Das Maleron-Prinzip - Wolfgang M. Ullmann - E-Book

Das Maleron-Prinzip E-Book

Wolfgang M. Ullmann

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Beschreibung

Der junge Jacques Maleron kennt die Widrigkeiten des Großstadtlebens. Letztlich genügt ein Stein, um die Lawine ins Rollen zu bringen. Eine Geschichte zwischen Ohnmacht und Ruhm sowie der großen Liebe und eines übermächtigen Feindes. Die Frage nach dem Warum folgt auf dem Zenit einer hoffnungsvollen Karriere und bestätigt, dass alles seinen Preis hat. »Genau hinzuschauen und sich ein Bild zu machen, ist Jacques' Beruf als Journalist. Zunehmend verfolgt ihn jedoch die Obsession, in jeder Situation auf dieselbe Ursache zu stoßen. "Das Maleron-Prinzip" nennt der Augsburger Schriftsteller Wolfgang M. Ullmann dieses Phänomen und seinen spannenden Roman.« (Augsburger Allgemeine)

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Über das Buch:

Das pulsierende Großstadtleben ringt seinen Bewohnern täglich alles ab. Erfolgreich zu sein, mag ein unrealistisches Ziel sein. Umso schöner jedoch, wenn der Weg zum Erfolg sich plötzlich aus dem Nichts einstellt. Wie wird sich der junge Reporter Jacques diesen Herausforderungen stellen? Dass damit alle Widrigkeiten des Alltags nicht überwunden werden können, wird er im Verlauf der Geschichte eigenhändig erfahren. Entbehrungen und Missgunst werden seine Weggefährten. Was hat es mit dem unbekannten Beobachter auf sich, der seit der Amokfahrt des Lieferwagens in die kleine Demonstrationsgruppe im Schatten des jungen Mannes steht? Nach jedem Regenschauer lichten sich die Wolken. Die Sonne strahlt hinab und enttarnt den Feind – ein Meilenstein in der beispielhaften Karriere?

Über den Autor:

Wolfgang M. Ullmann lebt und arbeitet im süddeutschen Raum. Im späten Jugendalter entdeckte er seine Liebe zur Lyrik und widmete sich den unterschiedlichen Stil- und Ausdrucksformen. Inspiriert durch die Bildhaftigkeit und die Wirkung der deutschen Sprache, die er mit seinen Fotografien verstärkt, nahm er diese Begeisterung in die Prosa mit hinein. Aus seiner Neugier, mehr über das Zusammenleben verschiedener Menschen in einer Gesellschaft zu erfahren, studierte er nach dem Abitur Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Eine Ausbildung zum psychologischen Berater und Seelsorger ließ ihn, neben der Tätigkeit in der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften, in seiner Praxis für Beratung, Begleitung und Persönlichkeitsentwicklung wertvolle Erfahrungen sammeln.

Für Andrea, in Liebe

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

I

Jacques konnte nicht mehr schlafen, deshalb bemühte er sich gar nicht erst, seine Augenlider herabfallen zu lassen. Ein unruhiger Traum kam als Auslöser für seine Schlaflosigkeit nicht in Frage, wusste er doch schon seit geraumer Zeit nicht, was er denn in den wenigen friedvollen und durchgeschlafenen Nächten aufzuarbeiten hatte.

Es half nichts, er stand von seinem Schlafsofa auf und schüttelte sein orangefarbenes Kissen auf, das er erst letzte Woche von einer jungen Frau geschenkt bekommen hatte.

Weshalb man orangefarbene Kissen verschenkt – und zudem fremden Menschen – war ihm bis dato selbst ein Rätsel. Vielleicht konnte er wegen der knalligen Farbe in jüngster Zeit nicht mehr besonders gut schlafen?

Doch diese Frage verschob er auf einen späteren Zeitpunkt und streckte seinen Körper, der aufgrund seiner seitlich eingerollten Liegeweise nicht entspannt wirkte und ebenfalls für den schlechten Schlafkomfort verantwortlich gemacht werden könnte.

»Diese Dunkelheit spornt mich auch nicht an, meinen Körper mit kühlem Wasser abzuschrecken«, dachte er und schaute auf dem Flur nach der Zeitung, die allerdings erst in frühestens einer Stunde von dem älteren Herrn ausgeliefert werden durfte, der ihn in so manchen Morgenstunden schon bei einem Glas heißer Zitrone von seinem Schicksal in fantastischen Bildern zugeschüttet hatte.

Sollte Jacques auch heute auf seinen Besuch warten, damit er die letzte Zitrone, die bereits einen sehr verschrumpelten äußeren Eindruck machte, mit seinem Gast teilen konnte?

Der eher rhetorischen Frage die Antwort schuldig geblieben, legte er seine markanten Stirnfalten frei, indem er sich fragte:

»Habe ich doch etwas geträumt?«

Jacques ließ den Gedanken wieder fallen und bemühte sich, die kühle Wohnung mit seiner rollbaren Heizung auf Frühstückszeittemperatur zu bringen. Wenn er einen Fernseher hätte, dachte er, würde er sich jetzt im Morgenmantel davorsetzen und die armen Personen angucken, die wahrscheinlich noch früher aufwachen mussten als er.

»Ah!«, schrie er auf, als er sich beim Anzünden des Gasherds – wie fast jedes Mal – verbrannte und anschließend ungeschickt an der Küchenzeile hantierte und einmal mehr beinahe wegen seiner eigenen Füße zu Fall kam.

Man hatte ihm seit seiner Kindheit eindringlich zu verstehen gegeben, dass er der ungeschickteste Maleron sei, der je in die Welt geboren wurde.

Manchmal war er auf seinen beiden Ohren taub, vor allem, wenn er sich selbst vor seiner Umwelt zu schützen suchte.

Erst letztens schweifte er wieder in die entlegensten geistigen Weiten hinaus, bis er unsanft in die Realität zurückgestoßen wurde.

So stand er doch mindestens fünf Minuten in der Lichtschranke der hinteren Türe eines öffentlichen Busses und hinderte ungefähr 60 eilend aussehende Mitfahrende daran, ins Stadtzentrum zu gelangen.

Nachdem der zunehmend verzweifelnde junge Schaffner nach verschiedenen technischen Defekten zu suchen begann, wurde Jacques schließlich schroff von einem untersetzten Mann mittleren Alters, dessen Stoffmantel stark nach abgestandenem Zigarrenrauch roch, in den Innenraum des Busses gezogen.

Dabei verzog es Jacques dermaßen einige Rückenwirbel, dass er sich anschließend an einem Kinderspielplatz im Stadtpark erst einmal an einer Turnstange „aushängen“ musste.

Zu seiner Familie hatte er nur spärlich Kontakt und so wussten seine Eltern und die Mehrheit seiner fünf Geschwister nach seinen spontanen Auslandsaufenthalten dann auch selten, wo er sich zur jeweiligen Zeit aufhielt.

Vielleicht hatte er damals seine Ohren zu oft geschlossen gehalten, aber er rechtfertigte dies mit seiner Art und Weise, auf sich aufpassen zu müssen.

Er goss aus einer Plastikflasche stilles Wasser in einen kleinen blechernen Topf, den er mittlerweile auf den Herd gestellt hatte, und hängte einen Teebeutel in eine saubere Tasse.

