Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Loralys ist eine Göttin. Jedenfalls ist sie als Sternenfahrerin des Supremats gewohnt, als solche verehrt zu werden - auf Planeten, denen ihre "Götter" moderne Wissenschaft und Technik vorenthalten. Eine Gruppe unabhängiger Sonnensysteme hat sich zur Justizunion zusammengeschlossen und wehrt sich dagegen, vom Supremat auf das Niveau der Antike zurückgeworfen zu werden. Bei einer Schlacht um einen Außenposten gerät Loralys in die Hände der Union. Als Gefangene an Bord des Raumschiffs Wahrhaftigkeit findet die junge Pilotin etwas über die Pläne ihrer Feinde heraus: Eine Kommandomission soll einen Kolonieplaneten des Supremats infiltrieren. Jede sich bietende Gelegenheit nutzend, spioniert sie die Vorbereitung der Mission aus - ohne zu ahnen, welche Rolle sie selbst in den Plänen ihrer Bewacher spielt ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 490
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Lukas,
der mir das Tor in die
Zukunft wieder aufstieß
SAGITTARIUS-KRIEG – zusammenfassende Bezeichnung für eine Reihe milit. Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in der Sagittarius-Bank. Kriegführende Parteien waren die Unionsflotte (vgl. Justizunion) und das Supremat.
Die Datierung des genauen Beginns ist Gegenstand kontroverser Diskussionen unter Historikern. Dem eigentlichen Krieg ging eine Phase der Freibeuterei gegen das Supremat unter Duldung der Kurflotte voran. Vom Beginn eines regelrechten Krieges zwischen zwei klar benennbaren Parteien spricht die Mehrheit der Historiker ab dem Zusammenschluss mehrerer Kolonien um das Lykurg-System zur Justizunion gegen Ende des 54. Jahrhunderts. Umstritten bleibt, ab welchem Punkt die Unionsflotte tatsächlich den Charakter einer hierarchisch aufgebauten, militärischen Organisation angenommen hatte. Auch wenn die Unionsverfassung von Anfang an festschrieb, dass [...]
Eine überraschende Wendung nahm der Sagittarius-Krieg nach der Schlacht bei Drake 4. Bis dato ein unbedeutender Nebenkriegsschauplatz, wurde das System danach zum Ausgangspunkt einer militärischen Operation, die den weiteren Verlauf des Krieges maßgeblich beeinflusste [...]
- klerikale Enzyklopädie der Kurflotte
Teil I: Informationsgewinnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil II: Missions vorbereitung
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Im ersten Augenblick begriff sie gar nicht, dass das Zischen in ihren Helmlautsprechern das Geräusch war, auf das sie gewartet hatte. Noch immer saß ihr der Schock im Nacken, dass dieses Piratenpack von der Union allen Ernstes die orbitale Verteidigung überwunden und es bis in den Stützpunkt geschafft hatte. Nachdem die Erschütterungen der fernen Explosionen verebbt waren, hatten die Stunden zermürbenden Wartens ihr Übriges getan, sie in Halbschlaf zu versetzen.
Nun aber durchdrang ein Zischen die Stille, und auf ihrem Visier gerieten Licht und Schatten in Bewegung. Automatisch blickte sie auf und spähte durch die transparente Kuppel ins All hinauf; doch der rötliche Zentralstern des Drake-4-Systems leuchtete friedlich vor sich hin, ohne dass irgendetwas auf einen erneuten Ausbruch hingedeutet hätte. Das gemächliche Brodeln der Eruptionen rund um den Rand der Sonnenscheibe hatte nichts mit dem Flimmern vor ihren Augen zu tun. Es war Staub – Staub, der ihr über die Helmscheibe trieb, Staub, den ein Luftzug nun überall in der Halle in Bewegung setzte. Vor jedem Ventilationsgitter bildeten sich Strahlenmuster in dem grauen Belag auf dem Boden. Der Staub wehte durch die Laufgänge, von den Geländern der Galerien herab und unter den kolossalen Aufbereitungskesseln hindurch, anfangs nur in knöchelhohen Schlieren, die sich jedoch mit zunehmendem Atmosphärendruck zu wirbelnden Wolken aufzubäumen begannen.
Loralys’ Blick schnellte zu dem mechanischen Druckmessgerät an ihrem linken Unterarm. Die Nadel passierte gerade die 350 Hektopascal und umrundete das Ziffernblatt zügig weiter: 400 Hektopascal ... 450 ... 500 ... Kein Zweifel, erkannte sie endgültig, das Habitat wurde geflutet.
Und das bedeutete, sie hatte eine Chance zu entkommen.
Wenn sie die aber nutzen wollte, dann sollte sie sich langsam in Bewegung setzen. Mit einem hastigen Griff löste sie den Schlauch der Notversorgung von ihrem Brustventil und schloss sofort wieder die Augen, um tief durchzuatmen. Noch hatte sie Zeit, ermahnte sie sich und warf einen erneuten Blick auf den Druckmesser: 600 ... 650 ... Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis die Trupps der Union ausschwärmten, und selbst dann würden sie nicht sofort bis hierher zur Aufbereitungsanlage vorstoßen. Sie zwang ihre Hände zur Ruhe, ehe sie den Schlauch zurück in seine Halterung hängte und den Schalter an ihrem Kragen drehte. In das Zischen von draußen mischte sich ein kurzes Fauchen, als ihr Anzug von der externen auf die interne Sauerstoffversorgung wechselte. Die Flaschen auf ihrem Rücken waren prall gefüllt und sie würde bis zu zwölf Stunden durchhalten können, ehe sie nachtanken musste. Erneut ging ihr Blick zur Skala an ihrem Arm: 750 ... 800 ... Heftig wirbelte der Staub durch den Saal, doch das würde nicht mehr lange so bleiben. Wenn sie wollte, dass die Spuren, die sie hinterlassen würde, sofort wieder zugedeckt wurden, dann musste sie sich jetzt ein Versteck suchen.
Mit langen, flachen Sprüngen durchquerte sie den freien Platz in der Mitte der Halle, zwischen zwei Bottichen in der Größe von Shuttles hindurch und zu der Leiter, die auf die Galerie hinaufführte. Ständig prüfte sie im Hinterkopf, ob ihr in ihren Überlegungen kein Fehler unterlaufen war. Wenn die Unionskämpfer das Habitat fluteten, so sagte sie sich erneut, dann konnte das nur bedeuten, dass sie selbst aus ihren Raumanzügen steigen wollten. Und das würde kein Angreifer bei klarem Verstand tun, solange er noch davon ausging, dass sich in der Station Verteidiger versteckten.
Sie würden also nicht mit ihr rechnen, sagte sie sich und zog sich mit einem Satz die letzten Leitersprossen empor auf die Galerie. Metall schepperte unter ihren Stiefeln, aber solange sie in der Halle allein war, konnte es ihr egal sein. Viel wichtiger, so ermahnte sie sich zum hundertsten Mal, war es, die Elektronik ihres Anzugs ausgeschaltet zu lassen. Momentan war sie für jeden Detektor, der sie anhand von Strahlung oder Magnetfeldern orten wollte, unsichtbar. So würde es bleiben, solange sie nicht der Versuchung nachgab, ihr Schleierfeld zu aktivieren. Sie verzog das Gesicht. Glücklicherweise hatte Drake 4 kaum ein halbes g Schwerkraft.
Laufend brachte sie die letzten Schritte über die Galerie hinter sich, tat einen Satz auf das Geländer und stieß sich noch aus der Bewegung heraus kräftig mit dem Fuß ab. Ihr Schwung trug sie in weitem Bogen in einen Trichter der Siebanlage. Unsanft kam sie auf der Innenwand auf und schlitterte daran herab auf die letzte Ladung Erz, die vor dem Angriff hier eingetroffen war. Kurzzeitig zappelte sie auf dem Rücken, bis sie mit einem Stiefelabsatz Halt fand und sich in die Höhe stemmen konnte. Sehr gut, dachte sie, als sie über die Kante des Trichters spähte. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über einen Großteil der Halle, ohne die Helmsensoren einschalten zu müssen.
Auch war es keinen Moment zu früh – der Staub fing schon wieder an, sich zu legen. Als sie erneut den Druckmesser checkte, kroch die Anzeige nur noch dahin: 950 ... 960 ... 970 ...
Quälend langsam legte die Nadel einige weitere Striche zurück und blieb schließlich bei knapp über 1010 Hektopascal stehen. Normaldruck. Ein Kribbeln auf der Stirn verriet Loralys, dass ihr der Schweiß ausgebrochen war. Um ihren rasenden Puls zu beruhigen, ging sie ein weiteres Mal ihren Plan durch. Sobald dieses Pack von der Union das Tor zur Halle öffnete, war der Weg frei. Danach stand ihr eine Wanderung von ein paar Kilometern bevor, um das Fluchtshuttle zu erreichen. Das Schwierigste daran waren die ersten hundert Meter, um ungesehen bis zu einem der Förderschächte zu gelangen; aber dorthin standen ihr verschiedene Umwege durch Wartungsröhren oder Luftschächte offen, die den Eindringlingen unbekannt waren. Einmal unten in den Minen aber war sie vor Entdeckung sicher – es sei denn, die Angreifer bekamen den Stationsschleier in Gang ... aber das konnte sie ausschließen, sonst war sie ohnehin schon geliefert. Sie musste einfach davon ausgehen, dass ihre Kameraden den Piraten nicht viel Brauchbares hinterlassen hatten.
Die Frage, ob überhaupt jemand von ihren Kameraden überlebt hatte, drängte sich ihr ungebeten in den Sinn und bescherte ihr einen erneuten Schweißausbruch. Sie übertönte den Gedanken mit Reden. „Ich werde entkommen“, murmelte sie grimmig, um es dann geflüstert zu wiederholen: „Ich werde entkommen. Ich werde entkommen ...“ Es klang fast wie ein Mantra der Gläubigen auf einem der Kolonieplaneten. Ein hysterisches Kichern kitzelte sie in der Kehle, als ihr die Absurdität dessen bewusst wurde, dass sie als „Göttin“ jetzt selbst in eine Art Gebet verfiel. Wenn sie erst wieder an Bord der Kleopatra war, musste sie unbedingt ...
