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Band 1 und 2 der großen Ostpreußen-Saga in einem E-Book.
Das Lied der Störche.
Alte Heimat. Ostpreußen 1920: Frederike verbringt eine glückliche und unbeschwerte Kindheit auf dem Gut ihres Stiefvaters in der Nähe von Graudenz. Bis sie eines Tages erfährt, dass ihre Zukunft mehr als ungewiss ist: Ihr Erbe ist nach dem großen Krieg verloren gegangen, sie hat weder Auskommen noch Mitgift. Während ihre Freundinnen sich in Berlin vergnügen und ihre Jugend genießen, fühlt sich Frederike ausgeschlossen. Umso mehr freut sie sich über die Aufmerksamkeit des Gutsbesitzers Ax von Stieglitz. Wäre da nur nicht das beunruhigende Gefühl, dass den deutlich älteren Mann ein dunkles Geheimnis umgibt ...
Die Jahre der Schwalben.
Verlorene Heimat – eine starke junge Frau zwischen Liebe und Verlust. Kurz nach ihrer Hochzeit erfährt Frederike, dass ihr Mann eine schwere Krankheit hat. Er geht in ein Sanatorium, und Frederike hofft auf seine Genesung. Doch als er stirbt, steht Frederike vor den Trümmern ihres Lebens. Allein und ohne eigenes Vermögen muss sie das Gut mit der großen Trakehnerzucht bewirtschaften. Jahre der Verzweiflung und Einsamkeit folgen, bis sie Gebhard von Mansfeld kennenlernt. Ganz langsam gelingt es ihr, wieder an das Glück zu glauben. Doch dann kommt Hitler an die Macht, und plötzlich weiß Frederike nicht, ob sie und ihre Liebsten noch sicher sind...
Die große emotionale Familiensaga aus Ostpreußen, die auf wahren Begebenheiten beruht.
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Seitenzahl: 1471
Band 1 und 2 der großen Ostpreußen-Saga in einem E-Book!
Das Lied der Störche.
Alte Heimat. Ostpreußen 1920: Frederike verbringt eine glückliche und unbeschwerte Kindheit auf dem Gut ihres Stiefvaters in der Nähe von Graudenz. Bis sie eines Tages erfährt, dass ihre Zukunft mehr als ungewiss ist: Ihr Erbe ist nach dem großen Krieg verloren gegangen, sie hat weder Auskommen noch Mitgift. Während ihre Freundinnen sich in Berlin vergnügen und ihre Jugend genießen, fühlt sich Frederike ausgeschlossen. Umso mehr freut sie sich über die Aufmerksamkeit des Gutsbesitzers Ax von Stieglitz. Wäre da nur nicht das beunruhigende Gefühl, dass den deutlich älteren Mann ein dunkles Geheimnis umgibt ...
Die Jahre der Schwalben.
Verlorene Heimat – eine starke junge Frau zwischen Liebe und Verlust. Kurz nach ihrer Hochzeit erfährt Frederike, dass ihr Mann eine schwere Krankheit hat. Er geht in ein Sanatorium, und Frederike hofft auf seine Genesung. Doch als er stirbt, steht Frederike vor den Trümmern ihres Lebens. Allein und ohne eigenes Vermögen muss sie das Gut mit der großen Trakehnerzucht bewirtschaften. Jahre der Verzweiflung und Einsamkeit folgen, bis sie Gebhard von Mansfeld kennenlernt. Ganz langsam gelingt es ihr, wieder an das Glück zu glauben. Doch dann kommt Hitler an die Macht, und plötzlich weiß Frederike nicht, ob sie und ihre Liebsten noch sicher sind...
Die große emotionale Familiensaga aus Ostpreußen, die auf wahren Begebenheiten beruht.
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion.
Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die Seidenstadt-Saga und zahlreiche historische Romane vor.
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Ulrike Renk
Das Lied der Störche & Die Jahre der Schwalben
Band 1 und 2 der großen Ostpreußen-Saga in einem E-Book!
Inhaltsübersicht
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Das Lied der Störche
Teil Eins: Ostpreußen, Gut Fennhusen, 1920
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Teil Zwei: Ostpreußen, Gut Fennhusen, 1928
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Nachwort
Danksagung
Die Jahre der Schwalben
Die Güter, die Bewohner und die wichtigsten Leute
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Nachwort
Danksagung
Impressum
Ulrike Renk
Das Lied der Störche
Roman
Für Gebhard und Susanne zu Putlitz
In der Nacht, in der Frederikes Stiefvater starb, hatte das Wolfsrudel auf dem Nachbargut geheult. An diese Nacht erinnerte sie sich auch jetzt noch – sechs Jahre später.
Hektor hatte mit gesträubtem Nackenfell an der Tür gelauert und geknurrt. Sie hatte den jungen Hund zu sich ins Bett genommen, ihn an sich gedrückt. Hektor hatte sich augenblicklich beruhigt und damit auch sie. Damals waren sie nur zu Besuch auf dem Gut der Familie ihres Stiefvaters gewesen. Ab heute sollte das Gut der von Fennhusens offiziell ihr Zuhause werden.
Hektor lag in der Sonne auf dem Hof und schien das hektische Treiben um sich herum nicht wahrzunehmen. Ob es die Wölfe auf dem Nachbargut noch gab? Und lebte das Rudel immer noch in dem großen Gehege im Wald?, dachte Frederike, während sie sich auf der Eingangstreppe in die Sonne setzte.
»Träumst du, Freddy?« Leni, die Dienstmagd, die einen Korb voll frischer Tischwäsche trug, stupste sie an. »Du kannst helfen, es gibt alle Hände voll zu tun.«
Langsam stand Frederike auf, strich den Rock glatt und ging ins Haus. Hektor sprang auf und folgte ihr. Ihre Mutter flatterte wie ein aufgeregter Kanarienvogel, vor dessen Käfig eine Katze hockt, durch die Diele, in die immer mehr Koffer und Kisten gebracht wurden.
»Vorsicht«, rief die Mutter. »Das ist mein gutes Porzellan, die Aussteuer meiner ersten Ehe.«
»Ja, Gnädigste«, brummte der Knecht und stellte die Kiste unsanft zu Boden. Die Mutter seufzte auf. »Wo sind deine Geschwister, Freddy?« Frederike zuckte mit den Achseln. »Geh sie suchen und pass auf sie auf. Die Mädchen haben genug zu tun und können sich nicht auch noch um euch kümmern. Und der Hund hat im Haus nichts verloren.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte sie ihre älteste Tochter davon.
Ich bin doch kein Huhn, dachte Frederike empört und schaute sich suchend um. Wo mochten Fritz und Gerta sein? Dicht gefolgt von Hektor ging sie durch das Gartenzimmer auf den Hof.
Sie, Frederike, stammte, genau wie das Porzellan, aus der ersten Ehe ihrer Mutter. Ihren leiblichen Vater hatte sie nie kennengelernt. Als junges Mädchen hatte ihre Mutter Fred von Weidenfels geehelicht und erwartete schon bald ein Kind. Drei Monate vor Frederikes Geburt war ihr Vater auf die Jagd geritten, verfolgte mit erhobenem Kopf den Flug der Falken, statt auf den Weg zu achten. So brach sich nicht nur sein Pferd, sondern auch er den Hals.
Ihre Mutter tröstete sich schon bald in den Armen Egberts von Fennhusen, heiratete ihn nach einer angemessenen, aber sehr kurzen Trauerzeit und gebar zwei weitere Kinder, Fritz und Gerta. Doch Egbert starb in den ersten Tagen des großen Krieges, der ganz Europa verwüstete.
Jetzt, drei Jahre nach Kriegsende, hatte die Mutter schließlich den dritten Versuch gewagt. Ihr Name änderte sich indes nicht, sie blieb eine von Fennhusen, denn ihr dritter Mann war der Vetter ihres zweiten Gatten. Ihm gehörte das Gut der Familie, das so weit im Osten lag, dass es fast einer Weltreise gleichkam, hierherzureisen. Mit dem Zug von Berlin, zweimal umsteigen und schließlich mit Kutschen und Karren über holperige Wege, die im Frühjahr zu Schlammbahnen wurden.
Es ist eine Strafe, dachte die elfjährige Frederike, hier wohnen zu müssen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
Ihr Halbbruder Fritz, der gerade neun geworden war, schien das anders zu sehen. Er hatte sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen und stand bis zu den Knien im Teich hinter dem Haus.
»Freddy, schau mal«, rief er begeistert. »Hier gibt es Fische. Und einen Salamander habe ich auch schon gesehen. Und in den Wiesen klappern die Störche.«
»Bei dir klappert wohl auch was. Du wirst dich schmutzig machen.« Frederike rümpfte die Nase. »Und wenn du nicht aufpasst, fällst du in die Brühe, dann setzt es bestimmt was.«
»Und wenn schon. Mutter wird es nicht bemerken, sie ist viel zu beschäftigt mit ihren Kisten.« Fritz grinste. »Der Hauslehrer kommt auch erst in ein paar Tagen.«
Frederike sah sich um. »Wo ist Gerta?«
Fritz zuckte nur mit den Achseln und stocherte mit einem Ast im Schlamm. Hinter dem Haus befand sich der Ziergarten mit der Terrasse, dem sanft abfallenden Rasen bis hin zum Teich, der von großen Weiden überschattet wurde. Dahinter schloss sich der Nutzgarten an, neben dem die Stallungen waren. Die Türen standen weit auf, Schwärme von Mücken hoben und senkten sich wie eine Wolke im Sonnenlicht. Frederike ging zum Stall, schaute in den ersten Gang. Es roch süßlich nach Pferden und es duftete nach Heu. Gerta saß auf einem Strohballen und hielt ein Kätzchen in den Armen.
