Das Licht vergangener Tage - Nikoletta Kiss - E-Book

Das Licht vergangener Tage E-Book

Nikoletta Kiss

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Beschreibung

Nichts kann uns aufhalten

Budapest 1949: Als sich István und Rebeka das erste Mal begegnen, fühlen sie sich trotz ihrer Gegensätzlichkeit sofort zueinander hingezogen. Der mittellose Kunststudent schert sich nicht um gesellschaftliche Konventionen oder die Spielregeln des Kunstbetriebs. Sie hingegen kommt aus gutem Hause und träumt von einer glamourösen Karriere als Theaterschauspielerin. Doch dann überschlagen sich die politischen Ereignisse im sozialistischen Ungarn, und plötzlich geht es nicht mehr um arm und reich, sondern vielmehr um Leben und Tod …

Berlin 2017: Die junge Galeristin Anna kann ihr Glück kaum fassen, als ein Nachlassverwalter ihr ein kostbares Porträt eines namhaften ungarischen Malers übermittelt. Das Bild hat mehr mit ihr selbst und ihrer Familie zu tun, als Anna zunächst ahnt.

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Seitenzahl: 542

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Das Buch

Eines Tages steht der Anwalt eines verstorbenen ungarischen Universitätsprofessors vor Annas Kunstgalerie. Im Gepäck hat er ein Porträt des berühmten Malers István Szabó. Die Frau auf dem Bild sei Annas Großmutter Rebeka, der Besitzer des Bildes Rebekas damaliger Verlobter. Zu ihrer Großmutter hat Anna schon lange keinen Kontakt mehr, den Großvater hat sie nie kennengelernt. Das Gemälde lässt Anna jedoch nicht mehr los, und so begibt sie sich auf die Spuren ihrer Großeltern und reist zunächst nach Wien und schließlich weiter nach Budapest. 1949 begegneten sich dort in einem Café die junge Schauspielerin Rebeka und der aufstrebende Künstler István. Anna taucht ein in die Geschichte der beiden, die vom Leben im sozialistischen Ungarn, von Enteignung, Flucht und großen Träumen erzählt – aber vor allem von einer tragischen Liebe. Für Anna wird es eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie und zu sich selbst. Denn auch sie muss sich ähnlichen Entscheidungen stellen wie einst Rebeka.

Die Autorin

Nikoletta Kiss, geboren 1978 in Budapest, ist in Berlin aufgewachsen und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie war über zwölf Jahre als Unternehmensberaterin in Deutschland, den USA und in Australien tätig. Seit 2016 lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern als freie Autorin in Wien.

NIKOLETTA KISS

DAS LICHT VERGANGENER TAGE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 11/2019

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- und Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, Büro für Gestaltung

unter Verwendung von Getty Images /© Alfred Eisenstaedt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23384-6V001

www.heyne.de

Für Ben

Inhalt

1 – DAS PORTRÄT

2 – GALERIE REIDL

3 – GUTER RAT

4 – DAS VORSPRECHEN

5 – KÁLMÁN BÁRDOSSY

6 – DIE RAJK-AFFÄRE

7 – DIE AUSSTELLUNG

8 – AM FLUGHAFEN

9 – DAS GAUMENSPIEL

10 – LÉGRÁDY

11 – VORAHNUNGEN

12 – DER MORGEN DANACH

13 – MUSSESTUNDEN

14 – ALTE GEISTER

15 – ERSTTÄTERFEHLER

16 – DAS KAFFEEHAUS WEIMAR

17 – ZU GAST

18 – ANTIGONE

19 – HOTEL ASTORIA

20 – SZABÓ

21 – BLUT IM SALON

22 – DIE BEGEGNUNG

23 – FIEBERTRÄUME

24 – DER BEFEHL

25 – DER ABSCHIED

26 – IM ZUG NACH BUDAPEST

27 – DIE FAHRT INS UNGEWISSE

28 – DAS DORF

29 – DER STREIT

30 – UNERWARTETER BESUCH

31 – DAS WEIHNACHTSFEST

32 – DER TODESKAMPF

33 – FRÜHLINGSERWACHEN

34 – AM SCHEIDEWEG

35 – DAS MARRIOTT-HOTEL

36 – DAS ANKERHAUS

37 – DER AMERIKANER

38 – ALTE BEKANNTE, ALTE ORTE

39 – DAS WIEDERSEHEN

40 – OFFENE WORTE

41 – ISTVÁNS WEGE

42 – DER NEUBEGINN

43 – NATURGEWALTEN

44 – IN AUFRUHR

45 – DAS ANNA I

46 – REBEKAS BRIEF

47 – KRIEGSSPIELE

48 – DAS NEUE HEIM

49 – DER BLUTIGE DONNERSTAG

50 – ÉVAS OPFER

51 – AUS DEM HINTERHALT

52 – ISTVÁNS NOT

53 – DAS ANNA II

1DAS PORTRÄT

Budapest 1949

Die Strahlen der Mittagssonne drangen durch die winzigen Löcher der Rollläden. István erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen. Er richtete sich auf, rieb sich das Gesicht und tastete im Halbdunkel nach der angerauchten Zigarette auf dem Nachttisch. Er hatte sie gestern Nacht dort vorsorglich deponiert. Sie war seine letzte.

Mit dem Stummel im Mund stand er auf, zog die Rollläden hoch und riss das Fenster auf. Kühle Herbstluft flutete das Zimmer. Kindergeschrei und das Klappern von Geschirr hallten durch den Innenhof des Mietshauses. Er sah zur Staffelei und betrachtete seine Arbeit der letzten Nacht aus ein paar Schritten Entfernung. Wage es nicht!, sprachen die Augen der jungen Frau auf dem Porträt. Er nickte zufrieden. Es war ihm gelungen, ihren stolzen Blick einzufangen.

Sie hatte im Kaffeehaus scheinbar auf jemanden gewartet, wirkte angespannt, die Knie unter dem Rock hielt sie zusammengepresst, die Handtasche griffbereit im Schoß. Sie sah kurz zu ihm herüber und wandte sich dann wieder ab, als hätte sie seine Blicke nicht bemerkt, die zwischen ihr und dem Blatt hin- und hergingen. Sein Bleistift ging flink über das Papier, skizzierte die hohe Stirn, die Wangenknochen, die geschwungene Nase und den Mund, diesen Mund. Ihre unberingten Finger spielten mit einer Zigarettenspitze, einer goldenen Röhre mit einem schwarzen Mundstück. Der große Zeiger der Wanduhr über dem Tresen stand auf zwanzig nach. Mit einer Bewegung, als hätte sie das Warten aufgegeben, schob sie das Röhrchen in sein Etui zurück und winkte der Bedienung.

Jetzt oder nie, dachte István, ließ Zeichenblock und Bleistift in der Innentasche seines Sakkos verschwinden und nahm seinen Mantel von der Stuhllehne. Im Stehen kippte er den Rest Wein hinunter und hinterließ vorsorglich ein paar Münzen auf dem Tisch. So konnte er im Falle einer Abfuhr unauffällig das Lokal verlassen.

Der Ober präsentierte ihr gerade die Rechnung. István machte sich auf den Weg. Es waren nur zehn Schritte zwischen ihnen, zehn Schritte wie eine Ewigkeit, in der vieles geschehen konnte.

In dem Moment trat ein Herr mittleren Alters an sie heran, den Mantel sorgfältig über den Arm gelegt. Mit der freien Hand zog er den Hut und entblößte sein bares Haupt.

Die junge Frau erhob sich. Er war größer als sie und musste sich leicht beugen, um ihr offenbar etwas Vertrauliches ins Ohr zu flüstern. Dabei reichte er dem Ober einen Geldschein. István hielt inne.

Die Hand auf ihrem Rücken glitt langsam Richtung Gesäß.

István schritt auf sie zu, dann an ihnen vorbei, mit abgewandtem Blick, direkt auf die Drehtür zu. Sie war also eine von denen! Wie alle schönen Frauen in diesem Laden. Er ärgerte sich über sich selbst. Noch im Karussell blickte er zurück, aus Neugier, vielleicht aus Lust am Ekel oder aus Überlegenheit. Er wollte wissen, ob der stolze Glanz ihrer Augen verloschen war.

Durch die Scheibe trafen sich ihre Blicke ein zweites Mal. Er zögerte. War das Glas zwischen ihnen der Spiegel seiner Vorstellung, der ihn zum Narren hielt? Es stand Entsetzen in ihrem Gesicht. Es war der Blick eines verängstigten Kindes, ja, er las zweifelsfrei Angst in ihren Augen. Zum Nachdenken blieb keine Zeit. Er gab der Drehtür einen kräftigen Stoß, und mit Schwung trat er wieder ins Innere des Lokals.

Dort atmete er tief ein, nahm Haltung an und schritt benommen auf die Szene zu. »Nehmen Sie die Hand von der Dame!«

Der Alte zuckte und ließ die junge Frau los. Sein rundes Gesicht wurde schlagartig hochrot, er stammelte etwas und flüchtete baren Hauptes mit Mantel, Hut und Aktentasche unter dem Arm aus dem Lokal.

Überwältigt von der eigenen Heldentat, sah István zu, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie sprach zu ihm, so kam es ihm vor, doch den Sinn ihrer Worte erfasste er nicht. Alles, was er hörte, war ihre Stimme, samtig wie ein kräftiger Rotwein mit feinen Tanninen, die sich über den Gaumen legen. Wahrscheinlich dankte sie ihm. Sie schien nicht oft in eine Situation wie diese zu kommen. Warum trieb sie sich auch in diesem Lokal rum? Mit zittrigen Händen streifte sie sich die Handschuhe über, schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie! Wie ist Ihr Name?«

»Rebeka Bárdossy«, sagte sie, ohne in der Bewegung innezuhalten. Er folgte ihr in das Karussell der Drehtür, durch einen Türflügel von ihr getrennt.