Ein Scharren und Quietschen fuhr ihr aus den Helmlautsprechern direkt in die Zähne, und sie schaute auf. Das Hallentor hatte sich aus der luftdichten Verriegelung gelöst, und indem es langsam zur Seite glitt, gab es den Blick auf die Angreifer frei. Zum ersten Mal sah Loralys die Uniform des Feindes nicht als Aufnahme oder Simulation, sondern mit eigenen Augen.
Sie waren zu fünft, und sie hatten tatsächlich vollständig ihre Raumanzüge abgelegt. Nun trugen sie lediglich die bekannten blauen Overalls mit dem weißen Lorbeerkranz auf der Brust: das Logo der Justizunion“, wie sich dieses Pack hochtrabend nannte. Ein verächtliches Schnauben entfuhr ihr und ließ kurzzeitig einen Flecken ihrer Helmscheibe beschlagen.
„Heilige Mutter Erde!“, stöhnte einer der Ankömmlinge mit einem Rundblick in die Halle. „Was für ein Labyrinth!“ Er war ein breitschultriger Hüne, den Loralys unter anderen Bedingungen vielleicht gutaussehend gefunden hätte. Sein gebräuntes Gesicht schwenkte in einem zweifelnden Rundblick über die Halle.
„Wenigstens haben wir den landschaftlich schönen Teil erwischt“, erwiderte einer seiner Kameraden trocken. Er war klein und mager, mit einem knochigen Nasenrücken und einem ungekämmten Schopf sandbrauner Haare. Die Frau neben ihm, die seine Bemerkung mit einem Schnauben quittierte, überragte ihn um einen halben Kopf. Sie trug das braune Haar in einem Bürstenschnitt, und ihr Kragen wies ein auffälliges Rangabzeichen auf. Loralys hätte seine Bedeutung gern aus dem Schleier abgerufen, doch wie die Dinge standen, konnte sie nur aus dem Gedächtnis raten: Sergeant? Lieutenant?
Ohne ihrem Untergebenen direkt zu antworten, legte sich die Frau eine Hand übers Ohr und sprach vernehmlich: „Biwak alpha für Pat sechs, kommen!“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Wir haben das Tor jetzt offen. Kriegt ihr einen Scan hin? – Und? Irgendwelche Quellen?“
Loralys ertappte sich dabei, dass ihre Hand auf dem Blaster in ihrem Gürtel zu liegen gekommen war. Keine Elektrizität!, ermahnte sie sich verbissen und zählte ihre Atemzüge. Wieder prickelte der Schweiß auf ihrer Stirn.
„Verstanden. Ende.“ Endlich nahm die Offizierin die Hand wieder vom Ohr und wandte sich an ihre Leute. „Der Raum ist sauber. Sehen wir uns ein bisschen um. Royce, Jadie, nach rechts. Dorrit kommt mit mir. Skayle, das da sieht mir nach deinem Fachgebiet aus.“ Sie deutete auf die Serviceklappe direkt neben dem Hallentor. „Schau mal, ob du von hier aus an die zentralen Datenbanken rankommst oder wenigstens an irgendeine Backup-Einheit.“
„Ja, Ma’am“, erwiderte der Kleine mit der knochigen Nase, ehe er sich mit missmutiger Miene der Serviceklappe zuwandte. Während er noch an den Verschlüssen nestelte, teilte sich der restliche Trupp wie angekündigt auf. Ungläubig schaute Loralys zu, als die blauen Uniformen zwischen Bottichen, Containern und Rohrleitungen verschwanden. Sie konnte ihr Glück kaum fassen: Von Taktik oder Disziplin konnte bei diesen Piraten wirklich keine Rede sein!
Von ihrer erhöhten Position aus konnte sie das Vorankommen der Zweiertrupps gut verfolgen. Selbst nachdem sie hinter den Geräten der Aufbereitungsanlage verschwunden waren, schimmerte zwischen Rohrleitungen und Verstrebungen immer wieder das Blau der Uniformen auf und verriet die Positionen. Außerdem gaben sie sich keine Mühe, leise zu sein, sondern unterhielten sich deutlich hörbar. Es bereitete Loralys keine Schwierigkeiten, den richtigen Augenblick abzupassen, um ungesehen ihr Versteck zu verlassen.
Sie zog sich über die Kante des Trichters und ließ sich in einem Klimmzug – der niedrigen Schwerkraft sei Dank – sanft herabgleiten. Den letzten halben Meter musste sie sich fallenlassen, doch den Aufprall ihrer Stiefelsohlen hörte sie nicht einmal im eigenen Anzug. Der eine Unionspirat, der an der Serviceklappe zurückgeblieben war, drehte sich weder um, noch zuckte er auch nur zusammen. Er schien völlig vertieft in die Anordnung der Platinen und Leitungen, die hinter der Klappe zum Vorschein gekommen waren.
Einmal mehr hatte sich Loralys’ Hand von selbst zum Blaster geschlichen, einmal mehr ließ sie wieder los. Sie hatte nicht stundenlang auf die automatische Druck- und Temperaturregulierung ihres Anzugs verzichtet, nur um sich jetzt mit der Energieentladung eines Schusses zu verraten. Überdies befand sich zwischen ihr und dem Ausgang nur noch dieser eine ahnungslose Trottel, der für seine Arbeit sogar die Schleiertasche vom Gürtel genommen und auf den Boden gelegt hatte. Leitungen waren daraus hervorgewachsen und griffen in die Serviceklappe wie bunt leuchtende Tentakel, während sich daneben ein Display manifestiert hatte wie eine Sprechblase. Nein, um an diesem einen Piraten vorbeizukommen, brauchte sie die Waffe gar nicht. Ein Tisch unterhalb des Siebs, gleich zu ihrer Linken, lag voll mit wuchtigen, stählernen Werkzeugen und Segmenten von Rohrleitungen. Sie griff sich ein schweres Plastikrohr und tat einen langen, flachen Sprung, hinterrücks auf den sandfarbenen Haarschopf zu.
Im selben Moment, in dem sie ausholte, erkannte sie ihren Fehler.
Es gelang ihr noch, den Schlag durchzuziehen – sie spürte den Aufprall auf den Hinterkopf des Piraten bis in die Schultern. Einen Lidschlag später wurden ihr ruckartig die Arme an den Körper gepresst und die Beine zusammengedrückt. Verspätet kam ihr das kaum sichtbare Aufblitzen zu Bewusstsein, mit dem die Schleierfalle um sie her vom Boden hochgeschnellt war und sich zugezogen hatte: eine hauchdünne Schicht Nanobots, nur die Ahnung eines regenbogenfarbigen Flirrens, aber fest wie eine zentimeterdicke Stahlhülle. Sekundenlang hing sie so in der Luft, aufrecht gehalten vom selben Feld, das sie nun zu einer hilflosen Wurst zusammendrückte, während der magere Pirat vor ihr erschlaffte und wie in Zeitlupe zur Seite kippte; dann durchfuhr sie ein scharfer, prickelnder Schmerz und es wurde dunkel.
„Also schön“, eröffnete Commodore Normand die Besprechung. „Meine Damen, meine Herren, wir haben gewonnen.“ Ernst ließ er die dunklen Augen über die Gesichter an der Tafel wandern, ehe er hinzufügte: „Was nun?“
Pyre spannte sich unwillkürlich an, als der Blick des Commodore ihn streifte. Niemand sagte etwas. Hinter der Glasfront der gewölbten Außenwand drehte sich im Dreißig-Sekunden-Takt der Schiffsrotation das Panorama des Alls. Zusammen mit den Sternen beschrieb die brodelnde, rötliche Sonne des Drake-4-Systems einen weiteren gemächlichen Bogen unter dem Gitterwerk des Schiffshecks hindurch, das von oben ins Blickfeld hereinragte. Im gleichen Rhythmus schwankten die Schatten im Raum und wurden länger und kürzer, und es krochen Lichtreflexe an den Bechern auf und ab, die auf dem durchscheinend blauen Glimmen der Tischplatte ruhten.
Verwirrt schaute Pyre an dem Dutzend blauer Uniformen mit dem Lorbeerkranz entlang, deren Träger sich zu beiden Seiten der Tafel in die enge Kammer gezwängt hatten. Er war sich bewusst, das Küken in dieser Runde zu sein – auch wenn viele der Führungsoffiziere nicht viel älter waren als er selbst, zeigten ihre Mienen doch die grimmigen Falten jahrelanger Kampferfahrung. Entsprechend unbehaglich fühlte er sich, als er zögernd eine Hand hob und sich zu Wort meldete: „Sir?“
Commodore Normands kahler Kopf drehte sich in seine Richtung und die gleichermaßen sanften wie harten dunklen Augen fixierten ihn.