»Schau mal«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Da sind noch welche, dort in der Ecke. Sie sind so weich. Ob Onkel Erik mich eins haben lässt?«
»Willst du es etwa mit ins Haus nehmen?« Frederike lachte und setzte sich zu ihr auf den Strohballen.
Gerta nickte. »Du hast doch Hektor und Fritz hat seinen Arco. Warum sollte ich nicht auch ein Tier haben?«
»Aber eine Katze? Die gehören in die Stallungen oder den Keller, im Haus fühlen sie sich nicht wohl.«
»Gräfin zu Steinfels hat zwei Katzen in ihrer Wohnung in Berlin.« Gerta streckte trotzig das Kinn nach vorne.
»Das sind aber Zuchtkatzen. Und diese hier sollen Mäuse fangen.« Frederike seufzte. »Davon wird es hier genügend geben.«
»Ich will aber ein Kätzchen. Ob Onkel Erik es mir erlaubt?«
»Er bestimmt, aber die Mamsell wird es nicht zulassen. Willst du es etwa an der Leine führen?« Frederike kicherte leise bei der Vorstellung, dann beugte sie sich vor und nahm auch eins der Katzenkinder in den Arm. Es schnurrte und ließ sich von ihr kraulen.
»Welches würdest du nehmen? Das Getigerte oder das Helle dort vorne?«
»Ich würde gar keins haben wollen.« Frederike schnaufte. Der Staub kitzelte in ihrer Nase, das Stroh stach ihr in die Unterschenkel, dennoch hatte sie keine Lust, wieder zurück in das hektische Haus zu gehen. In den Boxen stampften zwei Pferde, streckten die Köpfe neugierig zu ihnen. Hier am Haus waren nur die Reit- und Kutschpferde untergebracht. Das Gestüt war ein Stück weit die Straße herunter. Onkel Erik, den die Kinder schon seit jeher kannten, züchtete Pferde für die Armee, das wusste Frederike. Außerdem betrieb er Landwirtschaft, hatte sie gehört. Was man sich genau darunter vorzustellen hatte, wusste sie jedoch nicht. Schon öfters war die Familie hier zu Besuch gewesen. Auch zu Beginn des Krieges waren sie aufs Land gezogen. Damals, als alles noch anders war, und der Papa, der zwar nicht ihr leiblicher war, aber der Einzige, den sie kannte, noch lebte. Hier hatte die Mutter von seinem Tod erfahren, fast zwei Tage nachdem die Wölfe geheult hatten, denn solange brauchte der Bote bis hierher, trotz Telegramm.
»Fritz!«, rief plötzlich die empörte Leni. »Was machst du denn da? Bist du des Wahnsinns?«
Frederike beugte sich nach rechts, schaute durch die Stalltür zum Teich. Ihr Bruder drehte sich erschrocken um, verlor auf dem schlammigen Grund den Halt, fiel mit fuchtelnden Armen nach hinten und klatschte mit dem Rücken aufs Wasser.
Frederike lachte laut auf, Leni schrie und Fritz kreischte.
»Komm, wir müssen ihm helfen.« Frederike sprang auf, lief zum Teich. Prustend saß ihr Bruder im Wasser, von Schlamm und Entengrütze bedeckt. Er grinste breit.
»Du holst dir den Tod. Komm sofort heraus«, rief Leni. »Wenn das deine Mutter sieht.«
»Das Wasser ist gar nicht so kalt. Wird es dort hinten tiefer? Dann könnte man glatt schwimmen.« Fritz drehte sich auf den Bauch und paddelte ein wenig. »Herrlich ist es. Ganz erfrischend, Leni. Magst du nicht auch reinkommen?«
»Komm sofort da raus, Junge.« Leni stand am Ufer und schaute zu ihm, raffte die Röcke und schien zu überlegen, ob sie hineinwaten solle. »Ich ziehe dir die Ohren lang.«
»Dafür musst du mich erst einmal kriegen.« Fritz lachte.
»Komm jetzt raus.« Die Stimme des Mädchens klang auf einmal flehentlich, sie schaute sich unsicher zum Haus um. »Deine Mutter … die gnädige Frau …«
»Nun komm schon«, sagte Frederike und verkniff sich das Lachen. »Mach es Leni nicht noch schwerer. Raus mit dir.«
Fritz stand langsam auf, der Schlamm und das Wasser liefen ihm über den Körper und aus den Beinen der kurzen Hose. Er zuckte zusammen, als ein kleiner Fisch sich zappelnd den Weg nach unten und zurück ins Wasser suchte. Dann stapfte er ans Ufer.
»Mutter wird schimpfen«, sagte Gerta, die sich neben Frederike gestellt hatte. Sie hielt immer noch das Kätzchen im Arm.
»Mit dir auch, wenn du weiterhin den Flohteppich festhältst«, sagte Fritz. Gerta sah ihn entsetzt an, dann ließ sie das Kätzchen fallen. Es miaute erschrocken auf, tapste dann zurück zur Scheune.
Aus der Ferne hörte man den schrillen Ton einer Hupe, gefolgt vom Knattern eines Motors.
»Onkel Erik!« Fritz lief zum Haus. »Schnell, Leni, lass mir ein Bad ein, wir müssen ihn begrüßen.«
»Kannst dich am Brunnen waschen«, rief Leni ihm kopfschüttelnd hinterher.
Gerta strich sich wieder und wieder über das Kleid, kratzte sich am Kopf. »Flöhe?«, murmelte sie entsetzt.
Frederike seufzte. »Flöhe hast du im Kopf, mehr nicht. Komm, lass uns Mutter suchen.«
Die nächsten Tage herrschte Hektik und Chaos im Gutshaus, aber seit Erik da war, beruhigte sich zumindest die Mutter. Frederike dagegen konnte sich nicht so schnell eingewöhnen. Sie teilte kein Zimmer mehr mit Gerta. Zuerst hatte ihr der Gedanke sehr gefallen, ein eigenes Zimmer zu haben. Aber hier, auf dem riesigen Gutshof, fühlte sie sich verloren und einsam. Vorletzte Nacht hatte sich ihre kleine Schwester heimlich zu ihr geschlichen. Kuschelig und warm war es unter dem großen Plumeau, sie hatten geflüstert und gekichert und waren dann Arm in Arm eingeschlafen.
Aber am Morgen danach war nicht Leni zum Wecken gekommen, sondern die Mamsell. Missbilligend hatte sie die Mädchen angesehen. Nach dem Frühstück dann hatte Onkel Erik sie zu sich gerufen.
»Freddy, Gerta, ich hoffe, ihr habt euch schon an das neue Zuhause gewöhnt«, sagte er freundlich.
»Ja, Onkel Erik«, sagte Gerta. Frederike schwieg.
»Nun, die Mamsell hat mir gesagt, dass ihr zusammen in einem Bett geschlafen habt. Stimmt das?«
Die beiden Mädchen sahen sich verwirrt an und dann nickten sie.
»Seht ihr, wir haben ein großes Haus, das viel zu lange leer gestanden hat. Und nun soll das anders werden, meine Täubchen. Hier wird jetzt die Familie leben, wir alle zusammen. Aber es müssen gewisse Regeln eingehalten werden. Dazu gehört auch, dass ihr nicht wie die Bauerskinder in einem Bett schlaft. Ich weiß«, er nickte, »ihr hattet bis jetzt ein turbulentes Leben. Der Tod eures Vaters, der Krieg und so weiter und so weiter. Aber nun ist es anders. Nun leben wir hier als eine Familie und können zur Ruhe kommen. Aber es gibt bestimmte Regeln zu beachten.« Er lächelte ihnen zu, trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. »Ich möchte, dass ihr euch fügt und euch wie Gutsherrenkinder benehmt und nicht wie Leute.« Er sah sie voller Erwartungen an.
Frederike und Gerta nickten, obwohl sie nicht wirklich verstanden, was er von ihnen wollte.
»Ich sehe, ihr versteht mich«, sagte er zufrieden. »Gut, dann bitte verhaltet euch entsprechend. Und jetzt dürft ihr gehen.«
Am nächsten Abend schlich Frederike, die nicht schlafen konnte, die Treppen hinunter, hockte sich in der Diele auf einen der Sessel vor dem Salon und lauschte Mutter und Stiefvater. Hektor war ihr gefolgt und legte sich zu ihren Füßen.
»Wir müssen eine Gesellschaft geben, Erik«, sagte die Mutter. »Schon alleine, um unsere Hochzeit nachzufeiern.«
»Liegt dir viel daran?« Er klang amüsiert.
»Nein. Nicht so, wie du es jetzt meinst. Aber wir müssen die Nachbarn einladen, es offiziell machen, das verstehst du doch?«
»Vermutlich hast du recht«, sagte er nachdenklich. »Jedoch … nun, du wirst das mit der Mamsell besprechen müssen.« Er räusperte sich.
»Mit der Mamsell, natürlich.« Mutters Stimme klang auf einmal gar nicht mehr vergnügt. »Ich glaube, die Mamsell und ich werden keine engen Freunde werden.«
Wieder räusperte sich Onkel Erik. »Sie steht dem Haushalt schon lange vor. Seit dem Tod meiner Mutter hat sie alles alleine bewältigt, denn Edeltraut mag sich ja nicht mit solchen Sachen befassen.«
Tante Edeltraut war Onkel Eriks unverheiratete Schwester, die mit auf dem Gut lebte. Ihr Verlobter war im Krieg gefallen, seitdem trug sie Trauer. Meistens saß sie auf der Veranda und strickte, stickte oder versah andere Tätigkeiten.
