Das Mädchen aus dem Meer - Rebecca Hohlbein - E-Book

Das Mädchen aus dem Meer E-Book

Rebecca Hohlbein

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Beschreibung

Stell dir vor, du fischst eine Göttin aus dem Meer

Eigentlich wartet der Fischerjunge Froh in seinem kleinen Boot inmitten des weiten Ozeans nur auf sein Ende. Doch dann treiben die Wellen ein glitzerndes Bündel auf sein Boot zu – Froh kann seine Neugierde nicht zügeln und zieht das Bündel an Bord. Zu seiner großen Überraschung ist es ein wunderschönes Mädchen mit goldenem Haar: Chita, die Tochter von Göttern, deren Leben perfekt zu sein schien – bis sie Fragen stellte und erkannte, dass die Welt ihrer Eltern eine dunkle ist ...

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REBECCA HOHLBEIN

DAS

MÄDCHEN

AUS DEM

MEER

Roman

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Originalausgabe 06/2013

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2013 by Rebecca Hohlbein

Copyright © 2013 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10084-1V003

www.heyne-magische-bestseller.de

Erster Teil

1

Die Götter zeigten sich von ihrer gehässigsten Seite, doch Froh konnte es ihnen nicht verübeln. Er hatte es nicht besser verdient.

Gleich zu Beginn seiner Irrfahrt hatten die Götter gewollt, dass ein Großer Zahnfisch in seinem winzigen Baumboot landete. Der Große Zahnfisch hingegen hatte eigentlich gewollt, dass ein paar der zahllosen kleinen Fische, die urplötzlich neben Froh durch die Wellen geschossen waren, in seinem gierigen Maul landeten, aber seine Wünsche waren selbstredend nichtig, wenn sie den Zielen der Götter im Weg standen.

Nun– der Große Zahnfisch war jedenfalls fast so lang gewesen wie das Boot, und Froh hatte erleichtert festgestellt, dass das Monster nicht mit seinem großen Maul voller Zahnreihen zu seinen Füßen gelandet war, sondern mit dem Kopf im Bug. Er fand, dass ein paar abgebissene Zehen möglicherweise auch eine gute Strafe für einen schlechten Menschen waren, konnte aber trotzdem auf die Erfahrung verzichten.

Nicht, dass er sich gegen das Fischmonster gewehrt hätte, wenn es anders gekommen wäre– wie gesagt: Er hatte sich den Zorn der Götter redlich verdient und war bereit, alles, wirklich alles zu ertragen, was sie ihm für sein eigennütziges Verbrechen abverlangten. Aber ein kurzes Aufatmen hatte er sich dennoch erlaubt, als er noch sämtliche Gliedmaßen besessen hatte, nachdem der Große Zahnfisch endlich das Zappeln eingestellt hatte.

Tagelang hatte er dem übel riechenden Schuppenmonster möglichst wenig Beachtung geschenkt und war unbeirrt weiter gen Horizont gerudert. Bis auf seine Kräuterkrüge hatte er keinerlei Proviant bei sich; sein Schicksal lag ganz allein in den Händen der Götter– insbesondere in denen Ivis, der über das Meer herrschte und vor dem er die allergrößte Schuld auf sich geladen hatte.

Aber irgendwann war ihm ein Gedanke gekommen: Wenn es eine unverzeihliche Sünde war, sich selbst oder einen anderen Menschen zu töten, für die einen post mortem mit absoluter Sicherheit das ewige Grauen in Vulkas Schwarzer Höhle unterhalb des Kranken Berges erwartete, dann war es wohl nicht minder verwerflich, den eigenen Körper elendig verhungern zu lassen. Auch dann nicht, wenn man es aus Reue tat. Aus Reue eine neue Sünde zu begehen, konnte nicht der Sinn der Sache sein, und weil der Große Zahnfisch nach drei Tagen in der brüllenden Hitze außerdem gar nicht mehr so bitter und faulig stank wie ganz am Anfang, sondern duftete wie ganz gewöhnlicher Trockenfisch, hatte Froh ihn ausgenommen und zerlegt. Das Fleisch hatte er sich gut eingeteilt. Immer dann, wenn er befürchten musste, anderenfalls zu verhungern, hatte er sich ein Stückchen davon genehmigt. Aber allen sehr vorbildlichen Gedanken zum Trotz hatte er dabei ein schlechtes Gewissen verspürt. Er hatte es nicht verdient zu essen– nur eben auch kein Recht, es einfach zu lassen.

Geschmeckt hatte es ihm trotzdem, und am Leben erhalten hatte es ihn auch.

Dass bald, nachdem der letzte Happen verschlungen war, ein monsunartiger Regenschauer auf sein Boot herabgestürzt war und seine jüngst erschöpften Wasservorräte aufgefüllt hatte, verdankte er zweifellos ebenfalls Ivi. Offenkundig war dem Meeresgott sehr daran gelegen, Frohs sündigen Körper so lange wie möglich immer ganz knapp am Leben zu erhalten. Vielleicht hatte er sich noch nicht entschieden, wie er mit seiner unsterblichen Seele vorgehen sollte. Froh hoffte, dass er es bald tat, und dass die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfiel. Nicht Vulkas Unterwelt, sondern das ewige Glück in der Welt über den Wolken– oder zumindest eine Wiedergeburt als neuer Mensch, der es ganz bestimmt besser machen würde als Froh– war sein angestrebtes Ziel.

Dem Regen war raue See gefolgt. Es hatte gestürmt. Meterhohe Wellen hatten sich um ihn herum aufgetürmt wie Hügel und Berge– zuletzt die größte, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Wie eine ganze Gebirgskette hatte sie sich als grauer Streifen am Horizont abgezeichnet, und während sie aufihn zugerast war, hatte er alle Götterlieder gesungen, die er kannte. Jetzt war es wirklich vorbei, hatte er gedacht. Nun war die Entscheidung gefallen, und in den letzten Augenblicken seines irdischen Lebens wollte er noch einmal mit aller Kraft und Entschlossenheit für seine unbedeutende kleine Seele beten.

Aber irgendwas hatten Ivi und die anderen Götter falsch verstanden. Oder es war wirklich eine erhabene Form von Gehässigkeit, dass die Riesenwelle sein kleines Boot auflas, fast bis in die grauen Wolken hinaufschleuderte und es schließlich wieder auffing, um es dann fast sanft hinfortzutragen, ohne dass es sich bei alledem allzu sehr geneigt hätte, geschweige denn umgestürzt wäre. Froh hatte sich nicht einmal festgehalten. Trotzdem saß er noch immer in seinem Baumboot und konnte kaum glauben, was die Götter ihm nun, als das Meer wieder friedlich vor ihm lag, zuspielten:

Einen Sack voller Fische.

Als der große Leinenbeutel in seine Nähe getrieben war, hatte er versucht, ihm keine Beachtung zu schenken. Er hatte nicht gewusst, was er enthielt, und hätte in passiver Demut abgewartet, bis das Meer ihn wieder verschluckt oder die Wellen ihn wieder hinweggeschwemmt hätten. Doch weder das eine noch das andere war geschehen. Stattdessen war der Sack über die inzwischen wieder ruhigen Fluten auf ihn zugerollt, bis eines seiner Paddel dagegengestoßen war und er gerochen hatte, was er enthielt.

Froh hatte mit den Augen gerollt und ihn an Bord gehievt, wo er ein wenig Platz schuf, indem er den kleinen Fischen, die um sein Boot herumschwärmten, die letzten Innereien des Großen Zahnfischs überließ. Ein Blick in den schweren Sack hatte bestätigt, was seine Nase ihm verraten hatte: Es war ein Sack voller Fische, und sie waren kaum verdorben.

Danke, Ivi…

Froh zwang sich ein Lied ab, das er dem Gott des Meeres widmete, und bemühte sich, dabei freundlich auszusehen.

Aber seine Prüfung war noch lange nicht vorbei.

Als er den nassen Sack wieder verschloss, sah er einen zweiten Sack an sich vorüberziehen– doch dieser trieb nicht an der Oberfläche, sondern in einer guten Armeslänge Tiefe. Außerdem zappelte er auf sackuntypische, sehr menschliche Weise.

Froh schob die Füße unter den schweren nassen Fischsack, um sich halbwegs sicheren Halt zu verschaffen, beugte sich so weit vor, dass er dabei seine breite sonnenverbrannte Nase ins Wasser stippte, und packte den Sack, der in Wirklichkeit ein Mensch war, an einem der wild um sich schlagenden Arme.

Ein Mensch, der nicht schwimmen konnte… Froh hatte nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gab. Selbst Neugeborene konnten schwimmen. Sie wurden im Wasser geboren.

Mit einem kraftvollen Ruck zerrte er den Menschen an die Oberfläche, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so leicht sein würde, zumal die lange Zeit auf hoher See seinen Körper erheblich geschwächt hatte. Der federleichte Mensch schoss im hohen Bogen aus den Wellen und landete mit einem dumpfen und zugleich schnalzenden Laut auf ihm, als der Schwung ihn rückwärts ins Boot schleuderte. Mit sanfter Gewalt schob er das Mädchen von sich herunter und drapierte es auf dem Fischsack.