„Ich habe den Eindruck, hier herrscht in erster Linie Besorgnis, Sir“, begann Pyre mit, wie er hoffte, fester Stimme. „Und ich verstehe nicht ganz, wieso. Ich meine, wir haben gerade einen glänzenden Sieg hinter uns. Wir haben den Stützpunkt des Supremats auf Drake 4 buchstäblich überrannt, Sir. Im ganzen Geschwader ist die Kampfmoral regelrecht durch die Decke geschossen. Niemand hatte damit gerechnet, dass wir hier einen so klaren Sieg erringen würden.“
Abgesehen davon, dass sich seine Augenbrauen minimal zusammenzogen, blieb Normands Miene unbewegt. Junger Mann, Sie sind ...?“
„Lieutenant Pyre, Sir. Eigentlich befehlige ich nur die erste Staffel der Scouts, aber solange Commander Nevys auf der Krankenstation liegt, vertrete ich sie als Oberbefehlshaber des gesamten Scout-Korps, Sir.“
„Lieutenant Pyre“, wiederholte Commodore Normand mit einem sachten Nicken, und seine Miene glättete sich zu einem nachsichtigen Lächeln. „Dann kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen, dass Sie beim Missionsbriefing nicht dabei waren. Sie haben ganz Recht, Lieutenant. Niemand hatte mit einem so klaren Sieg gerechnet. Weil er überhaupt nicht geplant war.“
Unter dem stetigen, besorgten Blick des Commodore verspürte Pyre allmählich ein Kribbeln im Nacken. „I-ich verstehe nicht ganz ... Sir.“
Ein geringschätziges Schnauben ertönte, und Normand bedachte die Urheberin mit einem Räuspern und einem tadelnden Blick. Pyre seinerseits war froh, dass sein dunkler Teint es schwierig machte, sein Erröten zu erkennen, auch wenn er sich gegen die Frau, die ihn nun ihrerseits kühl musterte, regelrecht blass ausnahm. Captain Caldore war eine renommierte Aristokratin, die sich bereits mit einer langen Dienstzeit in der Flotte ihre Adelsprivilegien erworben hatte. Nun hatte sie ihre sauer verdienten Ländereien auf Lykurg verlassen und sich zu einer zweiten Dienstzeit verpflichtet, um an diesem Feldzug teilzunehmen. Weiße Flecken in dem tiefschwarzen Gesicht zeigten an, wo die Behandlung ihrer Verletzungen Pigmentstörungen hinterlassen hatte. Es waren viele.
Sie tauschte einen kurzen Blick mit Normand, ehe dieser ihr mit einem knappen Nicken gestattete, frei zu sprechen. „Lieutenant Pyre“, wandte sie sich ihm wiederum zu, „wie würden Sie unsere derzeitige Lage strategisch beurteilen?“
„Gut, Ma’am.“ Pyre fühlte Schweißperlen in seinem Uniformkragen prickeln, aber er straffte sich. „Wir haben die Raumhoheit im Drake-4-System errungen und mindestens ein Viertel der interplanetaren Abfangschiffe erbeutet. Der Stützpunkt auf dem Planeten selbst befindet sich in unserer Hand, sämtliche sonstigen Bodenstationen oder Raumbasen werden in diesem Augenblick von unseren Truppen gesichert. Das hier stationierte interstellare Kontingent haben wir vernichtend geschlagen – laut Analyse meines Korps ist nicht einmal die Hälfte ihrer Streitmacht entkommen. Und das wiederum bedeutet, dass sich derzeit im Umkreis von sechseinhalb Lichtjahren nichts befindet, das uns in unserer jetzigen Position gefährlich werden könnte, Ma’am.“
„Sechseinhalb Lichtjahre“, bestätigte Caldore mit einem Nicken. „Sie spielen auf den Stützpunkt im Crowley-System an, richtig? Demnach könnten wir uns also hier niederlassen und sicher sein, dass frühestens in dreizehn Standardjahren ein ernstzunehmender Gegner hier auftaucht. Korrekt?“
„Eher in fünfzehn bis zwanzig Jahren“, erwiderte Pyre. „Auch wenn die Funkmeldung von Drakes Fall auf Crowley eintrifft, wird sich der Entsatz bestimmt nicht sofort auf den Weg machen, Ma’am. Das dortige Kommando wird sich zuerst mit anderen Geschwadern ab stimmen wollen, die aktuell noch im interstellaren Raum operieren.“ Der spöttische Zug um Caldores volle, schwarze Lippen machte ihn unverändert nervös. Was zum Großen Trauma übersah er nur?
„Fünfzehn bis zwanzig Jahre also“, echote Caldore. „Würde es Ihnen gefallen, zwanzig Jahre hier auszuharren?“
Ob es ihm gefallen würde? Das Prickeln in Pyres Kragen verstärkte sich. „N-n-nun, Ma’am, wenn es zur Erreichung unserer strategischen Ziele notwendig ist ...“
Caldore tauschte einen Blick mit Normand, der nun wieder das Wort ergriff. Die übrigen Offiziere verfolgten den Dialog mit sichtlicher Belustigung. „Lieutenant Pyre“, fragte Normand ruhig, „was haben wir hier im Drake-4-System nicht?“
Endlich ging Pyre ein Licht auf. „Einen bewohnbaren Planeten?“
Das fleckige Gesicht von Captain Caldore verzog sich zu einem strengen Lächeln, das Pyre sagte, dass er gerade haarscharf eine Prüfung bestanden hatte.
„Lieutenant Pyre“, übernahm Commodore Normand wieder das Gespräch, „beim Drake-4-System handelt es sich um nichts weiter als einen militärischen Außenposten. Drake 4 selbst ist als Wüstenwelt des Mars-Typs das Lebensfreundlichste, was Sie in diesem System finden werden. Sicher, es gibt dort unten landwirtschaftliche Habitatkuppeln, kurzfristig ergiebig genug, um unser Geschwader zu versorgen. Aber sie sind ökologisch instabil. Der Posten ist von gelegentlichen Biom-Auffrischungen abhängig, die durch Lieferungen aus benachbarten Kolonien sichergestellt werden. Und ich würde mich nicht darauf verlassen, dass die Suprematskolonien auf Magellan oder Crowley uns hier einfach weiter versorgen werden.“
„Rein militärisch“, wandte Caldore nun ein, „haben Sie voll und ganz Recht, Lieutenant: Für den Moment ist unsere Position hier geradezu traumhaft. Aber logistisch sitzen wir auf verlorenem Posten. Nein, Lieutenant, wie der Commodore schon sagte: Es war nie geplant, dass wir Drake 4 tatsächlich einnehmen. Wir sind darauf nicht vorbereitet. Die Strategie der Unionsflotte sah eigentlich nur vor, dass wir diesen Stützpunkt angreifen, die Verteidiger beschäftigt halten und auf diese Weise das Supremat dazu verleiten, Kräfte von der Hauptstreitmacht im Berlitz-System abzuziehen.“
„Und das“, bemerkte Normand mit einem ernsten Rundblick, „wird nun mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschehen. Die letzten Verteidiger haben sich mitsamt den Werften und einem Großteil der industriellen Anlagen in die Luft gesprengt. Nachhaltiger kann man einen Stützpunkt kaum aufgeben. Nein, meine Damen und Herren, nach unserem Überraschungssieg wird das Supremat wohl kaum Kräfte für den Versuch abziehen, dieses System zurückzuerobern. Was wir erreicht haben, ist materieller und moralischer Schaden bei der feindlichen Flotte. Aber unsere langfristige Strategie ist vollständig über den Haufen geworfen. Also werden wir uns hier nicht lange aufhalten, sondern Drake 4 schnellstmöglich wieder verlassen.“
Für die Dauer einiger Sekunden schwankten nur die Schatten über die Wände und die Lichtreflexe krochen stumm an den Bechern herab. Dann meldete sich Captain Braben zu Wort, ein stämmiger Veteran, dem viel zu früh die Schläfen über den abstehenden Ohren ergraut waren: „Sir, wenn wir uns nach einem solchen Sieg zurückziehen, wäre das fatal für die Kampfmoral im ganzen Geschwader.“
„Wer redet von Rückzug?“, entgegnete Caldore. „Wir könnten ein Gesuch über die nächste Relaisstation absetzen, um uns einem verdeckt operierenden Verband in der Nähe anzuschließen.“
„Wir sollten noch eine Weile bleiben, um Informationen aus dem Stützpunkt zu gewinnen“, schlug ein weiterer Captain vor, ehe sich die Runde endgültig in Geplapper auflöste. Eine Weile hörte Normand dem Durcheinander schweigend zu, ehe er beide Hände hob, um Ruhe zu gebieten.
„Ich sagte, wir werden Drake 4 schnellstmöglich verlassen“, stellte er nun mit harter Stimme klar. „Dies ist kein Vorschlag, meine Damen und Herren, sondern mein Beschluss als Oberkommandierender dieses Geschwaders. Wenn es Sie beruhigt, ein Rückzug ins Territorium der Union steht dabei nicht zur Debatte. Unsere derzeitige Lage lässt uns im Gegenteil nur eine einzige sinnvolle Option offen.“
Mit selbstgewissem Lächeln schaute Captain Caldore in die Runde, bis Commodore Normand hinzufügte: „Wir werden weiter vorstoßen. Nach Magellan.“
Es verschaffte Pyre eine gewisse Erleichterung, dass er nicht der einzige war, der Normand auf diese Worte hin ungläubig anstarrte. Selbst Caldore wirkte völlig überrumpelt, als ihr Lächeln zunächst in Verwirrung verebbte, ehe sie zum Commodore herumfuhr.
„Würden Sie das bitte wiederholen, Sir?“, kam es schließlich verhalten skeptisch von Captain Braben. „Sie sagen, wir sind nicht einmal darauf vorbereitet, diesen Stützpunkt zu halten, und jetzt wollen wir gegen eine Koloniewelt des Supremats vorstoßen?“
Normand lehnte sich zurück, legte die Finger zu einem Zelt zusammen und schaute mit humorlosem Schmunzeln in die Runde. „Wenn jemand eine bessere Idee hat, wäre jetzt der Zeitpunkt, sie zu äußern.“
In dem Erste-Hilfe-Kurs hatten sie vollkommen Recht gehabt, dachte Skayle mürrisch. Unter niedriger Schwerkraft wurde jeder Kopfschmerz doppelt so übel.
„Stillhalten“, bemerkte Mutter Hensley nüchtern und drückte ihm einen Injektor auf den bloßen Oberarm. Es tat den vertrauten Stich und das Prickeln, als die Nanobots die Einstichwunde gleich wieder schlossen – „die Tür hinter sich zumachten“, wie es im Kurs salopp geheißen hatte. Die Geistliche hängte den Injektor an die Brusttasche ihres weißen Overalls, sodass er das rot-blaue DNA-Logo der Kurflotte verdeckte. Sie war eine stämmige Frau, die das angegraute, schwarze Haar kurz trug, und sie hätte einen mütterlichen Eindruck erweckt, hätte nicht der häufige Umgang mit Kriegsverletzungen jede Emotion aus ihrem breiten Gesicht verbannt.