»Ich weiß, Erik. Aber nun bin ich da. Und ich werde diesen Haushalt auf meine Weise führen«, antwortete die Mutter fest.
»Es ist wirklich schwer, vernünftiges Personal zu bekommen.« Onkel Erik klang etwas mürrisch.
»Was genau möchtest du mir damit sagen?«
»Nun, ich möchte, dass du versuchst, mit der Mamsell auszukommen. Sie hat sich bei mir auch über die Kinder beklagt. Freddy und Gerta haben zusammen in einem Bett geschlafen, das gehört sich nicht.«
Frederike zuckte zusammen. Würden sie jetzt Ärger bekommen?
»Papperlapapp. Und wenn schon? Sie haben sich in Potsdam ein Zimmer geteilt. Hier ist alles neu für sie, sie brauchen Zeit, um sich einzugewöhnen.« Die Mutter stockte, dann fuhr sie langsamer fort: »Aber was meinst du mit ›auch‹? Worüber hat die Mamsell noch mit dir gesprochen?«
Wieder räusperte sich Onkel Erik. »Ich weiß, ihr seid erst ein paar Tage hier und vieles ist neu für euch …«
»Ja?«
»Wir haben gewisse Regeln, einen Tagesablauf, den die Leute so kennen und auch so weiterführen möchten.«
»Ja?« Frederike konnte die Anspannung in der Stimme ihrer Mutter hören.
»Zum Beispiel stehen wir immer um halb sieben auf. Ich halte um sieben vor dem Hauspersonal, der Familie und eventuellen Besuchern eine kleine Andacht, jeden Morgen. Danach gibt es das erste Frühstück.«
»Ist das so? Und alle haben teilzunehmen?«
»Genau, Liebes. Es wäre schön, auch für das Personal – unsere Leute, wenn wir das weiterhin so halten könnten.«
»Nun gut. Was gibt es sonst noch?«
»Der Hauslehrer hat sich für morgen angekündigt. Er ist ein gebildeter Mann, allerdings ein Kriegsveteran.«
»Das ist gut, dann haben die Kinder auch endlich wieder Struktur in ihrem Tagesablauf.«
»Und zu der Gesellschaft – das musst du mit der Mamsell besprechen, genauso wie die tägliche Haushaltsführung. Am besten nach dem ersten Frühstück, wenn ich mich mit dem Inspektor treffe.«
»Erik, ich weiß, wie man einen Haushalt führt.«
»Sicher, sicher, Liebes, aber ein Gut ist doch etwas anderes als dein kleiner Stadthaushalt in Potsdam. Die Mamsell meint es sicher nur gut und wird dir helfen, dich besser zurechtzufinden.«
»Wie du meinst …«
»Freddy?«, zischte es plötzlich hinter ihr in der Diele. »Was zum Kuckuck machst du denn hier?«, fragte Leni. »Du gehst sofort nach oben und in dein Bett. Das ist ja ungehörig, hier im Dunkeln den Erwachsenen zu lauschen, wo hat man so etwas schon gesehen?«
Frederike raffte ihr Nachhemd und lief, so leise es ging, die Treppe hoch in ihr Zimmer. Hatten Mama und Onkel Erik Streit wegen der Mamsell, fragte sie sich, bevor sie einschlief. Und was würde aus der Gesellschaft werden? Sie hoffte, dass die Mutter sich durchsetzen würde. Eine Gesellschaft – wie traumhaft und aufregend.
Am folgenden Morgen weckte das Mädchen die Kinder in aller Frühe.
»Wie spät ist es denn?«, fragte Frederike verschlafen.
»Gleich sechs. Beeil dich, wasch dich und zieh dich an. Um sieben hält der gnädige Herr die Morgenandacht.« Leni zog die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster.
»Um sieben?« Frederike war entsetzt. »So früh?«
»Das ist hier so üblich. In der Erntezeit sogar noch ein wenig früher.«
Ach ja, dachte Frederike, das hatte Onkel Erik gestern Abend mit Mutter besprochen. »Ich fürchte, einige Dinge werden sich von nun an gründlich ändern«, murmelte Leni.
Die Leute, so nannten sie hier die Angestellten, hatten sich schon im kleinen Salon versammelt. Auch Mutter, ihre Geschwister und Tante Edeltraut waren da. Fritz hatte die Haare nicht gekämmt und sah so verschlafen aus, wie Frederike sich fühlte.
Onkel Erik las die Tageslosung vor und ein Kapitel aus der Lesung, dann durften sie zum Frühstück gehen. Es gab eine Scheibe Brot mit Wurst, Malzkaffee für die Kinder, Kaffee für die Erwachsenen und etwas Milchsuppe.
Im Anschluss ging Onkel Erik in sein Büro, wo der Verwalter des Guts schon wartete, und die Mutter nahm das Haushaltsbuch aus der Schublade und ließ die Mamsell zu sich rufen.
»Wann kommt der Hauslehrer?«, fragte Fritz Gerulis, den ersten Hausdiener.
»Mit dem ersten Zug soll er kommen. Hans hat schon angespannt und fährt gleich zum Bahnhof.«
»Darf ich mit?«, fragte Fritz aufgeregt.
»Nur, wenn du dir die Haare kämmst«, entgegnete Leni. Sie schaute zu Gerulis, dieser nickte.
»Warum nicht? So lernst du die Gegend auch gleich besser kennen.«
»Dürfen wir auch mit?«, wollte Gerta wissen.
Doch zu ihrer und Frederikes Enttäuschung schüttelte das Kindermädchen den Kopf. »Das ist nichts für euch junge Damen. Aber ihr dürft in die Küche gehen, wenn ihr wollt.«
Gerta nickte eifrig. Bisher waren sie noch nicht im Souterrain gewesen.
Sie gingen die Treppe hinunter und durch den Gang. Vorne waren die Kellerräume, wo Wein und Vorräte gelagert wurden. Nach hinten raus fiel das Grundstück etwas ab, so dass die Küche durch große Fenster erhellt wurde. Rechts gab es den Gesinderaum mit einem großen Tisch, an dem die unverheirateten Arbeiter des Gutes ihre Mahlzeiten bekamen.
An der Fensterseite der Küche befanden sich die Spültische. Der große Herd stand in der Mitte des Raumes, auf ihm ein großer Kessel, in dem immer Wasser warmgehalten wurde.
Frederike sah sich um. Die Küche war viel größer als die in Potsdam, und es herrschte eifriges Treiben. Zwei Mädchen spülten das Geschirr. Zwei weitere schmierten Brote, die die Arbeiter als zweites Frühstück bekamen. Ein anderes packte die Brote in Blechdosen und brachte diese in den Gesinderaum.
»Die jungen Herrschaftchen«, sagte eine korpulente Frau mit einer weißen Haube und einer Schürze, die ihren Leib zusammenzuhalten schien. »Was fier eine Ehre.« Aber sie lächelte freundlich.
»Guten Tag«, sagte Gerta und knickste. »Ich bin Gerta von Fennhusen und dies ist meine Schwester Frederike von Weidenfels.«
Auch Frederike, eingeschüchtert von so viel Masse hinter der Schürze, knickste.
»Ich bin Meta Schneider, die Kechin. Für die Mamsell bin ich allerdings nur ›Schneider‹.« Sie lachte. »Ei, dann kommt mal mit.«
Erstaunt schaute Frederike zu einer Schranktür, die in der Wand eingelassen war.
Die Köchin sah Frederikes Blick. »Das ist der Speisenaufzug.«
»Was?«
»Ei, schau mal.« Sie schob die Tür auf und zeigte in den kleinen Aufzug, der drei Fächer hatte. »Da kommen die fetijen Speisen rein und werden hochjezogen. Frieher haben wir een Seilzug gehabt, aber der gnedige Herr mag es modern und nu haben wir Elektrizität. Erbarmung, dass er noch mehr Leitungen in die Kiche legt. Dann kündige ich. Deuwelszeug, jenau wie de Fernsprecher. So was gab es frieher och nüscht und wir haben alle ieberlebt.« Sie seufzte. »Aber praktisch ist es. Die beschmadderten Teller kommen so auch wieder runter. Hattet ihr das in Berlin nich, Marjellchens?« Sie sah die Mädchen neugierig an.
»Wir kommen doch aus Potsdam«, sagte Gerta empört. »Nicht aus Berlin.«
»Das ist doch dasselbe«, sagte die Köchin und lachte. »Ei, dann kommt mal, ihr Potsdamerinnen. Ich seh, ihr seid jankrich nach Stullen und sießer Butter. Muss schwer fier euch sein, nich? Alles ist anders hier.«
»Oh ja«, seufzte Gerta. »Gibt es auch Milch?«
Wieder lachte die Köchin. »Milch? Ob wir Milch haben? Wir haben dreißig Kiehe im Stall, da werden wir doch Milch haben.«
Sie führte die Mädchen in den Gesinderaum. An dem großen Tisch lasen zwei Mädchen die ersten Bohnen und Erbsen, ein Knecht brachte frisches Feuerholz, ein anderer nahm die Asche, die noch glühte, mit auf den Hof. Am rechten Tischende lag ein dickes Buch, ein Tintenfass und eine Feder.
»Das ist mein Platz«, sagte die Köchin gewichtig. »Und mein Haushaltsbuch. Da hat niemand außer mir was verloren. Ihr könnt euch auf die Bank setzen. Inge, bring Sauermilch, Brot und Butter fier die Herrschaften.«
Gerta rutschte auf die Bank, aber Frederike blieb vor einem Schränkchen stehen. Aus dem Schränkchen schien es zu piepsen.