Er sah dabei schon fast rituell aus dem Fenster, das auf eine recht belebte Durchgangsstraße ragte.

Eigentlich hasste er Hausarbeiten, aber um die Straßenneuigkeiten während einer guten Tasse Roibuschtee zu inhalieren, hatte er von Mal zu Mal seine Fensterputztechnik zu perfektionieren versucht.

Schließlich musste er spätestens jeden dritten Tag den dunkelgrauen Niederschlag am Glas entfernen, wollte er noch genügend Sonnenlicht in seiner Wohnung genießen.

Die Straße begann sich langsam mit Leben zu füllen und die vorbeifahrenden Autos bildeten bei zugekniffenen Augen ein riesiges helles Lichtband, das die Dunkelheit durchschnitt.

Dass die Straßenbeleuchtung nur noch stellenweise intakt war, bemüßigte ihn zu keinerlei Anrufen bei den städtischen Ämtern mehr, die ohnehin mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hatten.

Neulich Abend, als er nach einem Kinobesuch nach Hause schlenderte, vernahm er das laute und doch stark fragmentierte Hilferufen einer zarten, weiblichen Stimme.

Er orientierte sich kurz und sprang hinter einen kleinen Mauervorsprung, der durch eine nächtlich schwarze Heckenpflanzung von der Straße abgetrennt war und konnte noch im wohl letzten Augenblick die Seele einer jungen amerikanischen Frau vor den Übergriffen eines daraufhin blitzschnell in der Nacht verschwindenden, mittelgroßen, nach Alkohol riechenden Mannes schützen, der wahrscheinlich nicht in zwei Leben zu begreifen imstande gewesen wäre, was er damit angerichtet hätte.

Jacques nahm sich um die ausländische Studentin an und begleitete sie aus dem dunklen Straßenabschnitt bis zu ihrer Unterkunft, in der sie für eine Zeit von sechs Wochen untergebracht war, um Sprache und Land kennen zu lernen. Nur leider musste sie eine Art von Gastfreundschaft erleben, auf die sie lieber hätte verzichten können.

Aber: Was hätte eine durchgehende Straßenbeleuchtung daran ändern können? Jacques spulte in seinen Gedanken wieder und wieder die Situation ab, aber er konnte sich nicht damit zufriedengeben, da er wusste, dass in der Stadt ein Monster weilte, das als tickende Alkoholbombe jeder Zeit und in dunkler Nacht erneut den Versuch wagen könnte, seiner krankhaften Triebsteuerung nachzukommen. Doch was könnte er dagegen tun?

Linda erholte sich dank seiner aufmerksamen Betreuung recht schnell von dem Vorfall, nur wagte sie sich nachts nicht mehr an dem dunklen Boulevard vorbei.

Sie konnte einige andere Sprachschüler, die mit ihr in einer Unterrichtsklasse waren, als Begleitergruppe gewinnen. Linda schien stark zu sein; aber nicht nur das bewunderte Jacques an ihr; auch schien sie in einer ganz anderen Weise sozialisiert worden zu sein als er es wurde oder versuchte sich gar selbst zu erziehen, um die Welt zu verstehen.

Die letzten zweieinhalb Wochen, in der Linda noch in der Stadt war, hatten sie sich noch zum geistigen Austausch, wie Jacques es nannte, verabredet. Bei diesen Treffen wollte er ergründen, was Linda schließlich als Linda auszeichnete.

Er bemerkte das Sieden seines Teewassers erst, als es laut in seiner Wohnung zu zischen begann. Während er nun seinen Teebeutel auf und nieder schwenkte, senkte sich sein Blick aus dem alten holzumrahmten Fenster im zweiten Stock und blieb bei einem Abfallbehälter auf der gegenüberliegenden Straßenseite haften.

Auf der daneben platzierten Parkbank hatte sich ein Penner von seinem Schlafplatz erhoben. Bei genauerer Betrachtung konnte er die Person schließlich als Frau identifizieren, die mit langem Mantel und Stoffhut bekleidet in dem Abfallbehälter eifrig zu wühlen begann. Jacques war es gewohnt, dieses Bild zu sehen, nur kannte er die Frau noch nicht, die sich die recht beliebte Schlafstelle in dieser Nacht ausgesucht hatte.

Auch er fühlte sich manchmal wie ein Vagabund, der sein Hab und Gut mit sich herumschleppte und manchmal verzweifelt nach etwas suchte; doch war er froh, ein Dach über seinem Kopf zu haben und so viel Geld zu besitzen, dass es ihm gerade so reichte.

Früher träumte er oft von einem schönen Leben, das er in Paris führen könnte, wenn er nachmittags aus dem Büro über die Avenues schlenderte und sich im Bistro seinen Lieblingscappuccino servieren ließe.

Er spielte das angenehme Szenario an allen möglichen Ecken in der Stadt durch und fand sich danach oft allzu schnell wieder in der kleinen Bar am Ende seines Blocks, die mehr schlecht als recht über die Runden kam, bei einem kleinen Bier, mit dem er seine Träume und Visionen hinunterspülte.

Doch er war nicht frustriert, das machte er seinen Freunden immer wieder klar, wenn sie ihn ansprachen, wieso er so traurig wirke; er sei noch zu jung, um alles das hinzunehmen, was sein Weltbild trübe.

Sein Tee war lecker aromatisiert und führte ihm im gleichen Moment vor Augen, wie wichtig ihm eigentlich seine Freundschaften waren, die er viel zu wenig pflegte.

»Freunde«, so dachte er, »sind wie ein guter Tee, der einen warm durchfließt und ein wohliges Gefühl beschert« – nur trank er definitiv mehr Tee.

Nun wurde es langsam Zeit, der täglich nötigen Körperpflege nachzukommen und so bereitete er sich darauf vor, dass er sich nun mit kaltem Wasser fit für den kommenden Tag waschen musste. Aber er dachte sich:

»Was sein muss, muss dann auch sein.« Schließlich erwartete er Paper auf eine heiße Zitrone in seiner Wohnung.

Wie Paper mit richtigem Namen hieß, wusste Jacques nicht, doch erschien ihm der Name Paper für einen Zeitungsausträger ziemlich passend und zumal für jemanden, der so belesen war wie ein ganzes, wandelndes Zeitungsarchiv.

Schon oft konnte Jacques viel von Paper lernen über die Welt und das normale einfache und ungerechte Leben. Er war dankbar, er hätte all das von seinem Vater damals erwartet, doch da hätte er es vielleicht gar nicht in dieser Weise angenommen.

»Noch wäre es nicht zu spät, einen Versuch mit seinem Vater zu wagen«, schoss es ihm durch den Kopf, als er seine Augen von der Nacht reinwusch. Das war einer jener Gedanken, die nur wie Streiflichter in ihm aufglühten, um in der darauffolgenden Sekunde wieder zu verblassen.

So kehrten seine Gedanken schließlich dorthin zurück, wo er sie vor dem Einschlafen zu bündeln versucht hatte, nämlich zu dem kleinen Plastikfläschchen mit Schmieröl, mit dem er endlich die Scharniere seiner Wohnungstüre ölen wollte. Nach getaner Arbeit zog er einen tiefen Atemzug in sich hinein und schob die Türe genussvoll sieben bis acht Mal auf und zu und freute sich währenddessen kindlich wegen des nunmehr ausbleibenden Türgeräusches.