Im Freien eilte sie mit flinken Schritten davon. Er rief ihr nach, kramte im Laufschritt die gefaltete Zeichnung aus der Manteltasche, holte die junge Frau ein und streckte ihr das Blatt entgegen.

Das Porträt hatte den Effekt, den er sich erhofft hatte. Sie stoppte und nahm sich Zeit, die Skizze zu betrachten. Als sie zu ihm aufsah, lächelte sie. In dem Licht der Straßenlaternen bemerkte István ein schimmerndes Gold in ihren grünen Augen. Wie selbstverständlich ließ sie die Zeichnung in der Handtasche verschwinden.

»Darf ich Sie wiedersehen?«

»Gehen Sie ins Theater«, sagte sie und ging davon.

Diesmal folgte er ihr nicht. Es war nicht klar, ob das eine Frage oder eine Aufforderung gewesen war. Eine Weile noch lauschte er dem Klang ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster.

Die Luft hatte sich seit Einbruch der Dunkelheit stark abgekühlt. Als sich das Klackern in den Geräuschen der Stadt verloren hatte, knöpfte er seinen Mantelkragen fest zu und lief los. Zurück in seinem Studio wollte er sie malen.

2GALERIE REIDL

Berlin 2017

Anna blinzelte im grellen Licht. Gleißendes Weiß umgab sie. Dieses Gesicht, ein Männergesicht beugte sich über sie. Sie drehte den Kopf weg vom Licht. Der dumpfe Schmerz im Unterleib meldete sich zurück. Ein Bildergewirr spielte sich vor ihrem inneren Auge ab, wie ein Film im Schnelldurchlauf. Das Licht erlosch.

»Lassen wir sie schlafen«, hörte sie eine Stimme, dann Schritte. Sie drehte sich auf die Seite, wieder nur weg vom Licht, weg von den Gedanken, und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Der komatöse Schlaf der letzten Stunden hatte ihre Erschöpfung nicht gelindert, im Gegenteil. Es war, als beschwerten Gewichte ihre Glieder. Sie hatte Lust, der Schwere nachzugeben, einfach nicht mehr zu atmen, sich nicht zu rühren, so lange, bis der emsige kleine Motor in der Brust die Arbeit einstellen würde. Ein letztes Mal atmete sie tief ein, dann hielt sie die Luft an. Bereit zum Äußersten hielt sie still und wartete. Sie zählte langsam bis zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig und wurde beim Zählen immer schneller. Noch klopfte es, hämmerte unbeirrt weiter, trotzig und heiß in ihr Kopfkissen, als wäre rein gar nichts geschehen. Als könnte sie das Uhrwerk einfach zurückstellen wie beim Übertreten einer gigantischen Zeitzone, nicht um Stunden, sondern um Tage oder gar Wochen, eben zu dem Zeitpunkt, als ihr die Zügel entglitten waren.

Doch wann genau war das geschehen? Sie zog die Brauen zusammen. Vielleicht hatte alles schon vor Jahren begonnen. Unmerklich hatten sie sich eingeschlichen, die kleinen Zugeständnisse, die harmlosen Kompromisse, die sie doch gern machte, und waren inzwischen fest verwachsen zu Gewohnheiten wie Efeu am Mauerwerk.

»Sie haben zehn Tage Zeit, um sich zu entscheiden«, hatte man ihr gesagt. Das war also der Beginn ihrer Zeitrechnung.

Der erste ihrer zehn Morgen war ein orangefarbener. Einer dieser Morgen, an dem die Sonnenstrahlen einem Magie vorgaukeln und das Tau im Gras funkeln lassen. Das warme Licht kaschiert die Fehler, die man gemacht hat oder noch machen wird.

An eben diesem Morgen stieg Anna mit einem Strauß Lilien im Arm, ihrer Handtasche und einem Stapel Kataloge die zwei Treppenstufen zur Galerie hinauf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mit der Hüfte schob sie die Eingangstür auf, die sich mit einem Klick öffnete.

Die Tür zu ihrem Reich tat sich auf. Das einfallende Licht flutete den hohen Raum und ließ die Farben auf Márta Némeths Bildern sprechen.

Anna ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, legte die Kataloge auf dem Boden ab und sah sich um. Die Szenen der gestrigen Ausstellungeröffnung drängten sich in ihre Gedanken. Die jugendliche Naivität, mit der sich Márta diesem Sammler angebiedert hatte, entlockte ihr ein nachsichtiges Kopfschütteln. Bei dem Gedanken daran, wie sehr die junge Künstlerin sie an sich selbst erinnerte, musste sie lächeln. Mit abgeschlossenem Kunststudium, 17 Euro in der Tasche und ihrer Kunstmappe unter dem Arm war sie zur ArtCologne getrampt wie ein Falter, den es zur Lichtquelle zieht. Sie hatte auf Kontakte gehofft, einen Job, irgendeine Gelegenheit, die sie ihrem Traum näher gebracht hätte, ihre Bilder auszustellen.

Mit derselben jugendlichen Unverfrorenheit, die sie heute an Márta beobachtete und vielleicht etwas bewunderte, weil sie ihr selbst inzwischen abhandengekommen war, hatte Anna sich einst in das Gespräch des berühmten amerikanischen Konzeptkünstlers Joseph Kosuth mit dem Wiener Galeristen gedrängt – und so ihren Michael kennengelernt.

Durch ihr bloßes Rumstehen und ihre fragenden Blicke war das Gespräch der Männer ins Stocken geraten. Es war der Galerist Michael Reidl, der ihre Anwesenheit zuerst bemerkte und sie verwundert ansah, als benötigte sie Hilfe, die Damentoilette zu finden. Im kalten Neonlicht der typischen Kosuthschen Schriftinstallationen drängelte sein Blick, sie sollte nun schnell ihr Anliegen vortragen. Doch Anna hatte Mühe, ihr Zittern zu unterbinden. Sie presste die Finger in ihre Zeichenmappe, als hielte sie sich an ihr fest. Dies war ihr Moment! Sie sprudelte los, bedacht auf ihren britischen Akzent, den sie über Jahre durch das Mitsingen ihrer Rolling-Stones-Platten verfeinert hatte, über die Idee zwischen den Zeilen, der Bedeutung von Sprache in Kunst und die Neonröhren. Sie gab alles, was sonst hatte sie zu bieten? Die Selbstverständlichkeit, mit der Kosuth, dieser Gigant seines Faches, sich auf ein Gespräch mit ihr einließ, überraschte sie. Er wirkte wie ein gutmütiger Bär, der sich freute, gefragt zu werden. Er gestikulierte, holte aus, tänzelte beim Reden, als wollte er sie beeindrucken und nicht umgekehrt.

Doch das Gespräch währte nicht lange. Ein Herr im Anzug trat an sie heran. Unterbrach Anna, die gerade sprach, und fasste Kosuth vertraulich am Arm, als hätten sie eine Angelegenheit zu klären. Seine Augenbrauen zeichneten dabei strenge Bögen über dem Brillenrand. Er entschuldigte sich förmlich, er müsse den jungen Mann entführen, dabei waren die beiden etwa gleichaltrige Mittfünfziger, beide Brillenträger, und doch hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Die Art, wie er das Gespräch abrupt beendete, zu laut, lachend, mit dem hart klingenden deutschen Akzent im Englischen, verschaffte ihm unwillkürlich Autorität.

Kosuth schüttelte den Kopf, lachte auf wie jemand, der aus Großzügigkeit mitmacht, bei was auch immer. Er warf Anna einen bedauernden Blick zu, als unterhielte er sich viel lieber mit ihr.

Vor Ehrfurcht erschüttert sah Anna den beiden nach. »War das nicht der König? Der Direktor des Ludwig-Museums?«

Sie spürte das Nicken des Galeristen neben ihr, der ebenso brüskiert war wie sie. Doch Michael Reidl ließ sich eine Kränkung nicht anmerken. Er deutete auf ihre Mappe. Ob sie ihre Arbeiten auch herzeige? Da erst bemerkte sie sein wohlgeschnittenes Gesicht, das ihr bisher gar nicht aufgefallen war. Er lächelte geduldig. Ihre Finger pressten sich tiefer in die Zeichenmappe, als befürchtete sie, aus dem Gleichgewicht zu geraten, wenn sie losließ.

Doch nichts dergleichen geschah. Er ging durch die Blätter, sagte kein Wort, nickte vielleicht. Was zählte, war die Art, wie sich dieser ernsthafte, schöne Mann ihre Bilder ansah. Sein Gesicht war nicht mehr ganz jung. Es hatte etwas Nachdenkliches, Verlebtes. Doch die Tiefgründigkeit, die in ihm wohnte, machte es schön. Mit langen, feinen Fingern nahm er eins der Blätter heraus, hielt es respektvoll vor sich wie das Werk einer Künstlerin. Anna fühlte sich wie ein Groupie backstage, als er sie forschend ansah, mit Anerkennung in den Augen.

Michael Reidl bot ihr keinen Vertrag an, auch keinen Job in seiner Galerie. Er führte sie zum Abendessen aus. Auf das Essen folgte eine Affäre zwischen Wien und Berlin mit tiefsinnigen Telefonaten über Kunst und die Welt. Sie rauchten die Gauloises zusammen, jeder für sich am Ende seiner Leitung, selbstredend die blauen mit dem dunklen, starken Tabak. Hin und wieder taten es auch die roten, aber nur, wenn die blauen nicht zu haben waren. Das Knistern in der Leitung, wenn er an seiner Zigarette zog, eine gut überlegte Antwort vorbereitend, die nachdenklich zusammengezogenen Augenbrauen, die sie sich vorstellte, wenn er anschließend den Rauch entweichen ließ … es war unwiderstehlich.