»Was ist das?«
»Ein Brutschrank. Erbarmung. Das kennste nich? Obwohl du aus Potsdam kommst?«, wieder lachte die Köchin, aber es klang nur belustigt, nicht abwertend.
»Nein. Was ist das denn?«, fragte Frederike nach.
»Pischkachel, darin werden die Eier vonne Puten und Jänsen ausjebrietet. Mit kienstliche Hitze. Das ist eine Kunst fier sich, weil es immer die gleiche Temperatur braucht. Deshalb darf auch niemand annen Schrank – außer mir. Es missen immer jenau 38,5 Grad sein. Ei, hier oben ist ein Thermometerchen einjebaut und es zeigt an, wie warm es ist. Mehr als ein halbes Grad darfet aber nicht abweichen. Dann muss ich Wasser inne Kiehlung oder Kohlen inne Pfanne jeben. Und wenn alles gut läuft, schlüpfen die Kieken.«
»Phänomenal«, sagte Frederike beeindruckt. »Und dann?«
»Ei, dann kommen sie hierher, die Kieken.« Die Köchin öffnete eine Tür, die zu einem Vorraum führte. Von da aus ging es fünf Treppenstufen nach oben in den Hof. An der Seite war eine Art kleines Gehege gebaut, dick gepolstert mit Heu und Stroh. Darin piepste es eifrig.
»Das sind unsere künftigen Gänse und Puten.« Die Köchin klang stolz. »Frieher mussten wir hoffen, dass wir eine gute Henne mit einem guten Gelege haben. Heite können wir das selbst inne Hand nehmen. Das is wahrer Fortschritt.«
»Toll!«, Frederike nickte, schaute aber dann zurück in die Küche, dort saß Gerta und stopfte sich mit süßem Brot und Butter voll. Aber die Köchin ließ Frederike noch nicht gehen.
»Wie habt ihr das in Potsdam jemacht?«, wollte sie wissen.
»Oh … ähm. Wir hatten nur einen kleinen Nutzgarten. Ein paar Hühner. Über den Sommer legten sie Eier, im Herbst kamen sie in die Suppe, glaube ich. Das weiß Leni sicher besser.«
Die Köchin schnaufte. »Leni will nicht darüber reden. Erbarmung. Dabei habe ich jedacht, im Westen wäre alles viel moderner. Ich weiß ja noch nich emal, was ich kochen soll. So ein Kuddelmuddel, seit der Gnädigste die Gnädigste jeheiratet hat. Jahrelang war alles gut so, wie es war. Nur der Gnädigste und seine Schwester, das gute Freilein Edeltraut. Und die Jäste zur Sommerfrische. Ihr wart ja auch schon ein paar Mal hier.«
Frederike nickte. Aber es war etwas anderes, ob man für eine oder zwei Wochen irgendwo zu Besuch war, oder ob man dort leben musste. Das sah die Köchin wohl ähnlich. Endlich schob sie Frederike wieder in die Küche, führte sie zur Bank unter dem Fenster.
»Nu hock dich hin und iss, Marjellchen. Kannst ja nuscht fier«, grummelte die Köchin. »Fier Jäste, die in die Sommerfrische hierher fahren, zu kochen, ist eines, fier Herrschaften das janze Jahr ieber zu kochen, was anderes. Wie soll das nur werden? Die Mamsell dreht schier durch. Und sie lässt alles an uns aus.« Wieder seufzte sie. »Hattet ihr in Potsdam viele Feierlichkeiten? Viele Jäste?«
Frederike hatte sich gerade das köstliche, noch warme süße Brot in den Mund gestopft und konnte nicht antworten. Wie lecker es war, so ganz anders als das Schwarzbrot, das sie zum ersten Frühstück bekamen. Das war zwar manchmal mit Marmelade, aber so hart, dass man jeden Bissen fast endlos kauen musste, bis man ihn hinunterbekam. Hatten die Leute etwa bessere Verpflegung als sie? Solch süßes Brot hatte sie nur hier in der Sommerfrische bekommen.
Die Köchin schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Das is frisch gebacken. Heute frieh. Auf Anweisung von der Mamsell. Nich, dass ihr glaubt, wir hätten so etwas ständig in der Kieche. Ihr braucht gar nicht kommen. Ich lasse mir nichts ablunkern.« Dann lachte sie. »Aber ich sehe, dass ihr noch Janker habt, auf mehr. Inge, bring noch was.«
Eine Stunde verbrachten sie in der wohligen Wärme der Küche, die Luft gefüllt mit Gerüchen aller Art. Speck wurde ausgelassen, Mehlschwitze bereitet, Butter gebräunt, Eier gestockt. Es duftete aus allen Ecken und Enden.
»Der Herr Lehrer kommt«, rief dann plötzlich aufgeregt eines der Küchenmädchen, das gerade von draußen hereinkam. »Hab den Wagen auf der Chaussee gehört.«
»Lass uns nach oben gehen«, meinte Frederike zu Gerta und fasste sie bei der Hand. »Von meinem Zimmer aus können wir auf den Eingang sehen.«
Sie bedankten sich artig bei der Köchin, huschten dann schnell die Treppen nach oben bis in den ersten Stock. Im Flur kamen ihnen Leni und ein weiteres Mädchen entgegen, die frische Bettwäsche trugen.
»Na, wohin wollt ihr denn so eilig?«, fragte Leni belustigt. »Ist etwa jemand hinter euch her? Die Mamsell vielleicht?«
»Der Hauslehrer kommt. Wir wollen seine Ankunft beobachten.«
»Oh«, meinte Rita, das Zimmermädchen. »Das will ich auch sehen.«
»Schnell«, sagte nun auch Leni.
Sie eilten in Frederikes Zimmer, schoben die Gardinen beiseite und öffneten das Fenster. In diesem Moment fuhr die Kutsche vor. Auf dem Kutschbock saß Fritz neben Hans, dem Kutscher, und schwenkte seine Mütze.
Hans sprang vom Landauer und öffnete dem Lehrer die Tür.
»Jetzt kommt er«, flüsterte Rita. »Wie er wohl aussehen mag? Ob er jung oder alt ist?«
»Du wirst es ja gleich sehen«, entgegnete Leni und beugte sich noch ein Stückchen weiter vor.
Der Lehrer war ein wenig größer als Hans, aber auch breiter. Er hatte, zu ihrem Bedauern, einen Hut auf, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Außerdem trug er einen Mantel, der viel zu warm für das schöne Wetter Ende Juni zu sein schien, und stützte sich schwer auf einen Stock.
»Ein Greis«, meinte Gerta erschrocken.
»Pst«, fuhr Frederike sie an. Der Lehrer schaute sich um, und die vier Mädels duckten sich schnell.
»Oh Gott, habt ihr das gesehen?«, wisperte Rita. »Es ist ein Monster.«
»Blödsinn, Rita«, wies Leni sie zurecht. »Er ist ein Kriegsveteran, hat die Gnädigste gesagt.«
»Aber das Gesicht, es ist ja voller Narben. Oder habe ich mir das eingebildet?«
»Hast du nicht, Rita«, sagte nun Frederike und seufzte. »Und ich habe so gehofft, dass wir einen stattlichen Lehrer bekommen, wo wir schon nicht mehr zur Schule gehen dürfen.«
»Vielleicht ist er wenigstens nett«, meinte Leni. Sie nahm die Wäsche, die sie auf Frederikes Bett gelegt hatte. »Komm, Rita, wir haben zu tun.«
»Ob wir noch mal in die Küche gehen?«, fragte Gerta.
»Nein, die Köchin muss jetzt das zweite Frühstück fertigmachen und dann das Mittagessen kochen. Die können uns nicht gebrauchen. Lass uns Fritz suchen.«
Im Hof räkelte sich Hektor in der Sonne. Von Fritz war aber nichts zu sehen. Die Mädchen gingen einmal um das Haus herum. Aus Onkel Eriks Büro konnten sie Stimmen hören. Gewiss stellte sich dort Herr Obermann, der Hauslehrer, vor. Frederike überlegte kurz, sich an das Fenster zu schleichen, aber dann sah sie Tante Edeltraut, die auf der Veranda saß und getrocknete Erbsen las.
»Schnell weg«, flüsterte Frederike Gerta zu. »Sonst müssen wir womöglich noch helfen.«
Kichernd rannten sie hinter das Haus. Vor der Küche waren der Kräutergarten und die Frühbeete. Durch die Glasdeckel war das Gemüse in den Kästen auch vor frühem Nachtfrost oder heftigem Regen geschützt. Jetzt, bei gutem Wetter, waren die Deckel jedoch hochgeklappt.
»Schau mal«, sagte Gerta. »Da sind Erdbeeren, dort, vor der weißen Mauer.«
Es war niemand der Leute zu sehen, also stibitzten sie sich einige der süßen Früchte. Hektor war ihnen gefolgt, nun lief er bellend zum Stall. Arco, Fritz’ Hund kam ihm entgegen.
»Fritz ist bestimmt im Stall.« Die beiden Mädchen liefen über die Wiese zur Remise, wo die Kutschen und auch das Automobil von Onkel Erik standen. Das Automobil nutzte er nur selten und zu besonderen Anlässen.
Fritz stand neben Hans, beide hatten die Ärmel hochgekrempelt und schoben den Landauer in die vorgesehene Position.
»Wie ist er denn, der Herr Lehrer?«, fragte Frederike und ließ sich auf einen Strohballen plumpsen.
