Das Mädchen mit der Fiedel - Urs Weil - E-Book

Das Mädchen mit der Fiedel E-Book

Urs Weil

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Beschreibung

Herzogtum Nassau, im Herbst 1860: Nach dem Tod seines Vaters verlässt der junge Karl Schroth den elterlichen Hof, um nach Amerika auszuwandern. Unterwegs begegnet er der betörenden wie geheimnisvollen Katharina, die sich als Musikantin ein Zubrot verdient. Sie begleitet ihn auf seiner Reise. Dann geschieht ein folgenschweres Unglück. Bald ist Karl in Arbeiterunruhen verwickelt, angefacht von Sozialisten, die gegen Armut und Unterdrückung kämpfen.

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Urs Weil, Jahrgang 1973, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Inhaltsverzeichnis

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1

Nimmst du mich mit?«

Das Zittern in der Stimme seines kleinen Bruders rührte Karl beinahe zu Tränen. Gleichzeitig schämte er sich. Denn genau wie Friedrich kannte er die Antwort schon, als die Frage kaum ausgesprochen war.

Karl sah aus dem Augenwinkel, dass sein Bruder ihn anschaute, dass er auf die Worte wartete, die sein bisschen Hoffnung zunichtemachten. Denn er war ein Kind, und die Wünsche eines Kindes wurden fast immer zurückgewiesen.

»Es geht nicht, Friedrich. Du bist noch zu klein«, sagte er.

Sie saßen auf einem Querbalken, hoch oben im Gebälk der Scheune, und ließen die Beine baumeln. Durch die dünnen Mauerritzen drangen helle Sonnenstrahlen, in denen der Staub tanzte. Es roch nach feuchtem Holz und Kuhfladen.

Als Kind war Karl von hier oben ins Heu gesprungen. Wie sehr hatte er den Augenblick genossen, wenn er sein eigenes Gewicht nicht mehr spürte. Für einen kurzen Moment schien es ihm, als schwebte er in der Luft und als wäre damit bewiesen, dass alles möglich war. Als läge in diesem Bruchteil einer Sekunde, wenn die Schwerkraft aufgehoben war, ein Versprechen. So musste es sich anfühlen, wenn man ein Wandersmann war, der sich sein Brot erbettelte, statt dafür zu arbeiten, und dessen Stärke darin lag, sich nicht von den Sorgen erdrücken zu lassen, sondern voller Mut daran zu glauben, dass das Morgen so sein würde wie das Heute, und das Übermorgen so wie das Morgen, und Gott schon für alles sorgen werde.

Im Halbdunkel der Scheune sah Karl, wie Friedrichs Schultern zuckten, dann folgte ein Schluchzen, und vor Scham presste er sich die Hände vors Gesicht.

Karl legte seinem Bruder den Arm um die Schultern, zog ihn zu sich heran und spürte, wie der dünne, zerbrechliche Körper vor Trauer bebte.

»Ich kann arbeiten«, jammerte Friedrich. Rotz lief ihm aus der Nase.

Karl griff in seine Hosentasche und holte ein Taschentuch hervor, wobei er achtgab, nicht vom Balken zu fallen. Sein kleiner Bruder schnäuzte sich.

Karl strich ihm die Haare aus der Stirn. »Ich weiß, dass du arbeiten kannst. Es ist nur …«

Karl stockte und dachte für einen Moment ernsthaft darüber nach, ob er seinen Bruder vielleicht doch mitnehmen könnte. Doch noch bevor der Kleine die Chance erkannte, seinen älteren Bruder umzustimmen, schüttelte Karl den Kopf.

»Dort, wo ich hingehe, das ist sehr weit weg, und ich werde lange unterwegs sein.«

Friedrich wischte sich die Tränen aus den Augen und schwang übermütig mit den Beinen, als wolle er so seinen Kummer vertreiben. »Wohin gehst du denn eigentlich? Wenn der Ort so weit weg ist, woher weißt du dann, dass es ihn gibt?«

Karl griff erneut in seine Hosentasche und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er holte einen Briefumschlag hervor.

»Was ist das?«, fragte Friedrich.

»Ein Brief«, antwortete Karl. »Von Walter.«

»Von Walter aus der Mühle?«

Karl nickte.

»Was schreibt er denn? Ist er dort, wo du hin-willst?«

Karl nickte abermals. »Amerika«, flüsterte er, als wäre dies das erste Wort einer geheimen Zauberformel, die er nun mit Friedrich teilte.

»Amerika«, flüsterte Friedrich ihm nach.

»Das Land ist so groß, dass man Jahre braucht, um es zu durchqueren. Es gibt Büffel und Klapperschlangen und noch viele andere Tiere, die du dir gar nicht vorstellen kannst. Jeder hat mindestens ein Pferd und so viel Grund und Boden, dass er den Nachbarhof nicht mehr sehen kann.«

»Aber wieso willst du denn dorthin? Hier ist es doch auch schön.«

Karl lächelte und strich seinem Bruder durch das glatte Haar, das ihm seine Mutter erst gestern geschnitten hatte. »Ich muss dorthin. Ich kann es dir nur schwer erklären. Es ist so, als würde es mich rufen. Ich …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nur schwer erklären. Aber es ist das Richtige für mich.«

Sein kleiner Bruder schaute nach unten. »Ich verstehe«, murmelte er.

Sie schwiegen eine Weile. Karl steckte den Briefumschlag wieder in seine Tasche.

»Versprichst du mir etwas?«

»Alles, was du willst, kleiner Bruder.«

»Schreib mir, wenn du da bist.«

»Versprochen.«

Sie spuckten in ihre Handflächen und schüttelten sich die Hände.

Von draußen hörten sie eine Stimme rufen.

»Friedrich! Wo steckst du? Friedrich!«

»Versteck dich!«, flüsterte Karl und verpasste seinem Bruder einen Klaps auf den Rücken, sodass dieser ins Heu plumpste.

Das Scheunentor öffnete sich einen Spaltbreit, dann weiter, und Sonnenlicht schien so hell ins Innere hinein, dass Karl sich die Hand schützend vor die Augen hielt. Im Umriss des Tors war die schmale Gestalt einer Frau zu erkennen. Sie schien nicht zu bemerken, dass er dort oben auf dem Balken saß. Schon erwartete er, dass sie sich einfach abwenden, das Tor schließen und gehen würde. Doch dann vernahm er Annas Stimme.

»Wo ist Friedrich?«, fragte sie.

Karl streckte den Rücken durch, verschränkte die Arme und schwieg.

