Das Lied der Sirenen - Markus Gerwinski - E-Book

Das Lied der Sirenen E-Book

Markus Gerwinski

4,4

Beschreibung

Fantasy der alten Schule: Ein einsamer, gebrochener Held in seinem persönlichen Ringen mit Monstern und Mysterien. Wer nach Fantasy abseits des Mainstream sucht, in der es nicht um Throne und epische Schlachten geht, sondern um Rätsel, Magie und die Abenteuer eines Einzelnen, der ist mit dem "Lied der Sirenen" richtig. Über den Inhalt: Seit sich auf der Insel Valstrom die Sirenen niedergelassen haben, ist die Fahrt durch die Meerenge ein Wagnis auf Leben und Tod. Die ruhelosen Seelen der Ertrunkenen suchen die Küste heim. Gequält von der Erinnerung an eine verlorene Liebe, lässt sich der junge Magier Jeral Nerigon auf die gefahrvolle Mission ein, die Sirenen zu studieren und ein Mittel gegen ihr Lied zu finden. Als er sich in einem Dorf an der Küste einquartiert, wird er schon bald in Kämpfe mit Untoten, Kobolden und Gespenstern verwickelt. Auch unter den Dorfbewohnern scheint er sich Feinde zu machen. Sein gefährlichster Gegner aber verfolgt ihn aus den Tiefen seines eigenen Herzens heraus ...

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Für Carola

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Sehr geehrter Magister Chimas Gorc,

gewiss erinnert Ihr Euch noch des angefangenen Forschungsprojekts Magister Drahniers, das durch sein Ableben bzw. Verschwinden vor vier Jahren unterbrochen wurde. Meines Wissens sind seitdem keine Anstrengungen unternommen worden, um seine Arbeit fortzuführen oder auch nur die bisherigen Ergebnisse seiner Arbeit zu bergen.

Ich möchte hiermit um die Entbindung meiner sonstigen Pflichten innerhalb der Akademie bitten, um selbst dieses Projekt wieder aufzunehmen. Neben der Tatsache, dass es eine Schande wäre, nicht wenigstens das bereits errungene Wissen Magister Drahniers in unsere Archive zu überführen, sehe ich einen vielversprechenden Ansatz, um seine Arbeit fortzuführen. Aus diesem Grund würde ich Euch zugleich um die Bereitstellung der Finanzmittel für dieses Projekt bitten. Wenn ich mich recht entsinne, wurde das Projekt Magister Drahniers von der Kauffahrergilde in Fardasse finanziert, die auch heute noch ein berechtigtes Interesse an seiner Arbeit haben dürfte, sodass die Kassen der Akademie keine weitere Belastung erfahren sollten.

In der Hoffnung auf eine positive Antwort Eurerseits verbleibe ich mit freundlichem Gruß

Jeral Nerigon, Adeptus Magicae

Geschrieben zu Fardasse,

26. Tag des Nebelmonds

im 14. Jahr der Herrschaft Brasics

1

Der Nieselregen hatte sich gelegt, und dicht über dem Horizont zeigte sich ein verwaschener Fleck aus Licht inmitten der grauen Himmelsdecke. Ruhig und ohne Hast befreite sich die Sonne aus ihren Schleiern, um wenigstens der letzten Stunde des Tages ein wenig Helligkeit zu spenden. Ihr Schein verbreitete sich sanft über das von Widersprüchen angefüllte Bild des Dorfes, zu dem sich die Straße hinabschlängelte.

Der Rauch der Kochfeuer zerfaserte über wuchtigen Schornsteinen, die stolz aus den Ziegeldächern stabiler Steinhäuser emporragten. Ein halbes Dutzend von ihnen erhoben sich pompös direkt an der Straße und kündeten vom Wohlstand dieses Ortes. Auch die Holzhütten, die sich gleich dahinter aneinanderreihten, wirkten alles Andere als ärmlich. Die rötlich flackernden Lichter, die aus dem einen oder anderen Fenster lugten, vermittelten ein Gefühl von Behaglichkeit und Wärme.

Die heruntergekommenen, strohgedeckten Hütten unten am Wasser erweckten hingegen einen verlassenen Eindruck. Einige wenige standen noch immer aufrecht, und Rauch über ihren Dächern kündete von den Bemühungen der Bewohner, die feuchte Kälte der See aus ihren Behausungen fernzuhalten; aber die meisten waren nicht mehr als Gerippe aus halb vermoderten Holzstangen, Leinwand und Stroh, ebenso zerfallen wie die Boote, die in einer langen Reihe umgedreht in der Nähe lagen. Die Dünung leckte immer und immer wieder an dem hellen Streifen aus Sand, der sich nach links und rechts vom Dorf davon zog, um in einem weit ausholenden Bogen das Meer zu umarmen.

Es wurde Jeral verspätet bewusst, dass das Ruckeln aufgehört hatte, und er warf einen fragenden Seitenblick auf den Kutscher. Wie stets sah er nur eine Hutkrempe, die das Gesicht fast vollständig von ihm abschirmte.

„Ist das Peltern?”, fragte er, um das Schweigen zu brechen, und hob den runenverzierten Stab, um mit dem unteren Ende auf das Dorf zu deuten. Ihm war bewusst, dass seine Stimme müde klang, aber das hatte sie auch schon vor Antritt dieser Reise getan.

Der Kutscher wandte ihm das derbe Gesicht zu und setzte zu einer Antwort an, aber eine spöttische Stimme kam ihm zuvor.

„Nein. Das ist Graldacor. Der Tempelturm hat sich nur schon schlafen gelegt.”

Jeral drehte sich müde zu dem Sprecher um, der seinen Rappen neben den Wagen gelenkt hatte. Er wandte sich gleich wieder ab, als ihm das inzwischen viel zu vertraute, knappe, zynische Lächeln begegnete, das den Mittelpunkt des Dreiecks aus den hohen Wangenknochen und dem spitzen Kinn des Söldners einnahm.

„Was Ihr nicht sagt, Varamur”, erwiderte Jeral in dem halbherzigen Versuch, dem Söldner Contra zu geben. „Ich hatte schon gedacht, wir wären im Kreis gefahren und wieder in Fardasse gelandet.”

„Das da unten ist Peltern, Herr”, warf der Kutscher in entnervtem Ton ein. „Ihr seid am Ziel.”

„Naja, fast”, begann Varamur wieder, ohne den Spott in seiner Stimme abzumildern. „Das hängt davon ab, ob Ihr darauf besteht, noch heute Abend Euer neues Domizil zu beziehen.”

Er deutete nach Süden, zum linken Ende der Bucht. Dort wurde die gleichförmige Silhouette der Hügellandschaft, die sich dunkel vom lichtgrauen Himmel abhob, von einem Auswuchs unterbrochen, der einem angefaulten Zahn ähnelte.

Jeral versuchte, den Söldner mit einem wütenden Blick zu bedenken, doch ihm wurde noch rechtzeitig bewusst, wie kläglich das wirken musste. Mit einem Seufzer lehnte er sich wieder auf dem Kutschbock zurück und richtete den Blick geradeaus. Aus der beabsichtigten bissigen Bemerkung wurde ein trübsinniges: „Lasst und weiterfahren.”

Das Klappern der Hufe setzte wieder ein, und die Stöße von Steinen und Bodenwellen fingen erneut an, Jerals Rücken zu martern. Er heftete den Blick auf den Straßenrand und versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Die Straße war breit und gut ausgebaut, mit Abflussgräben an den Seiten, die auch während der Regenfälle der letzten Tage verhindert hatten, dass sich der festgestampfte Lehm in Morast verwandelte. Ein gut gepflegter, sauberer Meilenstein durchquerte sein Blickfeld und verkündete die Entfernung nach Fardasse.

Eine Erinnerung an weiches, blondes Haar streifte ihn.