»Na, Gepäck hat er wie eine alte Spinster. Zwei große Koffer und noch zwei Teppichtaschen«, seufzte Hans. »Tragen kann das Hinkebein natürlich nichts.«
»Sind sicher Bücher«, meinte Gerta und setzte sich neben Frederike. »Ist ja ein Pauker.«
»Nein«, sagte Fritz, der ganz stolz war, mehr zu wissen als seine Schwestern. »Die Bücher kommen extra in Kisten. Heute mit dem Nachmittagszug. Darf ich wieder mitfahren zum Bahnhof? Bitte.«
Hans runzelte die Stirn. »Weiß nicht. Ich fahre mit dem Leiterwagen und den Kaltblütern. Muss noch so einiges Andere abholen. Von der Gnädigsten kommen ja auch immer noch Sachen. Außerdem muss ich einen der Burschen mitnehmen, alleine kann ich das alles nicht schleppen.«
»Och, bitte, Hans«, flehte Fritz. »Ab morgen kann ich ja nicht mehr, da haben wir ja dann immer Unterricht.«
»Hast recht. Na gut, ausnahmsweise.« Hans grinste und strubbelte Fritz durchs Haar. Dann hob er lauschend den Kopf. »Ich glaube, das war der Gong zum zweiten Frühstück. Los, Kinder, ab zum Haus.«
Vor dem Esszimmer standen schon Onkel Erik und Herr Obermann. Die Kinder sahen sich überrascht an. Er würde doch nicht mit ihnen zusammen die Mahlzeiten einnehmen? Ihre Mutter kam eilig um die Ecke, als Gerulis die Tür zum Esszimmer öffnete.
»Guten Tag«, sagte die Mutter und reichte Obermann die Hand. »Von Fennhusen. Sie müssen Herr Obermann sein, unser neuer Hauslehrer.«
»Sehr erfreut«, sagte Obermann.
Frederike stieß Gerta in die Seite. »Nicht anstarren«, flüsterte sie.
»Aber wie er aussieht«, wisperte Gerta zurück.
Tatsächlich war die linke Hälfte seines Gesichts krebsrot und irgendwie verschrumpelt. Wie ein Pfirsich, den man ins Feuer gehalten hatte. Der linke Mundwinkel hing nach unten, und das linke Lid bedeckte das Auge zur Hälfte.
Obermann stützte sich schwer auf seinen Stock, als er der Mutter, Onkel Erik und Tante Edeltraut in das Esszimmer folgte und sich dann setzte.
»Oh nein«, sagte Fritz und schüttelte sich. »Der wird doch nicht tatsächlich mit uns essen?«
»Ich denke doch.« Frederike gab ihrem Bruder einen kleinen Stoß, damit er sich in Bewegung setzte.
»Meinen Sohn Fritz haben Sie ja schon kennengelernt, Herr Obermann«, sagte Mutter nun. »Dies sind meine Töchter Frederike von Weidenfels und Gerta von Fennhusen, Ihre Schülerinnen.«
Herr Obermann musterte sie, nickte dann.
Fritz verbeugte sich und die Mädchen deuteten einen Knicks an, eilten dann zu ihren Plätzen. Zum zweiten Frühstück gab es Marmeladenbrote und diesmal war es tatsächlich das wunderbar süße Weißbrot, was sie bekamen. Außerdem gab es Kakao – normalerweise war es nur kuhwarme Milch.
Vielleicht, dachte Frederike voller Hoffnung, ist das jetzt so wegen des Lehrers. Und vielleicht werden wir nun häufiger solche Leckereien bekommen.
Von nun an mussten die Kinder die Vormittage im Schulzimmer verbringen.
»Das Mädchen hat vergessen, mir eine Kanne mit Wasser hinzustellen«, sagte Herr Obermann und sah Frederike und ihre Geschwister vorwurfsvoll an. »Gerta, geh in die Küche und hol mir frisches Wasser mit etwas Zitronensaft.«
»Ich kann gehen«, sagte Frederike. »Meine Schreibarbeit habe ich schon beendet.«
Unschlüssig schaute er erst sie und dann Gerta an. »Womit bist du beschäftigt, Kind?«, fragte er dann Gerta.
»Ich sollte doch das Einmaleins aufschreiben.«
»Gut, dann kannst du gehen, Frederike. Aber beeile dich.«
Herr Obermann trank jeden Morgen eine Kanne Wasser mit einem Spritzer Zitronensaft. Sein Hals schien ebenso trocken zu sein wie sein Unterricht. Außerdem hatte er sofort verboten, dass Hektor und Arco ins Schulzimmer durften. Die Hunde mussten von nun an die Vormittage in der Halle oder im Hof verbringen. Überhaupt machte Obermann den Eindruck, mit seiner Position nicht ganz glücklich zu sein. Er kam aus Danzig und ihm war wohl nicht klar gewesen, wie weit von jedem Stadtleben das Gut entfernt war.
Eilig lief Frederike hinunter zur Küche. Vor der Tür, die nur angelehnt war, blieb sie stehen, um Luft zu holen.
»Ich kann das gar nicht glauben«, hörte sie die Mamsell sagen. »Wie soll das bloß weitergehen? Die Gnädigste hat keine Ahnung von der Haushaltsführung eines Gutes, will es mir scheinen.«
»Ei, sie wird sich schon noch einjewöhnen«, sagte die Köchin versöhnlich.
»Eingewöhnen?« Die Mamsell schnaubte. »Ja, wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen, dann vielleicht. Ich habe versucht, mit ihr die Vorratshaltung durchzugehen, schließlich steht demnächst die Ernte vor der Tür. Die Schnitterhäuser müssen bis dahin gereinigt werden. Und natürlich müssen wir in der Zeit der Ernte mehr Gesindeessen kochen. Das scheint sie nicht zu verstehen.«
»Mamsell, wie soll se auch? Sie missen ihr das sicher alles erklären.«
»Hach«, rief nun Hilde, das erste Hausmädchen, »sie hat so seltsame Vorstellungen. Sie will zur Ernte eine Gesellschaft veranstalten. Könnt ihr das glauben?«
Frederike hörte alle lachen. Die Gnädigste, das war ihre Mutter. Es geht doch nicht an, dass die Leute sich über ihre Mutter lustig machen, dachte sie empört.
»Se will«, warf nun der Gärtner ein, »Artischocken anpflanzen. Und jelbe Pfirsiche. Und anderen modernen Kram. Hat man so etwas schon jehört?«
»Mit dem gnädigen Fräulein war das alles immer so einfach, sie hat mich machen lassen«, sagte die Mamsell. »Aber die neue Gnädigste will alles verändern.«
»Ihr müsst ihr Zeit geben«, hörte Frederike die sonore Stimme des ersten Hausdieners sagen. »Sie ist doch gerade erst zwei Wochen hier. Wie soll sie das alles jetzt schon beherrschen? Ihr dürft nicht vergessen, dass sie bisher nur einem kleinen Haushalt vorstand und keinem Gutshof. Ich möchte euch alle auch bitten, eure Lästereien nicht vor Leni auszutragen. Es wäre fürchterlich, wenn es Missstimmigkeiten zwischen den Gnädigsten und uns geben würde.«
Plötzlich hörte Frederike, wie sich Schritte näherten. Schnell ging sie zurück bis zur Treppe und tat so, als wäre sie gerade erst hinuntergekommen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Gerulis überrascht. »Kann ich dir helfen?«
»Der Herr Lehrer hat kein Wasser. Ich soll ihm welches holen«, sagte Frederike und zeigte die leere Glaskaraffe.
Herr Gerulis, der erste Hausdiener, nahm ihr die Kanne ab und ging zurück in die Küche. Frederike zögerte kurz, folgte ihm dann.
»Der Herr Lehrer hat kein Wasser bekommen. Wer ist dafür zuständig?«, fragte Gerulis.
»Die Leni. Aber die Gnädigste hat sie heute Morgen in Beschlag genommen, weil sie mit ihr die Kisten, die gestern angekommen sind, durchsehen will«, sagte die Mamsell. »Hilde, du musst künftig darauf achten, dass jemand Lenis Pflichten übernimmt, wenn sie von der Gnädigsten gebraucht wird.«
»Dieser Lehrer«, murmelte die Köchin. »Das Wasser darf nich zu kalt, aber auch nich zu warm sein. Und es darf nur ein Spritzer Zitronensaft hinein. Zweemal schon hat er mir das Wasser zurückbringen lassen, weil es ihm zu sauer war.«
»Das ist bestimmt wegen ihm sauer geworden«, kicherte Inge. »So gruselig, wie der aussieht.«
»Inge!«, ermahnte Gerulis das Küchenmädchen. »Die Verbrennungen in seinem Gesicht sind Kriegsverletzungen. Darüber macht man sich nicht lustig.«
»Scheußlich sind sie trotzdem«, gab Inge keck zurück. »Und dann sein Hinken. Wenn der durch die Flure geht, hört man es schon von weitem. Klack – schlurf – schlurf, klack – schlurf – schlurf.«
»Das is ja fast ein Walzertakt«, meinte die Köchin. »Hier, Marjellchen, is die Kanne«, sagte sie zu Frederike und reichte ihr die nun gefüllte Karaffe zurück. Dann griff sie hinter sich ins Regal und nahm eine Handvoll Kekse, steckte sie schnell in Frederikes Schürzentasche. »Lass dich aber nich erwischen, wie du etwas zwischen den Mahlzeiten isst.« Sie zwinkerte ihr zu.
Im Unterrichtszimmer angekommen, stellte Frederike die Karaffe auf das Pult des Lehrers, er schenkte sich sofort ein Glas ein, trank es leer, nahm ein weiteres.