Das alles war lange her. Sie hatten inzwischen das Rauchen aufgegeben und waren nun Partner im Leben und im Beruf. Hatte Michael recht? War es ein Fehler gewesen, auf eine unerfahrene Künstlerin zu setzen? Er hatte sie gewarnt, mit Márta Németh bei der ArtWeek anzutreten. Anna wäre gern die unangenehmen Gedanken wieder losgeworden. Sie war fest entschlossen, der jungen Künstlerin eine Chance zu geben. Welche fulminante Energie sprach aus ihren Gemälden! Das gewagte Farbenspiel, vibrierende Töne, Nuancen, wechselnde Strukturen – sie hielten das Auge in Bewegung, in ständiger Unruhe. Anna konnte sich an den Bildern nicht sattsehen. Michael überzeugten sie nicht. »Fleißarbeit« nannte er die präzise ausgearbeiteten Details, die sich in Annas Augen zum großen Ganzen verflochten. Fleißarbeit? Anna fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als sei sie ertappt worden. Dieses Wort war schon einmal gefallen.

Ihre malerischen Qualitäten würde er nicht infrage stellen, hatte Michael vor langer Zeit zu ihren Arbeiten gesagt, und seine Hand in liebevoller Beschwichtigung auf ihren Arm gelegt. Doch es fehlte etwas, eine Dringlichkeit vielleicht, das gewisse Etwas eben. Er hatte mit Worten gerungen, er könnte es nicht genauer sagen. Sein entschuldigender Gesichtsausdruck, die Art, wie er sie angesehen hatte, als täten ihm seine eigenen Worte weh, hatten damals ihr Mitleid erweckt. Dabei war sie es gewesen, die hätte verletzt sein sollen. Es war die Zeit gewesen, in der jedem seiner Sätze ein inniger Kuss gefolgt war; die Zeit, in der sie gemeinsam bis in die Morgenstunden die Wände ihrer Berliner Galerie weiß getüncht hatten. Sie hatten nicht voneinander lassen können, ein zärtlicher Seitenblick, ein Sichberühren, ein Sichanfassen, Sichaneinanderhalten, um jede Sekunde ihres Zusammenseins auszukosten. Ihr die Wahrheit zu sagen, unter diesen Umständen, musste ihm Schmerz bereitet haben. Sie sei ein Organisationstalent, eine echte Macherin, die geborene Galeristin! Sie könne so gut mit Leuten, viel besser als er, so hatte er ihr den Abschied von der Malerei versüßt. Sie war nicht verletzt gewesen. Sie war dankbar, offen, leitbar gewesen. Jung eben.

Sie wisse, er könne zwischen künstlerischer Qualität und Belanglosigkeit unterscheiden, sagte er auch, als sie diskutierten, ja, über Márta Némeths Kunst stritten. Wie viele junge Künstler hätte er aufgezogen, groß gemacht und hätte richtig gelegen mit seinem Gespür.

Eben, dachte Anna mit später Verbitterung. Sie schritt mit den Blumen im Arm in den hinteren Raum der Galerie. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Parkett. Es gab Königsmacher in der Kunst wie in der Politik, und Michael Reidl war einer. Was war schon Qualität und was Einfluss? Sie hätte ihm nie zum Vorwurf gemacht, sie als Künstlerin nicht ausreichend gefördert zu haben, nicht direkt jedenfalls. Doch aus eben diesem Grund wollte sie Márta zum Star machen.

Rauschend füllte sie die große Standvase mit Wasser, fast bis oben an den Rand. Wo blieb dieser Praktikant eigentlich? Sie ließ Christoph von Engelhardt an jedem Detail der Geschäftsführung teilhaben. Er verkehrte mit internationalen Kuratoren, Künstlern und bedeutenden Sammlern. Könnte man da nicht etwas mehr Einsatz erwarten? Gegen halb zehn würde er hereinschlendern, mit seinen blondierten Strähnchen und einem Caffè Latte in der Hand, im Slim-Fit-Hemd, und sich nicht einmal entschuldigen. Unter achtzig Bewerbern hatte sie dem Anwaltssohn den Vorzug gegeben, um einen Stammkunden nicht zu verärgern. Die Prostitution in ihrem Beruf hasste sie!

Sie arrangierte die Lilien in der Vase und atmete mit geschlossenen Augen ihren süßlichen Duft ein. Die Vase kam im vorderen Raum auf den Blumentisch. Beim Aufrichten schnellte ein stechender Schmerz durch ihre linke Leiste. Sie wischte mit der Hand darüber. Wie war jetzt alles zu bewältigen? Die Vorbereitungen zur ArtWeek, die Kunstreise nach Budapest. Mit Christoph von Engelhardt? Mártas Betreuung forderte sie wie eine Zweitmutter. Und Michael? Am Telefon erwischte sie ihn womöglich im ungünstigsten Moment. »Lass uns später in Ruhe darüber reden«, würde er sagen, und da stünde sie dann, wartend, sich verzehrend, bis zum Abend oder gar bis zum Wochenende. Sie fürchtete sich vor der Stille in der Leitung, die nur Schaden anrichtete. Sie wollte die sorgenvollen Grübchen über seinen Augenbrauen wegstreicheln. Sie brauchte sein stilles Lächeln, dieses Alles-wird-gut-Lächeln. Am Telefon blieben nur die Pausen. Sie stoppte, wandte sich um. Dufteten die Lilien zu stark? Sie hätte die Schwertblumen nehmen sollen.

Es war Punkt neun Uhr, als Christoph zur Tür hereintrat. »Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht. Ich wusste nicht, ob Sie Zucker nehmen.«

»Schwarz«, sagte Anna schroffer, als sie wollte. Sie nahm einen Schluck, schob ein Danke hinterher.

Ein Schwindelgefühl überkam sie, als wäre sie mitten im Zuckerloch am Nachmittag. Sie ließ sich nichts anmerken und setzte sich im Büro an den Schreibtisch.

»Márta will beim Abendessen mit Krüger dabei sein«, rief Christoph. »Soll ich im Restaurant anrufen?«

»Seit wann erteilt Márta Ihnen Anweisungen?«

An die Türschwelle gelehnt machte Christoph eine entschuldigende Geste. »Sie dachte, Sie würden ihr das Treffen mit Krüger ausreden wollen.«

»Nach dem gestrigen Desaster werde ich genau das tun.«

Christoph machte ein überraschtes Gesicht, als wäre er bei einer anderen Party gewesen.

Mit einem Seufzer wandte sich Anna der Liste ihrer E-Mails zu, die seit gestern Abend eingegangen waren. »Márta Németh ist noch sehr unerfahren. Sammler wie Krüger sind nicht an ihrem Gehabe oder ihrem hübschen Gesicht interessiert, sondern an ihrer Arbeit. Ich treffe Krüger allein.«

Anna sah auf die Uhr, dann nahm sie den Hörer, um Márta anzurufen. Sie ließ das Telefon dreimal, viermal und noch ein fünftes Mal klingeln, dann legte sie behutsam auf. »Geben Sie sie mir, wenn sie anruft«, sagte sie zu Christoph, der noch immer in der Tür zum Büro stand und auf seinem Handy rumtippte.

»Was ist mit dem Porträt? Haben Sie diesen Anwalt erreicht?« Sie deutete auf ein Gemälde, das wie vergessen an der Wand lehnte.

Christoph machte eine hektische Geste, als hätte er das Porträt vergessen. Er setzte sich an den Praktikantentisch und überprüfte die E-Mails. »Der Besitzer ist verstorben.«

»Wer ist verstorben?«

»Dr. Breitner, so hieß er. Die Nachricht ging an die Office-Adresse.«

Anna hob die Augenbrauen. Mit Ungeduld fixierte sie den Praktikanten, der noch immer in der Liste der E-Mails suchte. Seine übereinandergeschlagenen Beine wippten nervös unter dem Tisch.

»Von wann ist die E-Mail?«

Das Wippen hörte auf. Christoph drehte sich schnell zu ihr um. »Dr. Karsay bittet Sie um die Adresse Ihrer Großmutter. Er vermutet, dass sie die Frau auf dem Bild und die alleinige Erbin ist.«

Anna stand auf und beugte sich irritiert über seine Schulter. »Lassen Sie mich mal sehen!«

»Professor Dr. Róbert Breitner, verstorben am 3. Juni 2017 in Budapest.«

Anna sah in dem Kalender nach, in dem sie den Eingang von Kunstwerken eintrugen. Breitners Tod hatte sich vor zwei Wochen ereignet. Nur kurz nach dem Besuch des Anwalts in ihrer Galerie. Sie hatte die seltsame Begegnung genau in Erinnerung. Der junge Anwalt im dunklen Anzug mit Fliege hatte ausgesehen, als wäre er direkt aus der Oper gekommen. Mit dem fachmännisch verpackten Gemälde unter dem Arm war er grußlos an Christoph vorbeigegangen.

Erst Anna Hartmann persönlich stellte er sich mit einer Verbeugung vor: Dr. Mihály Karsay von der Kanzlei Karsay & Sohn.

Anna erkannte es am Akzent und Namen sofort: »Jó napot kívánok!«, erwiderte sie auf Ungarisch.