Mit einem erneuten, tiefen Seufzen schloss Jeral die Augen und überließ sich dem Holpern des Wagens.

Das farbenfrohe Schild über der Vordertür wäre nicht nötig gewesen, um das Haus als die Dorfschänke von Peltern zu kennzeichnen. Der geräumige Stall und die fünf daneben abgestellten Planwagen sprachen eine ebenso deutliche Sprache wie die großen Glasfenster im Erdgeschoss. Dies war ein Ort, an dem Fremde ein und aus gingen und auch willkommen waren.

Die wohlige Wärme, die Varamur beim Betreten des Schankraums umfangen hatte, kroch ihm schon jetzt als schläfrige Schwere in die verspannten Muskeln. Noch nicht, ermahnte er sich im Stillen. Der Gedanke entsprang eher jahrelanger Gewohnheit als einem konkreten Anlass, wachsam zu bleiben; doch eine Gewohnheit, die ihm an mehr als einem Lagerfeuer in der Wildnis das Leben gerettet hatte, ließ sich auch in zivilisierter Umgebung nur schwer ablegen.

Er nahm sein Bier entgegen und nickte Jeral kurz zu, ehe er begann, sich einen Weg vom Tresen weg durch die Menge zu bahnen. Er hatte kein bestimmtes Ziel, nur fort von dem Magier, ehe der zum zwanzigsten Mal zu erzählen anfing, wie seine Liebste ihm den Laufpass gegeben hatte. Am Anfang hatte Varamur noch Verständnis für den armen Kerl aufbringen können, aber inzwischen widerte ihn das Selbstmitleid, dem sich Jeral so schamlos hingab, einfach nur noch an.

Er vertrieb den Gedanken und achtete darauf, nichts von seinem Bier zu verschütten, während er sich zwischen beschnitzten Balken, welche die Decke trugen, und voll besetzten Bänken hindurchzwängte. In diesem Raum vereinigte sich der Betrieb einer Dorfschänke mit dem einer Herberge an einem stark befahrenen Handelsweg, und obwohl der Schankraum an Größe denen mancher Tavernen in den Städten kaum nachstand, war er mit Menschen bis in den letzten Winkel ausgefüllt. Varamur zweifelte nicht daran, dass man ihm Platz gemacht hätte, wäre er einfach an irgendeinen Tisch herangetreten, doch die Gewohnheit ließ ihn nach einem lohnenden Gesprächspartner Ausschau halten. Für ihn als Söldner konnte es lebenswichtig sein, sich vor Erfüllung eines Auftrags mit den richtigen Leuten zu unterhalten.

Er brauchte nicht lange zu suchen. Ein paar rasche Schritte durch eine Lücke in der Menge, und er stand vor einem Mann, dessen Tracht und Verhalten ihn weithin sichtbar als lohnenden Gesprächspartner kennzeichneten. Obwohl er sich lautstark an der Unterhaltung am Tisch beteiligte, behielten seine Augen aufmerksam den Schankraum im Blick, sodass ihm Varamurs Annäherung nicht entging.

Vom Büttel einer derart belebten Gemeinde sollte man wohl auch ein gewisses Maß an Wachsamkeit erwarten können, dachte Varamur und löste den Blick von der grünen Tracht mit den rostbraunen Ärmeln, um sich dem Gesicht darüber zuzuwenden. Dunkle Augen musterten ihn aus kantigen, zerfurchten Gesichtszügen heraus, eingerahmt von einem ergrauenden Backenbart und schütterem, schwarzem Haar.

„Gruß Euch”, eröffnete Varamur das Gespräch. „Ihr seid der für Peltern zuständige Büttel?”

„Ich bin hier der Bulle, ganz recht.” Die Antwort rief am Tisch einige Lacher hervor.

Varamur lachte pflichtschuldig mit. „Ich hätte da ein paar Fragen, bei denen Ihr mir vielleicht weiterhelfen könnt ...”

Der Büttel machte eine einladende Geste. „Nehmt Platz. Oder zieht Ihr ein Gespräch unter vier Augen vor?”

„Das soll mir gleich sein”, entgegnete Varamur, während er bereits über die Bank stieg und sich niederließ. „Es ist nichts Vertrauliches, nur ein paar Fragen über die Umgebung.”

„Dann solltet Ihr vielleicht besser jemanden fragen, der öfter aus dem Dorf heraus kommt als ich”, lachte der Büttel.

Varamur antwortete mit einem Lächeln und einem Schulterzucken. „Wen würdet Ihr mir da empfehlen?”

„Das kommt darauf an”, erwiderte der Büttel. „Was genau wollt Ihr denn wissen?”

„Näheres über den alten Leuchtturm.”

Die Augen des Büttels verengten sich. „Der alte Leuchtturm?” Er griff nach seinem Bierkrug, um nachdenklich hineinzusehen. „Kein schöner Ort. Für einen Ausflug nicht zu empfehlen.” Er nahm einen tiefen Schluck und setzte den Krug dann wieder ab. Seine Hand war ein kleineres Abbild des gesamten Mannes: schlank, aber muskulös.

„Der Turm ist vor dreißig Jahren aufgegeben worden”, fuhr der Büttel fort, „unmittelbar, nachdem die Sirenen sich draußen auf Valstrom eingenistet hatten. Ich meine, wer braucht auch einen Leuchtturm an einer Küste, an der die Schiffe ohnehin woanders zerschellen, nicht wahr?” Er setzte ein derbes Lachen hinterher.

Varamur lächelte, blieb aber ansonsten ernst. „Hat der Leuchtturm die ganze Zeit leer gestanden?”

„Nein.” Der Büttel schüttelte den Kopf. „Vor fünf Jahren kam dieser Magier aus Fardasse, dieser Dra... Dre... Drahnier hieß er. Magister Drahnier von der Akademie in Fardasse. Er siedelte sich dort an, solange er sich hier seinen Studien widmete.”

„Er wollte freiwillig dort leben? In einer Ruine?” Varamurs Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Damals noch nicht.” Der Büttel nahm einen weiteren Schluck aus seinem Krug. „Der Sturm, der den Bau zerlegte, kam erst später. Aber vielleicht solltet Ihr Euch lieber mit Elna unterhalten, unserer Priesterin. Sie ist die Einzige, die seitdem regelmäßig die Ruine aufsucht.” Der Büttel drehte sich halb um und deutete schließlich in eine bestimmte Richtung. „Da drüben sitzt sie. Der vollschlanke Rotschopf da hinten, seht Ihr?”

Varamur nickte. „Kaum zu übersehen. Ich werd’ sie gleich mal ansprechen, danke. Aber eine Frage noch: Wisst Ihr, welchen Studien sich der Magier widmen wollte?”

Der Büttel zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, hol’s der Schatten! Er war so ein komischer, kleiner Kauz, der mehr in Diagrammen redete als in Worten. Wenn er mal hier in der Schänke war – was vielleicht einmal alle zwei Monde vorkam –, sprach er von kaum etwas Anderem als seinen Studien, aber schlauer war hinterher keiner von uns.”

Mit einem Grinsen warf Varamur einen raschen Blick zur Theke. „Tja. Magier! Wie dem auch sei, ich danke Euch, äh –”

„Keldroc”, beantwortete der Büttel die unausgesprochene Frage. „Und wo wir schon beim Vorstellen sind ...”

„Varamur.”

„Keine Ursache, Varamur.” Der Büttel lächelte unverbindlich. „Aber wenn Ihr eine Gegenfrage erlaubt: Warum interessiert Ihr Euch für den Turm?”

„Weil ich gerade für jemanden arbeite, der dort einziehen will.” Varamur drehte sich um und deutete auf Jeral, der immer noch am Tresen stand. Der Magier hatte inzwischen die Kapuze seiner dunkelblauen Robe zurückgeschlagen, sodass ihm das aschblonde Haar frei auf die Schultern fiel. In seiner gewohnten, niedergeschlagenen Haltung hing er halb über dem Tresen, während er dem Wirt sein Herz ausschüttete.