Daran, dass es ein Mädchen war, bestand überhaupt kein Zweifel. Gerade noch hatte sein Kopf zwischen ihren Brüsten geklemmt. Sie hustete und spuckte Salzwasser.

»Du lebst!«, stellte er schwer atmend fest. Dann rutschte er so weit von ihr weg, wie es ihm die Enge des Baumboots eben erlaubte. »Natürlich lebst du…«, presste er stockend hervor. »Du bist… du bist… ein… eine…«

Sie war noch immer völlig außer Atem und zitterte am ganzen Leib. Dennoch bedachte sie ihn mit einem mitfühlenden Blick, während sie antwortete:

»ɞ̙ɜ̃ə̥ɛ˞ɛɤ̀ɥ̃ɤ̹ɮ̥ɯ́ʁ̃ʀ̩ɷ̨ʃpou̝ɑ˞ɐ̈ƙ̯ƞƥı̄.«

Froh legte den Kopf schräg. Eine seiner buschigen Brauen suchte Hilfe am Haaransatz, bekam aber keine.

Einen Moment, in dem sie ihn mit schwer deutbarem Gesichtsausdruck musterte, schwieg die Göttin. Dann wiederholte sie in seiner Sprache: »Ich bin ein Mensch, wie du.«

Froh blinzelte vorsichtig in ihre Richtung. »Aber dein Haar…«, flüsterte er. »Es ist aus Gold. Und deine Augen sind aus… Meer. Du bist eine Unsterbliche. Du bist eine Göttin.«

Das Mädchen verbarg seine Augen aus Meer unter den Lidern und schnitt eine wenig göttliche Grimasse. Eine quälende Weile lang schien sie darüber nachzudenken, wie sie mit ihm umgehen sollte. Wahrscheinlich, dachte Froh, war sie gekommen, um ihn zu Vulka zu bringen, weil er in seiner Gier den ganzen Großen Zahnfisch allein gegessen und den kleinen Fischen, die Ivi gehörten, nur die ungenießbaren Gedärme überlassen hatte. Jetzt suchte sie bestimmt nach Worten, die ihm klarmachten, dass er sein Ziel nicht mehr erreichen würde.

Aber als sie die Lider irgendwann wieder hob, sagte sie: »Ich bin Chita. Sag mir deinen Namen.«

»Dein Haar ist aus Gold«, wiederholte Froh noch immer voller Ehrfurcht, aber nicht mehr ganz so ängstlich wie noch vor einigen Atemzügen, denn sie zitterte noch immer, und er musste wieder daran denken, dass sie gerade fast vor seinen Augen ertrunken wäre. Die Schwäche, die er da unzweifelhaft ausmachte, raubte ihr ein bemerkenswertes Stück Göttlichkeit. »Du bist keine von uns«, stellte er darum vorsichtig fest. »Und doch sprichst du meine Sprache.«

»Ich spreche jede Sprache«, verbesserte ihn die Vielleicht-Doch-Nicht-Göttin.

»Weil du…«, begann Froh, dessen Gedanken im Begriff waren, sich im Kreis zu drehen.

Aber die Goldhaarige unterbrach ihn mit einem erschöpften Wink. »Weil ich eine Sprachkundige bin«, erklärte sie, schüttelte den Kopf und schloss die Augen wieder. »Oder geworden wäre«, betonte sie, »wenn nicht… hätte nicht…«

Sie verstummte, und die Muskeln in ihren Kiefern und ihrer Stirn begannen sichtlich zu arbeiten. Das Zittern nahm zu, bis es eher ein Beben war, das sie schüttelte, und plötzlich quollen große, glitzernde Tränen zwischen ihren geschlossenen Lidern hindurch, rannen ihre hellen Wangen hinab und hinterließen schmale, rötliche Pfade.

Nun war es Froh, der sie mitfühlend betrachtete. Eine kleine Weile wusste er nicht, wie er reagieren sollte, und schaute ihr hilflos beim Weinen zu. Dann streckte er zaghaft eine Hand nach ihren nackten Füßen aus und berührte vorsichtig ihre Zehen, die neben seinen rauen, klobigen Fingern so zerbrechlich wirkten wie zarte weiße Blütenblätter.

»Götter weinen nicht«, flüsterte er sanft.

Chita blinzelte ihn durch den Tränenschleier hindurch an. Dankbar streckte sie eine Hand nach ihm aus, und er half ihr, sich halb aufzusetzen, zog umständlich einen der beiden Tonkrüge, die er besaß, unter dem Fischsack hervor, und löste den Korken. Das Regenwasser, das sich mit den längst faden Kräutern der Fischer darin befand, sollte den Geschmack von Salz, Fisch und Plankton aus ihrem Mund vertreiben. Um auch ihren Durst zu stillen, würde es wahrscheinlich nicht mehr reichen.

»Vom Medizinmann«, erklärte er trotzdem stolz, als sie nach dem ersten Schluck überrascht auf den kleinen Krug in ihren Händen hinabblickte.

Geräuschvoll, aber lächelnd zog sie die Nase hoch. »Bist du auch ein Medizinmann?«, erkundigte sie sich. »Oder möchtest du einer werden? Bist du so etwas wie ein Novize?«

Froh lachte auf. Sie stellte Fragen– und vertrieb damit auch die letzten Zweifel an ihrer Menschlichkeit aus seinen Gedanken.

»Der größte von allen!«, behauptete er mit einer ausholenden Geste und zwinkerte ihr schelmisch zu. »Du sitzt auf einem Sack voller magischer Fischkadaver, mit denen man Krankheiten heilen und Götter herbeibeschwören kann… Nein«, winkte er ab, als Chita zweifelnd auf den stinkenden Sack hinabblickte. »Ich bin nur ein einfacher Fischer. Aber das Herbeibeschwören von Göttern hat ja trotzdem ganz gut geklappt.« Er grinste schief. »Mein Name ist übrigens Froh.«

»Dein Name freut sich?«

»Nein. Man nennt mich Froh«, verbesserte Froh sie. »Selbstverständlich habe ich auch einen richtigen Namen. Aber der ist so lang und grässlich, dass ich ihn mir selbst kaum merken kann. Meine Mutter jedenfalls ruft mich Froh, seit ich denken kann. Bei uns in der Familie ist es Sitte, die Kinder in ihrem dritten Lebensjahr mit einem zusätzlichen Namen zu beehren, der sie beschreibt und es den Eltern erlaubt, ihn kurz und knapp an Kommandos und Flüche anzuhängen. Weil sich die Kinder am Anfang lange an den neuen Namen gewöhnen müssen, hören sie ihn dann auch entsprechend häufig am Ende eines Fluchs…«, führte er leicht verlegen aus. »Na ja. Der Name meiner Mutter ist auf jeden Fall Flink– sie entstammt einer Familie aus den Jagdgründen. Und mein Vater wird Laut genannt. Er ist Salzwasserfischer, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Ich habe drei lebende Brüder und eine lebende Schwester, die inzwischen bei den Webern wohnt. Die Frau meines ältesten lebenden Bruders ist allerdings tatsächlich eine Tochter des Medizinmanns. Sie sollte uns Gesundheit und Wohlstand bescheren und hat uns den Fang einer halben Regenzeit gekostet, aber bislang hat sie uns nur zwei weitere hungrige Mäuler eingebracht.«

Er lachte. Es tat so gut, die eigene Stimme wieder zu hören. Und die Unbekümmertheit, die er sich für einen Moment erlaubte, schien ansteckende Wirkung zu haben: Als würde sein Lachen eine Handvoll Schmerz, Verwirrung und Furcht von den Schultern der Fremden nehmen, die wahrhaft Schreckliches erlebt haben musste, dass er sie so weit hier draußen, fast schon am Ende der Welt und ganz allein in den Fluten, aufgefunden hatte, lächelte sie sachte.

»Das klingt kaum weniger kompliziert als bei mir zu Hause«, bemerkte sie.

»Wo ist dein Zuhause?«, wollte Froh wissen. »Wie bist du hierhergekommen? Ich habe dein Boot nicht gesehen. Ist es gekentert? Oder bist du doch vom Himmel gefallen? Ich meine: Du siehst wirklich aus wie eine der Gottheiten, von denen der Medizinmann so oft spricht und denen meine Familie mehr Fische opfert, als ein ausgewachsener Wal fressen kann. Wie viele von deiner Art gibt es da, wo du herkommst? Und seid ihr auch Fischer?«

Chita schwieg und betrachtete Froh einen Moment lang, in dem er sich plötzlich wieder sehr unsicher fühlte, voller Zweifel.

»Du willst nicht mit mir reden«, interpretierte Froh ihr Schweigen und ihren Blick, den er nicht einzuordnen wusste, denn ihr fremdartiges Aussehen erschwerte es ihm, in ihrem Gesicht zu lesen. Er ließ die Schultern hängen, aber dann setzte sich Chita umständlich ganz auf, wrang sich das Salzwasser aus dem langen, goldenen Haar und sah nachdenklich an ihm vorbei auf die unendlichen Weiten des Meeres.

