14,99 €
Das zweite Weihnachtsbuch von Bestsellerautor Matt Haig Die achtjährige Waise Amelia fristet ein kärgliches Dasein als Kaminkehrermädchen und hofft inständig auf Rettung durch den Weihnachtsmann. Der hat jedoch alle Hände voll zu tun: Aufruhr im Wichtelreich, Rentiere, die vom Himmel fallen, der Weihnachtszauber, der schwächer wird – wenn das so weitergeht, droht Weihnachten auszufallen. Aber Amelia ist kein gewöhnliches Mädchen: Nur mit ihrer Hilfe kann der Weihnachtszauber gerettet werden! Der Folgeband zu ›Ein Junge namens Weihnacht‹: Ein hinreißendes Buch für die ganze Familie – mit Illustrationen von Chris Mould.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 225
Matt Haig
Mit Illustrationen von Chris Mould
Deutsch von Sophie Zeitz
Für Pearl, Lucas und Andrea. Die wunder-vollsten Menschen, die ich kenne.
eißt du, wie Wunder funktionieren?
Wie Rentiere am Himmel fliegen? Wie der Weihnachtsmann in einer einzigen Nacht um die ganze Welt reisen kann? Wie man die Zeit anhalten und Träume wahr werden lassen kann?
Durch Hoffnung.
So funktionieren Wunder.
Ohne Hoffnung gibt es keine Wunder.
Es sind nicht der Weihnachtsmann oder Blitz oder die anderen Rentiere, die die Weihnachtsnacht mit Zauber erfüllen.
Es ist jedes Kind, das sich zu Weihnachten ein Wunder wünscht. Wenn sich niemand Wunder wünschen würde, gäbe es auch keine. Und weil wir wissen, dass der Weihnachtsmann jedes Jahr kommt, wissen wir auch, dass Wunder möglich sind – wenigstens zu Weihnachten.
Aber so ist es nicht immer gewesen. Es war einmal eine Zeit, da gab es noch keine gefüllten Strümpfe und Stiefel, kein vorfreudiges Herzklopfen und keine Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Eine ziemlich traurige Zeit war das, in der nur wenige Kinder Grund hatten, an Wunder zu glauben.
Deshalb hatte der Weihnachtsmann, als er beschloss, dass jedes Menschenkind einen Grund haben sollte, glücklich zu sein und an Wunder zu glauben, so schrecklich viel zu tun.
In jener ersten Nacht hatte er den Sack voller Spielzeug, die Rentiere waren vor den Schlitten gespannt, doch als er aus Wichtelgrund, dem Wichteldorf, hinausflog, spürte er, dass nicht genug Magie in der Luft lag. Er durchflog die Nordlichter, aber sie schimmerten kaum. Und der Grund für die niedrigen Magiewerte war, dass einfach nicht genug Hoffnung herrschte. Wie sollte ein Kind auch auf ein Wunder hoffen, wenn es noch nie eins erlebt hatte?
Der allererste Besuch des Weihnachtsmanns wäre also beinahe ins Wasser gefallen. Dass er doch stattfand, war nur einem Umstand zu verdanken. Einem einzelnen Menschenkind. Einem Mädchen, das in London lebte und gegen jede Wahrscheinlichkeit an Wunder glaubte. Das auf ein Wunder hoffte, jeden einzelnen Tag. Sie war die Erste, die an den Weihnachtsmann glaubte. Es war ihre Hoffnung, die dem Weihnachtsmann half, als sein Rentiergespann in jener Weihnachtsnacht strauchelte. Sie lag in ihrem Bett und hoffte so inbrünstig, dass sie den ganzen Himmel damit zum Leuchten brachte. Ihre Hoffnung gab dem Weihnachtsmann ein Ziel. Eine Richtung. Und so folgte er der Fährte des Lichts bis in die Londoner Kurzwarengasse 99, wo das Mädchen wohnte.
Und als er dort fertig war – als er den mit Spielzeug gefüllten Strumpf ans Fußende ihres verwanzten Betts gehängt hatte –, strahlte die Hoffnung noch heller. Der Zauber war in der Welt, und er verbreitete sich mit den Träumen der Kinder.
Aber der Weihnachtsmann machte sich nichts vor. Ohne dieses achtjährige Mädchen, ohne Amelia Wishart, die so sehnlich wünschte, dass Wunder möglich wären, hätte Weihnachten nicht stattgefunden. Ja, die Wichtel, die Rentiere und die Spielzeugwerkstatt, all das gehörte dazu, aber Amelia war es, die das Fest der Liebe gerettet hatte.