Während er noch in dieser Weise den ruhigen, geschmeidigen Zirkel seiner braun lackierten Holztüre nachzog, wurde er von dem barschen Aufprall des Zeitungspakets auf seinem Baumarktfußabstreifer hochgeschreckt und wollte im gleichen Augenblick Paper für seine frühmorgendliche, temperamentvolle Begrüßung sein Kompliment aussprechen.

Dies allerdings blieb ihm nach den ersten Worten abrupt auf seinen Lippen stecken, als er den jungen, fast noch minderjährigen Kerl in Jeans und Wollpullover und seiner missgelaunten Miene sah und ihn gerade eben noch davon abhalten konnte, seinen Weg fortzusetzen.

»Hey, entschuldige bitte«, versuchte Jacques den davon Eilenden zum kurzen, erklärenden Innehalten zu bewegen, »wo ist denn der ältere Herr, der sonst in der Gegend die Zeitungen austrägt, ist etwas passiert mit ihm?«

Doch der Junge zog nur seine Stirn ahnungslos in Falten und rief, dass er den Job gestern glücklicherweise bekommen konnte, um seine knappe Haushaltskasse aufzufüllen, und er schließlich auch nicht wisse, wer den Job vor ihm hatte, und dass es ihm außerdem ziemlich egal sei.

Kurz darauf hatte der Junge bereits das Mietshaus verlassen und Jacques in dessen geöffneter Wohnungstüre sehr besorgt und mit halb geöffnetem Mund in den Flur starrend zurückgelassen.

Er legte die Zitrone in seinen Kühlschrank zurück und beschloss, Paper ausfindig zu machen. Ihm war, als hätte er jemanden verloren, der ihm unwillkürlich ans Herz gewachsen war, einen richtigen Freund, den er noch nicht einmal duzte.

Gedankenverloren und irgendwie leicht schockiert machte sich Jacques unversehens an den Abwasch der vergangenen Tage, um das dreckige Geschirr, das bei näherer Begutachtung nicht mehr nach Rosen duftete, endgültig von den Speiseresten zu befreien.

Neben zu spielte das alte Grundig-Radio englischen Rock 'n' Roll, der Jacques dazu beflügelte, sein kleines Apartment wieder in ein bewohnbares Zimmer zu verwandeln.

Eigentlich hasste er Unordnung, aber irgendwie schaffte er es selten, ein solches Wohnchaos zu vermeiden. Anfangs, nachdem alles in Ordnung gebracht war, setzte er sich nieder, presste die Lippen aufeinander und versprach sich selbst unter einem Kopfnicken, diesen Zustand nun beizubehalten. Aber seine Lethargie machte ihm stets schon rasch einen Strich durch die Rechnung.

Als er gerade seine zwei Lieblingsfotos an der weißlichen Raufaserwand abstauben wollte, wurde er in seinem Tatendrang vom dem schroffen Klingelton seines Telefons in die Gegenwart gerissen. Schnell zippte er das Radio stumm, fiel dabei allerdings über einen kleinen Hocker, konnte sich gerade noch mit seinen Händen am Teppichboden abstützen und meldete sich abgehetzt mit »Maler … Maleron«.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich mit knapper, durchdringender Stimme sein Chef, George Assas.

Seine Agentur hatte einen frischen Auftrag für ihn hereinbekommen, den er noch am Vormittag erledigen musste. Es war einmal mehr kein dicker Fisch, den er an Land gezogen hatte, aber immerhin konnte er eine kleine Kundgebung zum Denkmalschutz in der Stadt besuchen und auch selbst die Bilder für den Artikel schießen.

Er hatte noch knapp zwei Stunden Zeit, sich auf seine nächste Aufgabe vorzubereiten und sein Fotoequipment zu sortieren. Wieder musste er seine behagliche häusliche Ordnung über den Haufen werfen, um aus dem hölzernen Sideboard sein Handwerkszeug hervorzukramen.

Nachdem er sich alles zurechtgelegt hatte, listete er sich noch rasch auf, was er zudem an Filmmaterial zu besorgen hatte.

»Habe ich je etwas mit Denkmalschutz zu tun gehabt?«, fragte er sich, während er seine dunklen, halblangen Haare frisierte. Nachdem er die Bürste auf das Spiegelbrett zurückgelegt hatte, musste er sich eingestehen, dass er wohl des Öfteren von Veranstaltungen berichten musste, die er privat eher nicht besucht hätte. Er versuchte, in der druckfrischen Zeitung etwas über die Versammlung in der Rue de Bretagne erfahren zu können, aber darüber schwiegen sich die morgendlichen Artikel noch eingehend aus.

»Tja, so werde ich wohl die Öffentlichkeit von diesem außerordentlichen Tagesereignis in Kenntnis setzen müssen.«

Mit diesen selbstironisch halblaut ausgesprochenen Gedanken schickte er sich »Right in Time« an, die Wohnung mit seiner dunkelblauen Umhängetasche zu verlassen. Paper ging ihm nicht aus dem Kopf und so bemerkte er zunächst auch nicht die grüßenden Worte seiner Nachbarin Maria Reille, die direkt unter ihm wohnte und so wurde er erst durch ihr wiederholtes Aufwarten auf ihr einladendes Lächeln aufmerksam.

»Du bist wieder einmal mit deinen Gedanken weiß Gott wo!«, ging sie auf ihn zu und erkundigte sich nach seinem frühen Aufbruch.

»Oh, ich muss arbeiten. Ich habe einen Auftrag bekommen.«

»Das ist ja schade«, entgegnete sie ihm leicht enttäuscht.

»Ich hätte dich gerne auf einen guten Kaffee eingeladen.«

Doch Jacques winkte dankend ab und während er die letzten Stufen hinunterging, rollte er seine Augen an die obersten Winkel seiner Brauen und flüsterte vor sich hin:

»Sie weiß doch mittlerweile, dass ich ihren Kaffee nicht mag.«

Die morgendliche Betriebsamkeit des Straßenverkehrs war inzwischen rasch angewachsen. Jacques schlenderte um das Haus und zog seine alte Vespa zwischen den abgestellten Fahrrädern hervor. Nach dem dritten Versuch, die Maschine anzutreten, lechzte der Motor in langsamen Zügen nach Sprit und schien nach wenigen Augenblicken ausgewogen zu singen, wie es Jacques immer nannte.

Fernando, ein Kellner aus dem Nachbarhaus machte sich mit ihm auf den Weg in die Innenstadt, denn seine Schicht begann zufällig auch pünktlich um neun Uhr. Stotternd und singend setzten die beiden ihre Fahrzeuge in Bewegung und dank ihrer visierlosen Helme munterten sich die Rollerfahrer gegenseitig auf und erzählten sich von ihren Plänen an diesem Tag und von dem, was sie in Zukunft noch alles vorhätten.

Fernando war mit der Zeit ein guter Freund geworden. Er war allerdings mit seinen Gedanken immer in dem Land der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten.