»Wale fressen keine Fische«, sagte sie schließlich. »Und ich komme aus Cypria.«

2

Mein Name ist Jamachita Mirano Kantamar aus der zwölften Generation der Kantamar-Dynastie. In meiner Sprache bedeuten meine Vornamen zusammen so viel wie »die kleine Mirano von Jama«. Mirano ist der erste Vorname meiner Mutter, und mein Vater ist der Faro von Lijm und Jama– das sind Inselstaaten vor dem Kontinent Cypria. Sie sind reich an Salpeter und Zink. Montania hingegen verfügt über große Mengen Sternensilber, und Romoh beliefert den ganzen Kontinent mit Baumwolle. So hat jeder irgendetwas, das der andere gut gebrauchen kann…

Sternensilber?

Das ist eine Art flüssiges Silber. Jetzt ist es wohl für immer verloren, aber es war jahrzehntelang das vielleicht wichtigste Gut unserer ganzen Zivilisation. Und eines der großen Geheimnisse, von denen ihr niemals hättet erfahren dürfen; zumindest nicht, wenn es nach dem Primitiven-Kodex ging. Nun schau nicht so beleidigt! Bestimmt birgt sogar eure einfache Welt Geheimnisse, von denen wir niemals erfahren werden. Nicht einmal ohne Kodex.

Die sechs Herrscher– einer davon ist, wie gesagt, mein Vater– haben zu jeder Zeit streng darauf geachtet, dass unser Wissen nicht in die Ferne getragen wird. Obwohl… Wahrscheinlich sind es jetzt nur noch fünf, denn ich glaube nicht, dass Gormo die Welle überleben konnte. Dass ich sie überlebt habe, grenzt ja schon an ein Wunder. Und selbst wenn er sie überlebt hat, werden mein Vater und die vier anderen ihn aufspüren und töten, denn sie hatten schon vor Jahren einen Pakt gegen ihn, den Faro von Montania, geschlossen, um ihn zu stürzen. Als die Welle kam, war die Lage für ihn schon so gut wie aussichtslos. Sie wollten Montania einnehmen und Gormos Reich unter sich aufteilen, weißt du? Allen voran natürlich mein Vater, denn Lijm ist einer von zwei direkten Nachbarn gewesen.

Dass Montania allein über das Sternensilber verfügte, so hatten sie immer behauptet, habe Gormo unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Gesamtwirtschaft verliehen. Das kann man natürlich auch anders sehen, aber richtig ist immerhin, dass Sternensilber ein rares, kostbares Gut war, ohne dass bei uns zu Hause längst überhaupt nichts mehr lief. Ob es das wert war, einen Krieg dafür zu beginnen, der Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hätte, sei dahingestellt.

Ich meine: Wenn mein Vater all das Geld, das er in den Kampf um das Sternensilber gesteckt hat, in unsere Alchimisten investiert hätte, dann hätten sie sich vielleicht mehr ins Zeug gelegt, um etwas Vergleichbares zu entwickeln, das unsere Manas und Manis antreibt.

Geld?

Münzen aus Gold. Oder beglaubigte Besitzurkunden, die man gegen etwas anderes tauschen kann. Es ist viel leichter, ein Stück Papier mitzunehmen, um es zum Beispiel gegen ein Schiff zu tauschen, als etwa eine Salzmine an einem Ort abzutragen und an einem anderen wieder zu errichten, weißt du?

Zuletzt hatten die Alchimisten jedenfalls schon mit Schwarzem Saft experimentiert, und das Mani, das sie darauf ausrichteten, legte eine halbe Tagesreise mit diesem neuen Antrieb zurück. Dann jedoch blieb es stehen, fing Feuer und versank schließlich im Meer. Die Alchimisten behaupten, es habe nicht an ihnen gelegen. Sie sagen, der Kapitän war betrunken. Aber bislang hat es noch kein Land auf einen zweiten Versuch ankommen lassen, denn es war nicht nur ein gefährliches Unterfangen, sondern vor allem auch ein teures Desaster…

Frag mich nicht nach den Einzelheiten– ich bin Sprachkundige, keine Maschinistin, und erst recht keine Alchimistin. Überhaupt gibt es nur eine sehr kleine Gruppe von Maschinisten, denn es ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, für die nur wenige Leute geeignet sind. Tatsächlich sind sie noch spärlicher gesät als die Körperkundigen, und darum habe ich in meinem ganzen Leben keinen einzigen Maschinisten persönlich kennengelernt. Die Schiffe werden zumeist von fortgeschrittenen Novizen begleitet.

Ich kann dir nicht folgen…

Zu viele Worte, für die es in deiner Sprache keine Entsprechung gibt…

Also gut. Ich habe ohnehin schon mehr gesagt, als man mir je verzeihen wird. Darum kann ich dir auch gleich alles erzählen. Du hast mir das Leben gerettet, und darum will ich dir die Wahrheit sagen. Ich will dir die Welt erklären, wie ich sie kennengelernt habe und wie man sie mir erklärt hat.

Nein– natürlich kennt niemand die ganze, alles umfassende Wahrheit. Niemand versteht alle Geheimnisse der Natur. Aber glaub mir: Wir sind auf dem besten Weg, ihr auch die letzten Antworten auf die noch offenen Fragen zu entreißen.

Ihr Makateken und so viele andere Völker– ihr glaubt, und das wiederum ist gut für uns. Wir Cyprier hingegen wissen…

Oh. Ich verlaufe mich schon wieder, du hast recht. Aber mir scheint, wir haben genug Zeit…

Macht es dir etwas aus, der Sonne entgegenzurudern, während ich rede? Ich würde dir gern helfen, aber ich fühle mich noch ein wenig zittrig, und mein linker Arm weigert sich, meinen Befehlen zu gehorchen…

Danke. Nein. Ein bisschen weiter nach da. Dorthin, wo sie gleich scheinbar im Meer versinken wird.

Tut sie das nicht?

Bei allen Sternen am Himmel, nein! Planeten sind riesige Kugeln, Froh. Und wir befinden uns auf einem Planeten. Du lachst, wie ich einst lachte, als man es mir verriet… Ich konnte es kaum glauben, obwohl während meiner ganzen Kindheit ein Modell unseres Sonnensystems über meinem Bett baumelte. Die meisten Kinder der herrschenden Klasse nächtigen unter einem solchen Modell, damit sie es sich schon ganz früh unbewusst einprägen, weißt du? Merkur, Venus, Neptun, Mars, unsere Sonne und der Mond, der seine Runden um unsere Erde zieht… All das wird durch Kugeln aus unterschiedlichen Materialien dargestellt, damit sich die Planeten nicht nur anhand ihrer Größe, sondern auch in Farbe und Struktur unterscheiden, wie in Wirklichkeit.

Die Sonne bestand natürlich aus Gold, die Erde aus Lapislazuli, diesem blauen Stein, über den ihr so reichlich verfügt. In diesem Fall symbolisierte er das Wasser, denn der größte Teil unserer Erde besteht genau daraus. Jetzt wohl noch ein bisschen mehr…

Nein, ich will nicht traurig werden. Ich muss wissen, was wirklich geschehen ist, und sobald wir Cypria erreichen, werde ich es erfahren…

Du schaust verwirrt drein. Ich meine: Es ist wegen der Welle. Ich kann kaum glauben, dass sie dich nicht aus deinem Boot geworfen hat. Wahrscheinlich hat sie dich weit hinausgetragen, und nun bist du dir nicht mehr sicher, wo du bist. Aber mach die keine Sorgen: Sobald die Nacht hereinbricht, kann ich in den Sternen lesen. Ich bin nicht sonderlich gut darin, aber um einen groben Kurs zu bestimmen, braucht es nicht viel.

Das Modell über meinem Kinderbett, ja… Wo war ich stehen geblieben? Dünne, fast unsichtbare Fäden hielten die kleinen Planeten an einer gläsernen Konstruktion aus Ringen und Streben, perfekt ausbalanciert durch ebenfalls gläserne Gewichte, die dafür sorgten, dass…

Glas?

Oh, Froh, so wird das nichts! Du sollst mich nicht dauernd unterbrechen. Aber gut: Glas ist ein fast unsichtbares Material aus, wie ich glaube, Quarz und Kalk. Die Glaskundigen stellen nützliche und schöne Dinge daraus her. Sogar Wände können sie daraus anfertigen. Nun willst du wissen, was Quarz ist, und ich kann es dir nicht erklären. Schau, Froh: Wenn euer Medizinmann eine schlimme Krankheit mit Räucherwerk heilt, fragst du dich bestimmt auch nicht, warum es funktioniert. Vieles weiß ich selbst nicht, weil niemand immer alles hinterfragen und sich dann auch noch die Antworten merken kann. Darum ist jeder von uns auf irgendetwas spezialisiert, und es ist ein mehr als glücklicher Zufall, dass ich ausgerechnet eine Sprachkundige bin, denn andernfalls würde sich unsere kleine Reise als recht eintönig erweisen. Noch eintöniger, meine ich.

Auch dein Medizinmann weiß vieles nicht. Darum macht er uns, seine vermeintlichen Götter, dafür verantwortlich, obwohl die Natur ganz sicher nicht uns, sondern ausschließlich mathematischen und chemischen Gesetzen gehorcht. Allein, dass mein Volk ein paar mehr davon ergründet hat, lässt hier und da den Anschein entstehen, dass wir die Natur beherrschen.