Der Ungar reichte ihr seine Karte und bemerkte in makellosen Deutsch, sein Fahrer warte in zweiter Reihe.

Entgegen Annas Annahme, dass er sich dementsprechend beeilen müsse, waren seine Bewegungen beim Öffnen des Pakets von einer Langsamkeit durchdrungen, die ihr ein Kribbeln durch die Fingerspitzen schickte. Er legte das Gemälde frei und sprach kein Wort. So hatte Anna ausreichend Zeit, seine fein geschnittenen, jugendlichen Gesichtszüge zu betrachten. Hinter dem sorgsam gestutzten Bart verbarg sich eine ernsthafte Miene.

Endlich stellte er das Gemälde behutsam auf dem Boden ab und betrachtete es selbst, als hätte er es noch nie gesehen. »Mein Mandant möchte Ihnen dieses Porträt anvertrauen. Es handelt sich um einen Szabó.«

Mit zur Seite geneigtem Kopf betrachtete Anna das abstrakte Porträt einer jungen Frau mit überdimensionierten grünen Augen. Sie kannte das Werk des ungarischen Malers István Szabó, aber keins seiner ihr bekannten Bilder war diesem auch nur annähernd ähnlich. Karsay musterte sie eindringlich, als müsse er seinem Mandanten über ihre Reaktion Bericht erstatten. Vermutlich sah er ihr die Skepsis an, denn er erklärte, das Bild sei untypisch für Szabós Werk. »Es ist in den 50er-Jahren als ein Auftragswerk entstanden. Die Dame auf dem Bild war einst die Verlobte meines Mandanten. Erkennen Sie sie wieder?«

Anna hob den Blick. Wieso sollte sie?

»Schauen Sie genau hin!« Er machte sogar einen Schritt auf sie zu. Anna wich etwas zurück. Sie konnte beim besten Willen nichts mit der Frau auf dem Porträt anfangen.

Dr. Karsay reichte ihr eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie. Das Bild musste zu einem besonderen Anlass wie einer Verlobung oder Hochzeit im Fotostudio aufgenommen worden sein. Im Vordergrund saß eine junge Frau in einem Korbstuhl, als müsste sie geschont werden. Hinter ihr posierte in militärischer Haltung ihr Mann, vermutlich dieser Breitner.

»Die Dame auf dem Bild ist Rebeka Bárdossy. Mein Mandant vermutet, dass es sich um Ihre Großmutter mütterlicherseits handelt. Dr. Breitner hofft darauf, den Kontakt zu ihr wiederherzustellen.«

Annas Blick wechselte zwischen Bild und Anwalt und blieb schließlich an ihm haften. »Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.«

Der Anwalt sah aus, als überlegte er, ob man ihr Glauben schenken konnte. »In einem Interview im ArtMagazin sagten Sie, Ihre Großmutter sei während der 1956er Revolution aus Ungarn geflüchtet. Sie selbst sind in Deutschland aufgewachsen, nicht?«

Das klang wie ein Vorwurf. Anna verschränkte die Arme. »Sie verstehen nicht. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt zu meiner Großmutter.«

Karsay räusperte sich und schaute auf seine blank geputzten Schuhe. Dann hob er den Blick und sah sie herausfordernd an. »Dr. Breitner verfügt über eine bescheidene Kunstsammlung und wünscht sich Sie als Verwalterin.«

Wollte er sie jetzt auch noch bestechen? Dennoch, das Stichwort Kunstsammlung hatte ihr Interesse geweckt. Wo ein Szabó war, waren noch mehr. Sie löste ihre verschränkten Arme und versuchte, mit einem Lächeln, das einer Aufforderung glich, weiterzusprechen.

Als Karsay keinerlei Anstalten machte, fragte sie: »Darf ich fragen, was diese Kunstsammlung beinhaltet?«

Karsay sah sie an, als müsste er über ihre Frage erst nachdenken. Ihr Blick wanderte von seinen Augen zu den schmalen, leicht zittrigen Lippen, die wirkten, als würden sie die richtigen Worte nicht finden können. Als sie sich jedoch öffneten, kam die Antwort mit größter Gewissheit. »Es handelt sich um eine private Sammlung von Werken ungarischer Künstler der Europäischen Schule: Einige Kassák und Korniss sind darunter, Werke von Künstlern des Gresham Kreises wie Szőnyi und Bárcsay sowie frühe Werke von Dr. Breitner selbst. Die meisten Künstler waren Zeitgenossen, Kollegen, Freunde meines Mandanten. Diese Bilder waren bisweilen der Öffentlichkeit vorenthalten. Mein Mandant wünscht, dass Sie sich der Sammlung annehmen, um ihren Wert langfristig zu steigern.«

Anna versuchte, sich das elektrisierende Gefühl, das ihr bei der Erwähnung dieser prominenten Künstler durch und durch ging, nicht anmerken zu lassen. Werke dieses Kalibers hingen in der ungarischen Nationalgalerie. Ihre Hand ging unwillkürlich zum Mund, als müsste sie ein Husten oder nur das Zucken der Mundwinkel unterbinden. Innerlich mahnte sie sich zur Vorsicht. Die Kanzlei Karsay war ihr kein Begriff, und auch von einem Sammler oder Künstler mit dem Namen Breitner hatte sie nie gehört. Ihre Galerie bekam zwanzig bis dreißig Anfragen pro Woche. Regelmäßig kamen fragwürdige Sammler, die ihr Bilder zum Kauf anboten.

»Wann kann ich mir die Bilder ansehen?«, fragte sie ernst.

»Alles zu seiner Zeit, Frau Hartmann. Wir werden Sie kontaktieren.«

Er holte ein Schriftstück hervor. Es war ein Zertifikat. Anna überflog das Gutachten. Es war von Judit Virág erstellt worden, einer der renommiertesten Galeristinnen Ungarns. Sie hob den Blick und sah Karsay fragend an. »Warum engagiert Ihr Mandant nicht Frau Virág?«

Er antwortete nicht, sondern reichte ihr wortlos die Hand zum Abschied. Anna schlug befremdet ein. Karsays Hände waren von einer Zartheit wie ihre eigenen, doch sein Händedruck zeugte von Entschiedenheit. Sanft, aber bestimmt zog er sie bei der Verabschiedung ein wenig zu sich heran und blickte sie an, als wollte er sich vergewissern, auf sie zählen zu können. »Ich bitte noch um Ihre Unterschrift auf dem Empfangsschein, Frau Hartmann.«

»Was soll ich mit dem Bild anfangen?«

»Lassen Sie es auf sich wirken.«

Anna blickte ihn fragend an, doch wie hypnotisiert von der Dringlichkeit seiner Art nahm sie den Füllfederhalter, den er ihr reichte, und signierte den Empfangsschein.

Karsay ließ den Zettel in der Innentasche seines Sakkos verschwinden und wandte sich zum Gehen. Das Porträt lehnte an der Wand wie ein herrenloses Gepäckstück.

»Dr. Karsay, warten Sie! Um den Auftrag anzunehmen, werden wir einen Vertrag aufsetzen müssen.«

Er blieb stehen und drehte sich um.

»Es muss eine klare Übereinkunft mit Ihrem Mandanten darüber geben, was mit den Werken geschehen soll, ob er sie verkaufen, verleihen will, ob er eventuell eine Schenkung erwägt, um zum Beispiel eins der Bilder in eine bedeutsame Sammlung hineinzubringen. Ich brauche eine Liste der Werke, Zertifikate ihrer Echtheit, Gutachten von ihrem Zustand und so weiter.«

Karsay nickte. »Selbstverständlich.«

Dann schritt er hinaus. Die Türglocke machte einen kurzen elektronischen Piepton, und die Tür schloss sich hinter ihm mit einem dumpfen Knall. Anna betrachtete, wie die zierliche Gestalt in die wartende Limousine stieg und der Wagen davonfuhr.

Christophs fragendem Blick schenkte Anna keine Beachtung. Sie nahm das Gemälde, schloss die Bürotür hinter sich und wählte die Nummer ihrer Mutter. Das Gespräch war nicht für fremde Ohren bestimmt. Dabei sprach sie mit ihrer Mutter größtenteils Ungarisch, eine Sprache, die nicht einmal ihr deutscher Vater nach vierzig Jahren Ehe erlernt hatte. Eigentlich mischten sie das Deutsche und das Ungarische, ersetzten, flickten, beugten die Worte, wie sie kamen. Das Ganze war wie ein privater Code, fließend, mit Akzent.

Anna wartete auf den Klingelton. Besetzt. Ihre Mutter telefonierte.

Manchmal hatte sie das Gefühl, die Ungarn begegneten ihr mit Freundlichkeit, solange sie den Mund nicht auf Ungarisch aufmachte. Wer ihre Sprache sprach, musste einer von ihnen sein. Wer sonst machte sich die Mühe, eine Sprache zu erlernen, die man schlicht nirgendwo auf der Welt gebrauchen konnte? Doch ihr Akzent zog argwöhnische, forschende Blicke auf sich. Das Spekulieren begann. Ein Auswandererkind? Im Westen aufgewachsen? So klang auch dieser Karsay. Als hätte sie das Vaterland verraten.