Wie um ihm sein törichtes Verhalten vorzuführen, ließ Anna einen Augenblick vergehen, bevor sie weitersprach. »Schick ihn zu mir ins Haus, wenn du ihn siehst. Der Ofen muss geputzt werden, bevor der Pfarrer kommt.« Sie hatte sich schon abgewandt, da rief sie ihm über die Schulter hinweg zu: »Und komm von dort oben herunter! Du bist kein kleiner Junge mehr! Wir haben Gäste, Herrgott. Nicht einmal am Tag der Beerdigung deines Vaters kannst du dich anständig benehmen.«

*

Als der Pfarrer zum Leichenschmaus erschien, verstummten die Gäste für den Moment, als hätte man etwas zu verheimlichen. Karl ahnte, dass der Pfarrer ohnehin von allem wusste, was im Dorf vorging. Der Pfarrer kannte die Gebrechen und Leiden der Alten, vor allem deren Sorge, nicht genügend Buße getan zu haben für das Himmelreich, denn viel Zeit zur Reue blieb ihnen nicht mehr.

Er kannte die Unzulänglichkeiten der Frauen, vor allem ihren Hang zum Aberglauben, ihre Neigung, Gerüchte zu streuen, und die geradezu missionarische Strenge, mit der sie sich und andere für ihre kleinen, alltäglichen Verfehlungen richteten. Der Pfarrer kannte die Trunksucht der Männer, ihren Hang zu stumpfer Gewalt und ihre sündhaften Begierden, die in den schlimmsten Fällen zu Missetaten gegen das sechste Gebot des Herrn führten. Sogar die Streiche der Kinder kannte er, denen er schnell und früh mit ordnender Hand Einhalt gebot, damit sie sich als Erwachsene daran erinnern und in Gottes Sinne handeln würden.

Nur das reine Herz konnte auf Erlösung hoffen, so sprach der Geistliche zur Begrüßung, die Hand zur Segnung erhoben, anstatt Hände zu schütteln.

Kurz vor der Beerdigung war der Pfarrer schon einmal im Haus gewesen. Wochen zuvor war der alte Schroth, wie Karls Vater im Dorf genannt wurde, nach einem Treppensturz bettlägerig geworden, und als es mit ihm zu Ende ging, hatte der Pfarrer dem Alten die Beichte abgenommen und ihn zur letzten Ölung gesalbt.

In dieser Nacht hockte der Gottesmann lange am Bett des Alten, während Karls älterer Bruder Johannes Ingrid, die Magd, regelmäßig schickte, um an der Tür zu lauschen. Aber außer, dass bis zum späten Abend viel geredet wurde und danach Stille folgte, wusste sie nichts zu berichten. Jede ihrer Schilderungen beendete sie damit, dass sie sich mehrmals bekreuzigte.

Karl und Johannes saßen schweigend am Küchentisch, starrten in die zittrige Flamme der Kerze und tranken Bier. Anna brachte Friedrich ins Bett und ging dann selbst schlafen. Irgendwann war auch Karl auf dem Stuhl eingenickt. Gegen Mitternacht, kurz nach dem Glockenschlag der Kirchturmuhr im nahen Dorf, kam der Pfarrer die Treppe herunter und sagte ihnen, es sei nun so weit. Anna weckte Friedrich, und zu fünft standen sie am Totenbett des Alten, dessen Augen schon geschlossen waren.

Auf dem Nachttisch brannte eine Trauerkerze. Friedrich weinte. Er vergrub das Gesicht im Nachthemd seiner Mutter, und sein Schluchzen war neben dem Gemurmel des Pfarrers das einzige Geräusch in der kleinen Stube. Anna streichelte ihm durchs Haar, ohne selbst eine Gefühlsregung zu zeigen, und der Pfarrer betete. Seine eintönige Stimme erfüllte den Raum und dröhnte Karl so sehr in den Ohren, dass sein Kopf schmerzte.

Anna war Vaters zweite Frau. Sie war kaum achtzehn gewesen, als sie verheiratet worden war. Etwa so alt wie Karl heute. Vater war damals schon über vierzig. Jetzt war sie Witwe. Karl konnte nicht erkennen, ob sie trauerte oder ob der Tod ihres Gatten eine Erleichterung für sie war.

Er betrachtete den Leichnam seines Vaters, das bleiche, in sich zusammengesunkene Gesicht, die grauen Haarbüschel am Kopf und an den Ohren, die knochigen, gefalteten Hände, den leicht geöffneten Mund mit den eingefallenen Lippen, die auf zahnlosen Kiefern ruhten, und die dürre Gestalt, deren untere Hälfte nahezu völlig unter der Bettdecke verschwunden war. Der Leichnam seines Vaters wirkte friedlicher, als er es zu Lebzeiten gewesen war. Als sei er eingeschlafen und würde sich bald leise rühren, die Augen öffnen und wie ein geläuterter Pharisäer gütig dreinblicken. Karl stand eine Weile einfach da. Irgendwann legte der Pfarrer ihm von hinten die Hand auf die Schulter, so unerwartet, dass Karl zusammenzuckte. Der Pfarrer sagte etwas, und erst am nächsten Morgen erinnerte Karl sich daran, was es gewesen war, nämlich dass sein Vater jetzt bei Gott sei.

*

Bei der Trauerfeier hatte der Pfarrer von der Gnade Gottes gesprochen, die jedem zuteilwerde, der mit reinem Herzen Jesus Christus folge, indem er ihn als seinen Erlöser annehme. Jakob Schroth sei nach einem langen, gottgefälligen Leben nunmehr die Erlösung von den irdischen Leiden zuteilge-worden. Während vom Dachstuhl die schallenden Klänge der Glocke ertönten und die Holzbalken der alten Dorfkirche unter dem schwingenden Gewicht dumpf knirschten, raunte die Gemeinde das Glaubensbekenntnis und danach ein Vaterunser. Bei aller Strenge, so dachte Karl, und aller Gewalt, die sein Vater ihm zeitlebens hatte zukommen lassen, hatte er keinen Zweifel, dass Jakob Schroth in den Himmel kam. Wie seinen Vater, so stellte er sich Gott vor: streng, strafend, starrsinnig, verbittert und leidend unter der Liebe zu seinen wankelmütigen Kindern, von der er ahnte, dass sie ihn verwundbar machte, weil er darunter weich und nachgiebig wurde und den diabolischen, verführerischen Kräften Anreize bot. Das hatte sein Vater ihn zu lehren versucht: zwischen dem Antichristen und dem Himmelreich stand nur die Disziplin. Der Widerstand gegen die Verführung.