»Ich habe meine Schreibaufgabe beendet«, erinnerte Frederike ihn. »Was soll ich jetzt machen?«
Doch bevor er antworten konnte, hörten sie den Essensgong.
Nach dem zweiten Frühstück mussten die Mädchen für eine halbe Stunde auf den Hof gehen und Leibesübungen machen. Fritz war ausgenommen, denn er hatte nachmittags eine Stunde Reitunterricht. Nach den Leibesübungen ging es zurück in das Klassenzimmer. Landeskunde und Naturwissenschaften standen jetzt auf dem Stundenplan. Früher hatten sie die Fächer geliebt, aber Obermann verstand es nicht, diese Themen interessant zu machen. Alles wirkte auf sie wie die Wüste Gobi – staubig und trocken. Sehnsüchtig lauschten die Kinder, und endlich hörten sie wieder den Gong und sprangen auf.
»Händewaschen!«, befahl der Lehrer.
Frederike verdrehte die Augen.
»Wieso sagt er das jedes Mal?«, zischte Gerta.
»Als ob wir mit ungewaschenen Händen zu Tisch gehen würden«, murrte auch Fritz.
Schnell wuschen sie sich die Hände, streckten sie dann vor.
»Noch einmal«, sagte Obermann zu Fritz. »Diesmal mit mehr Seife und der Wurzelbürste.«
»Das ist Tinte. Die geht nur mit Sand ab«, wollte sich Fritz verteidigen.
»Keine Widerrede. Schrubb dir die Hände und gehe demnächst sorgfältiger mit Feder und Tinte um, dann ersparst du dir das Malheur!«
»Jawohl«, antwortete Fritz.
Der Gong erklang zum zweiten Mal und jetzt ließen sich die Kinder nicht mehr aufhalten und stürmten hinunter. Vor dem Esszimmer warteten schon die Mutter und Tante Edeltraut.
»Nicht so ungestüm«, sagte Mutter lachend.
Wie wunderschön Mutter ist, dachte Frederike. Und fast immer heiter. Ich wünschte, ich könnte auch so sein.
»Nun, guter Obermann, haben Sie sich schon eingelebt bei uns?«, fragte Mutter.
»Jeden Tag ein wenig mehr. Auch wenn ich das Personal unzuverlässig finde. Stellen Sie sich vor, gnädige Frau, heute hatte ich kein Wasser an meinem Pult.«
»Ach, ich glaube, das war meine Schuld. Ich habe Leni in Beschlag genommen, bevor sie ihren Aufgaben nachgehen konnte.«
»Nun, solange das nicht immerzu vorkommt«, brummte der Hauslehrer.
Onkel Erik kam mit schnellen Schritten durch die Diele.
»Entschuldige die Verspätung, meine Liebe. Ich war mit dem Inspektor im Kuhstall. Der Schweizer meint, dass eine der Kühe Euterfieber hat.«
»Oh, ist das etwas Schlimmes?«, fragte die Mutter besorgt.
»Nur, wenn es alle Kühe bekommen, was unwahrscheinlich ist.« Ungeduldig sah Onkel Erik zur Tür des Esszimmers, und endlich öffnete Gerulis sie.
»Es ist angerichtet.«
Die Kinder hatten zu warten, bis die Erwachsenen und auch der Hauslehrer, der zu ihrer Bestürzung tatsächlich an allen Mahlzeiten der Familie teilnahm, Platz genommen hatten, bevor sie selbst das Esszimmer betreten und sich hinsetzen durften. Einen Gong und diese Regeln hatte es in Potsdam nicht gegeben, und sie gewöhnten sich nur schwer daran. Früher hatten sie mit der Mutter bei Tisch gesessen und sich fröhlich mit ihr unterhalten. Da waren sie aber auch auf die örtliche Schule gegangen und hatten keinen Hauslehrer, der sie mit Habichtsaugen überall zu beobachten schien.
»Hände auf den Tisch«, sagte Obermann streng zu Gerta.
»Mama, dürfen wir auch reiten lernen? Bitte.« Frederike sah ihre Mutter an.
»Kinder am Tisch, stumm wie ein Fisch«, zischte Obermann.
Die Mutter schaute zu Onkel Erik. »Was meinst du? Ich würde auch gerne wieder reiten. In meiner ersten Ehe bin ich viel ausgeritten.«
Hilde hatte die Suppe serviert. Sie und Gerulis hielten sich im Anrichtezimmer auf, wohin auch der Speisenaufzug aus der Küche führte, und warteten darauf, dass die gnädige Frau klingelte. Das war dann das Zeichen, dass alle die Suppe aufgegessen hatten, die Teller abgetragen und der nächste Gang serviert werden konnte.
»Reiten? Du willst wieder reiten?«, fragte Onkel Erik erstaunt. Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Nun ja, warum eigentlich nicht?«
»Wir wollen doch im Herbst und Winter sicher Jagden veranstalten, nicht wahr?«, fragte Mutter und lächelte den Mädchen zu.
»Ja, das sollten wir tun. Überhaupt müssen wir unser gesellschaftliches Leben ein wenig auf Vordermann bringen.«
»Früher war alles anders hier«, seufzte Tante Edeltraut.
»Ich habe da eine Stute, die könnte durchaus passend für dich sein«, sagte Onkel Erik nachdenklich. »Für die Mädchen müssten wir ein Pony kaufen. Darüber werde ich nachher mit dem Kutschermeister sprechen. Er weiß sicher, ob jemand ein Pony hat, das geeignet wäre.«
»Oh, danke«, sagte Frederike. Sie hoffte inständig, dass mit dem Reiten die halbe Stunde Leibesübungen vor den Augen des Hauslehrers vorbei wäre.
»Und wie ist es bei dir, Fritz?«, fragte Onkel Erik. »Machst du Fortschritte beim Reiten?«
Fritz verzog das Gesicht. »Es geht schon. Nur mein Hinterteil hat sich wohl noch nicht daran gewöhnt.«
Alle lachten, nur Obermann nicht. »Solche Gespräche ziemen sich nicht am Tisch, Fritz«, zischte er.
»Ich hatte ja gefragt«, sagte Onkel Erik beschwichtigend.
Die Mutter läutete, und die Suppenteller wurden abgetragen. Nun gab es das Hauptgericht – Fleisch, Gemüse und Beilagen. Die Platten und Schüsseln wurden weitergereicht. Hatte sich jeder genommen, trug Hilde die Speisen zurück in das Anrichtezimmer, wo sie warmgehalten wurden. Meist wurde noch ein zweites Mal angeboten und dann gab es den Nachtisch. Es waren sättigende Speisen, aber manches davon war ungewohnt für die Gaumen der Stadtkinder.
»Die Post«, sagte Gerulis und legte Onkel Erik einen Stapel Briefe neben den Teller. »Sie ist heute spät, da war etwas mit dem Zug.«
»Ein Unfall?«, fragte Mutter erschrocken.
»Nein, zum Glück nicht, gnädige Frau. Die Schafe des Nachbargutes hatten beschlossen, dass der Bahndamm eine gute Stätte zum Grasen sei. Zum Glück hat der Schweizer des Gutes es bemerkt und konnte den Zug anhalten. Ansonsten hätten jetzt die zu Orlewskis jede Menge Hammel und Schaffleisch zum Einwecken gehabt.«
Erik schmunzelte und öffnete die Briefe. »Stefanie, Liebes, Ax von Stieglitz fragt an, ob er uns nächste Woche besuchen dürfe? Er will nach Graudenz.«
»Stieglitz?« Die Mutter runzelte die Stirn. »Ax von Stieglitz, der Name sagt mir etwas.«
»Unsere Väter waren befreundet. Auch Egbert kannte Ax’ Vater aus der Armee.« Erik räusperte sich und sah auf seinen Teller.
»Ach ja?«, sagte die Mutter. »Und was ist mit diesem Ax von Stieglitz?«
»Er züchtet vor allem Trakehner für die Armee und will nächste Woche die Garnison in Graudenz aufsuchen. Auf dem Weg dorthin würde er gerne hier vorbeikommen und ein oder zwei Tage bleiben.«
»Aber was für eine Frage. Natürlich darf er kommen.«
»Er ist noch ziemlich jung, erst vierundzwanzig, und führt nun das große Gut alleine. Aber bisher macht er das ganz grandios. Ein patenter Bursche.«
»Sag mir, wann er kommt, dann werde ich mit der Mamsell den Küchenplan besprechen«, meinte die Mutter und lächelte. »Das erste Mal ein Gast, wenn das nicht eine Herausforderung für die Mamsell und mich ist«, fügte sie leise hinzu.
Ein Gast, dachte Frederike aufgeregt, die interessiert das Gespräch der Eltern verfolgt hatte. Und dann auch noch ein Gast mit einem so klangvollen Namen. Ax von Stieglitz. Wie er wohl sein mochte? Sie nahm sich vor, in den Adelsbüchern, die in der Bibliothek standen, nachzuschauen.
Nach dem Essen gab es eine kurze Ruhepause, dann hatte Fritz seinen Reitunterricht. In dieser Zeit mussten die Mädchen, von Leni angeleitet, Handarbeiten verrichten.
»Ich will auch reiten«, sagte Gerta verärgert und starrte von der Veranda auf den Hof.
»Wir dürfen ja demnächst, hat Onkel Erik gesagt«, beschwichtigte Frederike sie.
»Es ist wichtig, dass ihr Haushaltsdinge lernt. Stopfen, Sticken, Nähen, all das solltet ihr beherrschen«, sagte Leni. »Das ist wichtiger als Reiten für euch.«
»Aber für Hausarbeiten gibt es doch Personal«, nölte Gerta wieder.