Skayle zog sich den blauen Uniformärmel herunter und warf einen Blick zum Fenster. Er bereute es sofort wieder: Die Nanobots hatten die Reparaturarbeiten in seinem Hirn gerade erst begonnen, und selbst gedämpft durch die abgedunkelte Scheibe kam ihm das Gleißen auf der Wüstenlandschaft draußen unerträglich grell vor. Dabei tauchte das gefilterte Sonnenlicht den Raum, der als provisorische Krankenstation mit einem Durcheinander an Geräten vollgestellt war, lediglich in einen sanften Dämmerschein. Hier drin überstrahlten die Reflexe des Sonnenlichts kaum den farbigen Schimmer der Schleierfelder, die als Tische, Sitzgelegenheiten und Gefäße vor sich hin glommen; seine Behandlungsliege etwa war ein Feld in durchscheinendem Blau.
„Kann ich reinkommen?“
Skayle wandte den schmerzenden Kopf zur Tür, die von einem Umriss im blauen Overall praktisch vollständig ausgefüllt wurde. Breite Schultern zogen den weißen Lorbeerkranz vor dem mächtigen Brustkorb permanent stramm. Auf Mutter Hensleys nachlässiges Winken hin trat Royce ein und näherte sich strahlend der Liege. „Wie geht’s dir, Skayle?“
Skayle drehte in einer vagen Geste die Hand. „Es geht, denke ich. Eine leichte Gehirnerschütterung, hat Hensley gesagt. Nichts, was nicht –“
„Du, es tut mir leid“, platzte der große, braungebrannte Pilot heraus und brachte sein kurzes, brünettes Haar in Unordnung, als er sich verlegen im Nacken kratzte. „Die kleine Wildkatze war echt schnell, weißt du? Muss sich in einem dieser Trichter versteckt haben. Und sie wusste sich in der Niederschwerkraft hier zu bewegen – ehe sie dich erreichte, hatte sie fast den ganzen Sensorbereich der Falle übersprungen, ich musste von Hand auslösen. Zum Glück hat Jadie
Mit erhobenen Händen stoppte Skayle seinen Redefluss und rang sich ein Lächeln ab. „Schon gut. Ich habe mich freiwillig als Köder gemeldet, da muss ich – warte mal: ,kleine Wildkatze‘?“
Dieses Grinsen auf Royce’ Gesicht kannte Skayle. „Geh deine Beute bei Gelegenheit mal besichtigen, Mister Köder. Süße Blonde, ’n richtiger Hingucker.“
Es war einer dieser Momente, in denen Skayle eigentlich wusste, dass er seine Worte besser herunterschlucken sollte. „Royce“, hörte er sich steif sagen, „sie ist keine ,Beute‘ und ich werde sie nicht ,besichtigen‘ wie das Exponat eines Tierfilmers von der Ewigen Jagd. Sie ist eine reguläre Kämpferin und Kriegsgefangene. Ihre Würde wird vom Reglement genauso geschützt wie –“
„Ich seh’ schon, Moralapostel Skayle von den vierten Scouts ist wieder voll im Einsatz“, unterbrach ihn eine heisere Stimme von der Tür her. Als Skayle diesmal den Kopf drehte, fühlte er anstelle des Hammerschlags in seinem Schädel nur ein dumpfes Dröhnen. Offenbar hatten die Nanobots mit der Arbeit angefangen. „Hallo, Dorrit.“
Langes, rotblondes Haar fiel zu beiden Seiten um das lange Gesicht des langen Piloten. Mit verschränkten Armen und verkreuzten Beinen blieb er in der Tür stehen. „Willkommen zurück, Skayle. Hast du die Daten schon durch, die du aus diesem Terminal gezogen hast?““
Skayle unterdrückte ein Stöhnen und machte Anstalten, sich hochzustemmen. Sofort fuhr Dorrit ihn an: „Das war ein Witz, Mann! Bleib liegen!“ Er stieß sich vom Türrahmen ab und bahnte sich einen Weg zwischen zwei Geräten mit vielen Schläuchen hindurch. „Du hast gut was auf die Birne bekommen. Sagt Jadie zumindest.“
„Jadie?“
„Sie hat dir erste Hilfe geleistet.“
Skayles Herz tat einen Sprung. Erstmals wurde ihm bewusst: Er hatte im Einsatz was riskiert, war verletzt worden und Jadie hatte es gesehen. Er hatte endlich mal die Gelegenheit gehabt, vor ihren Augen Mut zu beweisen. Er ...
„He! Hallo? Wach?“ Dorrit schnippste vor Skayles Nase mit den Fingern. „Hast wohl doch mehr abbekommen, als man sieht, hm? Ich habe gefragt, ob du schon von dem neuen Befehl gehört hast.“
„Neuer Befehl?“
„Dass wir so bald wie möglich in den Orbit zurückkehren werden“, nickte Dorrit. „Du weißt noch nichts? Pyre hat gesagt, wir sollten uns hier unten gar nicht erst häuslich einrichten.“
„Wozu haben wir den Stützpunkt dann überhaupt eingenommen?“, warf Royce irritiert ein. Dorrits Reaktion bestand in einem Zwinkern.
„Scheint, als stünde Großes bevor“, erwiderte er. „Wir sollen ausschlachten, was wir nur können, und vor allem nach Informationen suchen. Alles an Daten, was wir finden. Pyre hat uns eingeschärft, nach dem Leichenfleddern sogar jede persönliche Schleiertasche bei der IT abzugeben. Du hast eine Menge Arbeit, Skayle, sobald du wieder hier raus bist.“
„Persönliche Schleiertaschen?“ Skayles Schläfen quittierten sein Stirnrunzeln mit einem schmerzhaften Pochen. „Wie sollen da Navigationsdaten drauf gelangt sein?“
„Es heißt“, bemerkte Dorrit geheimnisvoll, „es gebe etwas, das ab jetzt noch höhere Priorität hat als Navigationsdaten.“
Skayle überlegte, und das Wort ,Leichenfleddern‘ hallte in seinem Kopf nach. „Haben wir noch mehr Gefangene gemacht?“
„Nur diese eine.“ Dorrit schüttelte den Kopf. „Alle anderen Suprematen haben sich lieber hochgejagt oder das Beinahe-Vakuum da draußen geatmet, als unsere Gastfreundschaft zu genießen. Keine Ahnung, was wir ,Piraten‘“ – Er deutete mit den Fingern Anführungsstriche an – „laut ihrer Propaganda so mit unseren Gefangenen anstellen. Klar, zu Captain Caldores wilden Zeiten hätte ich uns selbst nicht in die Hände fallen wollen, aber das war vor dreihundert ...“
„Hier seid ihr also!“, schimpfte eine helle Stimme von der Tür her. „Hatten wir nicht gesagt, wir wollten alle gemeinsam gehen? Hallo Skayle, wie geht’s?“
Auf Skayles Liege kam eine zierliche Gestalt zu, auf deren blauer Uniform der weiße Lorbeerkranz eine erkennbare Mulde zwischen den Brüsten markierte. Kupferrotes Haar, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, wehte in der niedrigen Schwerkraft hinter Jadies schönem Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der spitzen Nase. Augenblicklich hämmerte ihm der Puls im Hals und dröhnte ihm in den Schläfen. „Alles halb so wild“, rang er sich ein Lachen und ein, wie er hoffte, lässiges Winken ab. „Ich habe ja gewusst, worauf ich mich als Köder einlasse, und ich –“
„Beim nächsten Mal bleibst du besser wieder hinten, anstatt deinen Kopf hinzuhalten.“ Jadie stellte es einfach nur fest, ohne Wut oder Besorgnis, nur mit einem Anflug von Verärgerung. „Wenn du unsere Sensordaten auswertest, bist du uns deutlich nützlicher.“
„Es, äh, es musste doch echt aussehen, damit uns jemand in die Falle tappt“, stammelte Skayle, als das Gespräch diese unerwartete Wendung nahm. „Wie ein ITler bei der Arbeit eben. Wenn sich einer von euch vor die Serviceklappe gehockt hätte ...“
„Ja, ja, schon klar, als Köder musstest du den unaufmerksamen Trottel spielen. Du warst sehr überzeugend, das muss ich dir lassen. Wie weit haben sie dich hier schon wieder zusammengeflickt?“
„Jadie!“ Royce legte ihr eine gebräunte Hand auf die Schulter. Der kupferne Pferdeschwanz flog einmal hin und her, als sie kurz Royce ins Gesicht sah und sich dann wieder Skayle zuwandte. „Entschuldige“, sagte sie mit verkniffenem Lächeln. „Hat es sich denn wenigstens gelohnt? Du warst so vertieft an diesem Terminal, bist du auf irgendwelche Daten gestoßen?“
Skayle brauchte zwei Anläufe, um die nächsten Worte an dem plötzlichen Kloß in seinem Hals vorbeizupressen. „Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Meine letzte Erinnerung ist, wie wir diese Fabrikhalle betreten haben ...“
„Aufbereitungsanlage“, verbesserte ihn Dorrit.
Skayle nickte. „Wonach sah es denn aus, was ich gemacht habe?“
Statt einer Antwort berührte Jadie kurz die Schleiertasche an ihrer Hüfte und hielt ihm die Handfläche hin. Darin präsentierte sich ihm ein 2D-Film von sich selbst, wie er vor der Serviceklappe kniete. Seine eigene Schleiertasche lag am Boden und das bunt leuchtende Bündel der Standardanschlüsse war daraus hervorgewachsen und führte in die Klappe.