Gerade in Ungarn fühlte sie sich deutscher als deutsch. Es war Michael, der Österreicher, der sie das Verstehen gelehrt hatte. Er selbst versuchte, das Ungarische zu erlernen, und scheiterte an den Milliarden Unregelmäßigkeiten dieser »verrückten« Sprache, wie er sie nannte, einer Sprache, die ohne Maskulinum und Femininum auskam, in der das Verb »haben« nicht existierte, die dafür aber mehr Schimpfworte im Alltag gebrauchte als wahrscheinlich jede andere Sprache. Michael führte sie ein in die großartig übersetzten Werke von Imre Kertész, Sándor Márai und Péter Nádas. Anna begann, im Original zu lesen, und entdeckte eine Welt, die ihr zuvor verborgen gewesen war. Es gehöre mehr zur kulturellen Identität, als nur die Sprache zu sprechen, man müsse in einem Land gelebt und geliebt haben, hatte Michael mit einem Augenzwinkern zu Anna gesagt, seiner »echten« Ungarin. Dabei hatte Anna keine lebenden Verwandten in Ungarn, selbst ihre Großmutter, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr pflegten, war 1956 in die USA ausgewandert und lebte heute in Wien.

Es überraschte Anna daher nicht, dass ihre Mutter kein Interesse an dem aufgetauchten Porträt zeigte, als sie nach einigen Versuchen endlich den Hörer abhob und Anna ihr von dem Besuch des Anwalts erzählte.

Das Drama passe zu ihrer Mutter, sagte Edit. Dieser Breitner sei wahrscheinlich einer von Rebekas Verehrern aus der Vergangenheit.

Anna stellte das Gemälde auf ihren Schreibtisch, um es, wie geheißen, auf sich wirken zu lassen. Alles daran war überdimensioniert und schrie nach Aufmerksamkeit: die kräftigen Farben, der dekadente Pelz als Rahmen zum Gesicht, die grünlich-golden schimmernden Augen. Sie bedrängten sie. Anna fand eine seriös anmutende Webseite der Kanzlei Karsay, doch in den folgenden Tagen gelang es ihr nicht, den Anwalt telefonisch zu erreichen. Sie hinterließ Nachrichten, ohne Erfolg. Nach einer Woche ohne ein Zeichen, bat sie Christoph, das Porträt zurückzusenden. Erst Karsays Aufdringlichkeit in der Galerie, nun sein Schweigen geboten ihr Vorsicht. In den vergangenen Jahren hatte es eine Reihe prominenter Kunstfälschungen in Ungarn gegeben.

Und nun das. Dieser Breitner war verstorben.

Die Türglocke ertönte. Anna hob den Kopf. Das musste ihre Mutter sein, mit der sie zum Mittagessen verabredet war. Sie hörte die energischen, kleinen Schritte durch den vorderen Raum näher kommen. Dann verebbte das Geräusch, und sie vernahm gedämpftes Geplauder mit dem Praktikanten. Fragte sie ihn nun auch noch über seine Diplomarbeit aus, würden sie nie wegkommen, dachte Anna und ging ihrer Mutter entgegen.

Edit Hartmann war keine Frau, die ihre Stimme schnell erhob oder sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Als Anna ihr das Porträt zeigte und sie erneut nach Breitner fragte, schüttelte ihre Mutter den Kopf, als würde der Name keinerlei Assoziationen wecken.

Edit betrachtete das an der Wand lehnende Bild. Anna wartete gespannt.

»Schwer zu sagen, es ist kein realistisches Porträt.« Das kam mit einem Desinteresse, das nicht echt sein konnte – ihre Mutter hielt sich an ihrer Handtasche fest, als fürchtete sie sich mitten in der Galerie vor Taschendieben.

»Sollten wir Großmutter nicht anrufen?« Anna streckte den Arm nach ihr aus.

Edits Hand jedoch lag bereits auf der Türklinke. »Gib diesem Anwalt einfach ihre Adresse, der kümmert sich darum.«

Mit einem Kopfschütteln wühlte Anna in dem Durcheinander aus Papieren, fand darunter ihr Telefon, ließ es in der Handtasche verschwinden und folgte ihrer Mutter zum Ausgang. Schweigend überquerten sie die Straße zum Strandbad, einem Café, dessen schöne grüne Kacheln an den Wänden die Erinnerung an Alt-Berliner Stadtbäder weckten. Krisensitzungen, Abende bei Rotwein und Kerzenschein und unzählige Mittagessen hatte sie hier mit Michael verbracht, seit sie die Galerie gegenüber eröffnet hatten. Die Beständigkeit dieses Ortes und die stille nette Bedienung war für sie zu einem Rückzugsort geworden.

»Sie ist offenbar seine alleinige Erbin«, sagte Anna zu ihrer Mutter, als sie sich an einen der Zweiertische setzten. »Du hast wirklich noch nie von diesem Breitner gehört?«

Edit machte eine genervte Handbewegung, als ginge sie das alles nichts an. »Was weiß ich über die Vergangenheit meiner Mutter? Frag sie selbst. Sie wird dir von ihren Verehrern und großartigen Bühnenerfolgen in ihrer Jugend vorschwärmen. Das ist alles Gefasel.«

Anna griff vorsichtig nach der Hand ihrer Mutter; sie wusste, dass es unter der stillen Oberfläche brodelte. »Er könnte dein Vater sein«, sagte Anna so leise, als verriete sie ein Geheimnis. Der Besuch des Anwalts in der Galerie, dieses Porträt, das Erbe – das alles ergab einen Sinn.

Edit antwortete nicht. Hilflosigkeit sprach aus ihren Augen, als wäre ihr diese Möglichkeit erst jetzt aufgegangen. Anna tat es leid, sie so zu sehen.

Die freundliche Kellnerin kam, um die Bestellung aufzunehmen, und stellte schon die Limonade mit frischer Minze vor Anna, die sie immer trank. Auf Empfehlung bestellte Anna zweimal Salbei-Tortellini und zwei Glas vom Horizon Blanc.

»Ich bin am Wochenende bei Michael in Wien. Ich würde gern Großmutter besuchen«, sagte sie, als die Bedienung weg war.

»Sie wird dich nicht empfangen«, sagte Edit scheinbar ungerührt, doch Anna sah ihr die gespielte Gleichgültigkeit an. Sie erwartete zudem, dass Anna verstand. Die Suche nach einem toten Vater würde nur alte Wunden aufreißen! Diese Art der indirekten Kommunikation beherrschten die Frauen in ihrer Familie mit Perfektion.

»Vertrau mir!«, bat Anna eindringlich.

Edit nickte.

Die Kellnerin brachte den Wein und legte Besteck auf den Tisch.

Anna führte ihr Glas zum Mund und nahm einen großen Schluck. »Und da ist noch etwas, Mama. Dieser Karsay hat von einer Kunstsammlung gesprochen, die ich verwalten soll. Rebeka wird auch diese Sammlung geerbt haben. Wenn es die Sammlung überhaupt gibt. Ich muss wissen, ob darüber etwas im Testament steht.«

Edit runzelte die Stirn. »Und wie geht es dir?«, fragte sie, das Thema wechselnd, und zog Annas Weinglas wie schmutziges Geschirr von ihr weg.

Der Protest lag Anna auf der Zunge, doch der Ton ihrer Mutter war voller Wohlwollen, also schwieg sie. Ihre Unbeschwertheit war verflogen. Dem Blick ihrer Mutter verborgen wanderte ihre Hand über den flachen Bauch – eine zärtlich anmutende Geste, die Schwangere von Beginn der Schwangerschaft an unbewusst machen. »Ich sollte es wollen, Mama.«

»Jetzt nenne dieses Es doch endlich beim Namen. Du erwartest ein Kind. Das ist etwas Wundervolles.«

»Ich bin fast vierzig, Michael vierundfünfzig. Das Thema war für uns längst erledigt. Es passt nicht zu uns.«

Anna sah, wie sich ihre Mutter kaum sichtbar auf die Lippen biss, als ob sie sich zwingen müsste, den Gedanken nicht auszusprechen. Dann tat sie es dennoch. »Habt ihr diese Entscheidung bewusst getroffen?«

Anna wich dem fragenden Blick ihrer Mutter aus. Schon damals, als sie Michael kennenlernte, hatte ihre Mutter sie gewarnt, sich nicht in diesen älteren, verheirateten Mann zu verlieben, der schon in der nächsten Lebensphase angekommen war. »Du bist eine Ehebrecherin, mein liebes Kind«, hatte sie schonungslos gesagt. Damals war Edit nicht zimperlich gewesen. Anna schämte sich noch heute. Doch es war gut mit ihnen gegangen.

»Wir genügen einander auch ohne Kinder!«, sagte Anna und ärgerte sich im gleichen Moment über den Stolz, mit dem das kam, als wäre ihre Liebe eine Errungenschaft.

»Das sehe ich, Liebes. Ich wünschte nur …« Edit seufzte und unterbrach sich. »Ein Kind, weißt du …« Erneut brach sie ihren Satz ab, ein verzücktes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es klingt zu sentimental. Aber so ist es! Und ja, es ist auch hart. Sehr hart. Du hast unser Leben umgekrempelt. Ich hatte keine Hilfe von meiner Mutter. Ich wollte sie nicht. Und ein Kind bedankt sich nicht. Man bekommt keine Wertschätzung, die auch nur …«

»Mama!«, unterbrach Anna.

»Aber es ist es wert!«

»Für dich! Du wolltest immer Kinder, eine Familie, ein schönes Haus. Michael und ich sind mit unseren Galerien verheiratet. Wir reisen, wir sind unabhängig. Unser Freundeskreis setzt sich zusammen aus Menschen, die so sind wie wir. Wir führen seit fünfzehn Jahren eine Wochenendbeziehung und sind glücklich damit.«

Edit nickte nachdenklich. »Du willst es nicht hören, Liebes, aber auch du wirst einmal alt. Und Michael weit vor dir.«

Der Hieb traf jedes Mal. »Und hat deine Mutter etwas davon, dich geboren zu haben?«, entfuhr es ihr. Dann schloss sie die Augen. »Das meinte ich nicht so, entschuldige, das weißt du.«

Edit schüttelte den Kopf und nippte am Weinglas. Sie stellte es geräuschlos wieder vor sich auf den Tisch und seufzte. »Du hast völlig recht. Es gibt keine Garantie dafür, im Alter nicht allein zu sein. Glaubst du, ich mache mir keine Vorwürfe? Ich bezahle eine Haushaltshilfe, anstatt meine Mutter anzurufen. Seit acht Jahren weiß ich nur, dass sie am Leben ist, weil diese Frau mir ungebeten Bericht erstattet.«

Anna schwieg. Sie kannte die Beziehung der beiden, maß sich aber nicht an, das schwierige Verhältnis zu verstehen.