Sie war das erste Kind.
Und das würde ihr der Weihnachtsmann niemals vergessen.
ikolas (denn das war der ursprüngliche Name des Weihnachtsmanns) faltete Amelias Brief zusammen und schob ihn in die Tasche. Dann stapfte er über die verschneite Rentierweide und am Ufer des gefrorenen Silbersees entlang und ließ den Blick über Wichtelgrunds friedliche Sehenswürdigkeiten schweifen. Das hölzerne Rathaus. Der Holzschuhladen, die Schokoladenbank und das Pudding-Café an der Hauptstraße, das erst in einer Stunde aufmachte. Die Schule der Schlittenkunst und die Universität für moderne Spielzeugherstellung. Das (für Wichtelverhältnisse) hohe Gebäude der Wichtelzeitung Der Tagesschnee mit seiner extraverstärkten Pfefferkuchenfassade, die im klaren Morgenlicht golden schimmerte.
Als er in die schneebedeckte Straße einbog, die nach Westen zur Spielzeugwerkstatt und zu den waldigen Elfen-Hügeln dahinter führte, kam ihm ein Wichtel in braunem Wams und Holzschuhen entgegen. Der Wichtel trug eine Brille und war ziemlich kurzsichtig, weswegen er den Weihnachtsmann erst gar nicht sah.
»Hallo, Einton!«, begrüßte ihn Nikolas.
Der Wichtel tat einen erschrockenen Sprung.
»Oh! H-hallo, Weihnachtsmann. Entschuldige. Ich hab dich nicht kommen sehen. Ich hatte gerade Nachtschicht.«
Einton war einer der fleißigsten Mitarbeiter der Spielzeugwerkstatt. Er war ein etwas schrulliger, verhuschter kleiner Wichtel, aber der Weihnachtsmann mochte ihn sehr. Als stellvertretender Vizeherstellungsleiter der Abteilung für Hüpf- und Dreh-Spielzeug hatte er sehr viel zu tun, und er beschwerte sich nie, wenn er die Nacht durcharbeiten musste.
»Läuft in der Spielzeugwerkstatt alles nach Plan?«, fragte der Weihnachtsmann.
»O ja! Alle Hüpf-Spielzeuge hüpfen, und alle Dreh-Spielzeuge drehen sich. Wir hatten ein kleines Problem mit ein paar Gummibällen, aber das konnten wir ausbügeln. Jetzt hüpfen sie höher als je zuvor. Die Menschenkinder werden begeistert sein.«
»Prima«, sagte Nikolas. »Na, dann geh heim und ruh dich aus. Und richte Nusch und dem Kleinen Mim fröhliche Weihnachten von mir aus.«
»Das mache ich, Weihnachtsmann. Sie werden sich freuen. Vor allem Mim. Sein Lieblingsspielzeug ist ein Puzzle mit deinem Gesicht. Putzi, der Puzzlemacher, hat es für ihn gemacht.«
Nikolas wurde ein bisschen rot. »Hoho … Na dann, frohe Weihnachten, Einton!«
»Frohe Weihnachten, Weihnachtsmann!«
Und gerade als sie sich voneinander verabschiedeten, hatten plötzlich beide ein komisches Gefühl in den Knien. Ein schwaches Zittern, als würde die Erde ganz leicht beben. Einton dachte, es käme von seiner Müdigkeit. Der Weihnachtsmann dachte, es käme von seiner Aufregung, weil der große Tag und die große Nacht bevorstanden. Deshalb sagten beide nichts.
ie Spielzeugwerkstatt war das größte Gebäude in Wichtelgrund, noch größer als das Rathaus und das Verlagshaus des Tagesschnee. Sie bestand aus einem großen Turm und einer hohen Halle, alles in einer dicken Schneedecke eingepackt.
Als der Weihnachtsmann hereinkam, waren die Vorbereitungen in vollem Gange.
Fröhliche Wichtel sangen und lachten, während sie die letzten Spielzeugprüfungen durchführten: Sie rissen an Puppenköpfen, drehten Kreisel, ritten auf Schaukelpferden, blätterten in Büchern, pflückten Mandarinen von Mandarinenbäumen, kuschelten mit Kuscheltieren, ließen Gummibälle hüpfen. Dazu spielten die »Schlittenglöckchen«, Wichtelgrunds beliebteste Band, die gerade den Dauerbrenner schmetterte: »Weihnachten steht vor der Tür/Wir machen uns gleich ins Hemd, so aufgeregt sind wir.«
Vorne in der Halle stellte der Weihnachtsmann den Sack auf den Boden.