Aber das tun wir nicht. Wäre dem so, dann hätte die Welle nicht ganz Kantorram, vielleicht sogar ganz Montania verschlungen. Dann hätte sie mich nicht ins Meer hinausgespült, und du hättest mich nicht gefunden.

Als Kind habe ich allerdings oft am Strand gestanden und mir vorgestellt, das Meer zu beherrschen. Eine Idee, die nicht von ungefähr kam.

»Wir«, pflegte meine Mutter dann und wann zu sagen, »beherrschen das Meer.«

Und dabei glänzte unermesslicher Stolz in ihren eisblauen Augen. Wenn der Wind zudem mit dem blau und grün schimmernden, glänzenden Stoff ihres Gewands spielte, das sie als Mitglied der Faronenfamilie auswies, dann wirkte ihre Erscheinung tatsächlich wie ein menschgewordener Teil der See, als hätte nicht meine Großmutter, sondern das Meer selbst sie geboren.

Nein, mein Kleid ist nicht blau. Aber das ist eine lange Geschichte.

Meine Mutter ist eine wunderschöne Frau. Selbst nach fast vierzig Wintern. Ihre Schönheit begeisterte nicht nur meinen Vater, dessen Familie und das Volk, das ihr untertan war, nachdem mein Vater sie zu sich geholt hatte, sondern fiel sogar mir, ihrer eigenen Tochter, immer wieder auf, obwohl ich sie fast täglich sah. Selbst dann, wenn sie kränkelte und mit geschwollenen Augen und aschfahler Haut darnieder lag, bis die Medizin des Körpermeisters seine Wirkung tat, war sie noch schön– die schönste Frau im Palast, in der Stadt, auf der Insel, in unseren Staaten– vielleicht sogar auf der ganzen Welt, wie mein Vater dann und wann behauptete.

»Irgendwann wirst du genauso schön sein wie deine Mutter«, neckte mein Bruder mich ab und an, »obwohl du den Eierkopf deines Vaters geerbt hast.«

Als er das zum ersten Mal zu mir sagte, stand ich an unserem Strand und spielte Herrscherin der Wellen.

An eurem Strand? Wie könnt ihr einen Strand besitzen, wenn ihr keine Götter seid?

Alles eine Frage der Perspektive. Ich weiß, bei euch ist es anders. Ihr könnt eine Hütte auf einem Stück Land errichten und allen anderen verbieten, diese Hütte zu betreten. Aber ihr würdet euch nie anmaßen zu behaupten, dass das Land, auf dem die Hütte steht, euer Eigentum ist. Dass niemand eure Ernte stiehlt, liegt bloß daran, dass niemand Lust hat, eure Arbeit zu tun. Doch eigentlich gehört alles, was die Natur ist und hervorbringt, nur euren Göttern. Also uns.

Wir hingegen errichten einen Zaun oder eine Mauer um den Grund herum, der uns nach unseren Gesetzen gehört, und dann erheben wir Anspruch auf alles, was dort steht, wächst oder lebt. Sogar auf die Menschen.

Das ist respektlos.

Ansichtssache.

Jedenfalls stand ich an unserem Strand und sah auf das Meer hinaus. Es war der siebte Sommer meines Lebens. Ich erinnere mich genau, denn bei uns ist das siebte Lebensjahr ein ganz besonderes Jahr. Es wird mit einem großen Fest zelebriert, selbst in der Unterschicht. Eltern verschulden sich auf Jahre bei ihren Freunden und Nachbarn, um ihren Kindern, die jetzt als vollwertige Menschen gelten und sich ebenso an die Regeln und Gesetzte zu halten haben wie alle anderen auch, eine unvergessliche Feier zu bereiten.

Gehört man, wie ich, zudem der Oberschicht an, bekommt man sein erstes eigenes Pferd und wird einem Lehrmeister zugeteilt, der einen fortan auf Schritt und Tritt begleitet. Nur jeder siebte Tag steht von da an noch zur freien Verfügung, und dies war ein solcher siebter Tag.

Das Reiten hatte mir von Anfang an keinerlei Schwierigkeiten bereitet– entweder war ich, wie mein Lehrmeister behauptete, außergewöhnlich talentiert, oder ich hatte einfach das beste Pferd der Welt.

Was ein Pferd ist?

Ein Huftier, so groß wie ein Büffel, aber gelehrig wie ein Hund. Na ja. Fast jedenfalls.

Mein erstes Pferd hieß Freiheit. Diesen Namen hatte ich selbst ausgesucht, denn das war das, was mir als Erstes durch den Kopf schoss, als ich auf seinen Rücken kletterte und all die klugen, großen Menschen, die immer alles besser wussten, erstmals von oben sah. Ich fühlte mich groß und erhaben– und vor allem frei. Ziemlich albern aus heutiger Sicht, und verwerflich aus der der Erwachsenen– aber ich war ja noch ein Kind.

Der Name meiner Stute hätte meinen Eltern bestimmt nicht gefallen. Selbst mit sieben war ich nicht mehr dumm genug, um mir das nicht denken zu können. Darum ließ ich in ihren Sattel einen anderen, für ein Pferd gängigen Namen gravieren: Für meine Eltern und alle, die es wissen wollten, aber nicht sollten, hieß Freiheit einfach nur Mina.

Freiheit war an den Klippen zurückgeblieben, auf denen Hohenheim, unser Palast mit all seinem Korallengestein, seinen gläsernen Wänden und dem riesigen, goldenen Haupttor thronte, durch das mehrere Reiter nebeneinander gepasst hätten.

Euer Haus hat einen Namen?

Bei uns hat so ziemlich alles einen Namen. Auch dein Volk. Ihr nennt euch selbst einfach nur Menschen, aber für uns bist du ein Makateke. Ein Küstenaffe.

Bitte sei mir nicht böse. Ich habe mir das nicht ausgedacht, ich sage dir nur, wie es ist. Und es gefällt mir kein bisschen– darum habe ich für dich und all die anderen, die so oder ähnlich sind wie du, gekämpft. Bitte hör mir bis zum Ende zu, ehe du ein Urteil fällst, in Ordnung?

Freiheit scharrte also am Fuß der Klippen mit den Hufen im Sand und schnaubte dann und wann zufrieden. Es war ein herrlicher Sommertag, der sich nun langsam seinem Ende zuneigte. Das Wasser, das meine nackten Zehen umspielte, war angenehm warm, und das Licht der frühen Abendsonne tanzte gelb und orange auf den Wellen. Ich hob die Arme und spielte, dassich die nächste schäumende Welle an den Strand rief, und sobald das Wasser meine Knöchel erreichte, machte ich eine Geste, als ob ich sie wieder zurückschob.

»Komm!«, rief ich in die Fluten hinaus. »Und weiche!«

Komm und weiche, immer wieder, und das Meer, so stellte ich mir vor, gehorchte nur mir allein. Ich fühlte mich groß. Nicht mein Volk oder zumindest die sechs Faronen, sondern ich allein beherrschte das Meer.

Eine Hand senkte sich auf meine Schulter herab, und ich erschrak und wirbelte herum. Es war Sora, mein Bruder, der mich damals um mehr als zwei Köpfe überragte, obwohl er nur drei Sommer vor mir geboren ist. Er grinste neckisch zu mir herab.

»Verzeih, kleine Faronin«, entschuldigte er sich scherzhaft und hob abwehrend die Hände, als er den Schrecken in meinem Gesicht ausmachte. »Ich wollte dein herrschaftliches Treiben nicht stören.«

Ich errötete. »Tust du nicht«, log ich. »Ich habe nur… Stechgetier vertrieben. Es greift heute wieder in Schwärmen an.«

Sora lachte. »O ja. Um diese Jahreszeit ist es besonders lästig.« Er ließ sich in den warmen weißen Strandsand fallen. »Nur gut, dass es dir aufs Wort gehorcht, Schwester. Zumindest scheint es tatsächlich das Weite gesucht zu haben. Ich sehe kein einziges dieser blutsaugenden Ungeheuer mehr. Komm. Setz dich zu mir.«

Ich versteifte mich und blieb stehen. Nein, ich hatte keine Angst vor meinem Bruder. Ich liebe ihn, und er vergöttert mich regelrecht. Das hat er zumindest noch getan, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Es war nur gesunde Skepsis, weißt du? Ich meine: Er ist nun mal mein großer Bruder, und wenn große Brüder zu nett sind, dann ist Vorsicht angemahnt. Das war mir schon mit sieben völlig klar. Sora ist ein Scherzkeks von der Sorte, die überrascht in eine Richtung deuten und dir den Stuhl unter dem Hintern wegziehen, während dein Blick seinem Fingerzeig folgt.

Also untersuchte ich den Sand neben ihm sehr aufmerksam, ehe ich seiner Bitte doch misstrauisch Folge leistete. Aber er war nicht darauf aus, mich zu ärgern.