Erst das Klirren der Teller brach die Stille. Dankbar für die Ablenkung blickte Anna zu der Bedienung, die die Teller abstellte und diskret wieder verschwand.

»Erst nach Jahren der Therapie habe ich realisiert, dass ich den Kontakt zu meiner Mutter abbrechen musste, um mich selbst zu schützen. Das bin ich mir schuldig. Deine Großmutter ist eine hochgradig neurotische Person. Sie lebt in ihrer illusorischen Welt, in der sie das alleinige Opfer ist. Sie erdrückt alles und jeden, der ihr nahekommt.«

Anna sah ihrer Mutter an, wie viel Kraft ihr dieses Gespräch abverlangte. Edit nahm Messer und Gabel in die Hand, schob die Gabel unter eine Teigtasche und half mit dem Messer behutsam nach.

Sie aßen eine Weile schweigend.

»Egal, wie du dich entscheidest, ich werde für dich da sein«, sagte Edit schließlich. »Du solltest gründlich in dich hineinhören. Es geht darum, was du fühlst, was ihr als Paar empfindet. Redet miteinander. Ihr müsst damit weiterleben.«

Anna seufzte.

»Und vor allem musst du dir verzeihen können. Es ist dein Körper und deine Seele.«

Die letzten Worte ihrer Mutter hallten noch lange in ihrem Kopf nach. Es war letztendlich ihre Entscheidung, dachte Anna, als sie nach ihrem Abendessen mit Krüger die erleuchtete Friedrichstraße entlanglief. Sie hatte für zwei Stunden ihr privates Ich ausgeschaltet und ihre professionelle Rolle überzeugend gespielt. Krüger würde in Márta Némets Kunst investieren. Doch nun spürte sie die Erschöpfung über sich kommen. Die Kraft hatte sie verlassen. Sie beschloss, die Galerie für die kommenden Tage Christoph zu überlassen und früher als geplant zu Michael nach Wien zu fliegen.

3GUTER RAT

Budapest 1949

István räumte lustlos die Weinflaschen beiseite, die ihn daran erinnerten, warum es in seinem Kopf hämmerte. Alkohol half ihm zu fokussieren, das Wirrwarr seiner Gedanken zu ordnen und Unwesentliches auszusperren – wie eine Hülle, die ihn vor Kälte, Zweifeln und dem knurrenden Magen schützte. Wie leicht es war, in diesen Zustand der Leichtigkeit abzutauchen! Er konnte trinken, bis die Sorgen handzahm wurden.

Doch am Morgen danach war sein Spiegelbild jämmerlich. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Wie immer fand er sich zu blass, irgendwie kränklich. Etwas Essbares konnte er nicht finden, so durchwühlte er auf dem Weg zum Wirtshaus an der Ecke seine Taschen nach Geld. 50 Forint. Das war alles, was ihm für den Monat blieb, den Rest hatte er mit Rudi versoffen.

Ab und zu ließ sich eines seiner Bilder verkaufen, und in unregelmäßigen Abständen erhielt er größere Auftragsarbeiten, die ihn dann ein paar Monate über Wasser hielten. Sein letzter Auftrag war ein zweimal drei Meter großes Wandgemälde für den Parlamentskindergarten gewesen. Man hatte ihn nach Beendigung der Arbeit ins Ministerium einbestellt. Das Bild hätte eine schädliche Wirkung auf den Betrachter, stand im Gutachten. Die Sachbearbeiterin hatte er noch genau vor Augen, so ein hübsches Blondchen mit rot bemalten dünnen Lippen. Sie hatte so viel Ahnung von Kunst wie ein Kamel, doch der Papa war ein hohes Tier in der Regierung. Genossin Palics war ihr Name. Sie hatte ihn auf die Verzerrungen in Inhalt und Stilrichtung seiner Kunst aufmerksam gemacht. Seine Arbeit würde den Anschein der Abkehr von den Werten der sozialistischen Kultur erwecken. Im Klartext hatte das bedeutet, dass das Ministerium seine sechs Wochen Arbeit nicht bezahlen würde. Er sah Genossin Palics noch vor sich, wie sie mit ihrer Bleistiftspitze getrommelt und ihm eine Standpauke gehalten hatte über die Ball spielenden Kinder zwischen gesichtslosen, überdimensionierten Körpern mit Engelsflügeln. Ihr Trommeln hatte ihn irritiert. Wieso hätte er sich rechtfertigen sollen?

Das Wirtshaus um die Ecke wurde von Frau Margit geführt, einer etwas schroffen, doch herzensguten Frau. Sie war nicht mehr die Jüngste und mit ihren eng stehenden, kleinen Augen gewiss keine Schönheit, aber sie war eitel, was István auf charmante Art auszunutzen wusste.

Als er eintrat, balancierte sie auf einem Hocker und malte die Tagesangebote an die Wandtafel. István überlegte, ob er genug Kraft hätte, sie aufzufangen, falls der Hocker unter ihrer Last zusammenbrach. Unfreiwillig starrte er auf die kräftigen weißen Waden, die sich samt den heruntergerutschten Strümpfen unter ihren Röcken zeigten.

»Es gibt Paprikakartoffeln«, sagte sie mit einem Zwinkern, als sie ihn bemerkte. Sie gab ihrer Hüfte noch einen kleinen Schwung beim Schreiben. Den Blick, den István ihr zuwarf, musste sie gut kennen, denn sogleich verfinsterte sich ihre Miene. »Dein bettelnder Hundeblick kann mir nichts anhaben, Freundchen. Das Anschreiben wird langsam zur Gewohnheit.«

»Das nächste Mal, wenn ich ein Bild verkaufe, kaufe ich Ihnen eine schöne neue Schürze, Frau Margit.«

Mit unerwarteter Leichtigkeit sprang sie vom Hocker. »Bezahl dann lieber deine Rechnungen, mein Junge.«

Er griff nach Block und Bleistift, seinen ständigen Begleitern. Der Stift begann auf dem Papier zu tanzen und formte mit ein paar Zügen eine Figur mit einer langen Schürze. Eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere hielt einen Kochlöffel in die Höhe, als wollte sie ihm drohen. Über den Tresen gebeugt beobachtete die Wirtin, wie ihr etwas verjüngtes, etwas verschönertes, keck schmunzelndes Selbst auf dem Papier zum Leben erwachte. Verlegen strich sie sich eine in Unordnung geratene Haarsträhne zurecht. István lächelte zufrieden.

»Der Meister beim Schaffen!«, sagte da plötzlich eine Stimme hinter ihm.

István wandte sich um. »Levin!« Er reichte seinem Freund die Hand.

»Éva macht sich Sorgen, du seist verhungert!«

Die Wirtin schnappte sich die Zeichnung und ließ István mit einem Blick wissen, dass sie quitt wären.

Die Männer setzten sich an einen der Zweiertische an der Wand. István räumte die kleine Blumenvase aus dem Weg, krempelte die Ärmel hoch, und da kam die Wirtin auch schon mit dem rot-goldenen Kartoffelberg.

Während István zu essen begann, kramte Levin in der ausgebeulten Innentasche seines Mantels herum.

»Was schleppst du da mit dir rum?«, fragte István mit vollem Mund.

Levin legte ein Buch auf den Tisch. »Dein eigenes Exemplar. Mein Vater lässt grüßen.«

István nickte verlegen zum Dank und legte das Buch vorsichtig zur Seite. Levin schnupperte an dem Kartoffelgericht und gab der Wirtin ein Zeichen, ihm auch einen Teller zu bringen.

»Ich habe von deinem Wandbild gehört«, sagte Levin.

»Das hat sich schnell herumgesprochen.«

»Hózer ist in der Vorlesung wieder mal ins Fabulieren gekommen. Das Übliche vom talentierten jungen Maler, der auf Kosten des Volkes studiert und vom Weg abkommt. Du weißt schon, das Gerede von der sozialen Verantwortung, der Erziehung des einfachen Volkes und so weiter.«

Die Wirtin stellte den dampfenden Eintopf vor Levin auf den Tisch.

István schaufelte sich weiter die Kartoffeln in den Mund, als hätte er seit Tagen gehungert. »Diese Tante im Ministerium hat tatsächlich die Uni informiert.« Er sprach mit vollem Mund, hielt nur inne, um zu schlucken. »Die wollten Proletarierkitsch, was hätte ich machen sollen?«

»Es war ein Auftrag für einen Kindergarten.«

»Na und? Ich lasse mich nicht prostituieren. Eine Vierjährige hat zu dem Bild gesagt, es sei schön bunt. Sie möge ganz besonders den goldenen Engel. Das nennen diese Idioten schädlich und menschenverachtend.«

Levin fischte mit der Gabel ein Stück Wurst aus dem Eintopf und deutete zu der Wirtin. »Was meinst du, wie lange dich die gute Frau noch durchfüttert?«

István schüttelte den Kopf. »Soll ich mich zu einem ihrer gleichgeschalteten Heuchler machen lassen?« Er legte die Gabel auf dem Teller ab und begann, mit zittriger, piepsiger Stimme und erhobenem Zeigefinger Professor Hózer nachzuäffen. »Die Kunst gehört dem Volke, liebe Hörerinnen und Hörer! Sie muss verwurzelt sein in den breiten, schaffenden Massen. Sie muss von diesen verstanden und geliebt werden.«

Levin brach in Gelächter aus – die Parodie war einfach zu treffend!