»Guten Morgen, Weihnachtsmann«, rief eine Wichtelfrau namens Grübchen mit einem vergnügten Lächeln. Es war leicht, sich ihren Namen zu merken, weil sie beim Lächeln Grübchen hatte, und sie lächelte immer. Neben ihr saß Bella, die Witzeschreiberin, die an ihrem letzten Witz in diesem Jahr feilte und dabei kichernd ein Plätzchen knabberte.
Grübchen bot dem Weihnachtsmann ein Pfefferminzbonon an, und als er den Deckel der Bonbondose öffnete, sprang ihm eine Spielzeugschlange entgegen.
»Aaah!«, schrie er.
Grübchen lag auf dem Boden vor Lachen.
»Hohoho«, lachte der Weihnachtsmann, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Wie viele davon haben wir?«
»Achtundsiebzigtausendsechshundertsiebenundvierzig.«
»Sehr gut.«
Dann entdeckten die singenden Schlittenglöckchen den Weihnachtsmann und spielten ihm zu Ehren den Song Der Held in dem roten Gewand. Es war nicht ihr bester, aber alle Wichtel stimmten aus voller Kehle ein.
Da ist ein Mann, der trägt nur Rot,
bringt ’nen Sack voll Geschenke durch den Schlot,
ein dicker Mann mit weißem Bart,
seine Ohren sind rund und sehr apart.
Ihm haben wir Wichtel zu verdanken,
dass wir das ganze Jahr Weihnachtsglück tanken.
Mit den Rentieren reist er um die Welt,
mit Geschenken durch die Luft er schnellt.
Erfüllt die Wünsche der Kinder im ganzen Land,
Wir danken dem Held –
auf dem roten Elefant?
Nein!
DEM HELD IN DEM ROTEN GEWAND!
Die Wichtel jubelten. Nikolas war ein bisschen verlegen, und er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, also sah er aus dem Fenster. Draußen entdeckte er jemanden, der durch den Schnee auf die Werkstatt zugelaufen kam. Niemandem sonst war es aufgefallen, weil niemand sonst groß genug war, um aus dem Fenster zu sehen.
Es war jedenfalls kein Wichtel, so viel konnte der Weihnachtsmann erkennen. Es war ein kleineres Wesen. Zu zart. Zu anmutig. Zu schick. Zu gelb. Zu schnell.
Als der Weihnachtsmann begriff, wer da angelaufen kam, ging er zur Tür.
»Ich bin gleich wieder da, ihr zauberhaften Leute«, rief er den Wichteln zu. »Der Unerschöpfliche Sack steht hier, ihr könnt schon mal anfangen, Spielzeug hineinzuwerfen …«
Als er die Tür öffnete, stand sie schon davor, die kleinen Hände in die Hüften gestemmt, nach vorn gebeugt und völlig außer Atem.
»Pixie!«, rief Nikolas erfreut. Schließlich kam es nicht oft vor, dass eine Elfe nach Wichtelgrund kam, und erst recht nicht die Wahrheitselfe. »Fröhliche Weihnachten!«
Die riesigen Augen der Wahrheitselfe waren noch riesiger als sonst.
»Nein«, keuchte sie auf Kniehöhe und blickte am Weihnachtsmann empor.
»Wie bitte?«
»Nein. Das ist keine fröhliche Weihnacht.«
Die Pixie warf einen Blick in die Werkstatt, wo all die vielen Wichtel herumfuhrwerkten, und spürte ein unbehagliches Kribbeln, weil sie Wichtel nicht sonderlich mochte und außerdem Ausschlag von ihnen bekam.
»Ich habe einen neuen Anzug«, erzählte der Weihnachtsmann. »Er ist noch röter als der alte. Und sieh dir den Pelzbesatz an. Gefällt er dir?«
Die Pixie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie musste immer die Wahrheit sagen. »Nein. Er gefällt mir überhaupt nicht. Du siehst damit aus wie eine riesige schimmlige Moltebeere. Aber darum geht es jetzt nicht.«
»Worum geht es dann? Du kommst doch sonst nie nach Wichtelgrund.«
»Weil hier alles voller Wichtel ist.«
Inzwischen hatten ein paar Wichtel die Wahrheitselfe entdeckt. »Frohe Weihnachten, Pixie!«, glucksten sie.
»Einfaltspinsel«, murmelte die Wahrheitselfe.
