Das Märchen vom Karfunkelstein - Ludwig Ganghofer - E-Book

Das Märchen vom Karfunkelstein E-Book

Ludwig Ganghofer

4,8

Beschreibung

Tief im Inneren des Wettersteingebirges wohnen die Zwerge und hüten ihre Schätze. Doch der Zwergenkönig möchte unbedingt noch ein weiteres Kleinod besitzen: den leuchtenden Karfunkelstein, der in der Krone des Riesen Naturiwus strahlt wie eine rote Sonne ...

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Das Märchen vom Karfunkelstein

Das Märchen vom KarfunkelsteinDes Märchens erster TeilDes Märchens zweiter TeilDes Märchens dritter TeilDes Märchens froher BeschlussImpressum

Das Märchen vom Karfunkelstein

Eine wunderliche Geschichte für kleine und große Kinder

von

Ludwig Ganghofer

Ich widme

dieses Buch dem

lieben Kleeblatt Doddy, Hedda

und Hilde Kaulbach

in München

Des Märchens erster Teil

Warum der Zwergkönig Grawigrüwelingso traurig wurde, und wie er den ewigleuchtenden Karfunkelstein gewinnen wollte.

   Es war einmal, vor tausend Jahren, ein reicher König der Zwerge, mit Namen Grawigrüweling. Der war so groß, wie eines Menschen kleiner Finger ist. Und weil er fünftausend Jahr alt war, vielleicht noch älter, war ihm der weiße Bart an die vierzig Ellen lang gewachsen. Und die Augenbrauen hingen ihm dick und zottig über die Augen herunter. Wollte der König Grawigrüweling etwas genauer sehen, dann mussten ihm vier Zwerge die Augenbrauen mit silbernen Krücken in die Höhe spreizen. Und wenn er von seinem goldenen Thron herunter steigt, um sich ins kleine Zwergenbettlein zu legen, mussten vierhundert Zwerge seinen langen, weißen Bart vor ihm hertragen. Sonst hätte sich der kleine König mit den kurzen Füßchen in die vierzig Ellen Haare verwickelt und wäre auf die Nase gefallen. So was lieben die Könige nicht. Die wollten immer das gekrönte Haupt schön aufrecht tragen.

   Dieser König Grawigrüweling war unermesslich reich. Denn mit dem unzählbaren Heer seiner Zwerge hatte er vor tausend Jahren, vielleicht schon früher, den grausam reichen Riesen Naturiwus überwunden und ihm all seine kostbaren Schätze abgenommen. Nur ein einziges Kleinod aus dem Schatz des Riesen hatte der König Grawigrüweling nicht gewinnen können: den herrlichen Karfunkelstein, der in der Krone des Riesen Naturiwus geleuchtet hatte wie eine rote Sonne. Denn als der Riese sah, dass ihm die siegreichen Zwerge alles, alles nahmen, all sein Gold und Silber, sein Eisen und Blei, seine Burgen und Berge, seine Wälder und Seen, da riss er, halb schon gefesselt, mit seinen Zähnen den leuchtenden Karfunkelstein aus seiner Krone und verschluckte ihn. Und so behielt der Riese, als ihn die Zwerge in Ketten legten, dieses kostbare Kleinod in seinem Besitz und drehte dem König Grawigrüweling mit Lachen eine lange Nase.

   Seit fünftausend Jahren, vielleicht noch länger, wohnte diese König Grawigrüweling in einem unterirdischen Palast, tief im Innern des Berges Wetterstein. Ihr wisst doch, wo der Wetterstein gelegen ist? Der liegt genau in der Mitte zwischen Berlin und Rom und steigt aus grünen Wäldern auf, eine schwindelnd steile Felsenburg, die ihre steinernen Türme hinauf hebt in das Blau der Lüfte. Das ist der Wetterstein. Der steht noch immer auf dem gleichen Fleck, seit vielen tausend Jahren. Und höher ist er, als die Wolken ziehen, höher, als ein Adler fliegen kann. Und an schönen Tagen, in der hellen Sonne, sieht er aus, so blank und weiß, als wäre er nicht aus Stein, sondern ganz aus purem Silber gebaut. Aber wisst ihr auch, warum er Wetterstein heißt? Weil er den tausend Menschen, die rings um ihn her in den grünen Tälern ihre kleinen, weißen Häuschen haben, das Wetter prophezeit. Denn lange, bevor ein böses Ungewitter kommen will, da macht der Wetterstein schon ein finsteres Gesicht und zieht eine graue Wolkenhaube tief herunter über den steinernen Kopf. Und dann geht’s los! Ein Sausen und Heulen, ein Gießen und Schütten, ein Blitzen und Donnern, als ginge die Welt zugrunde.