Stattdessen legte er den Arm um meine Schultern und zog mich zu sich heran, während er eine Weile schweigend aufs Meer hinausschaute. Er lächelte, aber irgendetwas wirkte nicht richtig daran. Heute weiß ich, dass da Traurigkeit auf seinem Lächeln lastete, und ich weiß auch, worauf sie beruhte. Aber damals kam es mir einfach nur falsch vor…

Er hat mir sein Geheimnis lange verschwiegen.

Nach einer kleinen Ewigkeit, in der ich mich zunehmend unwohl fühlte, sah er mich endlich wieder an. Und dann sagte er es zum ersten Mal.

»Irgendwann wirst du genauso schön sein wie deine Mutter«, prophezeite er also und strich mir eine Locke aus der Stirn, »obwohl du den Eierkopf deines Vaters geerbt hast.«

»Moijo sagt, mein Eierkopf weist mich eindeutig als Kind der Oberschicht aus«, verteidigte ich meine längliche Kopfform, indem ich mich auf die Worte meines Lehrmeisters Moijo berief. Sora grinste nur, darum setzte ich beleidigt nach: »Du bist doch nur neidisch, weil du mit Mutters Flachbirne gestraft bist. Moijo sagt, der Verstand lagert im Schädel. Und viel Verstand braucht eben viel Platz.«

»Moijo lügt. Oder zumindest irrt er sich«, widersprach mein Bruder noch immer belustigt. Er griff nach meiner Hand und legte sie auf seine nackte Brust. Im streng abgeriegelten Bereich von Hohenheim war es den Männern erlaubt, nur das Nötigste unter weiten Beinkleidern zu verbergen, wenn das Wetter danach war.

»Der Verstand«, behauptete Sora, während ich seinen gleichmäßigen Herzschlag in der Handinnenfläche spürte, »ruht ganz genau hier.«

Für einen halben Schlag, so glaubte ich zu fühlen, setzte sein Herz aus, und Sora schob meine Hand wieder von sich weg. Oder vielleicht spielt meine Erinnerung mir auch nur einen Streich. Manchmal glaubt man, sich an Dinge zu erinnern, die nie geschehen sind, weißt du? Man sucht nach Momenten, in denen man hätte gewarnt sein können, nach Vorzeichen, die es einfach gegeben haben muss, nach etwas, das einem sagt: Du hättest es wissen müssen…

Wie auch immer.

»Na, wenigstens ist dein Gaumen nicht gespalten wie der deines Vaters«, fügte Sora in unpassend tröstendem Tonfall hinzu. Ich fand wirklich nicht, dass man mich meiner Kopfform halber trösten musste.

»Ein gespaltener Gaumen?«, zweifelte ich. »Fällt denn dann nicht der Verstand in den Mund?«

Du merkst schon: Ich war immer noch überzeugt davon, dass er mir bloß einen Bären aufbinden wollte.

»Sicher!« Sora brach in schallendes Gelächter aus, was mich sehr ärgerte. »Das erklärt zumindest so einiges«, kicherte er, nachdem er sich wieder ein wenig gefangen hatte. »Bestimmt hat er ihn längst verschluckt!«

»Du bist respektlos!«, nahm ich Vater in Schutz. »Außerdem widersprichst du dir selbst. Mal sagst du dies, und mal sagst du das, und jetzt hat unser Vater auch noch eine Spalte im Gaumen. Du bist ein Lügner, Sora.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und gab mir Mühe, böse auszusehen.

Sora beeindruckte das herzlich wenig.

»Von Lügnern werden wir geboren, zu Lügnern werden wir erzogen«, behauptete er leichthin. »Aber wenn du mir nicht glaubst, dann schau selbst nach. Er schläft mit offenem Mund. Was glaubst du, warum er so seltsam spricht, hm?«

Zumindest Letzteres entsprach der Wahrheit. Mein Vater hat einen Sprachfehler. Er lispelt ganz entsetzlich. Für öffentliche Reden greift er darum auf die Dienste Milos, seines Redners, zurück. Die Leute halten es für eine leicht dekadente Marotte, aber Milo erfüllt wirklich einen guten Zweck…

Jetzt war ich doch ein bisschen verunsichert, aber ehe ichnoch etwas sagen konnte, wechselte mein Bruder das Thema.

»Eigentlich bin ich gekommen, um dir etwas zu zeigen, Schwester«, verriet er mir. »Als ich sieben Jahre alt war, habe ich hier nämlich etwas gefunden. Willst du es sehen?«

Was für eine Frage! Natürlich wollte ich das. Sora ist ein Witzbold, der sich gern auf Kosten anderer amüsiert. Aber er ist auch ein unwahrscheinlich neugieriger Mensch, der seine Nase überall hineinsteckt. Wenn er nicht gerade herumschnüffelt, experimentiert er zudem mit irgendwelchen Dingen, oder er heckt derben Unsinn aus. Hatte er etwas Besonderes herausgefunden, bediente er sich auf jeden Fall dieses ganz besonderen Lächelns, das auch in diesem Moment auf seine Züge trat. Aufregung erfasste mich. Mein Ärger war wie weggeblasen.

»Was ist es?«, verlangte ich zu wissen, sprang auf und untersuchte den Strand und die Klippen mit aufgeregten Blicken. »Ein versunkener Schatz? Eine seltene Lebensform? Eine neue Idee?«

»Freiheit«, antwortete Sora geheimnisvoll und erhob sich ebenfalls. »Und damit meine ich nicht dein Pferd.«

3

So wie du redest, gewinnt man den Eindruck, du wärst in Gefangenschaft aufgewachsen«, bemerkte Froh und verstaute seine Paddel sorgfältig zu beiden Seiten in dem winzigen Boot, das eigentlich nicht für zwei Personen gemacht war. Inzwischen war die Sonne am Horizont fast zur Hälfte im Meer versunken, wie glühendes Metall, das ein Schmuck- oder Werkzeugmacher in ein Wasserbad tauchte. So wärmte sie die See, in der Ivi nachts badete. »Der Name deines Reittiers, das Geheimnis deines Bruders…«, zählte er auf– nicht zuletzt, um sich selbst von der Sache mit dem Küstenaffen abzulenken. Er wollte über nichts urteilen, ehe er nicht alles gehört hatte. Aber ein bisschen beleidigt war er trotzdem. »Nicht Nahrung, Gesundheit und Kleidung scheinen mir das begehrteste Gut«, sagte er, »sondern Freiheit. Das Selbstverständlichste auf der Welt. Als hätte man euch eingesperrt, wie Rinder, die gleich flüchten oder zu einer Gefahr werden, sobald man das Gatter öffnet. Wart ihr denn eine Gefahr?«

Er nahm einen winzig kleinen Schluck von dem Wasser aus dem Krug und reichte ihn an Chita weiter, die mit den Schultern zuckte, während sie ebenfalls– aber bedeutend gieriger– trank und den Blick wieder an ihm vorbei in die Ferne schweifen ließ. Aber das Glitzern der Abendsonne auf den Wellen blendete ihre Augen, sodass sie schließlich auf das Holz zu ihren Füßen hinabsah.

»Vielleicht war ich das wirklich«, antwortete sie nach einer Weile und erweckte dabei den Eindruck, eher zu sich selbst als mit Froh zu sprechen. »Vielleicht bin ich es immer noch. Zumindest in den Augen meines Vaters.

Aber damals waren wir noch kleine Kinder. Unser Hunger nach Wissen und unser Durst nach Abenteuern war schier unstillbar. Freiheit– das ist etwas Verbotenes. So wie berauschende Kräuter oder Säfte, die den Verstand vernebeln oder zumindest die Zunge lösen. Danach zu streben, ist eine Schwäche, der man nicht nachgeben darf. Denn nur die Disziplin, der Ehrgeiz und die Loyalität mit den Faronen haben es unserem Volk ermöglicht, immer schneller immer weiter voranzuschreiten, sodass wir heute weit über allen anderen Zivilisationen stehen. Selbst die vergleichsweise gebildeten Klivier, mit denen wir Handel treiben, wirken neben uns wie Primitive. Weil unsere Gesellschaft funktioniert. Weil jeder seine persönlichen Bedürfnisse zugunsten der Allgemeinheit zurückzustellen weiß. Weil jeder die Rolle spielt, die ihm von klein auf zugeteilt wird.«

Froh verstaute die fast leere Flasche wieder unter dem zunehmend trocknenden, stinkenden Sack, focht kurz mit sich selbst, während er die Paddel betrachtete, gab sich dann innerlich einen Schubs in Richtung Tapferkeitsstrand an der Reue-Insel und machte sich wieder ans Werk.

Je mehr die Fremde sprach, desto weniger konnte er ihr folgen, geschweige denn ihr glauben, was sie erzählte, zumal er sehr erschöpft war. Außerdem verlangte Chita, von der er noch immer nicht wusste, wer oder was genau sie nun eigentlich war, von ihm, dass er in die einzig falsche Richtung paddelte, nämlich der Abendsonne entgegen. Der Gott des Meeres wäre bestimmt nicht sehr erfreut darüber, bei seinem nächtlichen Bad gestört zu werden.

Andererseits war doch alles eine Prüfung, und diese seltsame Fremde war ein Teil dieser Prüfung. Ganz sicher hatten die Götter gewollt, dass er sie fand und vor dem Ertrinken rettete, und bestimmt lag es jetzt an ihm, zu tun, was auch immer sie verlangte. Schließlich hatten die Götter sie zu ihm geschickt. Oder ihn zu ihr.