Der Weihnachtsmann seufzte. Er trat hinaus in den Schnee und schloss die Tür hinter sich. »Hör zu, Pixie, ich würde ja gern mit dir plaudern, aber heute ist Heiligabend. Ich muss mit anpacken, damit alles rechtzeitig fertig wird …«
Die Wahrheitselfe schüttelte den Kopf.
»Du musst die Spielzeugwerkstatt vergessen. Du musst Weihnachten vergessen. Du musst weg aus Wichtelgrund. Am besten, du verziehst dich in die Berge.«
»Wovon redest du denn bloß, Pixie?«
Und da hörte er etwas. Eine Art Grummeln.
Die Wahrheitselfe schluckte.
»Ich hätte mehr frühstücken sollen«, meinte der Weihnachtsmann und klopfte sich auf den Bauch.
»Das kam nicht aus deinem Bauch«, entgegnete die Wahrheitselfe. »Das kam von da unten.« Sie zeigte auf den Boden.
Der Weihnachtsmann musterte den frischen Schnee, der so weiß war wie ein unbeschriebenes Blatt.
»Es passiert früher, als ich dachte«, quietschte die Wahrheitselfe noch, und dann lief sie los. Sie blickte noch einmal über die Schulter zurück. »Rette dich! Versteck dich! Ich schätze, du solltest auch den Wichteln Bescheid sagen … Und blast Weihnachten lieber ab, bevor sie es tun …«
»Sie? Wer sind sie?« Aber die Pixie war schon über alle Berge. Der Weihnachtsmann grinste in sich hinein, als er ihren winzigen Fußspuren nachsah, die bis zu den Waldigen Hügeln führten. Es war Weihnachten. Wahrscheinlich hatte sie einen Schwips, weil sie zu viel Zimtlikör getrunken hatte.
Dann hörte er das Grummeln wieder.
»Ach, mein lieber Bauch, sei doch nicht …«
Doch das Geräusch war viel lauter und tiefer geworden, und es klang überhaupt nicht mehr nach Bauch. Sondern irgendwie beunruhigend. Nikolas war sich sicher, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Doch als er zurück in die Werkstatt ging, zog er die Tür fest hinter sich zu, um nichts mehr außer dem geschäftigen Lärm der Spielzeugwerkstatt zu hören.
iebzehn Tage nachdem Amelia Wishart ihren Brief an den Weihnachtsmann abgeschickt hatte, steckte sie, wie so häufig, in einem Schornstein.
In Schornsteinen war es stockdunkel. Das war das Erste, woran man sich gewöhnen musste. Die Finsternis. Das Zweite war die Enge. Schornsteine waren immer ein bisschen zu eng, selbst wenn man ein Kind war. Aber das Schlimmste für einen Schornsteinfeger war der Ruß. Sobald man zu fegen anfing, kroch der schwarze Staub einfach überallhin. In die Haare, die Kleider, die Haut, die Augen, den Mund. Der Ruß löste einen fürchterlichen, unstillbaren Husten aus und ließ die Augen tränen. Schornsteinfegen war ein schrecklicher Beruf, aber Amelia brauchte ihn. Sie musste Geld für Lebensmittel und die Medizin ihrer Mutter verdienen.
Außerdem hatte das Schornsteinfegen auch etwas Gutes: Man lernte, das Tageslicht zu schätzen. Man lernte, sich an allen Orten zu erfreuen, die kein Schornstein waren. Wenn man so viel Zeit in rußschwarzen Schächten verbrachte, träumte man von allen möglichen hellen Orten auf der Welt. Man lernte zu hoffen.
Jedenfalls war ein Schornstein nicht der Ort, wo man freiwillig den Morgen des vierundzwanzigsten Dezember verbrachte. Mit Knien und Ellbogen im Schacht verkeilt, in einer Rußwolke, die Amelia fast ersticken ließ, während sie fegte.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch.
Ein leises Fiepen.
Kein menschlicher Laut. Etwas anderes.
Miau.
»Oje«, seufzte Amelia, denn sie wusste genau, wer das war.
Sie stemmte die Fersen gegen das Mauerwerk und tastete mit der freien Hand im Dunkeln herum, bis sie in einer Nische des Kamins etwas Weiches, Warmes Pelziges spürte.
»Käptn Ruß! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht in Schornsteine klettern! Das ist nichts für Katzen!«
Der Kater schnurrte, als Amelia ihn auf den Arm nahm und mit ihm nach unten ins Licht des Wohnzimmers kletterte. Käptn Ruß war ganz schwarz bis auf einen weißen Fleck an der Schwanzspitze. Und heute war sogar die Schwanzspitze schwarz wie – na ja, Ruß.