   Aber wenn sich das böse Wetter ausgedonnert hat, und wenn der gute Berg sein lachendes Steingesicht herausschiebt aus der Wolkenhaube, und wenn der klare Abend kommt, und wenn die Sonne, bevor sie schlafen geht, noch einen hellen, goldenen Gruß über die Berge herunternickt in alle Täler – ach, wie schön ist das! Und vor tausend Jahren war’s noch tausendmal schöner! Und wenn dann erst die Zwerge im Wetterstein ihr Schmiedefeuer anzündeten! Wie herrlich ist das gewesen! Da lag der Wetterstein ganz dunkelblau in der blauen Dämmerung. Und plötzlich fing er zu glühen an, von den schwarzen Wäldern bis hinauf zu seinem Gipfel, immer heller, immer röter, bis der ganze steinerne Berg im blauen Abend brannte wie eine große, hohe, rote Flamme. Der Berg aber brannte nicht! Nein! Das war nur der Widerschein vom Schmiedefeuer der Zwerge, die als Untertanen ihres Königs im Berg Wetterstein bei der Arbeit waren. Die schliefen am Tag. Aber wenn der Abend kam, dann fingen sie die Arbeit an. Und schafften die ganze Nacht bis zum ersten Morgenlicht. Und weil das Silber und Gold, aus dem sie Kronen und Schwerter und Lanzen schmiedeten, so hart zu schmelzen war, drum mussten sie in ihrer Schmiedewerkstatt ein so mächtiges und heißes Feuer anzünden, dass sein Glanz aus dem Innern des Berges hinausleuchtete durch alle Felsen.

   Und all diese Zwerge, das waren kleine, winzigkleine, alte Männlein mit grauem Haar und eisgrauen Bärten. Und hatten graue Kittelchen an, bis zu den Knien, und jeder ein ledernes Schürzlein drüber. Sie guckten mit ernsten Augen drein; und niemals konnten sie lachen; und wussten nicht, was Freude ist. Denn die Zwerge waren so klug und mussten so fleißig arbeiten, dass sie zum Lachen und Frohsein keine Zeit hatten. Die armen Kerlchen!

   Und wisst ihr, wie die Zwerge in die Welt gekommen? Das ist eine sehr merkwürdige Sache. Passt mal auf, wie das zugegangen! Da saß der Zwergkönig Grawigrüweling mit der von Edelsteinen blitzenden Krone auf seinem goldenen Thron und dachte sich was. Und kaum hatte er sich was gedacht, da sprang ihm, hui, aus seiner Stirn ein kleiner Zwerg heraus, ein altes, graues, tausendkluges Männlein, das sich flink und ernst an die Arbeit machte und alles tat, was sich der Zwergkönig Grawigrüweling gedacht hatte.

Und weil der neugierige König seit fünftausend Jahren so schrecklich vieles dachte und alles, alles wissen wollte, und weil ihm bei jedem Gedanken solch ein alter, grauer, kluger Zwerg aus dem Kopf heraussprang, drum ist die Zahl seiner kleinen Zwerge so unzählbar groß geworden.

   Eines Morgens nun, vor tausend Jahren, als über dem Wetterstein die liebe, schöne, goldene Sonne aufging, saß der Zwergkönig wieder nach einer langen Arbeitsnacht auf seinem goldenen Thron. Und weil die Nacht so kalt war, hat’s ihn gefroren, dass ihm die Zähne klapperten. Aber statt sich am lichten Glanz der Sonne zu freuen, statt an ihren Strahlen die kalten Gliederchen und das kalte Königsherzlein zu wärmen, hat sich der Zwergkönig Grawigrüweling in seiner Neugier gedacht: „Ich möchte nur wissen, wie weit die Sonne von mir entfernt ist?“