Nicht selten schwärmte er Jacques, wenn der ihn im Café besuchte oder sie abends gemütlich nach Feierabend im Park spazierten, von Menschen, Städten, Lebenskulturen und persönlichen Chancen in vielfältigsten und schillerndsten Farben vor.

Jacques war solcher Illusionen schon vor Jahren beraubt worden, als er während eines viermonatigen Aufenthalts auf amerikanischem Boden nach den überall beschriebenen unbegrenzten Möglichkeiten geforscht hatte.

Wie oft musste er schon Fernandos Bildbände und sonstige Bücher von Tellerwäschern und Millionären mit ihm ansehen und lesen.

»Aber Träume darf man nicht einfach so zerstören«, dachte er sich dabei immer wieder.

So bewunderte er schließlich die Beharrlichkeit des 22-jährigen Kellners, der wie kein anderer bemüht war, neben seinen Muttersprachen Französisch und Spanisch vehement Englisch zu lernen, um damit alle Wege für seine amerikanische Zukunft zu ebnen.

»Der Verkehr hier in Paris ist lausig, jeder fährt da und dort und wenn man einen Parkplatz braucht, dann stellt man sein Auto einfach auch mal am Rande einer Kreuzung ab.«

Das nervte Jacques schon seit jeher, aber so sehr er sich auch darüber aufregte, dass die Leute immer nur sich selbst sehen und ständig auf den eigenen Vorteil bedacht sind, wusste er, dass er zumindest im Straßenverkehr mit dem traurig leisen Hupen seines Rollers keine Aufmerksamkeit erhaschen konnte, wenn ihm ein großer Mercedes wieder einmal die Vorfahrt genommen hatte.

An der Seine angekommen, trennten sich die Wege der beiden und so winkten sie sich gegenseitig zu und nahmen einzeln den beschwerlichen Parkour zu ihrem Ziel auf.

»Warten, warten, warten«, das war das ständige Motto im Straßenverkehr dieser Stadt. Doch diesem Schicksal konnte man, wollte man in Paris arbeiten, nicht entrinnen. Als Alternative böte sich die Metro an, aber anstatt in den überfüllten Katakomben der Stadt auf eine Beförderungsmöglichkeit zu warten, zog es Jacques vor, bei Tageslicht zwischen den Massen zu stehen und geduldig zu bleiben, auch wenn der Blick auf seine Taschenuhr ihn allmählich nervös werden ließ.

In der Rue St. Antoine stieg er von seiner schwarzen Vespa, ließ das dicke Kettenschloss einrasten und verschwand in seinem Lieblingsfotoladen.

Madame Lilas grüßte erfreut, als sie Jacques sah, und erkundigte sich alsbald, was er denn heute von ihr brauchte. Neben Batterien und Filmmaterial hielt sie ihn ständig über die neuesten Produkte bezüglich Kameras und diversem Zubehör auf dem Laufenden.

»Ich habe gerade frischen Tee aufgesetzt«, lud sie Jacques ein, ein wenig bei ihr zu verweilen, doch er lehnte freundlich, aber entschlossen ab, da er sich nun wirklich zum Versammlungsort begeben musste.

»Ich bringe die Filme später vorbei, vielleicht können sie mir eine Tasse warmhalten«, lächelte er und nach diesen Worten eilte er hinaus und schickte sogleich eine dicke Rußwolke aus dem Auspuff seines Rollers. Er stürzte sich erneut in den Verkehrsstrom hinein, der ihn zehn Minuten später wieder an der Rue de Bretagne ausspuckte.

II

Das gestresst, laisse faire Hupen der Pariser Verkehrsteilnehmer war er natürlich schon längst gewohnt; nicht selten drückte auch er für chaotische Fußgänger oder uneinsichtige Maseratifahrer in vollen Zügen seinen Hupenknopf. Aber ein derartiges Hupkonzert ließ auch Jacques seine Augen verengen und seine Stirn in dicke Falten zusammenziehen.

»Noch 50 Meter«, klagte er laut unter seinem Helm heraus und versuchte, sich an dem Verkehrsstau vorbeizuschlängeln. Langsam, aber sicher dämmerte es ihm, dass er wohl schon mitten ins Geschehen eingetaucht war und die Beteiligten der Kundgebung mit einer Straßensperre das Gehör der Stadtverwaltung auf sich lenken wollten.

Jacques fuhr seinen Roller geschickt durch die unsortierte Menge vor ihm stehender Fahrzeuge; nicht weit ab vom Trubel ließ er sein Vehikel stehen und machte sich zu Fuß auf zum Zentrum des Tumults.

Langsam wurde das Hupen unregelmäßiger und leiser; nur das noch entfernte Summen von immer eindringlicher werdenden Sirenen erfüllte nun beträchtlich die Umgebung.

Da Jacques nicht gerade der Größte an Gestalt war, obwohl er in seiner Familie fast noch als Riese durchging, musste er sich auf den Zehenspitzen gehend durch einen Pulk von Fahrzeugen durchschieben, der letztlich durch zwei rostige Absperrgitter vom eigentlichen Kundgebungsort abgetrennt war.

Er zog seine Kamera aus der Tasche, setzte die neuen Batterien ein und begann, den bereits eingelegten und teilbelichteten Film mit seinen ersten Eindrücken zu versehen. Dabei hob er die Kamera mit seinem linken, gestreckten Arm in die Höhe, denn so erhoffte er gute Artikelfotos zu bekommen. Wenn er in seinem Vorankommen von menschlichen Barrieren gestoppt wurde, griff er in seinen Brustausschnitt und hob ernst und eindringlich seinen Akkreditierungsausweis in die Menge, die ihm schließlich darauf das Weitergehen gewährte.

Als er sich zu Hause seinen blauen Wollpulli über sein Lieblingshemd gezogen hatte, durchzischte ihn noch der Gedanke von einer trägen 20-Mann-Show, die er zu erwarten habe. Dass er diesmal einen Auftrag an Land gezogen hätte, der richtig Rummel beherbergen kann, war ihm erst jetzt bewusst, als er die wütenden Frauen und Männer um sich sah, die sich ihres morgendlichen Berufswegs beraubt sahen.

»Wenn die in ihrem Büro auch so viel Energie aufbringen, wie sie es hier zeigen, dann dürfte in Paris keine einzige Firma mehr Konkurs anmelden«, kam es Jacques in den Sinn, während er mit aufgeblasenen Backen staunend die Menge observierte.

Mittlerweile war die Polizei eingetroffen und damit beschäftigt, den Verkehr möglichst reibungslos um die Rue de Bretagne umzuleiten. Die raunenden Menschen wurden aufgefordert, ihren Weg fortzusetzen.

Nach zahlreichen entsetzten Blicken auf uhrenbesetzte Handgelenke durchzog den einen oder anderen Passanten ein kurzer Schrecken, sodass diese schnellstmöglich den Weg zur Arbeitsstelle aufnahmen.

Jacques konnte noch rasch einige knappe Meinungen der Herumstehenden einfangen, die allerdings auch nicht wirklich wussten, weswegen die Straßensperre aufgestellt worden war.