Das Tier wand sich aus Amelias Arm, sprang mit einem eleganten Schlenker ab und spazierte quer durchs Zimmer. Über den cremeweißen Teppich. Den teuren cremeweißen Teppich. Erschrocken starrte Amelia auf die rußschwarze Pfotenspur.
»O nein. Käptn Ruß! Komm zurück! Was machst du denn da?«
Amelia wollte den Kater holen, aber natürlich hinterließ jetzt auch sie schwarze Spuren auf dem Teppich. »O nein«, stöhnte sie. »O nein, o nein, o nein …« Sie rannte in die Küche, um einen feuchten Lappen zu holen. Dort schabte eine Küchenmagd mit Wurstfingern Karotten.
»Tut mir leid«, sagte Amelia. »Ich habe ein bisschen Dreck gemacht.«
Die Küchenmagd schnaubte und funkelte sie an wie eine böse Katze. »Mr Creeper wird nicht erfreut sein, wenn er vom Arbeitshaus zurückkommt!«
Amelia lief wieder ins Wohnzimmer und versuchte, den Ruß wegzurubbeln, aber die schwarzen Flecken wurden nur noch größer.
»Wir müssen das hinkriegen, bevor Mr Creeper nach Hause kommt«, sagte sie zu dem Kater. »Dass du mir ausgerechnet hier einen Streich spielen musstest, Käptn Ruß!«
Der Kater erklärte ihr mit einem Blick, dass es ihm leidtat.
»Schon gut, das konntest du ja nicht wissen. Aber ich wette, Mr Creeper regt sich furchtbar auf.«
Während sie weiter am Teppich schrubbte, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. Es war Weihnachten, aber hier war nicht die geringste Spur davon zu sehen. Keine Weihnachtskarte. Kein Tannen- oder Stechpalmenzweig. Kein Plätzchenteller. Was in einem reichen Haus wie diesem ziemlich ungewöhnlich war.
Dann hörte Amelia Schritte in der Eingangshalle. Als sie sich umdrehte, flog die Wohnzimmertür auf, und Mr Creeper stand über ihr.
Amelia sah zu ihm auf. Er war groß und dünn, hatte ein langes, schmales Gesicht und eine lange, schiefe Nase. Mit dem langen schwarzen Stock, dem dunklen Mantel und dem schwarzen Zylinder sah er aus wie eine Krähe, die eines trüben Dienstags beim Verspeisen eines Wurms beschlossen hatte, sich als Mensch zu verkleiden.
Mr Creeper starrte Amelia, den Kater und die schwarzen Fußspuren auf dem Teppich an.
»Entschuldigung«, sagte Amelia. »Mein Kater ist mir nachgelaufen und hat sich in den Kamin geschlichen.«
»Weißt du, was dieser Teppich gekostet hat?«
»Nein, mein Herr. Aber ich mache ihn gerade sauber. Sehen Sie? Die Flecken gehen wieder weg.«
Käptn Ruß machte einen Buckel und fauchte Mr Creeper an. Eigentlich mochte Käptn Ruß die meisten Menschen, aber dieser lange Mann war ihm außerordentlich unsympathisch.
»Was für ein bösartiges Tier.«
»Er will Ihnen nur frohe Weihnachten wünschen«, schwindelte Amelia und versuchte zu lächeln.
»Weihnachten!« Mr Creeper verzog das Gesicht, als hätte das Wort einen ekligen Geschmack. »Nur Dummköpfe freuen sich über Weihnachten. Und Kinder. Du bist offensichtlich beides.«
Amelia kannte Mr Creeper. Er war der Gründer von Creepers Arbeitshaus, einem der größten Arbeitshäuser in London. Amelia wusste auch, was ein Arbeitshaus war. Ein Arbeitshaus war ein furchtbarer Ort. Ein Ort, an den niemand freiwillig ging, aber manche Leute mussten dorthin, weil sie zu arm oder zu krank waren oder ihre Wohnung oder ihre Eltern verloren hatten. Es war ein Ort, wo man von früh bis spät arbeiten musste und abscheuliches Essen bekam und fast nicht schlafen durfte und ständig bestraft wurde.
»Was für ein Paar schmutzige kleine Tiere ihr seid!«, sagte Mr Creeper.
Käptn Ruß sträubte das Fell, sodass er wie eine flauschige zornige Kugel aussah.