Karl faltete die Hände, eine vertraute Geste, die ihn sofort demütig werden ließ, stimmte in das Gemurmel ein und versuchte, sich eine Welt vorzustellen, in der sein Vater tot war.

In diesem Moment keimte in ihm der Entschluss, heute fortzugehen. Lange schon hatte er den Plan gehegt, schon lange bevor Walter weggegangen war. An diesem Tage war es so weit. Der Gedanke wuchs zu einer freudigen Ungeduld heran, die ihn bis zum Ende des Andachtsgottesdienstes unruhig auf der Kirchenbank hin und her rutschen ließ.

Nur Friedrich bemerkte seine Unruhe. »In der Scheune. Nach der Kirche«, flüsterte Karl ihm als Antwort auf seinen fragenden Blick zu.

2

Karl hatte Walters Brief fast ein Jahr lang in der untersten Schublade seiner Kommode aufbewahrt. Nach der Rückkehr vom Friedhof schickte er Friedrich in die Scheune, wo er auf ihn warten sollte. Dann lief er ins Haus, verschloss die Tür der Kammer hinter sich und holte den Brief hervor. Der Umschlag war mittlerweile leicht vergilbt. Der Brief war an den Krämer im Dorf adressiert, und darunter stand sein eigener Name: Karl Schroth. Der Postbote brachte alle Briefe an die Bewohner des Dorfs stets zum Krämer, und der Krämer bewahrte die Briefe so lange auf, bis der Adressat oder jemand aus der Familie oder Nachbarschaft bei ihm einkaufte. Karl konnte sich nicht mehr daran erinnern, auf welchem Wege der Brief vom Dorfkrämer zu ihm gelangt war, ob er selbst ihn abgeholt oder ein anderer ihn mitgebracht hatte. Er erinnerte sich aber noch gut daran, was er gefühlt hatte, als er ihn zum ersten Mal gelesen hatte. Es war dasselbe, was er immer wieder fühlte, sobald er den Papierbogen entfaltete und sich die handgeschriebenen Zeilen vor ihm öffneten. Es fühlte sich an, als würde sich mit dem Briefbogen die ganze Welt vor ihm öffnen. Es war wie ein Sprung vom Balken der alten Scheune hinab in den Heuboden.

Walter war ungefähr so alt wie Karl, wenn auch ein bisschen größer und breitschultriger gewachsen, und hatte mit ihm zusammen vier Jahre lang die Dorfschule besucht. Als zweiter von vier Söhnen des Müllers war er außerhalb des Dorfs aufgewachsen, denn die Mühle stand beim Korbach, der durch den benachbarten Wald floss. Zu Fuß brauchte man etwa eine halbe Stunde bis zur Mühle. Als die Schulzeit vorbei war, hatten sie sich im Sommer regelmäßig getroffen, wenn Karl mit dem Fuhrwerk die Säcke voller Korn zur Mühle brachte. Meist war er dann ein, zwei Tage geblieben, bis das Korn zu Mehl gemahlen war. Einmal hatten sie nachts auf dem Dach der Mühle gelegen und den Sternenhimmel beobachtet.

»Auf der Fahne von Amerika sind Sterne«, sagte Walter damals.

»Woher weißt du das?»

»Hat mir Bastian erzählt.«

Karl erinnerte sich, dass Walters älterer Bruder Bastian sein rechtes Bein in Berlin gelassen hatte, abgeschossen beim Straßenkampf anno Neunundvierzig. Karl war noch ein kleiner Junge gewesen und hatte seine neugierigen Blicke nicht bändigen können, als Bastian ihm den Beinstumpf vorgeführt hatte und das Wort Wundbrand gefallen war.

»Als die Revolution aus war, ist einer, der mit ihm gekämpft hat, nach Amerika gegangen. Sie hätten ihn sonst hingerichtet. Erschossen. Er war schon zum Tode verurteilt. Sagt mein Bruder. Er will auch hin. Bald. Viele sind schon gegangen.«

»Was gibt’s denn in Amerika?«

»In Amerika gibt’s alles. Die Frage ist, was es dort nicht gibt«, sagte Walter in einem Ton, als würde er über Buttercremetorte reden.

»Mein Bruder sagt, es gibt genug zu essen für jeden. Niemand muss hungern. Jedes Kind hat dort mindestens zwei Paar Schuhe und muss nicht den ganzen Tag arbeiten. Die Menschen leben in großen Städten, in denen man alles kaufen kann, was es auf der Welt gibt. Und jeder hat genug Geld. Oder kann es sich schnell und leicht verdienen, wenn er mal keins hat. Wenn du nur lange genug dort bist, wirst du reich. Und keiner sagt dir, was du zu tun oder zu lassen hast. Es gibt keine Markgrafen und keine Herzöge dort, die Befehle erteilen. Du kannst machen, was du willst. Das Land ist so groß, dass man Monate braucht, um mit einem Pferd von einem Ende zum anderen zu reiten. Die Berge reichen in den Himmel und die Wälder bis zum Horizont. Wild darfst du jagen, so viel du willst. Die Flüsse sind so klar, dass du bis zum Grund sehen kannst, und voller Fische, und das Land ist so fruchtbar, dass die Bauern jedes Jahr eine riesige Ernte einfahren. Jeder kann ein Stück vom Land haben. In vielen Gebieten gibt es noch keine Menschen. Nur ein paar Indianer, die du leicht verscheuchen kannst. Weißt du, was Indianer sind?«

Karl verneinte. Walter seufzte, und Karl fragte sich, ob aus Verzweiflung über seine Unkenntnis oder aus einer tiefen Sehnsucht nach Amerika.

»Die Indianer sind Wilde«, erklärte er. »Die haben keine Städte, die leben in Zelten. Keiner weiß, woher sie kommen. In der Bibel steht nichts von Indianern, sagt mein Bruder. Sie haben Federn auf dem Kopf und rauchen Pfeife, oder schießen mit Pfeil und Bogen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Aber mein Bruder sagt, die Siedler haben Gewehre, und damit halten sie sich die Indianer vom Leib. Kennst du Unterfischbach?«

Karl nickte.