Mit einem Stirnrunzeln musterte ihn der Büttel. „Wie heißt der Kerl?”

„Jeral Nerigon”, antwortete Varamur. „Von der Magierakademie Fardasse.”

Der Büttel presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder seinem Bier zu. „Jetzt weiß ich wenigstens, wo auf dieser Welt die Verrückten gezüchtet werden. Oder würdet Ihr zwei von zwei für einen Zufall halten?”

Varamur lachte. „Kaum. Nun gut, äh, Keldroc, nochmals vielen Dank.” Er griff nach seinem Bier und erhob sich.

„Keine Ursache”, nickte der Büttel und sah Varamur nach, während sich dieser auf die Priesterin zu durch die Menge arbeitete.

„Herein.”

Der leise Klang von Harfensaiten drang ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Varamur betrat die Kammer und nahm rasch das Innere in Augenschein, ehe er den eichenen Türflügel wieder hinter sich zu zog.

Jeral hatte seine Robe ausgezogen und saß – oder, besser gesagt, hing –, nur mit Hemd, Schurz und Hosen bekleidet, in einer halb liegenden Haltung quer auf dem Bett. Von den Schultern, die schlaff gegen die Wand lehnten, bis zu den Füßen, die vor dem Bett auf dem Boden auflagen, drückte jeder Zoll seines Körpers Niedergeschlagenheit aus. Seine Finger fuhren gedankenverloren über die Saiten seiner Harfe, während seine vom Wein umnebelten Augen Varamur fragend entgegen blickten.

Varamur verzog verächtlich das Gesicht und lehnte sich lässig, mit verschränkten Armen, gegen die geschlossene Tür. „Ich bin wegen der Bezahlung für morgen gekommen, Jeral”, erklärte er und fragte sich im Stillen, ob dieses betrunkene Wrack überhaupt imstande war, seinen unterkühlten Tonfall wahrzunehmen, geschweige denn, zu deuten.

Der Magier senkte den Blick wieder auf die Harfe. „Morgen früh, hatten wir gesagt.” Seine Stimme war leise und schleppend, aber zumindest die Deutlichkeit seiner Aussprache hatte nicht unter dem Wein gelitten.

Varamur ließ ein sarkastisches Lächeln sehen. „Tut mir leid, aber ich werde einen Vorschuss brauchen, um einen zweiten Kämpfer anzuwerben.”

„Hmh?” Der Magier hob den Kopf jetzt doch wieder. Seine Augen verengten sich und das Spiel seiner Finger auf der Harfe verebbte. Sein Verstand brauchte einen Moment, um wieder so weit in Gang zu kommen, dass er entgegnen konnte: „Wozu?”

Varamur seufzte; sein Sarkasmus war hier wirklich verschwendet. „Was wisst Ihr darüber, was in dem alten Leuchtturm haust?”

„Freie Geister”, meinte der Magier mit einem Achselzucken.

„Kobolde. Schemen. Was sich im Gefolge mächtigerer Geister wie der Sirenen so ansammelt.”

„Ist Euch je der Gedanke gekommen”, fuhr Varamur fort, „dass sich dort auch etwas ... Größeres angesiedelt haben könnte?”

„Kaum.” Jeral schüttelte den Kopf. „Würden die Sirenen nicht dulden. Nicht in ihrem Revier.”

„Nun, sie tun es offensichtlich.” Varamur machte eine Kopfbewegung in Richtung Schankraum. „Ich habe mich mit der hiesigen Priesterin unterhalten. Sie konnte mir glaubhaft versichern, dass sich in der Ruine des alten Leuchtturms eine finstere Macht angesiedelt hat. Nichts vom Format der Sirenen, aber doch deutlich mehr als ein paar” – er lächelte knapp – „Kobolde oder Schemen. Stark genug, um sie zu veranlassen, Abwehrzeichen um die Ruine zu ziehen und regelmäßig zu erneuern.”

Jeral hielt die trüben Augen eine Weile auf Varamur gerichtet, ehe er sie wieder senkte und erneut anfing, Melodien auf seiner Harfe zu zupfen. „Unmöglich”, murmelte er. „Vielleicht mehr freie Geister als normal, aber ... nichts Stärkeres. Die Sirenen würden hier keine Rivalen dulden.”

„Seid Ihr sicher?”

„Ja!” Allein die Gereiztheit, mit der Jeral das Wort aussprach, strafte ihn Lügen.

Varamur hob spöttisch die Augenbrauen. „Oh? Na schön – aber das macht in meinen Augen keinen Unterschied. Ob jetzt größere Geister als erwartet oder mehr, Ihr werdet entweder einen zweiten Kämpfer brauchen oder einen anderen – ich bin jedenfalls nicht bereit, Euch morgen allein in den Turm zu begleiten.”

Das veranlasste Jeral, hochzuschrecken. „Wir haben einen Vertrag!”

„Den ich nicht zu brechen gedenke.” Varamur verbannte den spöttischen Tonfall aus seiner Stimme und wurde ernst und nachdrücklich. „Ihr habt mich angeworben, Jeral, um Euch auf der Herreise zu eskortieren und während Eures Einzugs in den Turm für Eure Sicherheit zu sorgen. Ich kann und werde aber nur so für Eure Sicherheit sorgen, wie ich es für richtig halte. Ich bin kein Anfänger, Jeral. In mehr als einem der Verliese, die ich ausgehoben habe, trieben freie Geister ihr Unwesen; ich habe gelernt, ihre Spuren zu deuten. Die Beschreibung der Priesterin hat Hand und Fuß. In diesem Turm lauert vermutlich mehr, als Ihr erwartet – es sei denn, die Priesterin hat mir ein gut ausgedachtes Märchen erzählt, was ich stark bezweifle. Lasst mich einen zweiten Kämpfer anwerben!”

„Na schön, in Henkers Namen ...!” Jeral legte die Harfe beiseite und lehnte sich zum Fußende des Bettes hinüber, wo er seine Robe abgelegt hatte. Er kramte die Geldbörse aus den Falten der Robe und schüttelte eine Anzahl Silbermünzen auf seine Handfläche. Dieser verdammte Söldner sollte endlich wieder gehen und ihn in Frieden lassen! „Wie viel braucht Ihr?”

„Ein halbes Kigar sollte als Vorschuss reichen.” Lächelnd sah Varamur zu, wie Jeral die Münzen abzählte. Als der Magier fertig war und ihm, immer noch auf dem Bett sitzend, die Münzen hinhielt, blieb Varamur stehen, wo er war. Sollte Jeral doch einmal etwas Format beweisen und ihm das Silber vor die Füße werfen!

Umständlich, mit unsicheren, fahrigen Bewegungen, erhob sich der Magier vom Bett und kam zu ihm hinüber. Varamur hielt knapp die Hand auf. Klimpernd ergoss sich das Silber hinein.

„Seid bedankt”, höhnte Varamur und wandte sich wieder der Tür zu. „Noch einen schönen Abend, Magier!”

Jeral brummte eine unverständliche Antwort und drückte die Tür hinter dem Kämpfer ins Schloss. Draußen entfernten sich seine Schritte und gingen rasch in das Knarzen der Treppe über. Langsam sank Jerals Stirn gegen das Holz der Tür. Einige Strähnen seines Haares fielen ihm ins Gesicht.

Die Erinnerung an liebevolle Finger fuhr ihm durch das Haar, über den Nacken ...

Heftig stieß er sich von der Tür ab und strich sich die wirren Strähnen aus der Stirn. Hastig stolperte er quer durch den Raum zum Fenster. Seine Finger rissen mit groben, ungeschickten Bewegungen die Riegel aus ihren Ösen, ehe er die Fensterläden mit einem heftigen Stoß hinaus beförderte.