»Er mag es nicht, wenn er beleidigt wird, mein Herr.«
Mr Creeper wiederum mochte es offensichtlich nicht, wenn Kinder Widerworte gaben. Erst recht nicht arme Kinder in rußigen Lumpen, deren Katze ihm den Teppich verdreckt hatte. »Steh auf, Mädchen.«
Amelia stand auf.
»Wie alt bist du?«
»Ich bin zehn, mein Herr.«
Mr Creeper zog Amelia am Ohr. »Du lügst.«
Er bückte sich und betrachtete sie blinzelnd, so wie man den Schmutz betrachtet, der einem unter der Schuhsohle klebt. Amelia sah seine schiefe Nase und fragte sich, wie er sie sich wohl gebrochen hatte. Insgeheim wünschte sie, sie wäre dabei gewesen.
»Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Du bist neun. Und du bist eine Lügnerin und Diebin.«
Ihr Ohr fühlte sich an, als risse es gleich ab. »Bitte, das tut weh.«
»Als deine Mutter krank wurde, hätte ich gleich einen neuen Schornsteinfeger anheuern sollen.« Mr Creeper ließ Amelia los und rieb sich den Ruß von den Fingern. »Aber nein, ich sagte: Gut, ich gebe diesem Mädchen eine Chance. Was für ein Fehler. Du gehörst ins Arbeitshaus. Und jetzt zum Geld.«
»Drei Penny, mein Herr. Aber wegen der Flecken gebe ich Ihnen einen Nachlass.«
»Nein.«
»Nein?«
»Du hast mich falsch verstanden. Ich meine das Geld, das du mir bezahlst.«
»Ich?«
»Weil du meinen Teppich ruiniert hast.«
Amelia sah den Teppich an. Wahrscheinlich kostete er mehr, als ein Schornsteinfeger in zehn Jahren verdiente. Eine Welle von Zorn und Traurigkeit stieg in ihr auf. Sie brauchte Creepers drei Penny, um für ihre Mutter und sich zu Weihnachten einen Feigenpudding zu kaufen. Eine Gans oder einen Truthahn konnten sie sich nicht leisten. Den Pudding schon. Zumindest wenn Amelia Mr Creepers drei Penny bekommen hätte.
»Wie viel Geld hast du dabei?«
»Keins, mein Herr.«
»Du lügst schon wieder. Ich kann in deiner Hosentasche den Umriss einer Münze sehen. Her damit.«
Amelia schob die Hand in die Tasche und zog ihre einzige Münze heraus. Sie starrte das Porträt der Königin Victoria auf dem halben Penny an.
Mr Creeper schüttelte den Kopf. Er sah sie an wie eine Krähe den Wurm. Dann zog er sie wieder am Ohr. »Deine Mutter hat dich verwöhnt, was? Ich habe mir immer gedacht, dass sie ein schwacher Mensch ist. Und das Gleiche hat wohl auch dein Vater gedacht, was? Sonst wäre er nicht weggegangen.«
Amelia wurde rot vor Zorn. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt. Sie kannte nur die Kohlezeichnung, die ihre Mutter von ihm gemacht hatte. Darauf trug er eine Uniform und lächelte. William Wishart sah aus wie ein Held, und das reichte ihr. Er war Soldat gewesen und hatte in einem sehr heißen Land namens Burma kämpfen müssen. Er war in dem Jahr, als Amelia zur Welt kam, gestorben. In ihrer Fantasie war er stark und edel und heldenhaft, genau das Gegenteil von Mr Creeper.
»Deine Mutter ist keine gute Mutter«, fuhr Mr Creeper fort. »Sieh dich an. Deine zerlumpten Hosen. Du siehst aus wie ein Junge. Sie hat dir nie beigebracht, dich wie ein Mädchen zu benehmen, oder? Na, wenigstens wird sie nicht mehr lange hier sein …«
Jetzt wurde es Käptn Ruß zu viel. Er sprang Mr Creeper mit ausgefahrenen Krallen an und schlitzte ihm die schwarzen Hosen auf. Creeper stieß das Tier mit dem Stock weg. Und da explodierte Amelia. Sie rammte Mr Creeper den rußigen Besen ins Gesicht und trat ihm gegen das Schienbein. Dann trat sie noch mal nach. Und noch mal.
Mr Creeper hustete Ruß. »Du… du…«
Auf einmal hatte Amelia überhaupt keine Angst mehr. Sie dachte nur an ihre Mutter, die krank im Bett lag. »Reden Sie nie wieder so über meine Mutter!«
Sie warf den halben Penny auf den Teppich und stürmte hinaus.