   Hui, da sprang aus der Stirn ein Zwerg heraus, ein kleines, altes, kluges Männlein, und nahm einen Schießbogen und stieg auf den Gipfel des Berges Wetterstein und band einen langen, langen goldenen Spinnenfaden an den Pfeil, und schoss den Pfeil so hoch hinauf, dass seine Spitze in der goldenen Sonne stecken blieb. Dann kletterte das Zwerglein hurtig an dem goldenen Spinnfaden in die Höhe, bis zur Sonne, und ließ sich wieder an dem goldenen Faden herunter und kam zum König gelaufen und sagte: „Großmächtiger König! Die Sonne ist von Eures Gedankens Majestät zehntausendbillionen Mal so weit entfernt, als meine Nase lang ist.“

   „So, so?“, sagte der Zwergkönig Grawigrüweling und strich seinen langen, weißen Bart. „Also, das weiß ich jetzt auch! Zehntausendbillionen Nasenlängen ist die Sonne von mir entfernt. So so so sooo?“ Und diese Weisheit machte ihn so ernst, dass er die kleine Stirn in hundert Falten legte. Und als er bei Anbruch des hellen, warmen Tages von seinem goldenen Thron herunterstieg, um sich ins kleine Zwergenbett zu legen, wobei vierhundert Zwerge seinen vierzig Ellen langen weißen Bart vor ihm hertrugen, da war dem Zwergkönig Grawigrüweling so schrecklich kalt, dass er zitterte an allen Gliedern. Sieben linde graue Mausfelle mussten die Zwerge herbeischleppen, um den frierenden König zuzudecken. Aber der König wurde nicht warm – doch die unzählbare Schar seiner klugen Zwerge hatte sich wieder um einen vermehrt. Und der bekam den Namen Sonnengucker.

   Und während sich der König frierend in sein kaltes Bettlein huschelte, hörte er mit seinen scharfen Ohren in weiter Ferne ein lustiges Singen und Jodeln. Das klang durch alle Felsen des Berges Wetterstein zu ihm herunter in die kalte Tiefe. Und der König fragte: „Wer mag das sein, der da droben dieses törichte Geräusch verursacht?“

   „Herr König, das ist der kleine Holdrio, ein junger Bub, der die Geißen hütet!“, sagte Sonnengucker. „Als ich an meinem goldenen Spinnenfaden aus den Lüften herunterkletterte, sah ich den Holdrio in der Sonne sitzen. Und während seine dunklen Augen wie zwei helle Sterne glänzten, schnitt er sonderbare Grimassen und gab jene törichten Geräusche von sich.“

   Nachdenklich schüttelte der Zwergkönig Grawigrüweling den Kopf und sagte: „Diese Grimassen und Geräusche werden von den Menschen Lachen und Singen genannt. Und sie sagen, das wäre ein Zeichen von großer Fröhlichkeit. Aber dieser Geißbub weiß doch sicher nicht, wie weit die Sonne von ihm entfernt ist! Wie kann man so ungebildet sein? Und doch so froh dabei? Ich weiß so vieles! Und kann nicht lachen!“ Frierend drehte sich der König in seinem Bettlein um und konnte nicht schlafen und wurde immer ernster, je länger er an den lustigen Geißbuben Holdrio dachte.

   Und ein andermal, des Abends, als die Zwerge ihre Schmiedefeuer anzündeten, dass der ganze Berg Wetterstein in Glut zu leuchten anfing, stieg der König Grawigrüweling so ernst und grämlich, wie er immer war, auf seinen goldenen Thron. Und weil ihn dürstete, ließ er sich mit goldenem Becher ein Schlücklein Wasser aus dem Weisheitsbrunnen der Zwerge schöpfen. Das war ein Brunnen, dessen Quelle heraufsprudelte aus den dunklen Tiefen der Erde. Und als der König getrunken hatte, dachte er: „Fünftausend Jahre, seit Adam erschaffen wurde, fülle ich an jedem Abend mein goldenes Becherlein aus diesem Brunnen. Und immer ist der Brunnen noch nicht ausgetrunken, immer sprudelt das Wasser noch! Wie tief muss die Erde sein, aus der diese Quelle kommt? Das möcht ich wissen!“