Wenn sie jetzt allerdings erwarteten, dass er ihre verrückte Geschichte verstand, überschätzten sie ihn. Zumindest im Moment war er einfach nur verwirrt.

Ihre Geschichte ergab keinen Sinn, denn es gab weder Hunde, die so groß waren, dass man auf ihnen reiten konnte, noch Wände, durch die man hindurchsehen konnte. Wahrscheinlich war es eine Art Gleichnis. Eine Geschichte von der Art, wie die Alten sie hin und wieder erzählten. Sie sagten etwa: Ein Vogel flog hinaus und verlor einen Samen, und aus dem Samen erwuchs eine stachelige Pflanze, die viele Menschen verletzte. Und sie meinten damit: Ein ungestümer Kerl schlich sich in der Nacht in das Lager einer anderen Sippe und schändete eine Jungfrau, womit er eine schlimme Fehde begründete.

Bestimmt musste Froh versuchen, das Gleichnis, das Chita vortrug, zu entschlüsseln. Vielleicht hatte es etwas mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Ganz sicher würde es nicht einfach werden.

Aber immerhin, dachte er, hatten die Götter ihm ein hübsches Mädchen geschickt, damit er beweisen konnte, dass er nicht dumm und schon gar nicht schlecht genug für Vulkas Unterwelt war. Es hätte wirklich schlimmer kommen können. Zum Beispiel hätten sie einen sprechenden Tintenfisch zu ihm ins Boot setzen können, der ihn für jede falsche Frage oder Antwort mit seinen Tentakeln quälte. Oder ein Feuer zu seinen Füßen entfachen, das ihn Stück für Stück verzehrte, wenn er die Rauchzeichen nicht richtig deutete.

Chita hingegen war zwar recht überheblich, allem voran aber wunderschön, obwohl sie auch jetzt, da er zumindest ihrem Körper alle Göttlichkeit aberkannt hatte, mit ihrer hellen Haut, ihrem schmalen, fast zerbrechlich wirkendem Körperbau und natürlich dem goldenden Haar noch immer ein wenig befremdlich auf ihn wirkte. Und letztlich, überlegte er, während er wieder in die einzig falsche Richtung ruderte, fand man immer irgendwann an Land zurück, sofern man nicht über den Rand der Welt hinauspaddelte. Da konnte sie ihm erzählen, was sie wollte. Und geschah Letzteres doch, dann holten einen die Götter und befreiten einen von allen Qualen und Sorgen.

Blieb nur zu beten und zu hoffen, dass er bis dahin genug Buße getan hatte…

»Jetzt habe ich mich schon wieder völlig verrannt«, seufzte Chita nach einer kleinen Weile. »Die Welt, wie ich sie kennenlernte… In genau dieser Reihenfolge, damit auch du sie verstehst. Also: An diesem Tag zeigte mein Bruder mir einen geheimen Weg. Einen Weg in die Freiheit.«

4

Zur rechten Seite hin kann man einige hundert Schritte am Strand entlanglaufen, bis man den Anleger erreicht, der zu jeder Tages- und Nachtzeit von einem guten Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Krieger und einem ganzen Rudel gut ausgebildeter Hunde bewacht wird. Der Anleger grenzt an das Kriegerhaus, in dem sich neben den Schlaflagern der Wächter auch die Buchkammer mit dem Buchführer befindet, der alles, was am Anleger von den Manas an Land verfrachtet wird oder den umgekehrten Weg bestreitet, akribisch dokumentiert; selbst die Ratten und Fruchtfliegen, wie Sora manchmal scherzte.

Die nördliche Wand des Kriegerhauses geht nahtlos in den Wall über, wie wir die Befestigungsanlage nennen, die einen riesigen Halbkreis um den Grund beschreibt, der zu unserem Anwesen gehört. Das Plateau, auf dem sich der Palast befindet, bildet seinen Abschluss.

Auch auf dem Wall patrouillieren natürlich immer zahlreiche Krieger. Es gibt drei Passagen, doch ohne Erlaubnis meines Vaters kommt niemand an den Kontrolleuren vorbei, die ebenso gut gepanzert und bewaffnet sind wie die Wachen am Anleger, und über die wir nie Scherze machen, denn sie verstehen keinen Spaß.

Auf dem Korallengestein, aus dem die zusätzliche Wehrmauer Hohenheims besteht, wachen weitere Männer mit Fernschauern– das sind gläserne Konstruktionen, die das Sichtfeld vervielfachen. Diese Leute behalten das Meer und das nördliche Umland im Auge, das bis an die Küste dicht bewaldet ist. Im Nordwald gibt es ein paar Dörfer, aber keins davon zählt mehr als fünfzig Einwohner, die in beengten Reetdachhäusern leben.

Die nächste große Stadt, Kirm, liegt einen halben Tagesmarsch westlich von Hohenheim. Dorthin führt die einzige befestigte Straße, die am Anleger beginnt. Aber allein schon der Wall rückt die Straße in für uns Kinder unerreichbare Ferne.

Ja, ich war eine Gefangene im eigenen Haus. Doch damals sah ich das noch nicht so. Unter diesen Gegebenheiten war ich geboren– die Zeit, in der ich all das ernsthaft infrage zu stellen begann, sollte erst später kommen.

An diesem Tag legte mein Bruder den Grundstein dafür. Er grub das Fundament für meinen Wunsch nach echter Freiheit.

Linker Hand reichen Korallenriffe vom Fuß der Klippen aus bis weit ins Meer hinein und bilden so eine Art natürliche Befestigungsanlage. Fast natürlich jedenfalls. Dort, wo das Riff nicht ohnehin viel zu steil ist, um es zu erklettern, hatte schon mein Großvater goldene Streben ohne Zahl in das löchrige Gestein treiben lassen, deren Enden mit messerspitzen Widerhaken versehen sind.

»Was hast du vor?«, erkundigte ich mich, als Sora mich nun genau dorthin führte.

Meine Euphorie duckte sich hinter neuerlicher Skepsis. Tatsächlich fröstelte ich sogar ein wenig, denn ich befürchtete, er würde von mir verlangen, mit ihm das Riff hinaufzuklettern, was einem Selbstmord gleichgekommen wäre. Die Geschosse der Wächter mit den Fernschauern vermögen noch Ziele in dreihundert Schritt Entfernung mit höchster Präzision zu erwischen, und unsere Krieger sind darauf trainiert, erst zu schießen und dann zu fragen.

Aber Sora sagte: »Zieh dich aus.«

»Warum?«, wunderte ich mich, aber statt mir etwas zu erklären, zog er mich unter einen Vorsprung am Strand, der vom Schloss aus nicht einsehbar war, und streifte seine eigenen Beinkleider ab, sodass er in aller zehn Sommer zählenden Mannespracht vor mir im Schatten stand, was mich ein bisschen beschämte. Aber meine Neugier wog schwerer als die neuerliche Unsicherheit und die Scham. Also ließ ich die Hüllen ebenfalls fallen.

Sora nahm meine Hand, spitzelte unter dem Vorsprung hervor, passte einen Moment ab, in dem der uns zugerichtete Wächter den Fernschauer sinken ließ, und sprintete zum Strand. An dieser Stelle war das Wasser nicht seicht; der Strand fiel steil ab. Binnen zweier Lidschläge hatten uns die Fluten verschluckt– mich eher unfreiwillig, denn Sora hielt noch immer meine Hand, tauchte sogar ein, zwei Züge weit, ohne sie loszulassen, und zog mich auf diese Weise einfach mit. Immer tiefer unter Wasser und schnurgerade am Riff entlang, bis er plötzlich einfach verschwand.

Einen kurzen Moment drohte ich in Panik zu geraten, aber dann sah ich ihn zu meiner Linken. Nur seine Füße ragten noch aus dem Riff heraus, das an dieser Stelle eine Lücke hatte, gerade groß genug, dass sich ein Kind hindurchquetschen konnte. Auf die andere Seite– in die Freiheit.

Ich folgte Sora, sobald auch seine Füße gänzlich im Spalt verschwunden waren, und tauchte gleich nach ihm auf der anderen Seite des Riffs wieder auf.

»Bei Sirrah…!«, keuchte ich, als ich durch die Wasseroberfläche brach, aber mein Bruder hielt mir den Mund zu und zog mich so dicht an das Riff, dass das Korallengestein mir den Rücken zerkratzte.

Sirrah?

Der Stern, der damals genau über Hohenheim stand und uns auch heute Nacht den Weg weisen wird.