»Es gab auch mal ein Oberfischbach. Die sind aber alle nach Amerika ausgewandert. Haben das Vieh verkauft und sind weg. Ein ganzes Dorf. Niemand hat mehr etwas von denen gehört. Nur die Häuser stehen noch da und verfallen.«

*

Als Karl vierzehn Jahre alt gewesen war, hatte er im Laden des Dorfkrämers eine Packung Tabak entdeckt, auf der ein Pfeife rauchender Indianer abgebildet war. Von seinem Ersparten kaufte er sich die Packung und versteckte sie in einer Wandnische im Kartoffelkeller. Danach arbeitete er im Laden des Krämers, bis er genügend Geld zusam-mengespart hatte, um sich eine Pfeife zu kaufen.

Zusammen mit Walter probierte er den Tabak am Ufer eines Weihers, weit genug vom Dorf entfernt, dass niemand sie dabei beobachten konnte.

Karl betrachtete den Indianer auf der papierenen Packung. Er war im Profil abgebildet, hatte eine scharfkantige Nase und schwarze Augenbrauen, und er hielt die Lippen gespitzt, während er offenbar an der Pfeife zog. Er trug einen Kopfschmuck aus Federn, die sich aneinanderreihten wie das Federkleid eines Pfaus.

»Ich frage mich, ob es den Indianern recht ist«, murmelte er, und Walter schaute auf.

Er hatte den Mund und die Lungen voller Rauch und hustete nun alles mit einem Mal heraus. Dabei spuckte er eine riesige Rauchwolke aus, während sein Husten in Lachen überging. »Mann, das ist nicht so leicht wie es aussieht.«

Es war schon schwierig genug gewesen, die Pfeife überhaupt anzuzünden. Nach einer Weile hatten sie herausgefunden, dass es auf die richtige Menge Tabak ankam. Man musste die Pfeife damit stopfen, aber nicht zu stark, sodass noch genügend Luft hindurchströmte, wenn man daran zog. Und auch beim Ziehen der Luft musste man geschickt sein. Der Tabak musste glühen, durfte aber nicht verbrennen. Zogen sie eine Weile nicht mehr, ging die Pfeife aus, und sie begannen die Prozedur wieder von vorn.

»Ich meine, ist es ihnen recht?«, fragte sich Karl abermals.

»Was meinst du?« Walter hielt die Flamme des Streichholzes über den Pfeifenkopf, zog an der Pfeife und pustete dicke Qualmwolken aus.

»Ich habe mich gerade gefragt, ob es den Indianern recht ist, wenn so viele fremde Menschen in ihr Land kommen. Schau uns an. Wir kennen so viele, die nach Amerika gegangen sind. Ein ganzes Dorf. Und wahrscheinlich sind Hunderte Dörfer dorthin gegangen.«

»Tausende«, murmelte Walter. Es klang undeutlich, weil er die Pfeife im Mundwinkel hielt.

»Genau, Tausende. So viele Menschen. Und das bedeutet, dass die Indianer Land verlieren. Vieh. Ihr Zuhause. Und da habe ich mich gefragt, ob es ihnen recht ist. Ob sie gefragt wurden. Und ob es nicht ungerecht ist, es einfach zu tun. Ihnen das Land einfach zu nehmen. Verstehst du?«

Walter schaute Karl einen Augenblick ernst an, dann lachte er und reichte ihm die Pfeife. »So etwas Komisches habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Das sind Wilde. Denen gehört gar nichts. Sie würden es gar nicht verstehen. Du fragst auch die Kuh nicht, ob sie gemolken werden will.«

*

An der alten Eiche hatten sie einen Eid abgelegt. So wie die Indianer es tun, hatte Walter gesagt.

Er hielt sein Klappmesser in die Luft und sprach: »Ich, Walter Müller, Sohn von Ludwig Müller, schwöre hiermit, dass ich nach Amerika auswandere, wenn ich alt genug dafür bin. Dort will ich reich werden und ein gutes Leben führen. Kein Weibsbild und kein …«, Walter dachte kurz nach, »… anderer Mensch soll mich davon abhalten.«

»Amen«, sagte Karl.

»Unsinn! Kein Amen! Wir sind doch nicht in der Kirche.« Walter übergab das Messer an Karl, der es ebenfalls über seinen Kopf hielt.

»Sprich mir nach: Ich, Karl Schroth …«

»Ich, Karl Schroth …«

Es war der erste Eid, den Karl jemals abgelegt hatte. Außer seinem Bekenntnis zu Gott und Jesus Christus vielleicht. Aber der erste Eid auf freiem Feld, unter einer Eiche. Karl fühlte sich feierlich. Bis Walter das Messer wieder an sich nahm und sich mit einer schnellen Bewegung in die rechte Handfläche ritzte. Blut quoll aus dem schmalen Schlitz hervor.

»Jetzt du«, meinte Walter zu Karl und übergab ihm das Messer. An der eben noch sauberen Klinge waren Blutspuren zu sehen.

Karl zögerte.

»Du musst es tun, sonst gilt der Eid nicht.«

Karl hielt sich die Klinge an die Handfläche. Er spürte das kühle Metall. Es lauerte wie ein Raubtier.

»Na los jetzt, mein Blut gerinnt schon!«, rief Walter. »Willst du etwa für immer im Dorf bleiben?«

Mit einem Ruck schnitt sich Karl in die Handfläche. Der Schmerz war sofort da. Die versehrten Handflächen klatschten aufeinander. Karl blickte in Walters schmerzverzerrtes Gesicht.

»Jetzt gilt’s«, sprach Walter und lächelte.

3

Nachdem der Pfarrer gegangen war, zündeten die Frauen die Öllampen an und brachten die Kinder ins Bett, und die Männer begannen, sich in der kleinen Wohnstube zu betrinken. Das schien Karl bei einer Beerdigung ein guter Brauch zu sein. Am Anfang kippten sie den Schnaps noch in kleine Gläser, doch es dauerte nicht lange, da tranken alle aus der Flasche, die reihum ging. Trinksprüche gingen auf Jakob, den Verstorbenen. Zu früh sei er verstorben, der Gute. Vor seiner Zeit. Der Wille des Herrn sei unergründlich. Amen. Ein aufrechter Mann sei er gewesen. Solche gebe es nur noch wenige heutzutage. Ein glückliches Leben habe er geführt. Zwei gesunde Ehefrauen habe er gehabt. Drei Söhne hätten ihn überlebt. Die Stammfolge sei gesichert. Seinem ältesten Sohn hinterlasse er den größten Bauernhof im Dorf. Mit den fruchtbarsten Äckern. Und dem meisten Gesinde. Möge der Älteste bald ebenfalls einen Sohn zeugen, damit der Stamm erhalten bliebe. Amen.