»So, nun wird es interessant«, dachte sich Jacques, als langsam aber sicher nur noch eine Gruppe von etwa 60 Kindern, Frauen und Männern auf der Straße übrig geblieben war und auf der Rue fast verloren wirkten, obwohl sie große Tafeln und Banner in grell roten Farben bei sich hatten mit den Aufdrucken: „Schützt unsere Häuser und Baudenkmäler“, „Lasst uns nicht zusammenfallen“, „Tut doch endlich etwas“, was Jacques schließlich als Aufforderung betrachtete, Fotos von der mit Klingeln bewaffneten, aufgepeitschten Menge zu schießen.

Ein paar Schulkindern, die mit ahnungslosen und unwissenden Gesichtern am Straßenrand standen, konnte Jacques nur ein ebensolches Achselzucken zurückschicken, was auf die Kinder anscheinend sehr belustigend wirkte und Jacques schließlich zu weiteren Mienenspielchen anstiftete.

Durch einen Lautsprecher drangen die Forderungen der Denkmalsfreunde in den hellen, leicht weißlich verhangenen Morgenhimmel hinein und wurden stenografisch auf Jacques’ Notizblock mitnotiert.

Mittlerweile war der Verkehrsstrom geschickt durch die Arbeit der Wachleute umgeleitet und die beiden Gitter, die vorher den Verkehr zum Halten gezwungen hatten, von einem Polizeimotorrad ersetzt worden.

Jacques’ Blick blieb gerade an einer ihm gegenüberliegenden Hausfassade haften, die in einem sehr desolaten Zustand kaum noch etwas von ihrem einstigen Reiz ausstrahlte.

Während er noch damit beschäftigt war, die größeren waagrechten Risse zu zählen, wurde sein Unterbewusstsein schon von dem Quietschen der Reifen und einem aufheulenden Motor aufgeschreckt.

In den nächsten Momenten fühlte er sich, als er das Geschehen später Revue passieren ließ, wie in einer Slow-Motion-Einstellung im Kino.

Seine Reflexe veranlassten ihn mit gewaltigen Sätzen die schützende Hausmauer in seinem Rücken zu suchen und sich mit beiden Händen daran festzuklammern.

In diesem Moment fiel bereits das große, mit seitlichen Koffern ausgestattete Polizeimotorrad krachend zu Boden, als ein schäbiger, alter und verwaschen rot lackierter Kleintransporter die schreiende Menge zu zerteilen begann. Jacques sah in die entsetzten Gesichter und die weit aufgerissenen Münder der Demonstranten.

Es war wie ein Schock, der Jacques dazu zwang, mit hilflosen Blicken der Situation teilhaftig und doch gelähmt machtlos zu sein.

Die Schilder und Transparente fielen zu Boden und blieben herrenlos auf der Straße zurück, um letztlich überfahren zu werden.

Ein wilder Aufprall erschütterte den bizarren Moment und unter dem leisen Aufschrei einer jungen Schülerin wurde diese schon über die Motorhaube des Wagens gehoben, von der Windschutzscheibe aufgefangen, um nunmehr klaglos rechts neben den davonbrausenden Lieferwagen auf den harten, grauen Asphalt zu fallen, der sie unbarmherzig empfing und sie reglos daliegend umschloss.

Jacques ließ seine Kamera und seine Notizen zurück und stürmte zu dem Mädchen. Er kniete sich neben sie und versuchte zu erfühlen, ob sie denn noch atmete.

»Einen Arzt – schnell, beeilt euch!«, rief er in die verzweifelt ratlos blickende und herumstehende Menge, die wohl noch nicht begriffen hatte, was da gerade wirklich geschehen war. Er versuchte, am Hals des Schulmädchens den Puls zu fühlen, aber da er in solchen Sachen kein gutes Händchen hatte, konnte er keinen wahrnehmen.

»Liegt es an mir oder atmet sie wirklich nicht mehr?«, schoss es ihm verzweifelt durch den Kopf, ehe er behutsam, aber energisch von einer Frau beiseitegeschoben wurde.

»Sie hat Puls!«, sagte die sympathische Stimme neben ihm.

So ließ die Spannung in Jacques’ Körper ein wenig nach und er sackte auf seine Knie, um Gott dafür zu danken, dass es nur seine Unfähigkeit gewesen war und das Mädchen noch lebte.

Die Sirene eines Sanitätswagens war nun ganz laut zu vernehmen und bahnte sich einen Weg durch die hergeeilte Menge an Passanten.

»Vorsicht, wir können nicht ausschließen, dass sie innere Verletzungen hat«, empfing die blondhaarige Ärztin die beiden Sanitäter. Das Mädchen wurde fachgerecht versorgt und unter den gaffenden Blicken der neugierigen, aber auch schockierten Menschenmenge auf eine Bahre gelegt, um schnellstmöglich ins Krankenhaus gebracht zu werden.

»Wo bringt ihr sie hin?«, rief Jacques den mittlerweile zwei Ärzten und drei Sanitätern hinterher, bevor sie die Türe des Krankenwagens zuschoben.

Seine Schultern spürten daraufhin das sanfte, warme Umklammern kleiner, aber kräftiger Hände und eine ruhige Stimme erklärte ihm:

»Sie bringen sie in die Zentralklinik, seien Sie unbesorgt. Sind Sie mit dem Mädchen verwandt?«, fragte die fürsorgliche Ärztin.

»Nein, nein, ich, äh, ich bin nur wegen der Demonstration hier, also, nein, ich muss darüber einen Artikel schreiben«, stammelte der noch sichtlich mitgenommene Jacques als Antwort.

Das Polizeiaufgebot wurde größer, doch der Lieferwagen schien aus dem Nichts gekommen und ebenso wieder darin abgetaucht zu sein.

Niemand hatte genaue Angaben über den alten Transporter zu machen, weder welches Kennzeichen er hatte, wenn er denn überhaupt eines hatte, noch in welche Richtung er weitergefahren war.

Wahrscheinlich ließen die Polizisten, die an ihre Einsatzwagen zurückgekehrt waren, gerade eine Fahndung ausrufen.

Jacques wurde unterdessen von der Frau, die ungefähr sein Alter haben musste, zu seiner Tasche und seinen zurückgelassenen Utensilien geführt.

Daraufhin verstaute er alles und wurde schließlich an der Hand genommen und Richtung Bercy geführt, welches sich nur einen Block weiter befand.

»Ich lass’ Sie in Ihrem Zustand jetzt auf keinen Fall alleine hier zurück; Sie brauchen jetzt erst einmal eine gute Tasse Tee.«

»Wie recht sie doch hat«, dachte Jacques zunächst bei sich und sprach es dann auch laut aus.

»Ich heiße Aurelie. Wie ist Ihr Name?«

»Äh, ich bin – Jacques. Entschuldigung, ich glaube, ich habe mich furchtbar erschrocken und bin noch nicht ganz bei mir.«

»Das ist gut nachzufühlen, schließlich haben Sie alles hautnah miterlebt, das muss man erst einmal verarbeiten.«

Mittlerweile hatten die beiden das Bercy an der Straßenecke erreicht und waren durch einen dicken, samtig dunkelroten Windfang ins Café gelangt.

Aurelie steuerte zielgerichtet einen kleinen, runden Tisch an, der links im Raum an einer großen Glasscheibe und neben einem Raumteiler stand.