Krachend schlugen sie gegen die Außenwand der Herberge. Ein Schwall eisiger Nachtluft versetzte ihm eine ernüchternde Ohrfeige.

Er stützte sich auf den Fensterrahmen und sog mit tiefen Zügen die feuchte Kälte in seine Lungen, die der Wind mit sich brachte. Das Frösteln auf seiner Haut ignorierte er. Sein Kopf wurde klar, und langsam öffnete er wieder die Augen. Sein Blick streifte über die Lichter des Dorfes hinweg und verlor sich im konturlosen Dunkel dahinter, aus dem ihm der langsame, gleichmäßige Atem des Meeres entgegentönte.

Irgendwo dort draußen liegt Valstrom, ermahnte er sich. Der Felsen der Sirenen. Das ist der Grund, warum ich hier bin.

Sonst nichts!

Er starrte hinaus in die Schwärze, bis Gänsehaut seine Arme überzog und der Wind sein Haar hoffnungslos verknotet hatte. Trotzdem beherrschte noch immer ein anderes Bild seine Gedanken, als er die Läden endlich wieder schloss und zu seinem Bett zurück schlurfte.

2

„Na schön, dann kannst du mir ja jetzt sagen, warum du mich wirklich angeworben hast.”

Varamur wandte sich grinsend seinem Partner zu. Er hatte mit dieser Frage gerechnet, sodass er sich auch keine große Mühe gab, die Ironie aus seiner Antwort herauszuhalten.

„Wie kommst du darauf, Olte, ich könnte irgendwelche verborgenen Motive haben?”

Oltes brauner Vollbart teilte sich, als er das Grinsen erwiderte. Solange er im Sattel saß, ließ ihn der schiere Umfang seines Brustkorbs wie einen Riesen erscheinen; auf eigenen Füßen dagegen war der Nordländer kaum mittelgroß, gut einen halben Kopf kleiner als Varamur. Dennoch ließ schon der erste Eindruck von seinem Körperbau und seinen Bewegungen keinen Zweifel daran, dass er mit der Axt in seinem Gürtel umzugehen vermochte.

„Entschuldige”, erwiderte Olte. „Wie konnte ich nur daran zweifeln, dass einzig und allein die Sicherheit jenes Ehrenmannes dort dir am Herzen liegt?” Er machte eine Kopfbewegung nach vorne, wo ihnen Jeral im Moment gut zwanzig Schritt vorausritt. Der Magier saß mit hängenden Schultern im Sattel und schien intensiv den schmalen Pfad anzustarren, der sich vor ihm durch das winterwelke Gras schlängelte. Der Seewind ließ seine Robe wie eine große, blaue Fahne nach links hinüberwehen und trug das Rauschen der nahen Wellen laut genug heran, um ihre Worte zu übertönen, lange bevor sie Jerals Ohren erreichten.

„Nun, seine Sicherheit ist mein Beruf”, meinte Varamur achselzuckend, „aber meine liegt mir am Herzen.”

Olte warf noch einen Blick auf die traurige Gestalt des Magiers und nickte. „Du traust ihm nicht?”

Varamur verzog das Gesicht. „Sagen wir, ich betrachte einen versoffenen Jammerlappen nicht gerade als guten Begleiter, um ein Verlies zu erkunden – insbesondere, wenn ich einen Teil meiner Aufmerksamkeit darauf abstellen muss, auf seinen Rücken aufzupassen. Wenn wir da drin” – er deutete in Richtung der Turmruine, die gerade wieder von einer Hügelkuppe verdeckt wurde – „tatsächlich auf Schwierigkeiten stoßen, hätte ich ganz gern jemanden dabei, der meinen Rückzug deckt – und nicht verzögert.”

Olte runzelte die Stirn. „Moment mal, heißt das etwa, du würdest ihn tatsächlich da drin zurücklassen?”

„Blödsinn!” Varamur schüttelte den Kopf. „Du weißt so gut wie ich, wie weit man in unserem Metier kommt, wenn man seine Verträge bricht. Ich würde ihn nur dann zurücklassen, wenn ich keine Chance sähe, ihn lebend herauszubringen. Aber weißt du ...” Nachdenklich betrachtete er wieder Jerals Rücken. „Ich zweifle ein wenig daran, dass er überhaupt gesteigerten Wert darauf legt, lebend herauszukommen. Und unter Einhaltung eines Vertrages verstehe ich nicht, mit meinem Auftraggeber zu sterben, nur weil er gerade Lust drauf hat.”

Das Grinsen war von Oltes Gesicht verschwunden. „Wenn du glaubst, dass es da drin so garantiert tödlich ist, was soll ich dann von dir als Auftraggeber halten?”

Varamur lachte. „Ich habe die Absicht, das Jahreswendfest nächste Woche noch zu erleben, verlass dich drauf! Und du wirst doch wohl keine Angst vor irgendeinem Verlies haben, oder?”

Statt einer Antwort klopfte Olte auf den Stiel seiner Axt und ließ ein selbstsicheres Lächeln sehen. „Ich war immerhin bei der Gruppe dabei, die den Schatz des Nardar-Tempels von Oraskai geborgen hat!”

„Ach, du auch?” Varamur schmunzelte. „Seltsam, dass wir uns nicht getroffen haben.”

Die beiden Kämpfer tauschten einen Blick, ehe sie in ein gemeinsames Lachen ausbrachen.

Der Runenstein war eine unauffällige Schieferplatte, dreißig Schritt von den Mauern des Turms entfernt im hohen Gras verborgen. Das eingeritzte, vielfach verschlungene Zeichen zeigte erste Anzeichen von Verwitterung; einem weniger aufmerksamen Betrachter wäre dies völlig unverdächtig vorgekommen.

Doch Varamur erinnerte sich nur zu deutlich der Worte der Priesterin, denen zufolge sie jeden Mond einmal hierher kam, um die Zeichen zu erneuern. Und selbst das raue Klima der Küste ließ eine in Stein geritzte Rune nicht binnen eines Mondes sichtbar verwittern.

Varamur erhob sich wieder aus der Hocke und sah nachdenklich zu dem Turm hinüber. Im perlmuttfarbenen Licht, das diffus aus den Wolken herab schien, wirkte das Gemäuer wie ein harmloses Relikt früherer Zeiten. Bis hinauf zum zweiten Obergeschoss war es – zumindest von außen besehen – noch vollständig intakt; erst oberhalb davon war es schräg abgebrochen, das dritte Geschoss zur Turmplattform entblößt, die nur nach Südosten hin noch von einer fast zwei Manneslängen hohen Mauer geschützt wurde; nach Nordwesten dagegen war die Mauer geborsten und ein gewaltiger Haufen von Steintrümmern schmiegte sich auf dieser Seite an den Fuß des Turms. Der Trümmerhaufen ging nahtlos in den Hang über, der an dieser Stelle steil hinabführte, um unten zum Sandstrand abzuflachen.

Ein Knirschen hinter ihm ließ ihn herumfahren; in einer unbewussten Geste schnellte die Hand zum Schwert, ehe ihn der Griff ins Leere daran erinnerte, dass er es im Moment nicht bei sich trug.

„Ich bin fertig”, sagte Jeral und hielt ihm die Waffe mit dem Griff voran entgegen.

Varamur presste die Lippen aufeinander. „Magier, wenn Ihr das nächste Mal von hinten an mich herantretet, solltet Ihr Euch laut und vernehmlich räuspern; es ist nicht gesund, sich an mich anzuschleichen.” Er langte nach dem Schwert und nahm es dem Magier aus den Fingern; es schien in seiner Hand zu vibrieren und er machte probehalber ein paar Schläge durch die Luft. Dass er Jerals Gesicht nur um Haaresbreite verfehlte, war kein Versehen, und das hastige Rückwärtsstolpern des Magiers quittierte er mit einem belustigten Lächeln.

„Wie lange, schätzt Ihr, hält Euer Zauber?”, fragte Varamur mit einem prüfenden Blick auf die Klinge.