Dann schwiegen alle. Die Standuhr tickte in die Stille hinein. Der Herr Jesus blickte leidend vom Kruzifix über der Tür auf sie herab. An der Wand neben dem selbstgestickten Alphabet von Karls Mutter hing das Gemälde eines Bauern, der mit der Sense über der Schulter nach einem langen Tag auf dem Feld, gebeugt von der Mühe der Arbeit, nach Hause zurückkehrte. Die rote Abendsonne tauchte die Szenerie in ein versöhnliches Licht. Ein wandernder Künstler hatte das Bild für ein paar Tage freie Kost und Unterkunft gemalt. Früher hatte es Karl stets getröstet, schien es doch ein gutes Ende zu verkünden, wenn der Bauer Tag für Tag, ganz gleich wie beschwerlich er auch gewesen war, am Abend nach Hause zurückkehrte. Jetzt wirkte es auf ihn wie das Abbild eines armen Bauern, dessen Körper und Geist sich sinnlos an den auferlegten Mühen abnutzen, ohne Aussicht auf Glück, bis ihn am Ende der Tod ereilte. Es war wie eine Mahnung. Er konnte den Bauern auf dem Bild nicht retten, aber sich selbst konnte er retten. Oder es zumindest versuchen.

Nach und nach verabschiedeten sich die Männer. Die Nachbarn und die Verwandtschaft blieben am längsten, doch schließlich saßen nur noch Karl und sein Bruder Johannes am Tisch. Johannes hielt die Augen geschlossen, und mit der rechten Hand umklammerte er die halbleere Flasche selbstgebrannten Pflaumenschnaps. Sein Atem ging ruhig, und Karl glaubte schon, er wäre eingeschlafen.

Doch dann sprach er, ohne die Augen zu öffnen: »Als ältester männlicher Erbe bin ich der Anerbe. Der ganze Hof geht an mich. Aber ich kann dich gut gebrauchen, Karl. Du bist fleißig bei der Ernte, ausdauernd mit dem Dreschflegel und du kannst gut mit Tieren umgehen. Das Gesinde gehorcht dir.« Jetzt öffnete er die Augen, schaute Karl aber nicht an. »Du kannst bleiben. Als Knecht. Ich zahle dir fünfundzwanzig Gulden im Jahr, und du bekommst zwei Paar Schuhe. Bei freier Kost und Unterkunft. Was sagst du?« Jetzt schaute er Karl ins Gesicht. »Du bist mein Bruder. Wem kann ich sonst vertrauen? Unsere Mutter hätte das so gewollt. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Er bekreuzigte sich.

Karl sah seinem Vater ähnlicher als sein älterer Bruder. Dafür hatte er das sensible Gemüt von seiner Mutter geerbt, sagten die Onkel und Tanten. Er selbst konnte es nicht sagen, er hatte seine Mutter nicht gekannt. Sie war bei seiner Geburt gestorben. Bei Johannes war es umgekehrt. Im Gesicht seines Bruders fanden sich die Linien seiner Mutter wieder. Das Gemüt jedoch hatte er vom Vater.

»Einverstanden?« Johannes streckte ihm die Hand entgegen.

»Vater hat mich immer gehasst«, sagte Karl. »Wegen Mutter. Ich bilde mir das nicht ein. Er hat es mir gesagt. Einmal hat er gesagt, es sei ein schlechter Tausch gewesen. Auch wenn er danach eine Jüngere geheiratet und noch mehr Land als Mitgift einge-strichen und noch einen Sohn bekommen hat, hat er mir immer die Schuld an Mutters Tod gegeben.«

Johannes zog seine Hand zurück. Karl griff über den Tisch nach dem Pflaumenschnaps und nahm einen Schluck. »Was ist mit dir? Verabscheust du mich auch? Du warst nie besser oder schlechter zu mir als andere Brüder zu ihren Geschwistern. Ich habe nie verstanden, wie du darüber denkst. Und ich habe auch nie gefragt. Aber heute, heute frag ich dich. Heute will ich es wissen. Gibst du mir auch die Schuld an Mutters Tod?«

Johannes schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. »Was passiert ist, ist passiert. Das ist über neunzehn Jahre her. Was willst du hören?« Er schüttelte wieder den Kopf.

Karl stand auf und ging zur Tür.

»Karl!«, rief sein Bruder mit verärgerter Stimme hinter ihm her. »Setz dich!« Und dann noch einmal, versöhnlicher: »Komm, setz dich. Setz dich hin. Bitte.«

Karl setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Johannes griff zwei Gläser und füllte sie mit Schnaps. Eines schob er Karl hin. Das andere trank er in einem Zug aus. Nur das Ticken der Uhr war zu hören. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach.

»Ich erinnere mich fast an gar nichts mehr. Manchmal sehe ich sie noch. Hier im Haus. Ich weiß nicht einmal, ob es Erinnerungen sind oder ob mir die Fantasie einen Streich spielt. Ich war gerade einmal sechs Jahre alt, als es passierte.« Er füllte sein Glas erneut und trank wieder alles in einem Zug aus. »Ich erinnere mich daran, dass wir vor dir ein Geschwisterchen hatten. Ein Mädchen. Es starb sehr früh. Ihr Name war Grete. Dann kamst du. Mutter starb. Du bliebst am Leben. Ich habe nie verstanden, wonach das geht. Wonach entschieden wird, wer stirbt und wer bleibt, meine ich. Früher dachte ich, es läge an mir, dass ich das nicht erkennen kann. Jetzt weiß ich, dass es allein der Herrgott ist, der entscheidet.« Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ich vermisse sie immer noch, weißt du? Auch als erwachsener Mann fehlt sie mir.«

»Wie war sie?«

Johannes putzte sich die Nase. »Gütig. Liebevoll. Still. Eine stille Frau. Irgendwie unglücklich. Das habe ich erst später verstanden. Dass sie wahrscheinlich unglücklich war, meine ich. Manchmal …« Er zögerte. »Manchmal erinnerst du mich an sie. Vielleicht hat Vater dich deshalb schlecht behandelt. Du hast ihn einfach zu sehr an sie erinnert.«

Karl nickte. Er stand auf und öffnete die Tür.

»Was ist mit meinem Angebot? Bleibst du?«, fragte Johannes.

»Ich überlege es mir.«

*

Karl saß am offenen Fenster und rauchte Pfeife. Ein milder Herbstwind trieb die Wolken über den Nachthimmel. Es war beinahe Vollmond. Obwohl er müde war, ging er nicht schlafen.