Jacques konnte im Vorbeigehen einen großen, schwarzen Flügel entdecken, der in einem podiumartigen Separee untergebracht war.

Kleine, runde, aus Nussholz gefertigte Tische und Stühle, die im Sitz- und Rückenbereich mit dunkelrotem, fein durchwebtem Stoff überzogen waren, prägten die gediegene Stimmung. Die unauffällig leise Klaviermusik, die aus vermeintlich unsichtbaren Lautsprecherboxen rieselte, erzeugte eine vertrauliche Atmosphäre und das Gefühl, von der rohen Welt abgeschottet zu sein.

Das warme Licht der in silbernen Leuchtern stehenden weißen Kerzen ließ in Jacques schlagartig seine Träume emporsteigen, die ihn schon seit langem nach einem erfolgreichen Tag, an einem Ort wie hier, seinen Kaffee trinken ließen.

Er wusste augenblicklich, dass es genau jenes Café war, welches er immer in seinen Träumen und Gedanken zu verwirklichen gesucht hatte.

An der großen, dunkelhölzernen und rund gebogenen Bar, die an ihrer Außenseite mit rechteckigen Spiegeleinsätzen verziert war, ließ ein Barkeeper Milch für einen Kaffee erwärmen, die er sogleich vorsichtig, aber zügig in ein hochhalsiges Glas goss.

Jacques konnte die von ihm so ersehnte Atmosphäre nicht genug inhalieren, war er doch im nächsten Moment schon an seinem Platz angekommen, wo er Aurelie den Mantel abnahm und ihn hierauf einem Kellner reichte, der ihn mit einer leichten Verbeugung, während er seinen Kopf ein wenig rechts zur Seite neigte und gefällig die Augen schloss, zur Garderobe brachte.

»Wie geht es Ihnen mittlerweile?«

»Ja, so langsam habe ich mich wieder gefangen. Es tut mir leid, dass ich ein wenig verstört war, aber so etwas passiert einem nicht so oft, obwohl man hier in Paris einiges miterlebt.«

»Das hätte auch viel schlimmer ausgehen können, stellen Sie sich vor, der Lieferwagen wäre mitten in die Gruppe hineingefahren und die Menschen hätten nicht rechtzeitig zur Seite springen können.«

»Da haben Sie recht, aber auch dieses Kind, das nun um sein Überleben kämpfen muss, ist schon ein Opfer zu viel.«

Es schien Jacques so, als kannte er die fremde Frau schon seit langer Zeit, so unbekümmert, wie die beiden schließlich ins Gespräch fanden, als wenn sie sich wöchentlich in diesem Café und an diesem Platz zusammenfinden würden.

»Aurelie, wenn Sie nichts dagegen haben, dann könnten wir das förmliche „Sie“ gerne lassen, denn schließlich kennen wir ja auch schon unsere Vornamen.«

Aurelie hatte nichts dagegen einzuwenden und erzählte Jacques sogleich, dass sie aus Berufsgründen viel zu oft Notfallopfer nach einem Verkehrsunfall zu versorgen hatte.

»Ist das Mädchen sehr schwer verletzt?«, fragte Jacques besorgt.

»Ich konnte von weiter hinten nur erkennen, dass das Mädchen mit hoher Wucht zu Boden geschleudert wurde, deswegen können nur die Untersuchungen im Krankenhaus einen Aufschluss darüber geben, was letztlich innerlich verletzt wurde. Da ich aber einige Bekannte im Zentral-Hospital habe, werde ich mich heute noch nach dem Zustand des Mädchens erkundigen.«

Jacques sank ein wenig erleichtert auf die bequeme Stuhllehne zurück und empfing so den herannahenden Kellner, der, mit schwarzer Fliege und Weste bekleidet und mit einem weißen Tuch an seinem rechten Armgelenk, sich nach ihren Wünschen erkundigte. Da Aurelie wohl des Öfteren hier verkehrte, wusste der Kellner sofort, was sie wünschte, als sie »Wie immer« sagte und Jacques, der eigentlich die Karte von ihm in Empfang nehmen wollte, bestellte flugs eine große Tasse Roibuschtee.

Die beiden vertieften sich darauf in ein munteres Gespräch und plauderten über das Leben, seine vielseitigen Facetten, den verschiedenen Höhe- und Tiefpunkten, aber auch von den Erwartungen, die man an ein glückliches Leben stellt, sei es für sich selbst oder für andere, über die man sich Gedanken macht.

Die Zeit an diesem Vormittag verrauschte wie im Flug mit Aurelie und so merkte Jacques erst nach einer weiteren Tasse Tee, dass er nunmehr bereits zwei Stunden im Bercy zugebracht hatte.

Es schien ihm ein wenig so, als säße er mit Paper in seinem Apartment, wenn er morgens mit ihm über Zeitungsaktuelles diskutierte oder den philosophischen Bogen spannte zu den aufregendsten Themen der Menschheit, wie er es oft titulierte.

»Ich muss ihn finden«, sagte er zu Aurelie, »ich weiß gar nicht, was mit ihm passiert ist.«

Ungewollt forderte er mit dieser Aussage Aurelies stummes Nachfragen. Da er in seiner innerlichen Planungsstruktur wohl vergessen hatte, Paper zuvor zu erwähnen, holte er es schließlich kurzerhand entschuldigend nach und begann von seiner morgendlichen Bekanntschaft zu erzählen.

»Er ist mir ein wirklich guter Freund geworden, in der Zeit … ach, ich weiß schon gar nicht mehr, wann wir uns im Flur das erste Mal begegnet sind. Er hat etwas sehr Väterliches an sich, das liegt sicher an unserem Altersunterschied, aber da ist irgendwie noch mehr.«

»Das kann ich gut nachempfinden, ich habe auch das Glück, eine Freundin zu haben, mit der mich mehr verbindet als eine reine Freundschaft. Du darfst mich jetzt nicht falsch verstehen; nein, wir kennen uns schon eine kleine Ewigkeit und haben zusammen viel erlebt und uns gegenseitig immer sehr geholfen. Ich weiß sehr gut, wie wertvoll ein solcher Freund oder eben eine Freundin ist.«

»Ich bin dankbar für solche Freunde; ich meine, viele nennen sich „dein Freund“ und wenn du ihn brauchst, dann weiß er davon nichts mehr. Die wahren Freunde erkennst du, und das ist nun wirklich keine neue Kolumbustat, wenn es dir schlecht geht, aber gerade in so eine Situation muss ich auch nicht geraten, um das herauszufinden«, lächelte Jacques und schlug die Beine unter dem kleinen runden Tisch zusammen, während er sich mit der linken Hand ans Kinn fasste.