Jetzt stand István auch noch auf und begann, auf und ab zu laufen. »Der sozialistische Realismus ist die höchste Form der Kunst. Vergessen Sie nie, die vordergründige Aufgabe des Künstlers ist die sozialistische Erziehung des Volkes!«

Ein paar Köpfe im Gasthaus drehten sich in ihre Richtung. Levin verbarg sein Gesicht hinter der Hand und bedeutete István aufzuhören.

»Mal im Ernst, ich will niemanden erziehen. Schon gar nicht male ich diesen Sozrealquatsch.«

Levin holte tief Luft. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Stelle am Nasenrücken, an der sich ein Abdruck gebildet hatte. Ohne das kantige Gestell wirkte sein Gesicht entblößt. Es schien, als würden die hellblauen, fast wässrigen Augen nach einem Kontrast rufen. Die Brille verlieh seinen Zügen etwas Markantes und hinderte die Menschen, durch ihn hindurchzuschauen.

»Hózer will dich rausschmeißen!«, sagte er. »Er sammelt eine Mehrheit im Fakultätsrat gegen dich.«

»Der kriecht doch schon seit Jahren um mich herum.«

»Jetzt wird es aber eng.«

Bedrängt von Levins Ernsthaftigkeit legte István den Löffel aus der Hand. Der Appetit war ihm vergangen. »Ich weiß, wo das herkommt. Vor ein paar Wochen hat mich Hózer nach der Vorlesung dabehalten. Es ging um das Bild, das ich in der Kunsthalle eingereicht habe.«

»Hast du dich an die Themenvorgabe gehalten?«

»Natürlich nicht.«

Levin sah ihn fragend an.

István stand wieder auf.

»Jetzt setz dich, um Gottes willen!«

István winkte ab. »Jetzt stell dir vor: Eine Kreatur aus Mensch, Vogel und Maschine steht mit ausgebreiteten Flügeln am Abgrund. Am Himmel kreisen Flugzeuge und Engel, Wolken brauen sich zusammen in der Form eines riesigen Pilzes. Unten im Tal emsig arbeitende Figürchen, Kräne und hohe Häuser.«

Levin verbarg kopfschüttelnd sein Gesicht in den Händen.

»Dir ist nicht zu helfen. Diese Ausstellung ist das Aushängeschild des Kulturministeriums.«

»Eben!«

»Was hat Hózer gesagt?«

István setzte sich wieder und schob den Teller beiseite. »Es war nur das Gerede von meinem Talent. Er sei von Anfang an mein Förderer gewesen. Er gab mir den guten Rat, ich solle mich von meinen schädlichen Ideen lösen, mir den Zeitgeist zu eigen machen. Du weißt schon, als Künstler im Dienste des Volkes und der Partei stehen.«

»Und du hast nur dagestanden und ihn angegrinst?«

»Nein, gar nicht. Genickt habe ich. Da fing Hózer an, mich anzuschreien, das Ungetüm von Bart in meinem Gesicht sei eine Provokation, und er fragte mich, in welche Art konterrevolutionärer Machenschaften ich involviert sei.«

Levin kniff gequält die Augen zu.

»Es war amüsant. Er meinte, mein Bild sei ein primitives Machwerk, gespickt mit grotesken Figuren. An den weinenden Engeln hat er sich am meisten aufgezogen. Und der Titel, der sei ja purer Zynismus. Dabei ist ›Frieden der Menschheit‹ gar nicht zynisch gemeint.«

»Du solltest dich schleunigst wieder an der Uni blicken lassen und dir ein paar Befürworter suchen.«

»Kann ich eine Zigarette von dir haben?«

Levin zog die Packung aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin.

»Der Einzige, mit dem man reden kann, ist Kovács«, dachte István laut nach. Unter allen Professoren schätzte er den alten Grafiker am meisten.

Levin sah ihn skeptisch an. Es stimmte, der alte Prof hielt sich aus politischen Debatten heraus, einen Einfluss in der Unileitung hatte er kaum. Morgens kam er auf seinem klapprigen Motorrad mit der verwitterten Leica um den Hals in der Hochschule an und hatte schon seit dem Morgengrauen das Brüten der Vögel im Umland studiert. Seine Vögel und die Kunst, die waren ihm wichtig.

»Du musst Breitner überzeugen«, sagte Levin.

»Professor Breitner?« István überlegte. »Fachlich habe ich großen Respekt vor ihm, aber persönlich?«

»Er ist das jüngste Mitglied des Kollegiums. Da muss er arrogant auftreten.«

Vielleicht hatte Levin recht. Breitners Alter war möglicherweise der Grund für die höfliche Distanz, die er sowohl zu Studenten als auch zu Kollegen wahrte. Sein makelloses Äußeres, die Wahl seiner Kleidung, seine ganze Erscheinung hatten eine bürgerliche Eleganz, die man ihm nachzusehen schien. Bei den Studenten galt er als hart, aber gerecht, als jemand, der an andere ähnlich hohe Anforderungen stellte wie an sich selbst. Er war Junggeselle, das interessierte vor allem die Mädchen. Trotz der blumigsten Spekulationen über eine unerfüllte Liebe, eine verstorbene Ehefrau und sogar ein weggegebenes Kind blieben die Details seines Privatlebens vor der Hochschule verborgen. István beschloss, sich einen Termin bei ihm zu besorgen.

Levin stieß einen satten, zufriedenen Seufzer aus. Sein Teller war blank geputzt, das Besteck quer gelegt, die Serviette sauber gefaltet. »Also dann, ich muss.« Er stand auf und legte einen Geldschein auf den Tisch, der mehr als ihr beider Essen deckte. »Mach keinen Ärger!«

»Du musst mich nicht immer einladen«, protestierte István, doch Levin hob schon die Hand zum Gruß und ging.

Um bei Breitner vorzusprechen, musste man an der alten Bors vorbei, seiner Sekretärin, die ihn bewachte wie eine Hündin ihre Jungen. Tatsächlich musste István an einen alten Cockerspaniel denken, wenn er ihr langes Gesicht sah mit den treuen Augen und dem gekräuselten Haar, das beidseitig herunterhing wie lange Ohrenlappen.

Frau Bors ließ ihre Brille auf die Nasenspitze gleiten und schaute über sie hinweg, wenn sie etwas sagte. Dabei spitzte sie die Lippen und ließ ihren knochigen Zeigefinger über den Terminkalender gleiten. »Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen möchten, Herr Szabó, da könnte ich Ihnen eine Viertelstunde geben. Aber nicht länger. Der Herr Professor muss um halb zwei spätestens das Mittagessen einnehmen.« Sie sagte »Breitner« mit einem wienerisch langgezogenen »ääiii«. Als István pünktlich nach einer Stunde mit ihrer Erlaubnis anklopfte, das kurze, aber kräftige »Ja« vernahm und eintrat, saß Breitner am Schreibtisch und schrieb, ohne aufzublicken.

István blieb in der Mitte des Raumes stehen.

»Einen Augenblick noch, Szabó. Setzen Sie sich!«

István nahm auf dem gelben Sessel Platz, der gegenüber dem Schreibtisch für Besucher aufgestellt war. Auf dem Schreibtisch reihten sich drei frisch angespitzte Bleistifte der Größe nach, ein Stapel weißes Papier, eine Teetasse und das Schriftstück, an dem Breitner arbeitete.

Der Professor legte das Dokument zur Seite und schaute auf. »Herr Szabó! Gut, dass Sie gekommen sind. Was ist so komisch?«

»Sie sind sehr aufgeräumt, Herr Professor.«

»Ich lasse mich leicht ablenken, da ist ein leerer Tisch hilfreich. Kommen wir gleich zur Sache. Ich habe auch einiges mit Ihnen zu bereden, aber bitte, Sie haben sicher ein Anliegen, da Sie mich ja aufgesucht haben.«

»Ich wollte Sie um Rat bitten, Herr Professor. Ich scheine da ein paar Schwierigkeiten zu haben.«

»Die einfach so über Sie gekommen sind?« Breitner holte ein Zigarettenetui und einen sauberen Ascher aus einer Schublade hervor und bot István eine Zigarette an. Ob auch noch ein echter Kognak aus der Schublade zum Vorschein kam?

István bediente sich und ließ die Zigarette in seiner Gesäßtasche verschwinden.

Breitner legte belustigt den Kopf zur Seite. »Noch eine für jetzt?«

István bediente sich zum zweiten Mal aus dem Etui, holte eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche hervor und zündete sich die Zigarette an. Anschließend beugte er sich vor und machte eine Geste, um auch Breitner behilflich zu sein, doch der rauchte längst zurückgelehnt in seinem Sessel und wartete auf István. »Also Szabó, Sie sind ein tiefgründiger Denker. Ich kenne Sie. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, sind der erste Studierte in Ihrer Familie. Sie mussten es sich hart erarbeiten, diesen Hintergrund abzulegen. Ich weiß noch, wie Sie hier vorsprachen, mit den Händen in den Hosentaschen und dem Jargon eines Straßenbauers. Heute sind Sie einer meiner besten Studenten. Warum zerstören Sie sich Ihre Laufbahn auf so dumme Weise? Haben Sie nicht begriffen, wie das System funktioniert? Passen Sie gut auf, dass Ihnen bei Ihren privaten Zusammenkünften nicht jemand die Polizei auf den Hals hetzt!«

Istváns Augen weiteten sich vor Überraschung. Die Zigarette in seiner Hand verharrte mitten in der Luft vor seinem Mund.