Er wartete, bis im Haus kein Laut mehr zu hören war. Dann klopfte er leise seine Pfeife am Fenster-rahmen aus und packte sie in seinen Tabakbeutel. Er verstaute ein paar Habseligkeiten in einem Lederrucksack und schlich durch das Treppenhaus in die Speisekammer. Dort griff er sich ein Stück Brot und eine geräucherte Wurst. Im Hausflur stieß er auf Anna. Ihr Leuchter warf große Schatten an die Wand.

»Wohin gehst du?«

»Was machst du hier?«, fragte er zurück.

»Ich habe Geräusche gehört und wollte nachsehen.«

Karl schwieg.

Anna blickte auf seinen Rucksack. »Du gehst fort. Du verlässt uns.«

Karl nickte.

»Warte hier.«

Karl schaute dem Licht des Leuchters hinterher, bis alle Helligkeit von der Dunkelheit verschluckt war. Er überlegte eine Weile, ob er einfach gehen sollte, und gerade als er sich dazu entschlossen hatte, kehrte sie zurück. Sie drückte ihm einen Lederbeutel in die Hand.

»Was ist das?«

»Dreiundfünfzig Gulden und sechzehn Kreuzer. Das ist alles, was im Haus ist.«

»Das nehme ich nicht. So viel Geld«, entgegnete Karl und wollte ihr den Beutel zurückreichen.

Doch sie wehrte mit erhobener Hand ab. »Du behältst es. Dafür gibst du mir ein Versprechen.«

»Ein Versprechen?«

»Du kommst nie wieder. Versprich es mir.«

Karl schwieg.

»Versprich es, beim Herrgott«, beharrte Anna.

Karl nickte. Er griff in seinen Rucksack und holte seine Pfeife hervor. »Gib die Friedrich, wenn er sechzehn ist.«

Dann ging er durch die Haustür nach draußen. Er lief quer über den Hof an den Ställen vorbei und schlug den Weg zum Dorf ein. Er schaute nicht zurück.

4

Karl schien es, als hätte die Nacht ihn schon erwartet. Ein lauer Windzug strich ihm übers Gesicht und die Handrücken. Hoch über ihm funkelten die Sterne an allen Ecken und Enden des Himmels. Die Bäume am Waldrand glänzten still im silbernen Mondlicht. Er vernahm keinen Laut außer seinem Atem und dem gleichmäßigen, raschen Rhythmus seiner Schritte durch das knöcheltiefe, feuchte Gras.

Während er so ging, horchte er in sich hinein, ob er eine besondere Freude empfand oder Angst verspürte, aber da war nichts, außer seinem Atem, den Schritten und seinem Schatten im Mondlicht.

Das Dorf lag in einer Senke zwischen zwei bewaldeten Hügeln. Eine Ansammlung von gut und gerne dreißig Häusern, zerteilt von einer Hauptstraße, die hinter den Hügeln und Wäldern noch andere Dörfer durchzog und am Ende in die große Stadt führte.

Am Platz vor der Kirche befand sich ein Brunnen. Karl pumpte frisches Wasser, schöpfte mit der Hand einen Schluck aus dem Trog und setzte sich auf die kleine Steinmauer. In den Häusern rund um den Platz brannte kein Licht. Nur der Mond leuchtete zwischen den Sternen.

Gegenüber der Dorfkirche stand die alte Schule mit dem kleinen Glockenturm auf dem Dach. Hier hatte er seine Kindheit verbracht. Sie waren um den Brunnen getobt und hatten Fangen gespielt. Im Sommer hatten sie die Kleider ausgezogen und sich mit Wasser bespritzt. Im Winter hatten sie Schneemänner gebaut oder Schneeballschlachten veranstaltet. Nachmittags hatten sie Schlitten den kleinen Hügel hinaufgezogen oder waren auf dem Weiher mit selbstgebastelten Schlittschuhen gefahren. Die Winter waren schön gewesen, besser als die Sommer, in denen sie von früh bis spät auf dem Hof hatten helfen müssen.

Karl war noch nie weiter fort gewesen als bis zum nächsten Ort. Er hatte Verwandtschaft in den umliegenden Dörfern. Man besuchte sich zur Kirchweih, zur Taufe, bei Beerdigungen, einer Heirat oder zur Weihnacht. Aber in der großen Stadt war noch nie jemand aus seiner Familie gewesen. Und auch sonst keiner aus dem Dorf. Nicht einmal der Schultheis. Nur die jungen Männer gingen weit fort, wenn sie in den Krieg zogen. Aber bei der Revolution war Karl noch zu klein gewesen. Und seitdem hatte das Land keinen Krieg mehr geführt, der die jungen Männer aus dem Dorf in die Ferne gezogen hätte.

Walter war nun schon seit über zwei Jahren fort. Er war einfach so verschwunden, ohne ein Wort des Abschieds. Dem Müller hatte Karl mit seinen Fragen nach Walters Verbleib nichts als ein Schulterzucken entlockt.

Ohne zu wissen, was er sich davon erhoffte, hatte Karl sich damals vor der Mühle auf die Lauer gelegt. Er hatte den Müller beobachtet, der nackt und weiß wie ein Gespenst durch die Mühle gewandelt war, wenn gerade kein Bauer sein Korn ablieferte, und Walters jüngere Brüder, die sich wechselseitig verprügelten, wenn der Müller nicht in der Nähe war, und die ansonsten regelmäßig Ohrfeigen von ihrem Vater kassierten.

Karl war das Gelände in einem weiten Bogen um die Mühle abgelaufen und dabei auf den verwahrlosten Unterschlupf eines Landstreichers, einen toten Hirsch und einen ihm bislang unbekannten Waldsee gestoßen. In seiner sonntäglichen Beichte hatte er gegenüber dem Pfarrer den Verdacht geäußert, dass Walter von seiner Familie ermordet worden sei. Doch der Pfarrer erkannte in Karls voreiligen Anschuldigungen bloß eine Sünde wider seine Mitmenschen, die er mit fünf Vaterunser und drei Ave-Maria zu büßen hatte. Gott werde alles richten, hatte er zum Abschied gemeint.

Dann, fast auf den Tag genau ein Jahr nach Walters mysteriösem Verschwinden, hatte Karl den Brief erhalten. Abgestempelt am 22. August 1859 auf einem Postamt in New York. Auf der Briefmarke für sechs Cent war George Washington abgebildet. Walter schrieb von einer Fabrik, in der er arbeite, um sich das Geld für den Weg nach Westen zu verdienen. Karl solle sich auf die Reise zu ihm machen. Es gebe gutes Geld für gute Arbeit.