„Ich habe da auf jeden Fall Zugriff“, erklärte er. „Sonst würde die grüne VNA-Leitung nicht leuchten.“ Er überlegte kurz. „Ich kann mich nicht erinnern, aber wenn ich in dieser Situation in einen feindlichen Rechner reingekommen wäre, hätte ich als erstes einen kompletten Image-Download der Massenspeicher angestoßen. Dann kann ich später in aller Ruhe ...“
Er stockte. Hinter der Wölbung eines großen Kessels kam plötzlich eine Gestalt in einem abgenutzten, bräunlich-grauen Arbeits-Raumanzug hervorgeschnellt, in einem dieser langen, flachen Sprünge, wie sie für niedrige Schwerkraft typisch waren. Die rechte Hand mit einem länglichen, dunkelgrauen Etwas darin über den Helm erhoben, flog sie regelrecht auf den ahnungslosen Skayle zu. Als sie ihm den Gegenstand mit voller Wucht über den Schädel zog, zuckte der echte Skayle auf der Behandlungsliege zusammen.
„Du hattest Glück, weißt du?“, bemerkte Jadie trocken. „Das war nur ein Plastikrohr. Hätte diese Suprematin mit was Härterem zugeschlagen, sie hätte deinen Schädel geknackt wie ein Frühstücksei.“
Skayle schluckte schwer. „Danke für die Information.“
„Gern geschehen.“ Jadie ließ die Hand mit dem Film zuschnappen, ehe sie seine Schulter tätschelte. „Sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst, Skayle. Und dann tu, was du am besten kannst und werte den ganzen Kram aus. Ich bin gespannt, für was für Informationen du dir diese Kopfnuss eingefangen hast.“ Sie gönnte ihm noch ein kameradschaftliches Lächeln, ehe sie sich abwandte. „In Ordnung, Jungs, wollen wir zur Kantine, solange wir da noch was kriegen?“
Skayle starrte immer noch die Tür an, durch die Jadies Hüftschwung wieder verschwunden war, als Mutter Hensley mit dem nächsten Injektor an ihn herantrat: „Ärmel hoch. Stillhalten.“
Das Quartier, das man ihr als Zelle zugewiesen hatte, lag im Achter-Habitatring, mit Blick in Richtung Heck. Entsprechend eintönig war die Aussicht von ihrem Fenster aus.
Auf der Koje liegend, einen Ellbogen aufgestützt und mit der Wange an die Fensterscheibe gepresst, konnte sie hoch über sich ein Paar Triebwerksräder in ihr Sichtfeld ragen sehen. Sie waren im Blau der Justizunion gestrichen und das ihr Zugewandte mit dem weißen Lorbeerkranz verziert, durchbrochen von einem halben Dutzend Fensterreihen und den üblichen Pfeilmarkierungen. Quer über der Nabe prangte der Name des Schiffs: „UFS Wahrha-“ Es bereitete ihr keine Mühe, den außer Sicht ragenden Teil des Schriftzugs im Kopf zu ergänzen. Sie war also Gefangene an Bord der Wahrhaftigkeit.
Zwischen den Rädern stach der Zentralschacht ins All hinaus, um ein Stück weit draußen am knotigen Aufbau der Ionenfalle zu enden. Angedockt an den Längskorridor vor dem Gitterwerk des Schachts hingen mehrere Shuttles und – unwillkürlich biss sie die Zähne aufeinander – erbeutete suprematische Abfangjäger. Den deprimierenden Anblick umflorten verspielt die typischen, ausladenden Schleifen des G-Gerüsts, auf denen das gewohnte Muster der Positionslichter blinkte. Jenseits davon aber drehte sich um die Achse des Zentralschachts träge das Panorama der Sterne, gemeinsam mit dem fransigen Juwelenband der Milchstraße und den nahen Planeten. Die rötlich-golden marmorierte Scheibe von Tudor, dem dominierenden Gasriesen des Drake-4-Systems, passierte auf ihrer Umrundung gerade wieder das G-Gerüst. Diesmal zählte Loralys die Sekunden, einfach um zu überprüfen, ob ihre Einschätzung des Schiffs stimmte.
Ohne Schleier oder irgendeine andere Art von Uhr fiel ihre Messung ungenau aus, aber für ihre Zwecke genügte es. Bis Tudor die Schiffsachse einmal umrundet hatte und erneut das G-Gerüst berührte, waren etwa zwanzig Sekunden vergangen. Das bedeutete drei Umdrehungen pro Minute zur Erzeugung von einem g Schwerkraft im Habitatring. Also hatte man sie auf ein Schiff dritten Ranges gebracht. Sie fand ihre Einschätzung bestätigt, die sie allein anhand ihres Eindrucks von der Größe der Schiffsaufbauten getätigt hatte – die Einschätzung eines Bauchgefühls, herangewachsen in einem Leben auf Weltraumhabitaten und Sternenschiffen von Kindheit an.
Sternenschiffe einer anderen Klasse, als es dieser Eimer war, dachte sie bitter. Sie richtete sich auf und ließ den Blick durch das Quartier wandern, das man ihr als Zelle hergerichtet hatte. Eng und ungemütlich, stellte sie wieder einmal fest, schmucklos und zweckmäßig. Nur das Nötigste, was auch bei einem Totalausfall der Bordsysteme weiter funktionieren musste, bestand aus Materie: das Waschbecken, die Toilette und die Koje, auf der ihr angewinkeltes Bein auflag, während ihr anderer Fuß noch den abgewetzten Teppich berührte. Wenn sie einen Tisch haben wollte, würde sie ihn sich als Schleierfeld erzeugen müssen – sofern sie endlich herausfand, wie man den Zimmerschleier bediente! Einmal mehr tippte sie auf dem milchigen Bedienungsfeld neben dem Fenster herum, aber nichts geschah. Mit einem wütenden Aufstöhnen hämmerte sie schließlich die Faust auf das stumpfe Silbergrau der Wand daneben.
Nicht dass in dieser Büchse viel Platz für Möbel gewesen wäre. Die Kabine maß kaum drei mal zwei Meter, und die Hälfte davon nahmen die Koje, der Nachttisch und der Sanitärbereich ein. Zugegeben, allzu sehr unterschied sich der Kahn in dieser Hinsicht nicht von einem Schiff des Supremats – auch im vierten Jahrtausend der Raumfahrt hatte der technische Fortschritt nicht die Naturgesetze aushebeln können. Interplanetare Boote mochten inzwischen geräumig und gemütlich sein, doch auf einem Sternenklipper, der in annehmbarer Zeit der Lichtgeschwindigkeit nahe kommen sollte, musste noch immer mit jedem Gramm Masse gegeizt werden. Auch ihr Quartier an Bord der Kleopatra war nicht viel größer gewesen, vielleicht einen halben Meter mehr in jeder Richtung.
Nun wurde ihr schmerzlich bewusst, wieviel dieser halbe Meter mehr ausgemacht hatte. Und ein Klipper des Supremats bot wenigstens ein paar kleine Annehmlichkeiten, er hatte schon von sich aus etwas Dekor, er besaß einfach mehr Stil. Die Justizunion dagegen legte ihre Schiffe offensichtlich auf reine Zweckmäßigkeit an. Schmucklos und schäbig.
Und zweifellos effizient, wie die jüngste Raumschlacht gezeigt hatte. Der letzte Gedanke ließ sie frösteln. Sollten Glanz und Anmut des Supremats vor solcher seelenloser Funktionalität kapitulieren? Der Gedanke schien absurd – das Supremat beherrschte mehr als dreimal so viele Sternensysteme wie die Union. Doch bis vor ein paar Standardtagen wäre auch der Gedanke noch lächerlich gewesen, dass eine Streitmacht des Supremats von einem Piratengeschwader geschlagen werden konnte.
Auf Socken trat sie zu der kleinen Wandnische zwischen dem Waschbecken und dem Hochschrank hinüber. Bei ihrem eigenen Anblick verzog sie das Gesicht: Unter den erschöpften, grünen Augen prangten dunkle Ringe über viel zu blassen Wangen. Das schulterlange, blonde Haar stand zerzaust und glanzlos zu den Seiten ab. Sie hatte den Verschluss des grauen Overalls, den man ihr als Gefangener gegeben hatte, nicht bis oben geschlossen, sodass im Halsausschnitt der Rand des T-Shirts zu sehen war, das sie zuletzt unter dem Raumanzug getragen hatte. Es war speckig und verknittert, aber es war ein Stück Kultur des Supremats und sie würde es nicht gegen irgendein Kleidungsstück eintauschen, das ihr diese Piraten zuteilten – diese Mörder, die ihre Kameraden auf dem Gewissen hatten, dieses Pack von ...
Die Sicht verschwamm ihr, und sie senkte den Blick auf die Fäuste, mit denen sie sich auf den Rand des Waschbeckens stützte. In diesem Augenblick hätte sie sich gewünscht, beten zu können, wie es die Kolonisten taten – zu ihnen, wenn sie die Oberfläche eines Planeten besuchten, zu den Suprematen, zu ihr. Der letzte Gedanke entlockte ihr ein heiseres Kichern. Mit einer ruckartigen Handbewegung wischte sie sich die Tränen aus den Augen und betrachtete noch einmal ihr derangiertes Spiegelbild. Eine feine Göttin war sie! Nur gut, dass Mutter sie gerade nicht sehen konnte ...
Mit aufeinandergepressten Lippen kämpfte sie ein erneutes Aufsteigen der Tränen nieder. Sie konnte nicht beten, denn es gab keine höheren Wesen als sie selbst. Sie konnte nur inständig hoffen, dass die Kleopatra der Schlacht entkommen war – dass Mutter, ihre Familie, ihre Freunde noch am Leben waren ...
Ein Klopfen hinter ihr riss sie aus ihrem Brüten. Im ersten Moment schaute sie sich nur desorientiert nach der Quelle des Geräuschs um, dann ertönte draußen vor der Tür eine Stimme: „Ich komme jetzt herein.“
Ernsthaft?, dachte Loralys, als sie begriff. Gab es hier nicht einmal ein Türsignal? War es bei der Justizunion allen Ernstes üblich, sich mit Klopfzeichen zu verständigen?