Jeral hob kurz die Schultern. „Es ist – leider – ausgesprochen guter Stahl; die Magie gleitet ziemlich schnell daran ab.

Wenn Ihr Euch mit Geisterwesen anlegen wollt, solltet Ihr dies innerhalb der nächsten zwei Stunden tun.” Mit einem erneuten Schulterzucken fügte er hinzu: „Die Axt Eures Kameraden hat mir deutlich weniger Probleme bereitet.”

Varamur bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Dass der Magier offenbar nicht einmal gewusst hatte, dass man für Schwerter weitaus besseren Stahl brauchte als für Äxte, überraschte den Kämpfer kaum, war aber nicht dazu geeignet, sein Vertrauen in die Verzauberung der Waffe zu festigen. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete er wieder den Turm. „Zwei Stunden also. Dann sollten wir uns beeilen.” Er drehte sich zu dem nahen Hügel um, auf dem sich Olte als Wache postiert hatte, und winkte hinauf. Es dauerte einen Moment, bis Olte in seine Richtung sah, dann kam er hinunter.

Varamur zog die Riemen seines metallbeschlagenen Lederpanzers fest, den er bis jetzt geöffnet getragen hatte, und straffte den Kinnriemen seines Helms, ehe er sich wieder Jeral zuwandte. „Was ist mit Eurem Schwert?”, fragte er und deutete auf die Waffe, die der Magier umgegürtet hatte.

Jeral umfasste den Griff mit der Linken. „Was soll damit sein?”

„Habt Ihr es vorher schon mit Eurem Zauber belegt? Ich habe Euch gerade nicht damit hantieren sehen.”

Jeral schüttelte den Kopf. „Ich werde es auch nicht verzaubern. Das wäre bei einem arkanen Schwert nicht besonders klug.”

„Arkan ...? Ich verstehe.” Varamur ließ sein zynisches Lächeln sehen. „Ich hätte mir denken können, dass Ihr die Waffe nicht zum Kämpfen tragt.”

Jeral schien etwas entgegnen zu wollen, wich dann aber Varamurs Blick aus und schloss den Mund, ohne ein Wort gesagt zu haben. Schweigend sah er an Varamur vorbei, Olte entgegen, der bereits bis auf wenige Schritte heran war.

„Reichlich öde Gegend”, bemerkte Olte, als er zu ihnen trat.

„Wenn sich hier jemand anschleichen wollte, könnte man ihn eine Meile vorher schon sehen.”

„Gut zu wissen.” Jeral rang sich bei diesen Worten ein schwaches Lächeln ab, das aber nicht mehr war als eine fadenscheinige Maske. „Gehen wir.”

Sie traten an dem Runenstein vorbei und näherten sich dem Turm.

Der Eingang zum Turm war nur noch eine gemauerte Türöffnung; der Türflügel lag im Inneren auf dem Boden. Staub und Dreck hatten sich angesammelt und die Luft im Erdgeschoss war feucht und abgestanden.

Das Erdgeschoss war ein großer, runder Raum, dessen Symmetrie nur vom unteren Ende der Wendeltreppe auf der vom Eingang gesehen linken Seite durchbrochen wurde. Neben der Treppe aufgetürmt lag ein großer Stapel Holzscheite, den anscheinend die mutwillige Hand eines riesigen Kindes irgendwann umgeworfen hatte; jedenfalls war sein oberes Ende ein unordentlicher Haufen und eine beachtliche Anzahl Scheite lag ungleichmäßig im ganzen Raum verteilt. Stellenweise überzogen Moos und Flechten die Scheite und die Steinmauern.

Ansonsten tat der Turm sein Möglichstes, um die Warnungen der Priesterin zu bestätigen: Es gab keine Spinnweben; keine verpuppten Insektenlarven, die auf den Frühling warteten; nicht einmal ein Häufchen Dung von einer Eidechse. Tiere mieden diesen Ort. Varamur hatte genug Verliese gesehen, um dies als Zeichen für die Anwesenheit von Geistern zu deuten.

Er behielt das bloße Schwert kampfbereit in der Hand, während er die Treppe zum ersten Stock hinauf stieg.

Hier hatte sich offensichtlich das Quartier der früheren Leuchtturmwärter befunden: Ein Bettrahmen, ein umgestürzter Schrank und ein paar im Raum verstreute Möbel ließen etwas von der früheren Gemütlichkeit dieses Raumes ahnen. Der Boden war mit Fellen, Scherben von Tongefäßen, Küchenbesteck und anderen Gebrauchsgegenständen übersät. Unter einem Rauchabzug, der direkt in die Wand mündete, befand sich eine große, rußgeschwärzte Feuerstelle.

Ein ähnliches Bild der Verwüstung bot sich im zweiten Stock, der früher als Lagerraum genutzt worden zu sein schien: Geborstene Fässer und Kisten lagen wild durcheinander und die verschimmelten Reste verschiedener Lebensmittel klebten an Boden und Wänden. Sie fanden auch Flecken von rätselhafteren Substanzen, die Jeral nach kurzer Untersuchung als verdorbene Reste magischer Elixiere identifizieren konnte. Angesichts der Tatsache, dass der letzte Bewohner dieses Turms Magister Drahnier von der Magierakademie gewesen war, überraschte dieser Fund niemanden.

Ab hier war die Treppe mit Steintrümmern übersät. Die letzten Stufen hinauf in den dritten Stock waren fast in voller Breite verschüttet, sodass man nur einzeln an dieser Stelle vorbei kam. Varamur passierte sie in voller Verteidigungsbereitschaft, jederzeit bereit, die magisch vibrierende Klinge in eine plötzlich auftauchende Dämonenfratze zu stoßen.

Doch nichts geschah. Wenige Augenblicke später standen sie zu dritt unter freiem Himmel. Der noch stehende Rest der Mauer, an dem sich die Wendeltreppe bis zur Abbruchkante entlang zog, warf seinen Schatten auf die Turmplattform, die früher einmal das Innere eines Raumes gewesen war. Schutt und größere Trümmerstücke bedeckten den Boden und boten genug Verstecke für ein Dutzend Männer.

„Das gefällt mir nicht”, meinte Olte. „Zusammen mit der Engstelle an der Treppe ist das hier eine perfekte Falle.”

Varamur nickte, ohne die Augen von der Trümmerlandschaft vor sich zu nehmen. „Übernimmst du die Treppe?”

Ohne ein weiteres Wort verschwand Olte wieder nach unten.

„Valstrom.”

„Hm?” Varamur warf einen schnellen Seitenblick auf Jeral, der den Blick zur offenen Seite der Plattform hin gerichtet hielt und auf das Meer hinaus spähte.

„Der dunkle Streifen dort am Horizont”, fügte der Magier hinzu und deutete aufs Meer hinaus. „Das muss Valstrom sein.”

Varamur ignorierte ihn. Vorsichtig ging er auf ein größeres Trümmerstück zu, um es mit einem raschen Satz zu erklimmen. Die erhöhte Position bot ihm Einblick in die meisten möglichen Verstecke zwischen den Trümmern. In die meisten. Aber nicht in alle.

„Glaubt Ihr im Ernst, dass Gefahr droht?”, rief Jeral zu ihm hinüber.

Varamur ließ einen unduldsamen Seufzer hören. „Lenkt mich nicht ab, Magier! Und sucht Euch einen erhöhten Standort! Ich möchte nicht, dass Ihr –”

Er sah die Bewegung zu spät, um sich noch zu ducken.

Der geworfene Stein prallte mit metallischem Klang von den Metallschuppen ab, die seine Schulter schützten. Trotzdem war der Schlag noch heftig genug, um ihn rückwärts torkeln und stürzen zu lassen. Das Schwert fiel ihm aus der Hand, als er die Arme hochriss, um den Kopf gegen den Anprall zu schützen. Schmerz schoss durch seine Halswirbel, als er es nicht schaffte, sich auf dem unebenen Boden vernünftig abzurollen.