»Eine Kolumbustat, das ist ein lustiger Begriff, aber doch wohl eher negativ behaftet, oder?«

»Stimmt, du hast recht, es wäre damals alles anders verlaufen, wenn dieses Ereignis ausgeblieben oder die netten Europäer nicht so anmaßend Herr über das Fremde gespielt hätten. Woher nahmen sie eigentlich die Überzeugung, das neu entdeckte Land gehöre ihnen nach Lust und Belieben?«

»Menschen, Jacques, Menschen! Glaubst du eigentlich daran, dass sich die Menschen in ihrer langen, zivilisierten Geschichte geändert haben?«

»Das ist eine schwere Frage, aber es gibt einen deutschen Lyriker, mir fällt sein Name gerade nicht ein, jedenfalls schreibt er in einem Gedicht über die Geschichte der Menschen und beendete dieses mit dem Satz:

„Im Grunde sind sie immer noch die alten Affen.“

Nun muss ich dazu sagen, dass ich schon immer schlecht in Gedichtinterpretationen war, aber die grobe Intention muss wohl lauten, dass trotz Modernisierung und Fortschritt der menschliche Kern gleichgeblieben ist.«

»Ich denke, dass man diese Frage nicht leicht beantworten kann, aber oftmals muss man zu dieser Erkenntnis gelangen. Früher wäre jemand vielleicht mit einer Keule durch eine stehende Menge gerannt und heute bedient man sich der modernen Technik und fährt mit einem Auto durch eine Menge, was den ungemeinen Vorteil hat, dass man sofort davonrasen kann.«

Jacques war bewundernd von seiner charmanten Begleitung angetan und genoss die Momente der Vertrautheit während ihrer Unterhaltung, schließlich wusste er, als er zufällig mit seinen Blicken durch das Café jonglierte und seine Augen auf den Zeigern einer großen, runden, antik wirkenden Uhr haften blieben, dass er seit geraumer Zeit schon in der Agentur sein sollte.

So bat er Aurelie höflich und unter seinem ausdrücklichen Bedauern, die Rechnung übernehmen zu dürfen, da er sich für das liebevolle Annehmen um ihn revanchieren wollte.

Nachdem die Rechnung beglichen war, folgte er Aurelie in Richtung Ausgang, schaute sich noch einmal im Caféraum um, als Aurelie ihren Mantel von dem Kellner empfing und unter grüßenden Worten hineinschlüpfte.

An der Straßenkreuzung sollten sich daraufhin ihre Wege trennen und Jacques versuchte unter Adrenalin ausschüttenden Gedankenfahrten Aurelie nach einem Wiedersehen zu fragen. Er wusste, dass er darin nicht der Geschickteste war, doch im gleichen Moment boxte ihn Aurelie an seine linke Schulter und fragte, wie sie Jacques bezüglich des Gesundheitszustands des Mädchens erreichen könnte.

Unverzüglich und innerlich lächelnd kramte er in seiner Tasche nach einem Kugelschreiber und einem Stück Papier, auf das er seine Telefonnummer schrieb und es darauf Aurelie mit einem erleichterten, frohen Blick gab. Daraufhin reichten sie sich ihre Hände und Jacques eilte zu seinem Roller, um den Weg zu seiner Redaktion anzutreten.

»Ich weiß gar nicht, wo sie eigentlich arbeitet«, dachte er bei sich, während er seinen Helm überstreifte und mit Wucht den Fußanlasser betätigte. Nach dem dritten Mal begann der Motor schließlich zu schnauben und nach Benzin zu lechzen. Mit einer dunklen Rauchwolke tauchte Jacques im Wirrwarr des Pariser Straßenverkehrs unter.

Kurz darauf surrte die Glocke in Madame Lilas Laden. Die Luft roch nach frischen Fixier- und Lösungsmitteln und einer feinen Nuance aus verschiedenen Kräutern und Blüten, die zusammen die typische Stimmung des kleinen Fotoladens ausmachten.

Schon fassten zwei alte und adrige Hände von hinten an den zur Mitte zugezogenen dunkelblauen Vorhang, der den Laden von ihrem Labor trennte, und schoben ihn in quirliger, fast jugendlicher Weise zur Seite.

Mit der Brille, die halb auf ihrer Nase saß, musterte Madame Lilas den Besucher ihres Ladens.

»Hallo Jacques, das hat nun doch länger gedauert, als du es dir gedacht hast, hast du mal wieder eine Bekanntschaft geschlossen?«

»Wie kommen Sie darauf, Madame Lilas?«

»Das verrät mir das Schmunzeln auf deinen Lippen, aber das ist noch nicht alles, irgendwas sagt mir in deinem Gesicht, dass etwas passiert ist.«

»Manchmal sind Sie mir wirklich unheimlich, Madame. Aber ich kann Ihnen nichts vormachen«, begann Jacques fortzufahren, während er den einen Film, den er schließlich nicht einmal voll hatte belichten können, übergab und seiner Bekannten ins Labor folgte.

Er erzählte ihr bei seiner vierten Tasse Tee an diesem Tag, was sich in den letzten vergangenen Stunden alles zugetragen hatte und wie schnell aus Schock ein wundervoller Vormittag in jenem Café wurde.

Madame Lilas war eine Frau mit sehr viel Menschenkenntnis, die sie sich in ihrem Leben aus zahlreichen Begegnungen mit Leuten aus fast allen Teilen der Erde angeeignet hatte.

Bevor sie den Laden in den frühen Neunzigern übernahm, war sie als Künstlerin und Fotografin in die entlegensten Gegenden der Welt gereist, um Reisebücher und Bildbände zu illustrieren oder auch herauszugeben.

Jacques besuchte Madame Lilas immer, wenn er Filmmaterial benötigte oder etwas zu entwickeln hatte, und ließ sich gern von ihr mit einer heißen Tasse Tee oder Selbstgebackenem verwöhnen.

Auch wenn er sich selbst immer als sehr schüchtern und zurückhaltend sah, wirkte er auf Madame Lilas wie eine sehr gefestigte Person, die durch ihre offenherzige Wesensart viele Menschen beeindrucken musste. Sie hatte ein gutes Gespür entwickelt, in seine Gedanken zu schauen und ihn darauf aufmerksam zu machen.

»Jacques, du bist ein Held!«

»Ach nein, das war nur eine Art Reflex, dass ich zu dem Mädchen gerannt bin, aber wirklich helfen konnte ich ja auch nicht.«

»Oh doch!«, entgegnete Madame Lilas ihm energisch. »Du hast dich sofort um sie angenommen, das hattest nur du vor allen anderen Zuschauern im ersten Moment gemacht.«

»Ja, ich hätte etwas Vernünftiges lernen sollen, dann könnte ich in solchen Fällen oder überhaupt etwas Sinnvolles leisten, anstatt Artikel über Demonstrationen, Gedenkfeiern oder Wochenmärkte zu schreiben, die nach zwei Tagen wieder eingestampft werden.«

»Jacques«, entgegnete ihm Madame Lilas, »sei nicht so streng mit dir und deinem Leben. Du lebst dein Leben und wenn du es auch nicht merkst, lass dir sagen, dass du durchaus Wichtiges für viele Menschen um dich leistest, auch wenn du kein Arzt bist und Leben rettest.«

Madame Lilas sprach ihm oft in einer Weise zu, die Jacques glücklich werden ließ und dank der er seine Gedanken wieder an neuen Maßstäben zu orientieren wusste.

»Du weißt, dein Leben ist keine beschlossene Sache; du hast einen Beruf, du bist jung und du hast Kraft, dein Leben glücklich zu gestalten.«

Mit diesen Worten übergab sie Jacques seine Abzüge, kassierte das Geld, das er ihr reichte, wünschte ihm viel Erfolg mit dem Artikel und gab zu verstehen, dass sie sich freuen würde, ihn bald wieder zu sehen.