Wie hatte Breitner von ihrem geheimen Klub erfahren? Und war seine Anspielung eine Drohung oder ein gut gemeinter Rat? Die erste Zusammenkunft war für den kommenden Samstag in einer Lagerhalle in Csepel geplant. Die Idee für eine Reihe privater Ausstellungen hatte Istváns Freund Rudi gehabt. An einem dieser Abende, die mit tiefgründigen Gesprächen über das Leben und die Kunst begannen und nach einer durchsoffenen Nacht mit bösen Kopfschmerzen endeten, hatten István und Rudi bei Frau Margit am Tresen gesessen und über die Widersprüche von Avantgarde und traditioneller Kunst gestritten. Rudi verteidigte abstrakte Kunst als echt und ehrlich, die Idee sei bei einem Kunstwerk das Entscheidende, nicht die Form. István war für aufrichtiges, aber nicht linkisches Unverständnis. Für ihn war Kunst ein Handwerk, das erlernt und mühsam erarbeitet werden musste. Er hatte vor lauter Erregung das Schnapsglas auf den Tresen geknallt, so laut, dass Frau Margit ihm einen bösen Blick zugeworfen hatte. Schließlich hatte Rudi eingelenkt, und sie hatten sich geeinigt. Keine Abstrakten, vorerst. István würde den Anfang machen und seine Grafiken ausstellen, die es auf Hózers schwarze Liste schafften. Auf die Gästeliste kamen nur Freunde und Freunde von Freunden. Die Idee war frech und verboten. Sie gefiel István. Einmal im Monat jeweils ein anderer Künstler an einem anderen Ort. Sie hatten darauf getrunken, und so war ein geheimer Klub geboren worden.

»Sie wollen meinen Rat?«, sagte Breitner mit ernster Miene. »Erscheinen Sie zu Hózers Vorlesungen, und gehen Sie zu den Rituellen-Halbestunden. Dann können wir Ihren Arsch noch retten.«

Die Bors unterbrach sie und kündigte ein hohes Tier aus dem Ministerium an. Breitner entschuldigte sich, sie müssten das Gespräch vertagen. Als István schon an der Tür stand, rief er ihm zu: »Und, Szabó, schneiden Sie sich den Zottelbart ab!«

Schon wieder der Bart. István fasste sich unwillkürlich ins Gesicht. Der Bart machte ihn zum Mann. Er verhinderte das dümmliche Herumnesteln am Mund, die beschämte Hand am Kinn, lästige alte Gewohnheiten, die Narben seiner Jugendakne zu kaschieren.

István wollte protestieren, doch Breitner hatte seinen Blick inzwischen von ihm abgewandt und blätterte in den Unterlagen, die die Bors ihm auf den Tisch gelegt hatte. Also drehte István sich um und verließ achselzuckend den Raum.

4DAS VORSPRECHEN

Budapest 1949

Rebeka schritt mit federnden Schritten die Stufen des Nationaltheaters hinauf. Lampenfieber hatte sie keines. Ihre Garderobe saß, die Bluse mit Spitzenkragen wirkte unschuldig, der Rock dafür betont eng, nicht zu kurz, der Mund war rot geschminkt, das Haar in Wellen gelegt wie das eines Filmstars. Sie hüpfte die letzten Stufen hinauf, ging mit der Selbstverständlichkeit eines Ensemblemitglieds an dem Pförtner vorbei und schritt den langen Korridor entlang zum Direktorat. Erst dort im Vorzimmer zog ein flaues Gefühl in ihrem Magen auf. An den Wänden reihten sich die Porträts der Riesen des ungarischen Theaters und blickten auf sie herab wie auf eine Hochstaplerin. Sie alle hatten in diesem ehrwürdigen Haus gespielt, die Jászai, die Tolnay und allen voran Katalin Karády, die sie seit Mädchentagen verehrte wie eine Heilige.

»Name?«, fragte die Sekretärin, als ermahnte sie ein Kind, nichts anzufassen. Sie musste mit angesehen haben, wie Rebeka die Porträts bewundert hatte.

»Bárdossy.«

Mit dem feuerrot lackierten Nagel ihres Zeigefingers ging die Sekretärin durch die Kalendereinträge. Sie blickte auf und sah prüfend Rebeka an. »Es kann dauern!«, sagte sie unfreundlich und deutete mit einer Handbewegung zu einem Sessel.

Rebeka nahm Platz.

Die Schreibmaschine ratterte im gleichmäßigen Takt. Mattheit überkam Rebeka beim Warten. Sie zwang sich, gerade zu sitzen, streckte ihren Rücken durch. Es schmerzte.

Endlich öffnete sich die Tür des Direktors. Heraus kam ein älterer Herr, lüftete den Hut, den er sich gerade aufgesetzt hatte, murmelte »gnädige Frau« zu der Vorzimmerdame und ging langsam auf seinen Spazierstock gestützt hinaus.

Die Sekretärin bedeutete Rebeka mit einem Kopfnicken, dass sie nun eintreten könne.

Der Direktor war viel jünger, als sie erwartet hatte. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln saß er im Qualm seiner Zigarre am Schreibtisch und hob den Kopf. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin zum Vorsprechen gekommen.«

»Ich vergebe keine Termine zum Vorsprechen.«

Röte schoss in Rebekas Wangen, auf der Oberlippe erschienen die kaum sichtbaren Tautröpfchen der Angst. Sie war an der Tür stehen geblieben und realisierte nun, wie unsicher das wirken musste. Den Namen ihres Onkels Géza zu erwähnen, der dieses Treffen arrangiert hatte, erschien ihr jetzt unklug. Der Direktor zog geduldig an seiner Zigarre und entließ eine weitere Rauchschwade in den Raum.

Sie nahm Haltung an und schritt auf ihn zu. Ihr Mund öffnete sich zu einem Lächeln. »Sie wollen sich das nicht entgehen lassen, Herr Direktor.«

Er lehnte sich mit Überraschung zurück. Na schön, sagten seine Augen und wanderten an ihr hoch und runter. Mit der Zigarre in der Hand bedeutete er ihr, um den Tisch herum näher zu kommen. »Weiter, weiter, ich will Sie mir ansehen.«

Rebeka gehorchte und blieb auf eine Fußlänge vor ihm stehen. Er griff nach ihrem Handgelenk und hob ihren Arm wie den einer Puppe. »Haben Sie eine Ausbildung?«

»Ich habe zwei Jahre an der Schauspielakademie absolviert. Dann hat man mich der Akademie verwiesen.«

»Eine Bürgerliche?« Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn und betrachtete das Profil. »Eine stolze Nase, schönes Gesicht. Lassen Sie mich raten: eine Aristokratin?«

Sie biss die Zähne zusammen. Seine Nähe irritierte sie. Was tat er da? Roch er etwa an ihr? Von dem Gestank seiner Zigarre wurde ihr übel. Sie drehte den Kopf weg, wich ihm aus. »Ich trage jetzt meinen Text vor, wenn Sie erlauben, Herr Direktor.«

»Bitte, bitte. Aber heben Sie Ihren Rock doch etwas, bevor Sie beginnen.«

Sie sah ihn an, als hätte sie falsch verstanden.

Er wedelte ungeduldig mit der linken Hand. »Mein Kind, nun machen Sie doch nicht so ein Theater. Ich muss mir doch vorher ansehen, was ich mir da ins Haus hole.«

Zögerlich hob sie ihren Rock. Der Knieansatz kam zum Vorschein.

»Nun tun Sie nicht so schüchtern. Was glauben Sie, wie oft Sie sich auf der Bühne betatschen lassen müssen? Führen Sie sich schon mit mir so auf, sind Sie hier falsch, junge Dame.«

Hitze stieg in ihr auf und verdichtete sich zu Wut. Es geschah im Affekt, in dem Bruchteil eines Augenblickes, noch bevor sie begreifen konnte, was sie tat. Das Wasserglas hatte einfach dort gestanden, direkt in ihrer Reichweite. Im Schock verharrte sie, nahm seinen überraschten, halb belustigten, halb bewundernden Blick wahr. Dann stürzte sie hinaus. Vorbei an den roten Fingernägeln, vorbei an ihren Heldinnen jagte sie durch das Vorzimmer, über den langen Korridor.

»Naives Gör!«, hörte sie die Karády ihr nachrufen. Sie stolperte die Treppenstufen hinunter, hinaus ins Freie, wo sie endlich wieder atmen konnte.

Tränen ergossen sich unkontrolliert über ihre Wangen. Sie suchte Halt an der Hauswand und verbarg ihr Gesicht in den Händen. So läuft dieses Geschäft nun einmal, sagte sie sich. Wirf deinen Traum nur weg! Willst du dein Leben im Wartezimmer verbringen oder auf der Bühne stehen? Er war nicht einmal abstoßend gewesen. Der Impuls zurückzurennen, um Vergebung zu bitten, zu retten, was zu retten war, kam ihr, doch sie erstickte ihn im Keim beim Gedanken an den verachtenden Blick der Vorzimmerdame, den sie bekommen würde, wenn sie um Erlaubnis bat, noch einmal vorgelassen zu werden, ganz zu schweigen von dem höhnischen Gelächter oder gar Wutausbruch des sich gerade abtrocknenden Direktors, der sie womöglich gleich aus seinem Büro werfen würde.