Jerals Alarmschrei und das Scharren, mit dem der Magier sein Schwert aus der Scheide zog, rissen ihn aus seiner Benommenheit. Varamur zwang sich, auf die Beine zu kommen und den Schmerz in seinem Nacken zu ignorieren. In welche Richtung war sein Schwert geflogen, verdammt!?

„Was ist los?” Oltes Stimme. Varamur verlor keine Zeit damit, sich nach ihm umzudrehen, sondern suchte zwischen den Trümmern nach seinem Schwert.

„Ein Skelett, glaube ich”, erklärte Jeral schnell, aber ohne Hast. „Es warf einen Stein auf Varamur – von da hinten ungefähr ...”

Da!

Varamur tat zwei schnelle Schritte, griff nach dem Schwert – ... und riss es eine Spur zu langsam herum, um den Hieb abzuwehren, der unvermittelt von schräg hinter ihm auf ihn zu raste. Eine Linie aus Schmerz zog sich über seinen rechten Oberschenkel und er brach in die Knie.

„Es ist hier!”, schrie er und warf sich herum, um dem nächsten Hieb auszuweichen. Klirrend prallte der Säbel dort gegen einen Steinquader, wo eben noch sein Hals im Weg gewesen wäre. Das Skelett stand über ihm; die großen, runden Augenhöhlen ließen das Grinsen des geborstenen Totenschädels beinahe freundlich erscheinen.

In tödlichem Bogen sauste die Klinge erneut auf ihn herab. Es gelang Varamur, den Hieb abzufangen, ehe er ihm den Schädel spaltete, doch die Wucht der Parade prellte ihm die Waffe aus der Hand. Verzweifelt trat Varamur mit dem gesunden Bein nach dem Knie des Skeletts und brachte es damit für einen Moment aus dem Gleichgewicht.

Olte kam um die Ecke und das Skelett ließ von Varamur ab, um sich dem neuen Gegner zu stellen. Der Nordländer machte eine Finte, wehrte den Hieb des Skeletts ab und holte zum Schlag aus.

„Auf den Hals, du Idiot!”, brüllte Varamur, als die Axt bereits durch die Luft sauste. Oltes Flankenhieb zerschmetterte dem Skelett einen Großteil der Rippen.

Davon unbeeindruckt, nutzte das Skelett die Blöße, die sich der Nordländer durch seinen Angriff gegeben hatte. Der Lebende zeigte sich gegen Hiebe in die Flanke deutlich anfälliger als der Untote. Die Axt entglitt Oltes plötzlich kraftlosen Händen.

„Lass ab von deinem Streben und verschwinde aus dieser Welt, EKDIKON!”

Der Satz, in scharfem, befehlendem Ton ausgerufen, schien wie Donner nachzuhallen. Das Skelett hielt mitten in der Bewegung inne.

Im nächsten Augenblick mischte sich das Klirren eines fallenden Säbels in das Klappern fallender Knochen.

Es dauerte einen Moment, bis Varamur aus seiner Erstarrung erwachte und langsam den Kopf in die Richtung drehte, aus der die Bannformel gekommen war. Unglaube machte sich in ihm breit und überwand selbst die Gefühlskälte, die ihn im Angesicht des nahen Todes ergriffen hatte. Auf der obersten noch intakten Stufe der Treppe stand Jeral und hielt sein Schwert auf die Stelle gerichtet, an der eben noch das Skelett gestanden hatte.

3

„Nun, es kann niemand sagen, Ihr wäret nicht gewarnt worden, nicht wahr?”

Treguran von Peltern war ein Mann mittleren Alters mit einer Stirnglatze und einer beträchtlichen Leibesfülle; wie er hinter seinem Schreibtisch thronte, in seinem prunkvollen, pelzbesetzten Gewand und mit dem halben Dutzend Ringen an den Fingern, entsprach er dem von Gauklern oft beschworenen Klischee des Bürgermeisters geradezu vollendet. Man konnte leicht vergessen, dass er in Wirklichkeit nur der Vorsteher eines – wenn auch wohlhabenden – Dorfes war.

„Elna, unsere Priesterin, berichtete mir, dass sie Eurem Gefährten ausführlich geschildert hätte, was ihr über den alten Leuchtturm bekannt ist. Dass Ihr den Bannkreis betreten habt, geschah folglich voll und ganz auf Eure eigene Gefahr.”

„Das steht außer Frage, Euer Gnaden”, unterbrach ihn Jeral.

„Und ich bin auch nicht gekommen, um für das Geschehen des heutigen Tages von Euch oder irgendjemandem in Peltern Rechenschaft zu fordern.”

„Ah?” Der Dorfvorsteher hob kaum merklich eine Augenbraue. „Nun, ich hatte den Eindruck. Ihr kamt dermaßen zielstrebig auf jenen ... Untoten zu sprechen ...”

Mit einem Kopfschütteln unterbrach ihn Jeral erneut. „Ja, aber nicht, um Schuldfragen zu klären. Ich wollte schlicht und einfach wissen, was damals an jenem Tag passierte, als der Turm zerstört wurde.”

Treguran von Peltern lehnte sich in seinem Sessel zurück, der mit prachtvollen Schnitzereien über und über verziert war.

„Eine Abschrift des Berichts, den ich damals an meinen Lehnsherrn schickte, erhielt auch die Magierakademie. Ich war davon ausgegangen, Ihr hättet ihn gelesen.”

„Das habe ich”, bestätigte Jeral. „Darin wurde jedoch kein Skelett erwähnt. Nicht einmal eins, das einfach nur herumlag.”

„Es kann durchaus sein, dass es uns damals entgangen ist”, erklärte Treguran. „Nachdem wir festgestellt hatten, dass sein Boot nicht am Strand lag, gingen wir davon aus, dass Magister Drahnier zu einer seiner ... ’Studienfahrten‘ hinausgesegelt war. Daher beließen wir es bei einer oberflächlichen Untersuchung des Turms.”

„Ihr wart Euch sicher, dass außer Drahnier selbst niemand im Turm weilen konnte?”

„So gut wie.” Treguran hob knapp eine Hand zu einer vagen Geste. „Der Magister bekam äußerst selten Besuch, wenn man einmal von den Burschen aus dem Dorf absah, die ihm das Brennholz und die Lebensmittel brachten. Er schien auch keinerlei Wert darauf zu legen.”

„Ihr habt also keine Idee”, fragte Jeral weiter, „wessen Skelett es gewesen sein könnte, das uns in der Ruine angriff?”

„Es war niemand hier aus dem Dorf”, entgegnete der Dorfvorsteher. „So viel kann ich Euch mit Sicherheit sagen. Von den Bewohnern von Peltern wurde an diesem Tag niemand vermisst.”

Jeral schwieg für einen Moment. Es fiel ihm schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, während die Erinnerung an ein Paar grauer Augen auf ihm ruhte ...

„Also gut, fassen wir noch einmal zusammen”, sprach er in der Hoffnung drauflos, die eigenen Gedanken zu übertönen.

„Am 23. Tag des Goldmonds im Jahr 10, etwa um die Mittagsstunde, wird der alte Leuchtturm von einer plötzlichen Sturmbö umgerissen. Der Tag war ansonsten eher schwach windig ...”

„Ich sehe, Ihr habt den Bericht noch gut im Kopf”, bestätigte Treguran.

„Ihr stellt augenblicklich einen Hilfstrupp auf, um eventuell den verletzten Magister Drahnier zu bergen, und macht Euch auf den Weg. Als Ihr sein Boot nicht am Strand vorfindet, geht Ihr davon aus, dass er ausgefahren ist, und kehrt ins Dorf zurück ...”

„Nicht direkt”, unterbrach ihn Treguran. „Wir haben den Turm so weit untersucht, wie es uns ohne schweres Baugerät möglich war, ehe wir umdrehten.”