Die Tür glitt zur Seite und gab zu Loralys’ Überraschung den Blick auf eine weiße Uniform frei, getragen von einer stämmigen, kleinen Frau mit breitem Gesicht und angegrautem, schwarzem Haar. Leicht geschlitzte, fast schwarze Augen erfassten Loralys, um sie kühl zu mustern. Auf einer Brusttasche in der Herzgegend prangte auf dem Weiß der Uniform das rot-blaue DNA-Symbol der Kurflotte. Mit einem fast mechanisch wirkenden Schritt betrat sie das Quartier und hielt der Gefangenen die Hand hin. Augenblicklich schob sich die Tür hinter ihr wieder zu.
Loralys verschränkte die Arme und richtete sich hoch auf, um auf den Ankömmling hinabzublicken. „Ich bin Loralys, Tochter der Naira, Aspirantin der siebzehnten Division des Supremats“, sprach sie im herrischsten Ton, den sie zustande brachte. „Ich verlange, den Oberkommandierenden dieser Flottille zu sprechen!“
Die Miene der kleinen Frau blieb unbewegt, doch Loralys hätte schwören können, dass Belustigung in den schwarzen Schlitzaugen aufblitzte. „Mutter Erde zum Gruß“, sprach sie mit einer rauen Altstimme. „Ich bin Doktor Hensley, ordinierte Klerikerin der Kurflotte. Ich werde Ihren allgemeinen Gesundheitszustand überprüfen.“
„Die Kurflotte, so?“ Loralys tat überrascht und ein wenig verächtlich. „Hatten Sie nicht erklärt, Sie verhielten sich in diesem Krieg neutral?“
„Wir bereisen das Kampfgebiet, um medizinische Hilfe anzubieten“, erwiderte die Ärztin gelangweilt und nahm langsam die ausgestreckte Hand herunter. „Es ist nicht unser Problem, wenn das Supremat gar nicht erst danach fragt. Können wir nun mit der Untersuchung beginnen, Aspirantin Loralys? Wie ist Ihr subjektives Alter?“
„Das geht Sie nichts an. Sie können gehen.“ Insgeheim ärgerte sich Loralys über ihren brüchigen Tonfall. Wenn sie eine überzeugende Göttin abgeben wollte, sollte sie bald ihre Stimmübungen wieder aufnehmen.
Sekundenlang schaute die kleine Ärztin ausdruckslos zu ihr auf, ehe sie einen Seufzer hören ließ. Im nächsten Augenblick flirrten Regenbogenfarben in Loralys’ Augenwinkel, und aus allen Richtungen stürzte der Druck einer Schleierfalle auf sie ein. Das Handgelenk wurde ihr schmerzhaft gedehnt, ehe die verschränkten Arme auseinanderschnappten und wie in einer Selbstumarmung um ihren Rumpf gedrückt wurden. Sie wäre gefallen, hätte der Schleier sie nicht zugleich gestützt und ein paar Zentimeter vom Boden hochgehoben; das Gewicht ihres Körpers wich von ihren Fußsohlen.
„Wie ist Ihr subjektives Alter?“, wiederholte die Klerikerin ungerührt.
Loralys stemmte sich mit aller Kraft gegen die Falle, aber ohne eigenen Schleier hatte sie nicht den Hauch einer Chance. „Das Kollektiv soll Sie holen!“, schleuderte sie mit gefletschten Zähnen der älteren Frau entgegen.
„Es arbeitet daran“, erwiderte Doktor Hensley trocken, „aber bei der Kurflotte sind wir zuversichtlich, dass wir auch diese Seuche in den Griff bekommen werden. Wollen Sie nun bei der Untersuchung kooperieren oder muss ich Sie auch noch vom Schleier ausziehen lassen?“
Ein letztes Mal bäumte sich Loralys gegen den Schleier auf, obwohl sie nur zu gut wusste, dass sie gerade mit purer Muskelkraft gegen die Schiffsreaktoren ankämpfte. Endlich ließ sie den Kopf hängen und atmete zittrig ein und aus. „Mein subjektives Alter beträgt dreiundzwanzig Standardjahre, zweihundertvier Tage.“
Augenblicklich wurde sie wieder auf die Füße gestellt, und die einschnürende Hülle um ihren Körper verflog. Loralys hatte sich auf eine gehässige Bemerkung der Sorte ,Na also, geht doch‘ gefasst gemacht, doch es traf sie viel härter, als Hensley nichts weiter tat, als ruhig zu sagen: „Setzen Sie sich. Wenn Sie sich dabei wohler fühlen, dürfen Sie das Fenster verdunkeln, bevor Sie sich ausziehen.“
„Dazu müssten Sie mir erst einmal verraten, wie“, erwiderte Loralys trotzig, während sie sich auf die Koje fallenließ. Für diesen Satz erntete sie von der Ärztin erstmals eine Gesichtsregung: Eine schwarze Augenbraue ging überrascht in die Höhe. Anstatt noch etwas zu sagen, tastete Loralys demonstrativ auf dem milchigen Rechteck neben dem Fenster herum.
Ohne eine Miene zu verziehen, trat die Ärztin an ihr vorbei und öffnete eine kaum erkennbare Wandklappe über dem Kopfende der Koje. Dahinter flammte ein Quadrat auf, blau mit dem weißen Lorbeerkranz, in dem die üblichen Piktogramme einer Schleierbedienung leuchteten. „Das hier ist eine Lampe“, bemerkte Hensley und tippte mit dem Fingernagel vor die milchige Scheibe.
Loralys fühlte ihre Wangen brennen wie die kleine, rote Sonne von Drake 4, während sie das Menu nach der Verdunklung des Fensters absuchte.
„Tu, was du am besten kannst, Skayle!“, keuchte er sarkastisch zwischen zwei Liegestützen, und: „Bleib das nächste Mal hinten, Skayle!“ Liegestütz. „Halt nicht wieder deinen zarten Kopf hin, Skayle!“ Liegestütz.
Der Schweiß floss ihm in Bächen über Gesicht und Nacken, als Skayle sich endlich vom Boden erhob und die Arme zum Lockern um den Körper schlenkerte. Zum wahrscheinlich tausendsten Mal begutachtete er dabei sich selbst in dem mannshohen Wandspiegel, der ihm auch gleich in farbig leuchtender Schrift seine Fitnessdaten einblendete: allgemeine Ausdauer, Stemmkraft, Schnellkraft ... Sicher, er war etwas klein geraten, dachte er verstimmt, aber dabei gut durchtrainiert und alles andere als ein schmächtiger Hänfling! Die schwarzen Shorts und das durchgeschwitzte, blaue Trägerhemd ließen seine drahtigmuskulösen Arme und Beine sehen und die strammen Brustmuskeln zumindest erahnen. Er konnte vielleicht nicht mit einem Muskelberg wie Royce mithalten, aber er erfüllte immer noch die Anforderungen an einen Angehörigen der Unionsflotte. Als Nahkämpfer lag er immerhin im Flottendurchschnitt ... na schön, im unteren Durchschnitt, aber deutlich über dem Niveau eines Zivilisten. Sein Blick streifte die roten Ziffern, die der Spiegel etwa auf Höhe seines Knies anzeigte, ehe er sich verlegen abwandte. Er spielte mit dem Gedanken, zum Vergleich Jadies Werte abzurufen, aber erstens war das illegal und zweitens hatte er Angst vor der Desillusionierung.
„Solltest du nicht eigentlich in gefledderten Schleiertaschen wühlen?“, ertönte eine heisere Stimme hinter ihm. Genervt schloss Skayle für einen Moment die Augen, ehe er im Spiegel Blickkontakt mit den Neuankömmling an der Tür suchte: „Hallo, Dorrit. Was machst du denn hier mitten in der Nacht?“
„Normalerweise habe ich den Fitnessraum dann für mich allein“, erwiderte der lange Pilot grinsend und warf im Eintreten sein Handtuch über eine der Null-g-Bänke. Das rotblonde Haar hatte er mit einem Stirnband zurückgebunden, und wie Skayle trug er Trägerhemd und Shorts. „Außerdem kann ich nach einer Spätschicht sowieso nicht sofort schlafen.“ Nachdem er ein paarmal die Schultern hatte kreisen lassen, begann er mit Dehnübungen. „Und du? Was treibt dich um diese Zeit her?“
„Ich musste den Kopf freikriegen“, rang sich Skayle ein Lächeln ab. Von Jadie, fügte eine hämische Stimme in seinem Nacken hinzu, und er übertönte sie mit Reden: „Das ist ein ziemlicher Datenberg, den wir unten auf dem Stützpunkt zusammengetragen haben.“
„Schon was Brauchbares dabei?“ Dorrit klang beim Dehnen völlig entspannt, ohne den geringsten gepressten Unterton. Neidisch betrachtete Skayle das Muskelspiel des deutlich größeren Piloten; schlaksig, wie er war, verbannte Dorrit doch durch seine bloße Gegenwart den kleinen ITler in eine niedrigere Liga.
„Hauptsächlich Müll“, antwortete Skayle mit einem Kopfschütteln. Alle militärischen Daten sind verschlüsselt – mehrfach stark verschlüsselt, ohne die zugehörige Phrasen-DB praktisch unknackbar. Tanner und ich konnten ein paar Sternenkarten extrahieren, aber viel Neues stand nicht darin. Vor allem keine Vermessungsdaten über Oortsche Wolken oder Braune Zwerge. Von der Sorte haben uns die Suprematen nichts Verwertbares hinterlassen.“
„M-hm. Und das Andere?“ Dorrit klemmte sich einen Ellbogen hinter den Kopf. Mit verständnislosem Blinzeln schaute Skayle ihn an. „Was meinst du?“
„Na, diese geheimnisvollen neuen Prioritäten ...“
„Die sind nicht nur geheimnisvoll“, schnob Skayle hervor, „die sind geheim.“
„Ach, komm schon!“ Der lange Pilot wechselte den Ellbogen. „Wir sind nicht nur in derselben Staffel, sondern in derselben Maschine. Bist du mein Huckepack-ITler, ja oder nein? Was sollst du rausfinden?“
„Was wird das hier, Dorrit?“, erwiderte Skayle gereizt. „Bist du neuerdings Spion für das Supremat?“
„Nein, ich will dich nur vor Captain Caldore damit erpressen können, dass du Geheiminformationen ausgeplaudert hast.“
Zwei Atemzüge lang schauten der Pilot und der ITler einander in die Augen, dann brachen beide in ein befreites Lachen aus.