»Man sollte wissen, wie etwas geht, auch wenn man dafür Personal hat. Und nun stopf das Taschentuch, und zwar so, dass man es nachher nicht sieht«, ermahnte Leni sie.
»Lernen wir auch die anderen Dinge, die zur Haushaltsführung gehören?«, fragte Frederike.
»Natürlich, Kind.«
»Hat Mutter das auch gelernt?«
»Nun, sicherlich ist auch sie darauf vorbereitet worden, einen Haushalt zu führen. Und sie kann es ja auch, hat es ja jahrelang in Potsdam gemacht.«
»Aber keinen Gutshof«, sagte Frederike nachdenklich. »Hier ist alles anders. Vor allem größer.«
Leni sah sie an. »Ein Haushalt ist ein Haushalt, und deine Mutter weiß, wie man einem vorsteht.«
»Das sieht die Mamsell anders«, sagte Frederike leise. »Und die Leute auch.«
»Bitte? Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe es gehört.«
»Wo?«
»Heute Morgen, in der Küche.«
»Kind, was hast du in der Küche verloren?«, wollte Leni wissen.
»Sie musste Wasser holen für den Herrn Lehrer. Du hattest es vergessen«, sagte Gerta naseweis.
»Der Herr Lehrer also.« Leni seufzte, sah sich dann um. »Was haben die Leute gesagt, Freddy?«, fragte Leni nun leise.
Frederike verzog das Gesicht. Sie wollte nicht petzen und auch keinem in den Rücken fallen, aber dass die Angestellten des Haushalts über ihre Mutter gelacht hatten, schmeckte ihr nicht.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie trotzdem zögerlich.
»Nun sag es schon.«
Frederike schaute sie an. »Nun, ich habe Wasser holen wollen und stand vor der Küchentür, die nur halb geschlossen war. Da habe ich die Mamsell gehört. Sie hat sich darüber beklagt, dass Mutter keine Ahnung vom Gutshausbetrieb habe. Und die Mädchen haben ihr zugestimmt. Der Gärtner hat darüber gelacht, dass sie Artischocken anbauen will. Aber wir hatten in Potsdam doch auch Artischocken im Garten, was stimmt denn damit nicht? Und die Mamsell hat gemeint, dass Mutter Gesellschaften veranstalten wolle, aber noch nicht mal das Vorratswesen am Hof verstünde.« Frederike holte tief Luft. »Ist das so, Leni? Versteht sie das nicht?«
Leni räusperte sich, stand dann auf und ging zu dem kleinen Tischchen, wo Brause und Gläser standen. »Haben sie sonst noch etwas gesagt?«
»Weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall klang das alles nicht freundlich, obwohl sie mich sehr nett und zuvorkommend behandelt haben.« Frederike schluckte. »Ich möchte das alles lernen, Leni. Ich werde irgendwann einen Gutsbesitzer heiraten, hoffe ich.« Sie schaute zu Tante Edeltraut, die in der anderen Ecke der Veranda saß und strickte. »Ich möchte keine bedauerliche Spinster werden«, fügte Frederike flüsternd hinzu.
»Na, weißt du, Kind!«, sagte Leni empört. »Wie kannst du denn so etwas sagen?«
»Das ist doch so.« Frederike schaute sie an. »Oder etwa nicht? Wir sollen das Haushaltswesen lernen, um zu heiraten. Und um uns möglichst gut zu verheiraten. Aber ich will nicht in so einer Situation landen wie Mutter.«
»Freddy, deine Mutter ist ganz sicher Herrin der Situation. Täusche dich da nicht. Die Mamsell hat es nur noch nicht begriffen«, sagte Leni energisch. »Ihr dürft jetzt eure Handarbeiten beiseitelegen bis morgen. Die ersten Erdbeeren sind reif. Lasst euch Körbe oder Schüsseln in der Küche geben und geht, um sie zu ernten. Auch von den Kindern der Gutsfamilie wird Engagement erwartet. Nun macht schon.« Plötzlich schien Leni sehr ungeduldig. Frederike und Gerta konnten nicht schnell genug ihre Stopfsachen in den Korb legen und in die Küche laufen. In die Beeren sollten sie gehen, wie herrlich. Ein Teil der Ernte würde in ihrem Mund landen, so viel war sicher.
Der Gedanke an den bevorstehenden Besuch ließ Frederike nicht los. Von Stieglitz, das klang so romantisch.
Wie ein Ritter aus den Büchern, die ihnen der Lehrer zu lesen gab. Von Stieglitz war sicher ein stattlicher Mann. Aber er war schon vierundzwanzig und somit fast uralt. Dennoch konnte sie es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.
»Ach, Liebes«, sagte Onkel Erik einige Tage später fast nebenbei, als sie beim Abendbrot saßen. »Ax von Stieglitz hat gekabelt, er komme morgen Mittag mit dem Zug.«
»Und das sagst du mir jetzt erst, Erik?« Mutter faltete die Serviette zusammen und legte sie neben ihren Teller auf den Tisch. Sie runzelte die Stirn. »Wie lange bleibt er denn?«
»Bis übermorgen, dann fährt er weiter nach Graudenz. Vielleicht begleite ich ihn.«
»Du willst fort?«
»Nur für einen oder zwei Tage. Falls du etwas hast, was ich für dich oder den Haushalt besorgen soll, dann schreib es mir auf.« Onkel Erik widmete sich wieder dem Essen.
»Ist Graudenz größer als Bromberg?«, wollte Fritz wissen.
»Nein, mein Junge.«
»Aber warum willst du dann dahin?«, fragte Mutter.
»Ax und ich treffen uns dort mit Leuten vom Regiment. Dort ist eine große Kaserne, inzwischen polnisch.« Er verzog das Gesicht. »Genau wie in Bromberg auch. Nun, wir müssen uns mit ihnen gut stellen. Die Polen wollen Pferde kaufen.«
»Du willst deine Pferde an eine fremde Armee verkaufen?« Mutter sah ihn entsetzt an.
»Der Versailler Vertrag zwingt mich dazu. Oder ich mache Wurst aus den Tieren, wäre dir das lieber?« Verärgert knüllte er seine Serviette zusammen und schob seinen Stuhl zurück.
»Nun sei doch nicht böse«, versuchte die Mutter ihn zu beschwichtigen. »Ich weiß doch, wie schwierig es für dich ist.«
»Darf ich mit?«, fragte Fritz.
»Wohin?« Onkel Erik sah ihn überrascht an.
»Nach Graudenz.«
»Nein, Fritz«, sagte die Mutter tadelnd. »Das ist nichts für Jungen wie dich.«
»In ein paar Jahren, mein Sohn, dann nehme ich dich mit. Und du darfst natürlich mit, wenn wir demnächst nach Bromberg fahren.« Onkel Erik nickte ihm zu.
»Von Stieglitz kommt also morgen Mittag?«, fragte die Mutter noch einmal nach.
»Hans wird ihn vom Bahnhof abholen, Liebes. Das habe ich schon geklärt.«
»Bringt er einen Burschen mit?«, fragte die Mutter besorgt.
»Ich nehme es an. Geschrieben hat er davon nichts. Wieso?« Erik schüttelte verwundert den Kopf.
»Weil ich wissen muss, ob wir nur ein Gästezimmer oder auch eine Kammer vorbereiten müssen, Erik.«
»Sag einfach der Mamsell, dass Besuch kommt. Sie wird alles Notwendige veranlassen.«
»Das denkt sich die Mamsell wohl so«, murmelte die Mutter so leise, dass nur Frederike, die neben ihr saß, es verstand.
Morgen würde er also kommen, der Herr von Stieglitz. Frederikes Herz pochte vor Aufregung. Wie er wohl sein würde? »Hilde, sag der Mamsell, dass ich sie gleich sprechen möchte«, sagte die Mutter.
»Ihr entschuldigt mich.« Onkel Erik stand auf. Normalerweise wurde gewartet, bis alle fertig waren und Mutter Hilde das Zeichen zum Abräumen gab. Die Mutter sah ihn erstaunt an.
»Ich muss sofort in den Kuhstall. Der Schweizer macht sich immer Sorgen. Letzte Woche hatten wir schon einen Fall von Euterfieber, jetzt scheint tatsächlich ein weiterer Fall aufgetreten zu sein.« Er drehte sich um und ging.
»Warum heißt der Stallknecht bei den Kühen eigentlich Schweizer?«, wollte Gerta wissen. Unschlüssig sah sie auf den Tisch.
Die Mutter interpretierte ihren Blick richtig. »Du darfst dir noch nehmen. Ihr dürft alle weiteressen.«
»Der Schweizer heißt Schweizer, weil er aus der Schweiz kommt«, sagte Fritz und drehte seiner Schwester eine Nase.
»Das stimmt nicht«, sagte Frederike. »Die guten Milchknechte kamen früher aus der Schweiz. Der Name ›Schweizer‹ hat sich einfach gehalten. Unser Schweizer heißt Koslowski.« Sie grinste.
»Du Schlaumeier.« Fritz verdrehte die Augen. »Mutter, darf ich morgen mit zum Bahnhof fahren und den Gast abholen? Bitte, sag ja.«
Obermann, der mit am Tisch saß, sich aber in die Leberwurst vertieft hatte, sah entrüstet auf. »Mittags? Da haben wir Unterricht«, zischte er.
Auch die Mutter schüttelte den Kopf. »Es ist nur ein Gast, ein Freund der Familie. Wir werden nicht viel Aufhebens machen und ihr werdet natürlich morgen zum Schulunterricht gehen.« Sie stand auf. »Esst nur weiter, ich muss mit der Mamsell reden.«
Mutter ging in das Gartenzimmer neben dem Anrichteraum, wo sie ihren Sekretär hatte.