»Das wirst du bereuen!«
Nein, werde ich nicht, dachte Amelia und hoffte inständig, dass sie recht behielte, als sie von Käptn Ruß gefolgt zur Haustür lief und sie beide im ganzen Haus schwarze Fußabdrücke hinterließen.
Draußen wandte sich Amelia nach Osten und lief durch dunkle, schmutzige Straßen in Richtung der Kurzwarengasse, in der sie wohnte. Die Häuser wurden immer kleiner und schäbiger und standen dichter zusammen. Aus einer kleinen Kirche schallte Herbei, o ihr Gläubigen. Händler bauten Marktstände für den Weihnachtsmarkt auf, Kinder spielten Himmel und Hölle, Mägde holten beim Metzger die Gans ab, eine Frau trug einen Weihnachtspudding vor sich her, und ein Mann wachte gerade in einem Hauseingang auf.
Eine Maronenverkäuferin rief ihr zu: »Frohe Weihnachten, Schätzchen!«
Amelia zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, Weihnachtsstimmung aufzubringen, aber es fiel ihr schwer. Viel schwerer als letztes Jahr.
»Heut ist Heiligabend, Mädchen«, sagte die Maronenverkäuferin. »Heute Nacht kommt der Weihnachtsmann.«
Beim Gedanken an den Weihnachtsmann fiel Amelia das Lächeln leichter. Sie hob den Schornsteinbesen zum Gruß und rief: »Frohe Weihnachten!«
er Kleine Mim war ein Wichtel.
Wie sein Name verriet, war er klein, selbst für einen Wichtel. Und er war jung. Jünger als du. Viel jünger. Der Kleine Mim war gerade mal drei Jahre alt. Er hatte rabenschwarzes Haar, das schimmerte wie ein mondbeschienener See, und er roch nach frischen Lebkuchen. Er ging in den Wichtelkindergarten, der der Schule der Schlittenkunst angeschlossen war, und lebte mit seiner Familie in einem kleinen Häuschen nicht weit von der Sieben-Kurven-Straße mitten in Wichtelgrund.
Aber heute hatte der Wichtelkindergarten zu.
Heute war Heiligabend. Der aufregendste Tag im Jahr. Und dieses Jahr war der aufregendste Heiligabend aller Zeiten. Zumindest für den Kleinen Mim. Denn heute würde er mit den anderen Wichtelkindern einen Ausflug in die Spielzeugwerkstatt machen. Dort durften sich die Wichtelkinder, wenn der Sack des Weihnachtsmanns mit den Geschenken für die Menschenkinder gefüllt war, unter all dem übrig gebliebenen Spielzeug etwas aussuchen. Außerdem war der Kleine Mim noch nie in der Spielzeugwerkstatt gewesen.
»Es ist Weihnachten!«, jubelte er und sprang mit einem großen Satz ins Bett seiner Eltern. Wie die meisten Wichtelbetten war das Bett seiner Eltern so gut gefedert wie ein Trampolin, und als Mim hineinsprang, hüpfte er so hoch, dass er sich den Kopf an der Decke anstieß und eine rot-grüne Papiergirlande abriss, die mit allerlei anderem Weihnachtsschmuck das Schlafzimmer zierte.
»Kleiner Mim, es ist zu früh!«, stöhnte Nusch, seine Mutter, hinter ihrem wirren dunklen Haar hervor. Sie zog sich das Kissen über den Kopf.
»Deine Mama hat recht«, seufzte Einton, sein Vater. Er setzte sich die Brille auf und sah nervös auf die Uhr. »Es ist erst Viertel nach Wirklich sehr früh.«
Wirklich sehr früh war die Stunde des Tages, die Einton am wenigsten mochte, besonders heute, nach der Nachtschicht. Es kam ihm so vor, als sei er gerade erst ins Bett gegangen. Was auch stimmte. Zwar war er sehr zufrieden mit seiner Stelle als stellvertretender Vize-Herstellungsleiter der Abteilung Hüpf- und Dreh-Spielzeug, die eine interessante Aufgabe und den anständigen Wochenlohn von einhundertfünfzig Schokoladentalern bot. Aber er schlief auch überaus gern. Und jetzt hüpfte und kreiselte sein Sohn auf ihm herum, weil er so aufgeregt war.
»Weihnachten ist das Schönste auf der Welt! Ich glaube, ich platze gleich!«, rief der Kleine Mim.