»Siehst du den Baum da vorne?«, zischte Sora und wies an den Strand. Die Enden seiner Äste reichten bis ins Wasser hinab und waren dicht belaubt. Ich nickte. »Dorthin tauchen wir«, erklärte Sora und war verschwunden, ehe ich ihn darauf hinweisen konnte, dass ich eine erbärmlich schlechte Schwimmerin und eine noch weniger ausdauernde Taucherin war. Das war ich wirklich. Ich glaube, ich habe erst heute richtig schwimmen gelernt…

Na ja…

Aber was sollte ich machen? Zurücktauchen, allein nach Hohenheim hinaufgehen und meinen Bruder verraten? Niemals! Außerdem ahnte ich, dass dieses bisschen Freiheit, also die andere Seite des Riffs und die Weide mit den tiefhängenden Zweigen, längst nicht alles war, was er mir zeigen wollte, und obwohl ich mich fürchtete, brannte ich innerlich vor Neugier. Ich tat, wie mir geheißen, und tauchte ein zweites Mal und umso schlimmer hustend und Wasser spuckend wieder neben ihm auf.

Das Geäst bildete einen grünen Vorhang, der uns vor unerwünschten Blicken schützte, und Sora erlaubte mir, ein wenig zu Atem zu kommen, ehe wir unsere Odyssee am Strand entlang fortsetzten.

Er musste diesen Weg oft zurückgelegt haben, denn er kannte jeden Felsvorsprung, jedes knorrige Wurzelwerk und jeden Strauch, der uns in unregelmäßigen Abständen kurz Schutz bot. Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber ich war keine gute…

Hast du.

Bald war ich völlig aus der Puste. Als wir die letzte Etappe in Angriff nahmen, nahm ich mir fest vor, mich beim nächsten Halt zu verweigern, denn ich fürchtete, er wollte einmal um die ganze Welt tauchen. Aber als ich das nächste Mal japsend um Atem rang, hatten wir sein Ziel erreicht. Und ich muss sagen: Die Mühen hatten sich wirklich gelohnt.

Was habt ihr gefunden?

Ein weiteres Riff. Aber dieses war ein ganz besonderes. Es trennte das Meer von einem seichten Süßwasserstrom, der durch das rot, weiß, orange und violett leuchtende Korallengestein ins Meer gluckerte. Sora grinste stolz und bedeutete mir, ganz still zu sein, aber das war nicht nötig, denn ich hatte es schon vernommen und staunte, wie ich zuletzt beim ersten Anblick eines startenden Manas gestaunt hatte: Eine leise Melodie ertönte aus dem Riff. Eine ewige Melodie, die nie verstummte. Warme und dunkle Klänge, die dennoch unendlich leicht schienen, drangen in meine Ohren, und ich sah von Sora zu dem Riff und wieder zurück und fragte: »Wer musiziert in diesem Riff?«

Sora lachte. »Niemand!«, antwortete er vergnügt. »Es ist nur das süße Wasser, das die Luft durch das Riff drückt. Es funktioniert wie eine riesige Flöte. Hübsch, nicht wahr?«

Ich nickte ehrfurchtsvoll. Hübsch war mächtig untertrieben. Dieses Gebilde war so eindrucksvoll, dass ich mir fast gewünscht hätte, er hätte nicht ganz nüchtern von Wasser und Luft gesprochen, um mir die Dinge zu erklären, sondern von einem Gott oder einer Göttin oder wenigstens irgendeinem magischen Prozess, denn genauso wirkten diese Klänge auf mich: wie pure Magie. Ich war noch jung und anfällig für solche Albernheiten, und in diesen Minuten war ich wie verzaubert.

Sora schloss die Augen, um nur noch die Musik zu fühlen, und vielleicht auch das Wasser und die Wärme der Abendsonne auf der Haut, und ich tat es ihm gleich.

Darum bemerkten wir den Knallfischer nicht. Und er bemerkte uns nicht– schließlich ragten kaum mehr als unsere blonden Schöpfe aus dem Wasser, und das auch noch vor der farbenfrohen Kulisse, die das Riff bot.

Plötzlich ertönte ein Donnern, als zerspränge ganz Hohenheim in Millionen und Abermillionen winzige Teile, und zwar direkt neben mir. Dabei war Hohenheim Hunderte von Schritten entfernt– weil die Korallen uns Deckung boten, befanden wir uns sogar außer Sichtweite der Fernschauer. Allein der Schall dieses grausamen Lärms schien alle meine Knochen zerschmettern zu wollen, den Schädel allen anderen voran, und dann…

Tja. Dann geschahen ziemlich viele Dinge, von denen ich erst viel später erfuhr, denn ich verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Sora sagt, ich sei um ein Haar ertrunken. Es war der Fischer, der uns beiden das Leben rettete– der gleiche, der uns um ein Haar getötet hätte. Er zog uns aus dem Wasser, lud uns auf sein Boot und brachte uns nach Hohenheim zurück, nachdem er die Kennzeichnungen in unseren Nacken erkannt hatte. Er musste einen riesigen Umweg fahren, um den Anleger zu erreichen, ohne auf Verdacht erschossen zu werden, und erst am Anleger erlangte ich mein Bewusstsein zurück– wenn auch nur halb.

Kennzeichnungen?

Warte– ich zeige es dir. Hier: Siehst du dieses Symbol? Es ist in meine Haut gebrannt. Jeder, der es sieht, weiß, wer ich bin. Außer dir und deinesgleichen natürlich…

Als ich die Augen wieder öffnete, erschien mir alles unwirklich und verschwommen, von überall her stürmten Krieger und Händler auf uns zu. Ich erkannte das Gesicht des Schriftführers, in dem ich noch nie so viel Schrecken und Erregung gesehen hatte wie in diesem Moment. Ich sah, dass Sora aus einem Ohr blutete, und ich nahm wahr, wie man mich auf einen Transportkarren hob und zusammen mit dem Schriftführer, mehreren Kriegern, meinem Bruder und einem Fremden, von dem ich später erfuhr, dass er der Knallfischer war, zum Palast gebracht wurde.

Der Schriftführer redete abwechselnd auf meinen Bruder, mich und den Fischer ein, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Ein monotones Pfeifen, das nur ich hören konnte, übertönte seine Worte und auch alle anderen Geräusche, die dumpf darunter lagen. Die Pferde, die den Karren zogen, galoppierten und schnauften. Schaum spritzte aus ihren Mäulern, so sehr beanspruchte der Karrenlenker ihre Kräfte. Und trotzdem kamen mir die wenigen hundert Schritte zu den Klippen, und vor allem der steile Weg hinauf, vor wie eine ganze Tagesreise. Dort, wo ich etwas fühlte, fühlte ich mich schlecht. So schlecht wie nie zuvor…

Was ist ein Knallfischer?

Ein Fischer wie du. Nur dass er mit effektiveren Mitteln jagt. Du wirfst dein Netz aus und geduldest dich, bis sich genug Fische darin verfangen haben. Das ist eine gute Methode, aber nicht die beste. Knallfischer werfen einen Beutel voller Pulver über Bord, der mit einem mächtigen Knall explodiert, sobald er mit dem Wasser in Berührung kommt. Daher der Name. Die Fische erschrecken sich buchstäblich zu Tode. Er muss sie nur noch mit einem Köcher oder einem großen Netz einsammeln, sobald sie kurz nach dem Knall an die Oberfläche treiben.

Eigentlich ist diese Art des Fischfangs nur auf hoher See erlaubt. Manis legen ab und kehren am Abend mit halben Jahresvorräten von Fisch zurück, der geräuchert oder eingelegt wird. Aber an den Markttagen streunt immer der eine oder andere Gauner herum, der gestohlenes oder selbst hergestelltes Knallpulver illegal an kleine Fischer vertreibt, die allein schon deswegen nicht auf hoher See fischen können, weil ihre Boote dazu nicht geeignet sind. Vielleicht wollen sie sich auch nur den zeitlichen Aufwand sparen. Knallfischerei an der Küste ist nicht gestattet, wird aber in aller Regel geduldet. Bis dahin ist ja auch noch niemand zu Schaden kommen. Zumindest nicht, soweit wir wussten.

Hat dein Vater ihn belohnt?

Belohnt? Wofür?

Er hat euch nach Hause gebracht und dabei riskiert, von euren Wachen getötet zu werden. Er hätte auch einfach verschwinden und euch eurem Schicksal überlassen können. Niemand hat gesehen, was geschehen ist. Nicht einmal ihr selbst.

Ein Reiter war dem Karren vorangeeilt und hatte Bericht erstattet. Unsere Lehrmeister, Moijo und Carthun, sowie unsere Mutter, der Körpermeister und mehrere Knechte und Mägde warteten bereits am Tor, als wir eintrafen.

Wieder brach Hektik aus. Sora und ich wurden vom Karren gehoben und ins Ruhehaus verfrachtet– in den Anbau, in dem sich der Körpermeister und seine Novizen aufhalten und in dem man sich mit seiner fachkundigen Unterstützung erholt, wenn man kränkelt oder sich verletzt hat. Hommijr, der Meister, leuchtete uns beiden mit einer Lampe in Augen und Ohren, forderte uns auf, auf einem Bein zu stehen und stellte eine Reihe von Fragen, die ich nicht beantworten konnte; ebenso wenig, wie ich in der Lage war, auf einem Bein zu stehen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.

Er verabreichte mir eine Medizin und wies mir ein Bett in einem der Ruhezimmer zu, in das ein Novize mich trug, während er selbst sich erneut (und dieses Mal viel eingehender) mit den Ohren meines Bruders befasste. Besonders mit dem linken, das noch immer blutete. Aber selbst unser Körpermeister mit seinen herausragenden Kenntnissen und Fähigkeiten konnte meinem Bruder nicht helfen. Sein linkes Ohr blieb für immer taub.