»Nicht viel Aufhebens«, sagte Fritz und zog die Augenbrauen hoch, sah der Mutter hinterher. »Wahrscheinlich lässt sie morgen für zehn Mann auffahren.«
»Wer weiß«, meinte Frederike nachdenklich. »Ich glaube, sie sorgt sich eher um die Mamsell als um den Gast.«
»Nun hört auf zu schwatzen«, brummte Obermann. »Wenn ihr fertig seid, können wir die Tafel aufheben. Ihr könnt dann hochgehen.« Er warf einen begehrlichen Blick auf den Wurstteller.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Fritz, der den Blick wohl auch bemerkt hatte. Er nahm sich eine weitere Scheibe Brot, bestrich sie genüsslich mit Butter und schnitt sich zwei dicke Scheiben von der Leberwurst ab.
Gerta war schon aufgesprungen und in die Halle gehüpft. So, wie Frederike sie kannte, würde sie noch vor dem Schlafengehen in den Stall schauen, ob neue Kälbchen geboren worden waren, und nach den Kätzchen sehen.
Frederike folgte ihr, sie ging aber nicht nach draußen, sondern zog sich den Sessel neben die Tür zu Mutters Büro. Sie kauerte sich hinter den Sessel und lauschte, denn die Tür schloss nicht richtig. Und schon kam die Mamsell aus dem Souterrain. Sie strich ihre Schürze glatt, fuhr mit den Händen über die Haare, die zu einem engen Knoten im Nacken geschlungen waren, und straffte die Schultern. Dann klopfte sie an die Tür zu Mutters Büro.
»Sie haben nach mir gerufen?«
»Das ist richtig, Mamsell. Treten Sie ein«, hörte Frederike ihre Mutter sagen. Die Mamsell schloss die Tür hinter sich, aber so, wie Frederike es erhofft hatte, sprang diese im nächsten Moment wieder auf. Nun gab das Mädchen der Tür noch einen leichten Stoß, dann lehnte es sich an die Wand und horchte.
»Morgen Mittag kommt ein Freund meines Mannes zu Besuch«, sagte die Mutter.
»Oh, wer ist es denn?«, wollte die Mamsell wissen.
Mutter stockte kurz. »Ax von Stieglitz. Wieso?«
»Ach, ich wollte nur wissen, ob ich ihn und damit seine Gepflogenheiten kenne«, sagte die Mamsell spitz. »Ax von Stieglitz ist noch sehr jung. Aber die Familie war schon einige Male hier auf Fennhusen zu Gast.«
»Ist das so? Nun, was für Gepflogenheiten hat er denn?«
»Der junge von Stieglitz? Das weiß ich nicht so genau. Sein Vater aber wollte immer …«
»Sein Vater ist tot«, unterbrach Mutter die Mamsell. »Jedenfalls kommt dieser Ax morgen Mittag mit dem Zug. Mein Mann hat schon veranlasst, dass er abgeholt wird. Was ist morgen zu Essen geplant?«
»Wir waren nicht auf Besuch eingestellt«, meinte die Mamsell und klang ein wenig beleidigt. »Es sollte morgen Béchamelkartoffeln und Schinken geben. Das geht natürlich nicht, wenn wir Besuch haben.«
»Was können wir anbieten?«
»Nun, wir haben letzte Woche ein Kälbchen geschlachtet, dessen Mutter gestorben ist. Das Kalb hängt im Eiskeller, genau wie seine Mutter, die muss aber noch länger abhängen.« Die Mamsell schnaubte leise.
»Kalb, das klingt gut. Ich schlage vor, dass es zum Mittag eine kräftige Suppe mit Einlagen gibt, dann Lammbraten.«
»Die Köchin könnte ein Ragout machen«, schlug die Mamsell vor.
»Nein, die Männer wollen Fleisch. Ich möchte einen Braten. Und zuvor etwas Fisch. Wie sieht es aus, haben wir frischen Fisch?«
»Die Weiher sind voll, aber ob so schnell einer an die Angel geht, gnädige Frau«, wandte die Mamsell ein. »Ein paar geräucherte Forellen vom letzten Wochenende haben wir noch.
»Vom letzten Wochenende? Nein, das ist nicht gut genug. Das können Sie auf den Leutetisch geben. Was ist mit Krebsen? Es ist nun länger hell, die Kinder könnten zum Fluss laufen und Reusen auslegen.«
»Wie die Gnädigste meint«, sagte die Mamsell skeptisch.
»Die Krebsnasen könnten Sie doch mit Teig füllen – eine wunderbare Dekoration. Das hat meine Köchin in Potsdam immer gemacht. Ich hätte auch gerne einen frischen Salat und Herzoginnenkartoffeln – das bekommt die Köchin doch wohl hin?«
»Natürlich.« Nun klang die Mamsell eisig. »Sonstige Wünsche?«
»Eine Eierspeise als Nachtisch? Oder lieber Eis. Haben wir noch genügend im Eishaus, damit uns die Köchin ein Sorbet machen kann?«
»Ich glaube schon. Wir haben ja erst Ende Mai.« Die Mamsell schnalzte mit der Zunge. »Wenn uns jetzt schon das Eis ausgegangen wäre …«
Die Mutter unterbrach sie. »Gut. Ich wünsche frisches Weißbrot und nachmittags natürlich Kuchen mit Schlagobers. Vielleicht fällt der Köchin noch etwas ein. Abends könnten wir ja dann eine Krebssuppe anbieten, wenn die Kinder genügend fangen.«
»Jawohl. Wie lange bleibt der Gast?«
»Nur zwei Tage. Was wir übermorgen machen, können wir morgen besprechen. Lassen Sie ein Zimmer im Westflügel nahe am Bad herrichten und sehen Sie zu, dass der Ofen mit reichlich Holz gefüllt und angeheizt ist, falls unser Gast ein Bad nehmen will.«
»Selbstverständlich. Noch etwas?«
»Ich weiß nicht, ob er einen Burschen mitbringt. Wir sollten aber darauf vorbereitet sein.«
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Danke, Mamsell. Ich glaube, das wäre alles.«
Frederike hörte Schritte auf die Tür zukommen und drückte sich noch enger an die Wand. Sie war froh, dass Hektor im Hof und nicht in der Halle war, denn sonst hätte er sich sicherlich neben sie gelegt und sie verraten.
»Mamsell?«, rief die Mutter. »Es tut mir leid, dass es so knapp ist. Ich habe auch erst gerade von dem Gast erfahren.«
»Ja, gnädige Frau.«
Die Mamsell öffnete die Tür und ging im Stechschritt zur Kellertreppe.
Oh je, dachte Frederike, die ist sauer. So schnell sie konnte, stand sie auf und lief zur Haustür, dort drehte sie sich um und ging ganz langsam wieder zurück in Richtung Esszimmer. Ihr Plan ging auf, Mutter kam in die Halle, sah sie.
»Kind, wo sind deine Geschwister?«
Frederike zuckte unschuldig mit den Achseln.
»Such sie. Nehmt euch die Netze und geht zum Bach. Ihr dürft auch eine Lampe mitnehmen und ausnahmsweise bis nach der Dämmerung draußen bleiben. Wir brauchen Krebse.«
»Wirklich?« Frederike strahlte, aber die Mutter hatte sich schon wieder umgedreht und war in ihrem Büro verschwunden.
Normalerweise durften sie nur in den Ferien Krebse fangen und es war jedes Mal wieder ein lustiges Abenteuer. Frederike informierte Fritz, wies ihn an, Gerta und die Netze aus dem Stall zu holen. Sie würde in die Küche gehen und um Fleischreste und eine Petroleumlampe bitten.
Begeistert lief Fritz davon, pfiff nach den Hunden und rief lauthals die Schwester.
Vor der Küche hielt Frederike inne. Sie konnte die aufgebrachte Stimme der Mamsell hören. Sonst hätte sie einen Moment gelauscht, aber nun drängte es sie, zum Bach zu kommen, also öffnete sie die Tür.
»Es ist unglaublich«, sagte die Mamsell empört, »was sie sich herausnimmt. Ich bin seit zwanzig Jahren Mamsell auf diesem Gut und weiß …«
»Guten Abend«, sagte Frederike fröhlich. »Wir sollen Krebse fangen, sagte meine Mutter. Darf ich bitte eine Lampe und Köder haben?«
»Aber natierlich.« Die Köchin stupste eines der Mädchen an. »Hol eine Lampe aus der Kammer und schau, ob jenügend Petroleum drin ist.« Dann nahm sie eine Packung Zündhölzer von der Anrichte und gab sie Frederike.
»Passt aber ja auf. Mit Feuer spielt man nicht. Es hat lange nicht jeregnet«, sagte sie ernst. »Und dann wollen wir mal sehen, wat wee an Köder haben.« Sie tat einige Fleischreste in eine Schüssel. »Das sollte reichen.«
»Danke schön«, sagte Frederike und nahm die Schüssel entgegen. Das Dienstmädchen brachte ihr die Lampe.
»Warte«, sagte die Köchin. »Ilse, geh mit hoch. Nimm drei Flaschen, die kann Fritz tragen. Die Brause hab ich heute frisch jemacht. Schön sieß.«
»Oh, danke, das ist toll.« Frederike knickste vor Freude.
»Nich doch«, sagte die Köchin und lachte. »Seht zu, dass ihr Spaß habt.«
»Also wirklich, Schneider«, schnaubte die Mamsell.
»Es sind doch noch Kinderchen«, hörte Frederike die Köchin sagen, bevor die Tür hinter ihr zu fiel.