   Hui, da sprang aus seiner Stirn ein kleiner kluger Zwerg heraus. Der stürzte sich in den tiefen Brunnen und tauchte hinunter, tiefer und immer tiefer. Lange musste der König warten, bis das Zwerglein Brunnenschlucker wieder zum Vorschein kam. Und als der Zwerg aus dem Brunnen heraus stieg und das Wasser von sich abschüttelte, sagte er: „Großmächtiger König! Zehntausendmillionen Purzelbäume hab ich durch das Wasser hinunter gemacht. Aber der Atem ist mir ausgegangen, bevor ich den Grund der Erde finden konnte.“

   „So so!“ Der König strich den langen weißen Bart. „Da hab ich noch lang zu trinken! Das weiß ich jetzt auch.“ Und diese Weisheit machte ihn so ernst, dass er die kleine Stirn in hundert Falten legte. Und auf seiner goldenen Tafel begann er auszurechnen, wie viel Jahre nötig wären, um den unergründlichen Brunnen leer zu trinken. Das wurde eine Zahl, so groß, dass sie auf der goldenen Tafel nimmer Platz hatte. Und während der König ernst und schweigsam rechnete, die Stirn bedeckt mit allen Runzeln seiner Weisheit, klang durch die Felsen herab ein frohes Lachen und Singen.

   „Dieser blöde Lärm da droben stört mich bei der Arbeit!“, sagte der König Grawigrüweling verdrießlich.

   Schon wollten sich die Zwerge Sonnengucker und Brunnenschlucker auf den Weg machen, um dem Geißbuben Hodrio das Lachen und Singen zu verbieten.

   Aber da rief der König: „Halt! Des Buben Frohsinn muss doch eine Ursach haben. Es könnte sein, dass er besser weiß als ich, wie weit die Sonne entfernt und wie tief die Erde ist? Steiget hinauf zu ihm und fragte ihn das!“

   Die beiden Zwerge kletterten durch die Klüfte der Felsen hinauf. Sie kamen zu einer schönen Bergwiese, die vergoldet war vom Glanz der sinkenden Sonne. Und da saß der junge Holdrio inmitten seiner ruhenden Geißen auf einem sonnbeschienenen Steinblock, sang und lachte, schlenkerte die nackten Beine und schnitt sich aus einem Erlenzweig eine Hirtenpfeife.

   Denkt euch, was für Augen der junge Holdrio machte, als da plötzlich die beiden winzigen, eisgrauen Männchen vor ihm standen! „Ei, Herr Jeggus!“, rief er und lachte. „Da sind ja wohl zwei saure Käslein lebendig worden!“

   Darüber waren die klugen Zwerge ein bisschen beleidigt. Freilich, wenn man die Höhe der Sonne und die Tiefe der Erde zu messen versteht und dabei für einen sauren Ziegenkäs angesehen wird, das ist nicht schmeichelhaft. „Du ungezogener Bub!“, sagten die Zwerge. „Hab Ehrfurcht vor uns! Wir sind die Abgesandten des Königs Grawigrüweling, der alles weiß.“ 

   Holdrio lachte. „Was weiß denn der?“

   „Hunderttausend Mal mehr wie Du! Oder weißt Du vielleicht“, fragte Brunnenschlucker, „wie tief die Erde ist?“

   „Freilich“, sagte Holdrio, „so tief wie das grüne Tal da drunten, wo die Blumen wachsen.“ Er lachte. „Alte Leut, die sagen, dass die Erd noch tiefer wär um sieben Schuh. Aber bis ich so tief hinunterkomm, da hat’s noch Zeit ein lustiges Leben lang! Juhuuu!“ Das war ein Jauchzer, dass im roten Abendglanz die Felsen hallten.

   „Und weißt Du denn auch“, fragte der andere Zwerg, „wie weit die Sonne von Dir entfernt ist?“

   „Freilich“, sagte Holdrio und lachte, „so weit wie meine nackichte Haut von meinem Herzen. Wenn die Sonne weiter wär, da tät ich nicht spüren, wie warm sie ist. Die liebe Sonn, die kann man greifen.“ Und jauchzend griff er junge Holdrio mit seinen braunen Händen in den roten, warmen Glanz des Abends. Dann blies er auf seiner Hirtenpfeife ein lustiges Liedlein. Und als er das geblasen hatte, fing er mit heller Stimme zu singen an:

„Lieblich ist der Tag verglommen, Kühlend will der Abend kommen, Über Berg und übers Tal Lacht die Sonne noch einmal!    Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh!