Im Ruhezimmer schlief ich sehr schnell ein– vermutlich hatte Hommijr mir ein Schlafmittel verabreicht. Ich erwachte erst am nächsten Morgen und fühlte mich erstaunlich ausgeruht und gut. Sämtliche Schmerzen waren verschwunden, und im ersten Moment verstand ich gar nicht, wieso ich nicht in meinem eigenen Zimmer erwachte. Erst das Pfeifen in meinen Ohren erinnerte mich wieder daran, was geschehen war– zumindest an den Teil, den ich mitbekommen hatte.

Aber das, woran ich mich erinnerte, reichte aus, um mir eines unmissverständlich klarzumachen: Ich steckte ganz schön in der Klemme. Wir hatten unser Zuhause ohne Erlaubnis verlassen, und dieser Frevel würde nicht ungesühnt bleiben. Ich fürchtete mich vor dem ersten Zusammentreffen mit meinem Vater. Und zwar so sehr, dass ich einen Moment mit dem Gedanken spielte, aus dem Fenster zu klettern, mich davonzuschleichen und den verbotenen Weg noch einmal zurückzulegen, um nie wieder zurückzukehren.

Der Novize, der auf einem Schemel an der Tür wachte, machte mir übrigens einen Strich durch die Rechnung, ehe ich den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte. Kaum hatte ich die Lider geöffnet, bedeutete er Hommijr im Nebenraum mit einem Wink, dass er kommen sollte, und der untersuchte mich noch einmal und erkundigte sich erst danach nach meinem Befinden.

»Meine Ohren pfeifen«, antwortete ich kleinlaut.

Er seufzte. »Sei froh, dass du überhaupt noch etwas hörst, Mädchen«, sagte er und scheuchte mich mit einem Klaps auf den Hintern aus dem Zimmer. »Und nun scher dich fort und genieße, dass du die Worte deines Vaters noch verstehen kannst.«
Ein Knecht führte mich in den Thronsaal, und allein schon der Ort, den mein Vater für unser erstes Zusammentreffen nach unserem Ausbruch gewählt hatte, ließ Böses erahnen. Er ist immerhin mein Vater, weißt du, und meine Eltern und ich begegneten einander zumeist in unseren privaten Gemächern, imSpeisesaal und in den Gärten. Wenn überhaupt, denn auch vor meinem siebten Sommer kümmerten sich zumeist andere Leute um mich. Allen voran eine Amme.

Jedenfalls wurde der Thronsaal normalerweise nur für mehr oder weniger offizielle Angelegenheiten genutzt. Für politische und geschäftliche Verhandlungen, Kundgebungen vor den Volksboten, gesellschaftliche Anlässe– und für Richtsprüche auf höchster Ebene. Jetzt fühlte ich mich wie ein Verbrecher, der in den Thronsaal geleitet wurde, um sich von ein paar Gliedmaßen zu trennen; zumindest auf dem Papier, denn die Vollstreckungen der Urteile fanden zum Glück an einem anderen Ort außerhalb des Palasts statt.

Aber wirklich besser machte das die Sache für mich nicht. Meine Knie zitterten, Hitzewallungen erfassten mich, und meine Kehle fühlte sich an, als hätte ich versucht, einen Kieselstein zu verschlucken, der in der Speiseröhre stecken geblieben war und sich weder gänzlich schlucken noch wieder herauswürgen ließ.

Sora war schon da. Er stand meinem Vater, der auf seinem Thron am Kopf des Saals wartete, direkt gegenüber, bedachte mich mit einem ängstlich flackernden Schulterblick und ließ mich auf diese Weise wissen, dass es ihm nicht besser ging als mir. Seine Haut wirkte fahl und leblos. Sein linkes Ohr war dick gepolstert; ein Verband, der um seinen Kopf gewickelt war, hielt dieses Polster an seinem Platz.

Meine Mutter saß neben meinem Vater auf ihrem etwas weniger wuchtigen, aber ebenso reich verzierten Thron, und wie sie da so mit aller Strenge auf uns herabblickten, wirkten sieüberhaupt nicht mehr wie unsere Eltern, sondern wie das, was sie für alle anderen Leute waren: Rah Loro der Zwölfte und Mirano Nijma Kantamar, Faro und Faronin von Ljim und Jama, Herrscher und Herrscherin über Hunderttausende von Menschen, Befehlshaber und Befehlshaberin über die zahlenmäßig mächtigste Armee des ganzen Kontinents und direkte Nachkommen Rah Loros des Sechsten, unter dem die Cyprier das Fliegen lernten.

Sie trugen ihr Gerichtsgewand– bodenlange weiße Kleider und prächtigen Kopfschmuck aus Gold und weißen Federn, denn Weiß ist die Farbe der Gerechtigkeit. Der Saal war mit Gaben von Primitiven bestückt, die schlicht zu hübsch waren, um die Edelsteine, Schnitzereien aus Elfenbein und andere wertvolle Teile herauszubrechen und den Rest einzuschmelzen. Die Wände waren nur so übersät mit Muscheln, Korallen, Halbedelsteinen und farbenfrohen Schalentieren, und der Boden war mit einem Mosaik bedeckt, das den Kontinent Cypria und seine Inselstaaten darstellte.

Es war nicht das erste Mal, dass ich den Saal betrat. Wenn die Erwachsenen miteinander verhandelten und diskutierten, war es uns Kindern zumeist erlaubt, zu den Füßen unserer Eltern zu spielen oder einfach nur zu lauschen, sofern wir uns dabei still verhielten. Jetzt aber beeindruckte mich der Thronsaal– und vor allem der Anblick meiner Eltern– wie nie zuvor, denn zum ersten Mal kam ich nicht als Kind, sondern als Sünder. Meine Furcht wuchs, und meine Stimme wollte mit diesem Feigling von Körper, in dem sie festsaß, nichts mehr zu tun haben, drängelte sich entschlossen an dem Kieselstein in meinem Hals vorbei und flüchtete sich über meine Lippen ins Freie.

»Es war nicht seine Schuld!«, hörte ich mich hilflos drauflos plappern und beobachtete, wie mein Arm in die Höhe schnellte und auf Sora deutete. »Es war auch nicht seine Idee. Und auch nicht meine. Eigentlich hatten wir gar nichts mit der ganzen Sache zu tun. Wir wollten Hohenheim überhaupt nicht verlassen, wir haben nur nach Muscheln getaucht, und dann kam diese Strömung, die mich mitriss, und Sora wollte mich retten, aber da war ich schon auf der anderen Seite des Riffs, und dann war da… Da war… Da war…«

Es war wirklich gemein von meiner Stimme. Erst trug sie eine Ausrede vor, die mir beim besten Willen nie eingefallen wäre, und dann, als es nicht nur spannend, sondern auch ungemein wichtig wurde, überlegte sie es sich plötzlich anders und machte einfach kehrt, um in meinen Rachen zurückzukehren und sich auch unter größten Mühen nicht mehr herauslocken zu lassen.

Meine Eltern sahen ausdruckslos zu mir hin, ihre Mienen waren wie versteinert. Mein Arm sank wieder hinab, und ich zog die Schultern zusammen, starrte auf meine Zehen und scharrte mit den Füßen.

»War das deine Version der Geschichte?«, erkundigte sich mein Vater nach einer Weile. »Möchtest du weiterlügen, oder hören wir uns jetzt an, was dein Bruder zu sagen hat?« Ich schwieg. »Also gut«, sagte mein Vater und wandte sich Sora zu. »Sprich, Krüppel!«

Krüppel? Das hat er gesagt?

Nein. Ich glaube nicht. Aber bestimmt hätte er es gern gesagt. Einzig seine gute Erziehung hielt ihn davon ab. Ich sagte doch, Sora hatte ein Geheimnis. Mein Vater wusste davon und zog die falschen Schlüsse daraus, und er ließ ihn spüren, wie viel Wert er in seinen Augen verloren hatte.

Statt sich in lächerlichen Ausreden zu verstricken, straffte Sora die Schultern, suchte den Blick meines Vaters und sagte nur vier Worte: »Es tut mir leid.«

Dein Bruder war weise.

Ja. Er hat viele wunderbare Eigenschaften. Eine davon ist, dass er ganz genau weiß, wann er die Klappe halten muss. Ich hingegen bin meist ruhig, aber wenn ich mich bedrängt fühle, dann weiß ich einfach nicht mehr, was ich tue– und vor allem sage.

»Es tut mir leid?«, wiederholte mein Vater drohend. »Das ist alles, was dir dazu einfällt?«

Irritiert blickte ich auf und sah, wie sich die rechte Hand meiner Mutter um die linke Hand meines Vaters schloss. Es sollte eine besänftigende Geste sein, die ihre Wirkung jedoch verfehlte. Mein Vater erhob sich mit einem Ruck und stampfte auf Sora zu, der schwieg und nicht einmal zusammenzuckte, geschweige denn zurückwich. Er war erst zehn Jahre alt, aber stark und tapfer wie ein gestandener Krieger.