Jacques reichte ihr zum Abschied die Hand, dankte ihr und verschwand mit einem Glockenton aus dem ruhigen Laden, hinaus in den munteren Trubel eines mittlerweile sonnenbeflügelten Tages.

III

Es dauerte ungefähr 25 Minuten, bis er seinen Helm wieder abstreifen konnte und das Peron-Gebäude, in dem seine Arbeitsstelle untergebracht war, durch die hohen, gläsernen Portale betrat.

»Guten Morgen, Sebastien, wie geht’s deiner kleinen Tochter?«, erkundigte sich Jacques beim Vorübergehen an der großen Rezeption im Foyer.

»Sie schläft mittlerweile die ganze Nacht durch, na ja, sagen wir fünf Stunden.«

»Das merkt man dir an!«, und schon war Jacques in dem hellen mit zwei Glasseiten versehenen Aufzug gestiegen. Eigentlich mochte er das Aufzugfahren, schließlich war er noch nie in einem stecken geblieben.

Obwohl nach seinen Filmkenntnissen jede nur erdenkliche Situation in einem Fahrstuhl darauf ausgelegt ist, dass dieser seinen Dienst verweigert und deswegen halsbrecherische Kletterpartien auf dem Plan stehen oder die schon lang gehegten gegenseitigen Zuneigungen der eingeschlossenen Partner hemmungslos ausgelebt werden, befand sich Jacques nach einer kurzen Musterung seiner Fahrstuhlbegleiter eindeutig in keiner solchen Situation, sodass er sich keine Sorgen machen musste, den Fahrstuhlschacht hinauf zu klettern oder gar einem seiner drei männlichen Gefährten seine Liebe zu gestehen.

Früher wollte er auch immer mit Anzug, Krawatte und Aktentasche ins Büro gehen, aber nachdem er schon die eine oder andere Krawatte in seinem Leben binden hatte müssen, um auf einer Party oder Gesellschaft eingelassen zu werden, fühlte er mit den drei „Young Urban Professionals“ im Businesslook, wie sehr der enge Hemdkragen an deren Adamsäpfeln reiben musste. Oder war es doch nur unterschwelliger Neid? Die Etagenglocke ertönte und ersparte ihm deshalb die Antwort.

Das Agenturgeschoss war hell und außerordentlich lichtdurchflutet. Das Peron-Haus hatte schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel, aber die Stadt und einige einflussreiche Geldgeber hatten dem schmucken Palast ein rundherum neues Gesicht gegeben.

Die alten Gewölbedecken hielten schwere Lichtkegel, die an Kronleuchter erinnerten, und mächtige Säulen kamen hier und da zum Vorschein, wenn sie nicht ein Büro oder einen Gang abtrennen mussten.

Die Agentur war ein einziges Großraumbüro, in dem Jacques’ Stall mitten im Gewühle war. Sein Chef wartete bereits auf ihn und überfiel ihn mit lauten und durchdringenden Worten. Er legte den Arm um Jacques Schulter und begann seine Begrüßung zu Jacques’ Verwunderung mit frohen, netten Worten, obwohl er schon um Stunden früher hätte erscheinen sollen.

»Wie war die Demo?«

»Ja, klein und …«

»Schon recht, also erzähl, wie ist das mit dem Verrückten passiert, hast du Bilder gemacht, zeig her«, überfiel ihn George Assas.

»Also, die Bilder habe ich gemacht, aber nicht von dem Unfall. Ich glaube, wir müssen uns ein neues Thema suchen, da die Demonstration in dem Sinn kaum stattgefunden hat.«

»Träumst du, Jacques, warst du dabei oder ich?«, fuhr ihn Assas an.

»Wir bekommen die Story für die nächsten beiden Wochen herein und du sagst, die Demo habe nicht stattgefunden. Also setzt’ dich hin und schreib’, was vorgefallen ist, zeig’ die Gefühle und den Schrecken in den Gliedern der Menschen. Du kannst dich doch ausdrücken, bis heute Abend will ich was sehen«, befahl er vehement und während er Jacques’ Bilder im Weggehen musterte, meinte er abschließend:

»Die Bilder kriegen wir schon woanders her, mach’ dir keine Sorgen, da basteln wir uns was zurecht.«

Jacques stand im Flur wie ein Schuljunge, dem das Pausenbrot vom Rektor geklaut worden war und kratzte sich noch unstimmig an der Stirn, bevor er es wagte, dem davoneilenden Assas nachzugehen.

»George, ich bin kein Sensationsreporter. Wissen Sie, wie fruchtbar das alles war? Ich war da mitten drin; ein Mädchen liegt im Krankenhaus …«

»Du weißt, wo sie liegt?«

»Ja, im Zentral-Hospital«, entgegnete Jacques.

»Na, was machst du dann noch hier, fahr’ los und quetsch’ die Leute aus!«

Jacques wusste nicht, was er seinem Chef entgegnen sollte; deshalb sagte er aus Reflex:

»Das geht nicht, sie liegt auf der Intensivstation und niemand bekommt dorthin Zutritt.«

»Hmm«, grübelte Assas, »nicht so schlimm, das reicht auch so.«

Jacques ging langsam in Richtung seiner Box um den Zwiespalt im Sitzen aufarbeiten zu können. Er hatte noch nie einen Auftrag zu einer Story, wie sie in der Yellow Press tagtäglich zu lesen sind, erhalten. Auch war seine Agentur nicht auf diesen Journalismus aus gewesen. Aber alles ändert sich und wer gewinnen möchte, der muss neue Wege gehen.

»Oh, was mach ich nur? Ich kann das Mädchen nicht verkaufen und Tausenden erzählen, was sie alles verpasst haben an „Real Action“.«

Er saß in seinem Stall und haderte so eine Viertelstunde mit sich selbst und wurde von einem Kollegen aus seinem Gedankenwirrwarr in die Realität zurückgeholt.

»Ich kriege die Bilder, du kannst also aus vollen Rohren feuern.«

Was so viel hieß, dass Jacques der Geschichte den nötigen Pfiff geben sollte.

Jacques konnte nicht anders als zu schreiben. Was hatte er für eine Chance? Er wusste, dass er damit seine Prinzipien über Bord werfen würde und nicht viel besser war als Paparazzi, die sich rein aus profitlichen Gründen auf die Lauer legen, um berühmte Leute ihrer Privatsphäre zu berauben.

»Ich bin ein Idiot!«, murmelte er vor sich hin und begann in seinen Computer zu tippen, wohl wissend, dass er den Job brauchte um seine Miete zu bezahlen und um überhaupt leben zu können.

Wie schwer war es in einer Großstadt wie Paris von heute auf morgen einen neuen Job zu kriegen?

*

Während er nun schweren Herzens begann, sich, wie er meinte, selbst zu verraten, streifte sich Professor Casper seine Operationshandschuhe ab, warf sie in einen runden, silberfarbenen Mülleimer, ließ mit dem Fuß die Klappe auf den oberen Eimerrand zurückschnallen und wusch sich tief durchatmend die Hände.