Jeral überlegte kurz, ehe er fortfuhr: „Und als Magister Drahnier im Lauf der nächsten Tage nicht zurückkehrte? Woher wolltet Ihr wissen, dass er nicht doch unter den Trümmern verschüttet lag?”

Der Dorfvorsteher breitete knapp die Arme aus. „Selbst wenn – was hätten wir tun können?”

„Ihr hättet den Turm ein zweites Mal absuchen können”, meinte Jeral. „Diesmal mit schwerem Gerät.”

Der Dorfvorsteher zeigte ein ironisches Lächeln. „Woher, bitte, hätten wir das nehmen sollen? Peltern ist immer noch ein Dorf, Magister Nerigon ...”

„Adeptus”, verbesserte ihn Jeral.

„Peltern ist immer noch ein Dorf, Adeptus Nerigon”, setzte der Vorsteher erneut an, „also gibt es hier keinen Baumeister. Es gibt hier überhaupt keine Handwerker. Ehe wir nicht das Stadtrecht erlangt haben, dürfen sich hier keine ansiedeln, obwohl es, die Götter singen davon, mehr als genug Arbeit für sie gäbe. Schweres Gerät hätten wir aus der nächsten Stadt herbeischaffen lassen müssen – zehn Tage, bis es eintrifft, vorausgesetzt, der Eilbote kommt gut durch und in Graldacor setzt sich noch am selben Tage ein Handwerkstrupp in Marsch.”

„Um so mehr Grund, den Boten sofort abzuschicken, findet Ihr nicht?”

„Wozu?” Der Dorfvorsteher runzelte verärgert die Stirn. „Selbst wenn Magister Drahnier unter den Trümmern begraben gelegen hätte, wäre sein Leichnam das Einzige gewesen, was man nach zehn Tagen noch hätte bergen können. Derlei konnte durchaus noch bis zum nächsten Totenweihfest warten ...”

„Warum habt Ihr dann nicht zumindest vor dem nächsten Totenweihfest einen Handwerkstrupp zum Turm geschickt?”

„Schon wenige Tage nach dem Einsturz”, erklärte der Vorsteher, allmählich ungeduldig, „stellte unsere Priesterin fest, dass sich im Turm ... etwas eingenistet hatte. Damit erschien es mir zu riskant für die betreffenden Handwerker, sie in den Turm zu schicken – insbesondere, wenn man bedachte, wie gering die Aussicht war, etwas zu finden. Es gab nun einmal keinen Grund zu der Annahme, Magister Drahniers Boot sei ohne ihn losgefahren. Dass sich noch jemand anders im Turm aufhielt, konnte niemand ahnen.”

Jeral nickte. „Womit wir wieder bei der Frage sind, wer dieser Jemand war. Und was ihn dazu trieb, zum Untoten zu werden.”

„Ich denke, die Nähe der Sirenen lockt niedere Geister an?”, fragte Treguran zurück. „Das ist zumindest, was unsere Priesterin mir erklärte. Wir haben hier gelegentlich Probleme mit Spukerscheinungen, wisst Ihr?”

Jeral zögerte mit der Antwort. „Ja, sicher”, meinte er. „Aber das allein ...” Er unterbrach sich. „Sei’s drum. Euer Gnaden, ich danke Euch für Eure Güte, mir meine Fragen zu beantworten.”

„Keine Ursache.” Das volle Ausmaß seiner Leibesfülle wurde deutlich, als sich Treguran von Peltern aus seinem Sessel erhob.

Auch Jeral stand auf und deutete eine Verbeugung an, ehe er sich abwandte und ging. Es tat gut, die Tür hinter sich zu schließen und endlich die selbstsichere Maske fallen zu lassen, deren Aufrechterhaltung ihm gegen Ende des Gesprächs zunehmend schwerer gefallen war; die Anrede ’Euer Gnaden‘ erinnerte ihn an die wenigen Gespräche mit ihrem Vater ...

„So, das sollte halten. Vermeidet es in der nächsten Zeit, das Bein zu belasten.”

Das Kribbeln, mit dem die Magie in sein Bein eingedrungen war, verblasste. Die Priesterin nahm die Hände von der Wunde, tauchte einen Lappen in eine Schale mit Wasser und machte sich daran, vorsichtig das Blut von der Wunde zu waschen. Von unsichtbaren Kräften zusammengehalten, lagen die Wundränder fest aneinander.

Varamur, der die ganze Behandlung ohne mit der Wimper zu zucken über sich hatte ergehen lassen, griff nach seinen Hosen. „Wie geht es Olte?”, fragte er mit einem Blick auf den Vorhang, der den hinteren Teil des Raumes abtrennte.

Die Priesterin zögerte sichtlich; erst jetzt fiel ihm die Erschöpfung auf, von der ihr breites, rundes Gesicht gezeichnet war. „Schlecht”, erklärte sie. „Die Wunde geht tief. Bis in die Leber.”

Varamur nahm es mit ausdrucksloser Miene zur Kenntnis und schwieg. Er war dankbar für die Konzentration, die es ihn kostete, die Hosen überzustreifen, ohne dabei das verletzte Bein allzu sehr zu bewegen.

Als er nach der Krücke griff, um sich von der Liegestatt hochzustemmen, fragte die Priesterin: „Sagt mir eins, Varamur: Was habt Ihr geglaubt, was Euch in der Ruine begegnen würde?”

Er zeigte ein schiefes Zähnefletschen und entgegnete leise:

„Nichts, womit zwei gute Kämpfer nicht hätten fertig werden können.”

Sie erhob sich von dem Hocker neben der Liegestatt, ohne den Blick von ihm zu wenden. Sie war groß, fast so groß wie er selbst, und doppelt so breit dabei; ihre üppigen Körperformen füllten die hellbeige, weit geschnittene Priesterrobe reichlich aus. Der rote, von grauen Strähnen durchschossene Lockenschopf umrahmte ein Gesicht, dessen Alter schwer zu schätzen war; doch zählte sie vermutlich noch keine vierzig Jahre.

„Ihr solltet Euch schonen in nächster Zeit.”

Varamur verzog den Mund zu einem knappen Lächeln. „Ich habe nicht die Absicht, in nächster Zeit an Wettläufen teilzunehmen.” Er wandte sich ab und humpelte, auf die Krücke gestützt, zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Vielen Dank. Und einen schönen Tag.”

„Gleichfalls.” Die Priesterin nickte. „Gute Besserung.”

Er nickte zurück und humpelte hinaus.

Draußen empfing ihn die Kälte des Winters. Der Seewind trug Gischt und den Geruch von Seetang mit sich. Einige Kinder rannten lachend und kreischend über den Dorfplatz; unten am Ufer saß ein alter Mann und starrte aufs Meer hinaus; ein Hund strich schnuppernd um die Ecken der Holzhäuser; als Varamur in Richtung der Straße humpelte, kamen ihm ein paar Frauen vom Wasserholen entgegen. Im Haus der Heilung rang ein Mann mit dem Tod und das Leben ging weiter.

Das Knarzen, als er die Tür der Herberge öffnete, wurde um diese Tageszeit nicht vom Lärm eines vollen Schankraums übertönt; nur zwei Stimmen klangen ihm aus dem großen Raum entgegen und eine davon gehörte Jeral.

„... sicher erwarte ich nicht, dass Ihr Euch nach vier Jahren noch so genau erinnert, aber Ihr werdet doch sicher ein Gästebuch führen?”

Der Wirt fuhr fort, mit dem Lappen eine Tischplatte zu bearbeiten. „Sicher. Aber nennt mir doch mal einen Grund, warum ich es Euch zeigen sollte.” Er richtete sich auf und sah Jeral ins Gesicht. Er war nur etwa mittelgroß, wirkte wegen seines hageren Körperbaus aber etwas größer. Dichte, braune Mähne umgab sein Gesicht und ging nahtlos in einen wild wuchernden Vollbart über. „Ich kann Euch ja nicht einfach alles über meine Gäste erzählen, was Euch – oder mir – gerade passt.” Damit wandte er sich ab und ging zum nächsten Tisch hinüber.