In seinem Brief schilderte Walter die Umstände seiner Auswanderung. Er habe sich in Bremerhaven eingeschifft, nachdem er wochenlang im Auswandererheim gehaust habe. Von Bremen aus sei er drei Tage auf einem kleinen, mit Staken bewegten Kahn bis Bremerhaven unterwegs gewesen. Fünfundvierzig Tage habe die Überfahrt mit dem Segelschiff gedauert. An Bord hätten erbärmliche Zustände geherrscht. Fast alle hätten an der Seekrankheit gelitten, der Gestank und die Enge seien fast unerträglich gewesen. Zwei Tote habe es gegeben.

Dem Brief war eine handgemalte Karte beigefügt, auf der Walter seinen Weg vom Dorf quer durch die deutschen Länder aufgezeichnet hatte. Eine gestrichelte Linie führte über einen Hügel, der mit Taunus bezeichnet war, nach Frankfurt am Main. Von dort hatte er eine blaue Line gezogen, die sich über das Papier schlängelte und an die sich die Worte Vater Rhein schmiegten. Die Linie endete bei dem Wort Duisburg. Darüber waren die Städte Essen, Münster, Osnabrück, Vechta, Bremen und Bremerhaven mit einer gestrichelten Linie verbunden worden. Von Bremerhaven führte ein Pfeil quer über das Blatt zu den Worten New York. Daneben prangte ein Kreuz, um das Ziel zu markieren, wie auf einer Schatzkarte.

Der Brief schloss mit einer Warnung: Unterwegs solle Karl sich vor Gesindel hüten. Die Straßen, vor allem die in den Städten, seien voll von Dieben, Betrügern und allerlei Abschaum. Als PS folgte Walters Anmerkung, dass die Amerikaner das A in seinem Namen wie ein O aussprachen: Wolter. Eine Erklärung für Walters heimlichen Aufbruch enthielt der Brief dagegen nicht.

Erst jetzt fiel Karl auf, dass es keine gute Idee gewesen war, nachts aufzubrechen. So ging er zwar allen Fragen und Erklärungen aus dem Weg. Aber im Dunkeln allein auf unbekannten Wegen über die Felder und durch die Wälder zu streifen, schien Karl nicht ungefährlich zu sein und war ihm nicht geheuer.

Er dachte daran, bis zum Sonnenaufgang am Brunnen zu bleiben, doch dann packte er seinen Rucksack und ging ein paar Schritte in ein Seitengässchen hinein. Vor einem Haus am Ende des Gässchens blieb er stehen. Es war das Haus des Schusters.

Er suchte den Boden nach einem Steinchen ab, fand eines und warf es gegen die Scheibe eines Fensters im Obergeschoss des Fachwerkhauses. Das knackende Geräusch des Aufpralls war in der nächtlichen Stille gut zu hören. Sogleich versteckte er sich im Schatten des Nachbarhauses.

Nach einer Weile suchte er erneut den Boden nach einem Steinchen ab und warf es, doch diesmal traf er nicht. Beim dritten Wurf gelang ihm wieder ein Treffer.

Von seinem schattigen Versteck aus beobachtete er, wie das Licht einer Kerze entzündet wurde. Dann ging der Vorhang beiseite, und hinter der Scheibe erschien das Gesicht eines blonden Mädchens, die langen Haare zu einem Zopf geflochten. Karl trat aus dem Schatten und winkte. Das Mädchen winkte zurück und verschwand. Einen Augenblick später öffnete sich die Haustür eine Handbreit.

»Was machst du hier, mitten in der Nacht? Meine Eltern schlafen«, flüsterte sie.

»Maria, ich will mich verabschieden. Ich gehe nach Amerika.« Sie öffnete die Tür und schlüpfte hindurch. Erst jetzt bemerkte Karl, dass sie nur ein dünnes Nachthemd trug.

»Amerika? Wieso Amerika?«

»Mein Vater ist gestorben.«

»Das weiß ich. Hast du meinen Vater auf der Beerdigung gesehen? Mein Beileid.«

Sie reichten sich die Hände, doch sie ließ ihn nicht wieder los, sondern zog ihn ins Haus hinein und schloss leise die Tür. Sie waren in der Werkstatt des Schustermeisters, wo es angenehm nach Leder und Schuhwichse roch. Sie standen so nahe beieinander, dass er hinter all den Gerüchen der Werkstatt ihren Körperduft wahrnahm. Sie ließ seine Hand los.

»Wann willst du gehen?«, fragte sie leise.

»Jetzt. Ich will jetzt gehen. Nach Hause kehre ich nicht mehr zurück.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst jetzt nicht gehen. Es ist dunkel.«

Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, nahm ihn erneut bei der Hand und führte ihn auf Zehenspitzen durch das Treppenhaus. Die Holzdielen knarrten so laut, dass Karl dachte, jeden Augenblick würde sich eine der Türen öffnen und Marias Vater, der Schuster, würde ihn am Kragen packen und hinauswerfen. Aus einem Zimmer im ersten Stock drang ein Schnarchen, das das Knarren der Dielen übertönte. Als Maria die Tür ihres Zimmers hinter ihnen schloss, atmete er auf.

»Du musst morgen beim ersten Tageslicht gehen. Meine Eltern stehen zeitig auf.«

Er nickte.

Sie öffnete die Zimmertür, huschte auf Zehenspitzen hinaus und kehrte mit einem Bettlaken zurück, um ihm ein Nachtlager vor ihrem Bett zu bereiten. Als sie das Licht löschte, schien der Mond durch eine Ecke des Fensters. Karl streckte die Glieder aus und schlief ein.

Als er wieder erwachte, war der Mond vom Fenster verschwunden, und im Zimmer war es vollkommen dunkel. Er wusste nicht, wie spät es sein mochte, er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

»Schreibst du mir aus Amerika?«, hörte er Maria flüstern.

Er hatte geglaubt, dass sie schlief.

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

»Nicht einfach so. Du musst es auch so meinen. Ich habe dich gern, Karl, und ich hätte dich auch geheiratet, wenn du geblieben wärst. Du gehst, aber ich werde hierbleiben. Für immer. Ich werde einen anderen heiraten.«

Er nickte, doch er wusste nicht, ob sie das in der Dunkelheit sehen konnte. Kurz ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er seinen Plan aufgeben und sie stattdessen heiraten sollte. Doch er schlief wieder ein, und als er das nächste Mal erwachte, erinnerte er sich nur noch vage daran.