„Na also“, zwinkerte Dorrit, „so gefällst du mir schon besser.“
„Blödmann!“, lachte Skayle und bückte sich nach seinem Handtuch. „Okay, ich sollte mal langsam duschen gehen, bevor ich auskühle.“
„Tu das. Und leg dich ein bisschen hin. Sehen wir uns beim Frühstück?“
„Leider nein.“ Skayle verzog das Gesicht, als er daran dachte, dass er damit auch Jadie nicht in der Kantine treffen würde. „Ich muss besonders früh raus. Pyre will mich bei einer Stabsbesprechung dabei haben.“
„Stabsbesprechung?“ Dorrit zog eine Augenbraue hoch. „Wessen Stab?“
Hintergründig grinsend erwiderte Skayle: „Geheim. Viel Spaß noch!“
„Also schön, Fähnrich Skayle“, wandte sich Commodore Normand an das jüngste Gesicht in der Runde, „was haben Sie bisher herausgefunden?“
Der Offiziersanwärter rutschte etwas unbehaglich auf seinem Platz herum und vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Offensichtlich fühlte er sich in dieser Runde eingeschüchtert. Normand konnte es ihm nicht verdenken; immerhin hatte der Junge als einziger Anwesender keine herausragende Stellung innerhalb des Geschwaders inne: Commander Avanorpe, Commander Dr. Mandrin, Lieutenant Commander Dr. Jannigan ... Selbst Lieutenant Pyre wäre niemals zu dieser Besprechung geladen worden, wenn nicht als Stellvertreter für Commander Nevys.
„Um ehrlich zu sein, nicht viel, Sir“, gestand der Fähnrich schließlich ein und reckte die Hand vor. Ein würfelförmiges, rotes Dateisymbol glomm darin. „Bislang nur eine bescheidene Ergänzung unserer Karten vom Territorium des Supremats, Sir. Einige Systeme, die bislang noch nicht verzeichnet waren ... besser gesagt, von denen wir bislang nicht wussten, dass es dort Stützpunkte des Supremats gibt, Sir.“
Normand nahm den Würfel entgegen und aktivierte ihn. Sofort entfaltete er sich zu einer sorgfältig ausgefüllten tabellarischen Liste. Der Fähnrich war auf jeden Fall gründlich, stellte Normand fest.
„Cortez 7, Rasputin, Hörbiger, New Cabota, Cabota 3, Cabota 4 ... bei der Benennung der Planeten in dieser Region scheint dem Supremat langsam die Fantasie auszugehen.“
„Es handelt sich zweifellos nur um Außenposten, Sir“, kam es beflissen von Fähnrich Skayle. „Die meisten dieser Systeme liegen im dünnen Medium, jeweils knapp außerhalb der Sagittarius-Bank. Wahrscheinlich wurden sie lediglich als taktische Rückzugsorte angelegt, Sir.“ Er vermied es dabei, einen der anderen Offiziere am Tisch anzusehen. Seine braunen Augen blieben fest auf die Datei in den Händen des Commodore geheftet.
„Nun, ein paar mehr für die Datenbank“, brummte Normand und ließ die Datei zuschnappen. „Aber das sind nicht die Daten, die Sie eigentlich suchen sollten, Fähnrich, und das wissen Sie.“ Mit hochgezogener Augenbraue fasste er den jungen Mann scharf ins Auge. Auf dem fleckigen Gesicht von Captain Caldore zu seiner Linken deutete sich ein Schmunzeln der Vorfreude an.
„Nun ja, Sir“, begann Fähnrich Skayle, jetzt leicht stockend, „unser Team konnte auch einige planetare Landkarten der Kolonieplaneten extrahieren, Sir. Die Namensangaben sind ... äh ... etwas vollständiger als auf den bereits vorliegenden Karten, Sir ...“
„Ist das etwa schon alles, Fähnrich?“, kam es gefährlich sanft von Captain Caldore, und Normand spürte, wie er sich innerlich anspannte. So gern er sie jetzt bremsen würde, ermahnte er sich: Skayle gehörte zu ihrer Crew und es war – zunächst – ihre Sache, wenn sie es für angemessen hielt, ihn zu grillen.
„Wir haben auch einige klimatische Angaben gefunden, Ma’am“, setzte der Fähnrich hektisch hinzu. Allmählich zeigten sich Schweißperlen unterhalb seines sandbraunen Haarschopfes. „Nur bruchstückhaft, Ma’am, und im Kontext mit den Daten von Frachtlieferungen.“ Er ließ einen weiteren Datenwürfel zwischen seinen Fingern erscheinen, ehe er fortfuhr: „Die letzte ökologische Auffrischung der hiesigen Kuppeln stammte hauptsächlich aus der Tundra von Crowley, Ma’am. Und Kommentare über die Wein- und Schokoladenlieferungen von Magellan legen nahe ...“
„Fähnrich Skayle“, fuhr Caldore dem jungen Mann ruhig, aber mit zunehmender Härte in der Stimme über den Mund, „Sie wollen uns nicht wirklich sagen, Sie hätten die letzten fünf Tage für nichts anderes genutzt, als über Wein und Schokolade nachzuforschen?“
Der Fähnrich schloss kurz die Augen, doch als er sie wieder öffnete, erwiderte er den Blick seines Captains, ohne zu wanken. „Ma’am?“, sagte er, und indem er sich an Normand wandte: „Sir? Darf ich offen sprechen?“
Normand nutzte die Gelegenheit für eine einladende Geste, und sofort platzte der Fähnrich heraus: „Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, die neuen Prioritäten waren bei allem Respekt etwas vage formuliert. Es hieß, absoluten Vorrang besäßen ,Informationen über die Kolonieplaneten‘, aber welche Art Informationen? Ich weiß selbst, Ma’am, Sir, dass wir praktisch alle Daten, die ich Ihnen gerade genannt habe, auch über unsere Agenten bei den Freihändlern hätten beziehen können. Aber daraus können wir in der IT-Abteilung noch lange nicht schließen, wonach wir diese riesige Datenmenge stattdessen absuchen sollen. Es wäre hilfreich, Ma’am, Sir, wenn wir etwas genauer wüssten, welche Art Informationen wir suchen sollen“ – er holte tief Luft – „und zu welchem Zweck. Ma’am. Sir.“
Hinter dem Fenster drehte sich das Panorama der Sterne weiter. Lichtreflexe krochen an den Kaffeetassen hinauf. „Fähnrich Skayle“, begann Captain Caldore mit schneidender Stimme, „Einblick in die strategische Planung des Geschwaders übersteigt eindeutig Ihre –“
Mit erhobener Hand brachte Normand sie zum Verstummen und wandte sich mit fragender Miene Lieutenant Pyre zu. Der zog überrascht die Augenbrauen in dem dunklen Gesicht hoch, ehe er ein bedächtiges Nicken zeigte. „Fähnrich Skayle hat mein volles Vertrauen, Sir. Seine Loyalität zur Justizunion steht außer Frage.“
Mit zufriedenem Nicken lehnte Normand sich zurück und legte die Finger zu einem Zelt zusammen. „Nun, Fähnrich Skayle, ich denke, es erübrigt sich, zu erwähnen, dass die nun folgenden Informationen vertraulich sind und unter keinen Umständen vorzeitig im Geschwader Verbreitung finden dürfen.“
„Sir!“, fuhr Caldore zu ihm herum. Betont ruhig schaute Normand ihr in das von Kämpfen, Verletzungen und deren Heilung gezeichnete, fleckige Gesicht. „Haben Sie etwas einzuwenden, Captain?“
Für einen Moment funkelte eine deutlich nachdrücklichere Antwort in ihren Augen, doch ihre Worte beschränkten sich auf ein frostiges: „Sie kennen meine Einwände, Sir.“
„In der Tat, Captain“, nickte Normand und wandte sich wieder nach vorn. „Fähnrich Skayle?“
„Die Vertraulichkeit dieser Besprechung ist absolut selbstverständlich, Sir.“ Skayles allmählich einsetzende Erleichterung zeigte sich am deutlichsten daran, dass er es erstmals wagte, Normand direkt in die Augen zu sehen.
„Gut, gut“, erwiderte Normand versonnen und überlegte kurz, wo er anfangen sollte. „Fähnrich Skayle, was wissen Sie über die Kolonieplaneten des Supremats?“
„Das, was allgemein bekannt ist, Sir.“ Skayle zeigte ein leichtes Achselzucken. „Die Kolonien befinden sich auf einem vortechnischen Niveau, Sir, etwa vergleichbar mit den antiken Kulturen auf der Erde. Hochtechnologie und wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa grundlegendes Wissen über das Weltall – werden der Bevölkerung vorenthalten. Stattdessen geben sich die Raumfahrer des Supremats als Gottheiten aus, um die Kontrolle über ihre Planeten auszuüben.“
„Zutreffend zusammengefasst, Fähnrich“, ermutigte ihn Normand. „Nun einmal angenommen, Sie wollten einen Planeten des Supremats einnehmen, wie würden Sie vorgehen?“
Die Brauen über den braunen Augen zogen sich verwirrt zusammen. „Sie meinen ... nachdem die orbitale Verteidigung überwunden wäre? Also den Planeten selbst?“
„Den Planeten selbst, Fähnrich.“
„Nun ja, Sir ...“, begann Skayle stockend, „eigentlich sollte derlei kein Problem darstellen. Da die Kolonisten nur mit Schwertern, Speeren oder Pfeil und Bogen bewaffnet sind, hätten sie einem Landungstrupp nichts entgegenzusetzen. Wahrscheinlich könnte man sogar auf den Einsatz von tödlichen Energiewaffen verzichten. Ein paar Dutzend unserer Leute mit Nahkampfschleiern müssten in der Lage sein, ein Heer von Zehntausenden solcher ... Speerkämpfer unblutig kampfunfähig zu machen, Sir.“
Normand nickte ruhig. „Und wenn Sie das Heer kampfunfähig gemacht haben, Fähnrich, wie machen Sie dann weiter?“
Erneut traten dem jungen Mann die Schweißperlen auf die Stirn. Von Captain Caldore ertönte ein verächtliches Schnauben.
