und was wäre da zu tun?«
»Baumwolle pflücken! Kaffebohnen ernten! Zuckerrüben, was weiß denn ich! Sie zahlen gut!«
»Besser als hier im Banat?«
»Mit Sicherheit!«
»Das würde bedeuten, dass wir mit Kind und Kegel nach Südamerika gehen?«
»Ja, überlegt mal. Für zwei, drei Jahre würde es sich lohnen. Wir kämen alle mit genügend Kapital zurück, um uns hier schließlich ansiedeln zu können, denn hier werden wir ebenfalls ausgenutzt wie die Sklaven.«