Beim ersten Vogelgezwitscher brach er auf. Maria schlief noch, oder zumindest gab sie sich schlafend. Karl war dankbar dafür, denn er wollte sich nicht umständlich verabschieden. So wie sie schlafend dalag, sah sie schön aus. Er fühlte einen kleinen Stich bei dem Gedanken, dass er sie nie mehr wiedersehen würde. Doch dann war er schon aus dem Zimmer hinaus, die knarrenden Dielen hinunter, und gelangte durch den Hausflur und die Schusterstube ins Freie.

Er kam wieder zum Dorfbrunnen, trank noch ein paar Schluck frisches Wasser aus dem steinernen Trog und verließ das Dorf in Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen.

5

Am Vormittag des dritten Tages nach seinem Aufbruch erreichte Karl Frankfurt. Von den Hängen der östlichen Ausläufer des Vordertaunus erblickte er die Freie Stadt am Ufer des Mains. Er setzte sich ins taufeuchte Gras, zog seine Schuhe aus und aß einen Apfel. Die Stadt lag vor ihm ausgebreitet wie das Tor zu einer anderen Welt.

Er hatte noch nie eine so große Ansammlung von Bauwerken gesehen. Kirchtürme ragten aus dem Meer von Dächern heraus. Aus vielen kleinen Schornsteinen stieg Rauch in feinen Strichen in den milchig weißen Himmel, bevor er vom Wind auseinandergetrieben wurde. Er sah Fuhrwerke auf den Zubringerstraßen in die Stadt hineinfahren. Er sah Menschen auf den abgeernteten Äckern, kleine dunkle Punkte, deren Bewegungen sich Karl nur dann offenbarten, wenn er lange und geduldig hinschaute.

Er hatte das Gefühl, dass seine Reise hier erst begann. Zwar war er die letzten Tage durch neue, unbekannte Dörfer gekommen, hatte unbekannte Wiesen und Felder überquert und war fremde Pfade entlanggelaufen. Aber bisher hatte sich alles vertraut angefühlt. Er hatte die Bauern begrüßt, als wären es die Alteingesessenen vom Nachbarshof. Er hatte mit ihnen zur Brotzeit zusammengesessen, über die Feldarbeit geredet oder einfach nur geschwiegen. Er hatte in einer Dorfkirche an einem Andachtsgottesdienst teilgenommen und die Einladung eines Pfarrers angenommen, in der Stube des Küsters zu nächtigen. Er hatte seine Feldflasche an Brunnen fremder Dörfer aufgefüllt. Fuhrwerke hatten ihn ein Stück des Wegs mitgenommen, Mägde hatten ihm schöne Augen gemacht und ihn zum Bleiben überreden wollen. Er hatte beim Dreschen des Korns geholfen und in einer Scheune übernachtet. Und alles schien er zu kennen. Nichts von dem, was er zu sehen bekam, war wirklich neu gewesen. Aber hier, vor den Toren der Stadt, fühlte er zum ersten Mal die Fremde.

Er zog sich die Schuhe wieder an, stand auf, warf den Apfelkrotzen ins Gras und ging mit federnden Schritten den Hügel hinab.

Die Sonne stand hoch über ihm, als Karl bald darauf durch die Felder nahe der kleinen Stadt Homburg wanderte, deren weißer Schlossturm das Gelände ringsherum überragte.

Die Vögel zwitscherten aus Bäumen und Büschen, die rechts und links der Gemarkungen wuchsen. Sein Weg führte ihn an Aussiedlerhöfen vorbei, über Streuobstwiesen und kleine Bäche, bis er auf die Nidda traf, der er stromabwärts bis nach Eschersheim folgte. Im Schatten der Emmauskirche machte er eine Rast.

Ein ortsansässiger Bauer nahm ihn auf seinem Fuhrwerk nach Frankfurt mit. Am späten Nachmittag des 9. Oktober 1860, einem Dienstag, passierten sie das Eschenheimer Tor. Die Rundbögen des spitz zulaufenden Wachturms waren mit uraltem Efeu bewachsen. Zwei Frankfurter Stadtsoldaten standen vor ihrem Wachhäuschen und unterhielten sich angeregt mit einer Marktfrau. Einer hielt einen Krug in der Hand, die Büchsen lehnten an der Turmmauer, als der Fuhrwagen den alten Wachturm hinter sich ließ und die Eschersheimer Gasse in Richtung Hauptwache entlangfuhr.

An der Hauptwache stieg Karl aus. Er war unschlüssig, ob er in die Zeil einbiegen sollte, und wanderte stattdessen in Richtung Rossmarkt. Er schlenderte an den Marktbuden vorbei und war erstaunt über die zahllosen Stände und die reichhaltigen Auslagen. All die Ernten des Umlands schienen nach Frankfurt gebracht zu werden. Preisschilder für Obst hatte er zuvor noch nie gesehen.

Karl setzte sich in den langen Schatten des Gutenberg-Denkmals und fuhr sich mit dem feuchten Halstuch durchs Gesicht. Um den großen Platz herum reihten sich die Häuser lückenlos zu langen Zeilen aneinander. An den Fassaden leuchteten Werbeplakate der Bierstuben, Hotels, Coiffeure und Auswandererbüros im roten Licht der Nachmittagssonne.

Gerade läuteten die Glocken der Katharinenkirche zur vierten Stunde. Kutscher warteten vor dem Hotel Englischer Hof auf Kundschaft. Sie hockten auf ihren Kutschböcken und dösten oder schwatzten. Pferdeäpfel lagen auf dem Straßenpflaster. Eine Frau mit einem geflochtenen Korb unter dem Arm ging über den Platz. Ein Hund schnupperte an den Pferdeäpfeln und verzog sich, als ein Fuhrwerk vor-beikam. Niemand beachtete ihn.

Gegenüber vom Hotel, auf der anderen Straßenseite, entdeckte Karl einen Tabakladen. Er betrachtete eine Weile die Auslagen im Schaufenster, bevor er das Geschäft betrat.

Hinter dem Tresen stand ein kleiner Mann mit Brille und Halbglatze, der ihn freundlich anlächelte. Er führte Karl einige Holzpfeifen vor, erklärte die Besonderheiten ihrer jeweiligen Machart und erläuterte die richtige Handhabe und Pflege. Karl entschied sich für eine Pfeife aus Kiefernholz und nahm eine Dose Tabak dazu.