„Sir“, stieß der Fähnrich endlich hervor, „ich muss gestehen, ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen.“
Für einen Moment musterte Normand den überforderten, jungen ITler, ehe er den Blick einem anderen Gesicht am Tisch zuwandte. „Fähnrich Skayle, kennen Sie Lieutenant Commander Dr. Jannigan?“
„Selbstverständlich, Sir. Die leitende Bordhistorikerin des Geschwaders. Ma’am.“ Der sandfarbene Haarschopf tat ein ruckartiges Nicken in Richtung der Frau mit dem silbernen Albinohaar zu beiden Seiten des langen, freundlichen Gesichts. Mit einem fragenden Blick ihrer blassblauen Augen bat sie Normand um die Erlaubnis, das Wort zu ergreifen. Auf seinen Lidschlag hin wandte sie sich lächelnd dem eifrigen Offiziersanwärter zu.
„Fähnrich Skayle“, begann sie, „Ihnen ist sicherlich klar, dass die Einnahme eines Kolonieplaneten kein Selbstzweck wäre. Worauf genau wären wir in einem solchen Fall aus?“
„Auf ... den Planeten als Versorgungszentrum, Ma’am“, erwiderte Skayle verunsichert. Jede Raumflotte, ob militärisch oder zivil, bezieht von habitablen Planeten die Grundlage ihrer Nahrungsmittel, Zell- und Algenkulturen für die Lebenserhaltungssysteme und ... nun ja, jede Menge weitere Güter in dieser Richtung. Ma’am.“
Jannigan zeigte ein ruhiges Nicken. „Wer erzeugt diese Güter, Fähnrich?“
„Nun ja, die Farmer ...“
„Korrekt erkannt, Fähnrich“, lächelte Jannigan. „Und das Supremat hat an dieser Stelle einen technischen Nachteil in einen unschätzbaren strategischen Vorteil umgewandelt.
Um mit den primitiven landwirtschaftlichen Methoden einer vortechnischen Kultur einen einzelnen Sternenfahrer mit zu versorgen - zusammen mit der gesamten Priesterhierarchie dazwischen –, sind Hunderte von Farmern erforderlich. Mehr als das, um dem Planeten Erträge abzuringen, braucht es das Wissen und die Erfahrung dieser Farmer. Kein Raumfahrer kann einfach auf einer Terra-Typ-Welt landen, Kartoffeln anpflanzen und erwarten, dass sie gedeihen. Jeder Planet hat sein eigenes, komplexes Ökosystem, das in jahrzehntelanger Praxiserfahrung erforscht werden muss, um es wirklich nutzen zu können.
Selbst wenn wir uns auf den kraftraubenden Weg einlassen wollten, den ganzen Planeten mit purer Gewalt niederzuhalten, würde es uns kaum gelingen, Millionen von Bauern dauerhaft zu kontrollieren. Sie könnten uns aushungern, mithilfe von Sabotageakten vergiften ... und selbst wenn wir all das überstehen würden, blieben wir nichts weiter als verhasste Besatzer.“
„Aber, Ma’am“, bemerkte Skayle, weiterhin verwirrt, „es wäre doch kein Problem, die Kolonisten einfach mit Wissen und Technologie zu versorgen. Warum sollten sie noch mühsam irgendwelche ... archaischen Äcker mit Zugtieren oder so was bestellen, wenn wir sie mit Agrar-Schleiersystemen ausstatten können? Würden sie uns nicht sogar freudig und dankbar unterstützen, wenn wir sie aus der Unwissenheit befreien, in der das Supremat sie gehalten hat?“
„Ach, Fähnrich“, verfiel die Historikerin in nachsichtiges Lachen, „wenn es nur so einfach wäre! Glauben Sie wirklich, Sie bräuchten einem archaischen Farmer nur ein bequemeres Leben hinzuhalten und er würde sein altes Leben, seine gewachsenen Überzeugungen und seinen Glauben mit Freuden wegwerfen?
Bedenken Sie: Das Supremat tritt auf seinen Welten als Götter auf. Und es muss gut in dieser Rolle sein, sonst wäre es darin nicht seit fast einem Jahrtausend so erfolgreich. Die Analysen des Historikerkorps stimmen darin überein, dass die Suprematen von ihren ,Gläubigen‘ nicht nur gefürchtet werden, sondern wahrhaftig verehrt und geliebt.
Eine solche Religion hebelt man nicht einfach aus, indem man den Gläubigen ein paar lustige, technische Spielzeuge schenkt, die sie wahrscheinlich als fremde ,Zauberei‘ fürchten und ablehnen würden. Das erfordert Vorbereitung, Fähnrich. Vorbereitung und gezieltes, planvolles Vorgehen, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben. Ansonsten werden wir als Feinde des Supremats dort niemals Fuß fassen können.“
Skayle schaute ihr zweifelnd ins Gesicht, verfiel jedoch endlich in nachdenkliches Nicken. „Ich denke, ich verstehe, Ma’am. Aber was genau erwarten Sie dann von unserer Abteilung?“
Ernst erwiderte Dr. Jannigan seinen Blick. „Quellen. Wenn wir eine Chance haben wollen, einen Kolonieplaneten des Supremats einzunehmen, dann müssen wir seine Gesellschaft kennenlernen. Wir brauchen ein Bild vom Alltag der Kolonisten, vom politischen Geschehen, Spannungen und inneren Konflikten. Wir müssen die Unzufriedenen in dieser Gesellschaft finden, die Ketzer, die mit den Göttern hadern.
Das ist es, wonach Sie und Ihr Team suchen müssen, Fähnrich. Finden Sie Aufzeichnungen von Vorgängen innerhalb der Kolonie. Stöbern Sie Erlebnisberichte von Suprematen über Aufenthalte auf der Planetenoberfläche auf. Optimal ist alles, das auf Schwierigkeiten hindeutet, die das Supremat mit seinen ,Gläubigen‘ in der Kolonie hat.“
„Verstanden, Ma’am.“ Skayles Blick wurde fester, sein Nicken deutlicher. „Gibt es eine bestimmte Kolonie, auf die wir unsere Nachforschungen konzentrieren sollen?“
„Magellan“, kam es sofort von der Historikerin. „Wobei auch Quellen über andere Kolonieplaneten für uns wertvoll sind. Aber Magellan ist der Zielplanet.“
„Jawohl, Ma’am.“ Für einen Moment zeigte die Miene des Fähnrichs ein selbstsicheres Lächeln. „Mit dieser Vorgabe können wir etwas anfangen, Ma’am“ Er warf einen Blick zwischen ihr und Normand hin und her. „In welchem Maße darf ich meine Teamkollegen einweihen?“
Normand beeilte sich, den Faden wieder zu übernehmen, ehe Dr. Jannigan in ihrer wissenschaftlichen Begeisterung allzu leger mit der Geheimhaltung wurde. „Nur so weit wie unbedingt nötig, Fähnrich!“, mahnte er streng. „Wenn irgend möglich, vermeiden Sie es, Ihren Kameraden mitzuteilen, dass all dies der Vorbereitung eines Feldzugs gegen einen Kolonieplaneten dient! Und erwähnen Sie vorerst auch nicht, dass es speziell um Magellan geht!“
„Natürlich, Sir“, grinste der Fähnrich und lehnte sich entspannt zurück. Dann ergriff Captain Caldore das Wort.
„Und Fähnrich Skayle“, sprach sie mit sanfter Kühle, „sollte hier auf der Wahrhaftigkeit auch nur ein Gerücht über einen bevorstehenden Angriff auf Magellan die Runde machen, werde ich Sie dafür zur Rechenschaft ziehen.“
Diesmal hatte Normand absolut nichts dagegen, dass sein dienstältester Captain der Vorfreude des jungen Fähnrichs, sich mit dem neuen Hintergrundwissen wichtig zu machen, einen Dämpfer verpasst hatte.
Irgendwann war die Besprechung endlich vorbei, die Eierköpfe runter von ihrem Schiff und dieser anmaßende Schiffsjunge von einem Fähnrich auf dem Rückweg an seinen Platz. Protokollgemäß begleitete sie den Commodore zu seinem Shuttle, das ihn zurück auf die Entschlossenheit bringen würde. Caldore wartete, bis sie mit ihm unter der Schachtluke zur Schiffsachse stand, ehe sie das Wort ergriff. „Nun, Sir“, fragte sie, kaum dass der Schleier um sie beide die Liftblase gebildet hatte, „warum machen wir es uns so schwer?“
Normands kahler Schädel drehte sich und die sanften, dunklen Augen begegneten ihr in einem fragenden Blick. Es tat einen kräftigen Ruck, als sich die Blase in Bewegung setzte.
„Kommen Sie, Normand“, wechselte sie auf die vertrautere Anrede, die sie nur unter vier Augen verwendete, „Sie wissen so gut wie ich, dass wir an die Informationen, auf die Sie die IT-Abteilung angesetzt haben, deutlich einfacher gelangen könnten.“
Der vertraute Zug zur Seite setzte ein, zusammen mit dem irreführenden Gefühl in der Magengrube, als ob die Blase fiele, anstatt zu steigen – die gewohnte Illusion, die vom Nachlassen der Schwerkraft herrührte. Normand ließ die verständnislose Miene fahren und zeigte mit zusammengepressten Lippen ein humorloses Lächeln. „Die Gefangene?“
„Sie kennen mich schon lange“, grinste Caldore. Im Kopf fügte sie hinzu: und umgekehrt, als der Commodore das Kopfschütteln sehen ließ, auf das sie gewartet hatte.