»Wir freuen uns auch auf Weihnachten, Kleiner Mim. Aber versuch noch ein bisschen zu schlafen«, murmelte Nusch unter dem Kissen. In deinen Träumen ist immer Weihnachten, stand in gestickten Buchstaben auf dem Kissen. Auch Nusch war müde, denn vor Weihnachten herrschte überall Hochbetrieb. Sie hatte bis tief in die Nacht Rentiere interviewt.
»Ach Mami, bitte! Heute ist Weihnachten! Je früher wir aufstehen, desto länger ist der Tag … Komm! Lass uns einen Schneewichtel bauen.«
Nusch musste lächeln. »Wir bauen jedenMorgen einen Schneewichtel.«
Einton war wieder eingeschlummert und schnarchte laut. Nusch seufzte. Das hieß, dass sie sowieso nicht mehr schlafen konnte. Also nahm sie das Kissen vom Gesicht und stand auf, um Frühstück für den Kleinen Mim zu machen.
»Was haben die Rentiere gesagt?«, fragte Mim, als er auf seinem Holzstühlchen in der kleinen Küche saß und Marmeladenlebkuchen aß. Sein Blick ruhte auf dem Porträt des Weihnachtsmanns, das Mütterchen Miro, die örtliche Künstlerin, gemalt hatte. Es war eins von sieben Bildern, die sie vom Weihnachtsmann hatten, und obwohl es dem Weihnachtsmann immer peinlich war, wenn er Wichtel zu Hause besuchte und ihm von der Wand sein Ebenbild entgegensah, fühlten sich die Wichtel beim Anblick seines seltsamen bärtigen Menschengesichts wohl und geborgen.
»Die Rentiere haben nicht viel gesagt. Sie waren ziemlich schweigsam. Komet schien unruhig, was ungewöhnlich ist. Und Blitz hat etwas Merkwürdiges getan.«
Als Rentier-Korrespondentin für den Tagesschnee schrieb Nusch ausschließlich über die Rentiere. Das Problem dabei war nur, dass Rentiere gar nicht gesprächig waren. Meistens bekam man nicht mehr aus ihnen heraus als ein Schnauben oder vielleicht mal ein Blöken. Bei den Rentieren gab es auch fast nie Skandale, außer dass Blitz einmal ein Häufchen in Väterchen Wodols Vorgarten gesetzt hatte. (Wodol war Nuschs Chef. Und er hatte über die Geschichte eine Nachrichtensperre verhängt.) Rentier-Artikel landeten nie auf der Titelseite. Die Wichtel interessierten sich höchstens für die verwickelte Liebesgeschichte zwischen Amor und Pirouette, und einmal hatte es das jährliche Rentierschlitten-Rennen auf Seite vier geschafft, aber mehr war einfach nicht drin. Es war sowieso klar, dass die, die beim Rennen auf Sauseschritt setzten, gewannen, denn Sauseschritt konnte einfach am schnellsten laufen. Nuschs Ressort war unbestritten das langweiligste der ganzen Zeitung, und Nusch wünschte sich sehnlich eine spannendere Aufgabe. Lebkuchen-Korrespondentin zum Beispiel, oder Spielzeug-Korrespondentin. Am allerliebsten hätte sie über die Trolle berichtet. Troll-Korrespondent war der gefährlichste Job beim Tagesschnee, weil Trolle so groß und gefährlich waren und in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Wichtel gefressen hatten. Aber es war auch das wichtigste Ressort der Zeitung, und mit Abstand das aufregendste. Also hoffte Nusch jeden Tag, ihr Chef würde die Trolle ihr übertragen, aber er tat es nicht. Väterchen Wodol war ein griesgrämiger Chef. Genau genommen war er der griesgrämigste Wichtel in ganz Wichtelgrund. Und er hasste Weihnachten.
»Was denn?«, fragte der Kleine Mim, während seine Mutter zehn Teelöffel Zucker in seinen Moltebeersaft gab. »Was hat Blitz gemacht?«
»Er hat den Kopf hängen lassen und auf den Boden gestarrt. Aber nicht, um Futter zu suchen. Sondern als wäre er beunruhigt wegen irgendwas. Die anderen auch. Letztes Jahr waren sie so fröhlich. Und dann hat Blitz mich angesehen und ein Geräusch gemacht.«
Der Kleine Mim kicherte, weil er das lustig fand. Er fand immer alles lustig. »Ein Po-Geräusch?«
»Nein. Ein Mund-Geräusch. Es klang wie …«
Nusch machte das Geräusch nach. Sie presste die Lippen zusammen und stieß eine Art stöhnendes Rentier-Seufzen aus. Der Kleine Mim hörte sofort zu kichern auf. Das Geräusch klang überhaupt nicht lustig.