Jeral folgte ihm. „Es geht doch nur darum, wer unmittelbar vor dem Einsturz des Leuchtturms bei Euch übernachtet hat. Ich kenne kein Gesetz, das Euch verbietet, mir das mitzuteilen.”

Der Wirt sah ihn mitleidig an. „Seid Ihr Wirt?”

„Nein.”

„Wenn Ihr den ganzen Gesetzeskram kennen würdet, mit dem unsereins sich herumzuschlagen hat ...” Ein entschuldigendes Lächeln schimmerte durch seinen braunen Vollbart.

„Holt Euch von Keldroc eine Bescheinigung, dass Ihr befugt seid und so. Ansonsten könnte ich Ärger kriegen.”

„Wer ist Keldroc?”, fragte Jeral.

„Der hiesige Büttel”, erklärte Varamur, als er von hinten an den Magier herantrat. Jeral zuckte zusammen, ehe er sich umdrehte.

„Varamur.” Er lächelte schwach. „Hat Euch die Priesterin wiederhergestellt?”

„So weit wie möglich.” Varamur hob kurz die Krücke an und ließ sie mit einem Tock wieder auf die Bodendielen prallen. „Sagt, habt Ihr einen Augenblick Zeit?”

Jeral warf einen unsicheren Blick auf den Wirt, ehe er wieder Varamur ansah. „Worum geht’s denn?”

„Das besprechen wir besser oben auf dem Zimmer”, meinte Varamur und hinkte in Richtung der Treppe davon, ehe der Magier antworten konnte.

Jeral sah ihm einen Moment lang unschlüssig hinterher, ehe er dem Söldner folgte. Die Schnelligkeit, mit der sich Varamur auf seiner Krücke die Treppe hinaufstemmte, zeugte von großer Übung im Umgang mit Verletzungen.

Es waren nur wenige Schritte über den Korridor bis zu Varamurs Zimmer. Der Kämpfer stieß die Tür auf und trat anschließend einen Schritt beiseite. „Nach Euch, Magier.”

Die Kammer, die Jeral betrat, war deutlich kleiner als sein eigenes Zimmer. Den spärlichen Platz zwischen dem Bett und der Truhe teilten sich ein Schemel, ein Nachttopf und eine hölzerne Schüssel mit frischem Wasser. Die Tür schloss sich hinter ihm mit vernehmlichem Quietschen, in das sich das vertraute Scharren mischte, mit dem ein Schwert seine Scheide verließ. Die plötzliche Berührung einer metallisch kalten Spitze im Rücken ließ ihn zusammenzucken.

„Nehmt langsam die Hände in den Nacken, Magier”, erklärte Varamur beinahe im Plauderton. „Schweigt, bis ich Euch zum Sprechen auffordere. Wenn Ihr sprecht, tut es klar und deutlich, damit ich es nicht etwa mit einer Zauberformel verwechseln kann; Ihr versteht sicher, dass ich Euch in diesem Fall niederschlagen müsste.”

Die letzten Worte sprach er in geradezu fürsorglichem Tonfall, in dem jedoch eine Kälte mitschwang, die Jeral erstarren ließ. Zögernd gehorchte er, eher verwirrt denn eingeschüchtert, und hob die Hände zum Nacken.

„Sehr schön, Magier”, spöttelte der Söldner. „Ihr dürft sprechen.”

„Aha”, machte Jeral verunsichert. „Und was wollt Ihr hören?”

Eine Diele knarrte, als der Söldner sein Gewicht verlagerte. „Oh, ich weiß noch nicht genau. Vielleicht ein, zwei Erklärungen, die Euch eine Anklage wegen schwarzer Magie ersparen.”

„Bitte, was?!”

Varamur ließ ein theatralisches Seufzen hören. „Wenn Ihr die gekränkte Unschuld ein andermal spielen würdet, hätten wir diese Sache schneller hinter uns.”

„Wie in Henkers Namen kommt Ihr auf den Gedanken, mich der schwarzen Magie anzu–” Ein harter Schlag gegen die Schläfe ließ Jeral verstummen und trieb ihm die Tränen in die Augen.

„Deutlich reden, habe ich gesagt”, erklärte Varamur mit betonter Gelassenheit. „Fangt am besten einfach damit an, dass Ihr mir sagt, woher Ihr den Namen des Geistes wusstet, dem wir im Turm begegnet sind.”

Dumpf pochte noch der Nachhall des Schlags in seinem Schädel und Jeral musste einen Anflug von Benommenheit niederkämpfen, ehe er entgegnen konnte: „Was meint Ihr damit, ich wüsste den Namen? Wenn ich ihn wüsste, wäre mir deutlich wohler!”

Varamur seufzte. „Treibt keine Spielchen mit mir, Magier! Ihr wusstet ihn schon vorher. Ihr habt ihn laut und deutlich in Eurer Bannformel ausgesprochen.”

Jeral stutzte und musste trotz seiner Schmerzen kichern. „Ekdikon, meint Ihr? Das war kein Name.”

„Sondern?”

„Eine ... grobe Einordnung”, sagte Jeral und rang in seinem Inneren um eine Erklärung, die auch ein der Magie Unkundiger verstehen konnte. „Ein Ekdikon ist, vereinfacht ausgedrückt, ein Dämon der Rache.”

„Und woher wusstet Ihr, dass es sich um einen ... Ekdikon handelte?”

„Es war ein Versuch auf gut Glück”, erwiderte Jeral. „Von drei freien Untoten sind zwei von einem Ekdikon beseelt. Außerdem passte das Verhalten – ein Ekdikon, der lange Zeit eingesperrt war, greift wahllos jeden Sterblichen an, der in seine Nähe kommt. Und es erklärt, wieso die Sirenen ihn in ihrer Nähe dulden.” Er machte eine Pause, um Luft zu holen.

„Wieso sollte es das erklären?”, setzte Varamur unerbittlich nach.

„Ein Ekdikon ist in dem Sinne kein freier Geist”, erläuterte Jeral. „Er wurde durch die Rachsucht eines Sterblichen beschworen und trachtet nur nach einer bestimmten Seele, nämlich derjenigen, der die Rache gilt. Damit ist er für die Sirenen kein Konkurrent auf der Jagd.”

„Sehr schön, sehr schön”, höhnte Varamur. „Ich sehe, Ihr habt Fantasie, sofern es Ausreden angeht. Aber wie wollt Ihr erklären, dass es Euch gelang, einen solchen Dämon mit einem einzigen, rasch improvisierten Bannspruch auszutreiben?”

„Spricht etwas dagegen?”

Varamurs Stimme wurde zu einem Knurren. „Ja, es spricht etwas dagegen. Jeral Nerigon, ich war bereits mit vielen Magiern zusammen unterwegs. Keiner von ihnen war zu dem imstande, was ich heute früh von Eurer Hand gesehen habe.”

„Ich nehme es als Kompliment”, erwiderte Jeral. „Und?”

„Zum Bannen eines Dämons braucht es Vorbereitungen”, fuhr Varamur fort. „Ein Dreieck, einen Schutzkreis, naja, das wisst Ihr sicher besser als ich. Ihr brauchtet nichts von alledem.” Der Druck der Schwertspitze in Jerals Rücken verstärkte sich. „Das legt für mich den Schluss nahe, dass der Dämon schon vorher unter Eurem Befehl stand, Magier. Ich weiß nicht, was Ihr mit dieser ... Inszenierung beabsichtigt, aber ein guter Kämpfer wurde deswegen schwer verletzt. Es geht Olte nicht gut, Magier. Überhaupt nicht.”