Brauch kein Bettlein wie die Grafen, Leg mich zu den Geißen schlafen, Steigt der Morgen hell herauf, Weckt die liebe Sonn uns auf.    Holdrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh!

Haselnussen, die mir schmecken, Hangen an den grünen Hecken! Und am Baum die Kirschen rot Sind mein süßes Sommerbrot!    Hodrio! Holdrio! Hei, wie ist das Leben froh!“

   Als die Zwerge den jungen Buben so lustig singen hörten, guckten sie mit ihren klugen, grämlichen Gesichtern ganz verwundert drein. Und sagten: „Wie weit die Sonne entfernt und wie tief die Erde ist, das weiß unser König besser. Aber wie man so ungebildet und arm sein kann als Du, und so froh dabei, das versteht er nicht. Und das möcht er wissen!“

   „Da soll er halt kommen und soll mich fragen!“ Holdrio lachte. „Ich sag’s ihm schon. Doch Euer König wird das nicht verstehen, wenn er nicht weiß, warum die Haselnussen eine harte Schale haben und die Kirschen einen harten Kern.“ Dabei zwinkerte der junge Bub gar lustig mit den Augen. „Weiß er das?“

   Erschrocken sah Brunnenschlucker den Sonnengucker an und Sonnengucker den Brunnenschlucker, und einer fragte den anderen: „Weiß er das?“ Und weil sie in ihrem Schreck so drollige Gesichter schnitten, fing der junge Holdrio zu lachen an, so laut und übermütig, dass seine schlafenden Geißen munter wurden. Die sprangen auf, und als die weiße Ziege Schimmermilch das Zwerglein Brunnenschlucker sah, da meckerte sie: „Ei, guck doch, ein Schwammerling!“ Und fraß den beiden winzigen Männchen die grauen Hütlein von den Köpfen herunter. Und der schwarze Geißbock Kleebeiß schnupperte an den Zwergen und blies die Luft durch seine Nase, dass die käsehohen Kerlchen von dem starken Wind über den Haufen geblasen wurden und Hals über Kopf die steile Weise hinunter kugelten.

   Ganz atemlos waren sie, als sie unterirdischen Säle ihres Königs Grawigrüweling erreichten. Der saß auf seinem goldenen Thron und rechnete noch immer auf seiner goldenen Tafel. Mit Kopfschütteln hörte er die Zwerge an, die ihm erzählten, wie nach der junge Holdiro die Sonne hätte, und dass die Erde für ihn nicht tiefer wäre als das grüne Tal. „So ein dummer Bub! Und kann bei solcher Dummheit doch so fröhlich sein?“

   „Dahinter scheint ein wunderbares Geheimnis zu stecken!“, sagte Brunnenschlucker. „Das will der junge Holdrio nur Dir allein verraten, großmächtiger König, wenn Du kommen und ihn fragen willst.“

   „Das ist doch eine Frechheit!“, schrie der König in Zorn und schlug mit der Faust auf den goldenen Thron. „Ich, der König Grawigrüweling, der alles weiß! Ich, der ich schon fünftausend Jahre aus dem Weisheitsbrunnen der Zwerge trinke! Ich soll in die Schule gehen bei einem dummen Geißbuben?“

   „Und sein Geheimnis“, stotterte Sonnengucker, „sein Geheimnis wirst Du nur verstehen, sagt er, wenn Du weißt, warum die Haselnuss eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Aber Du, großmächtiger König, Du, der alles weiß, Du wirst auch dieses wissen!“

   Da hättet ihr sehen sollen, was der weise König Grawigrüweling für ein dummes Gesicht machte! Gewöhnlich tun das die Könige nicht. Aber manchmal doch!

   „Nein!“, sagte er. „Das weiß ich nicht!“ Und greinte: „Das will ich wissen!“

   Da sprangen ihm, hui und hui, zwei kleine, kluge Zwerge aus der Stirne heraus. Die hießen Schalenknacker und Kernzwacker. Und die machten sich gleich an die Arbeit, um für den König auszuforschen, warum die Haselnuss eine harte Schale hat und die Kirsche einen harten Kern. Sie zogen aus dem Hofstall seiner Majestät des Königs Grawigrüweling zwei silberne Lastwagen, jeder wie ein Schneckenhaus so groß, und spannten vor jeden Wagen zwanzig von jenen schwarzen Käfern, die dem Zwergenvolk als Rosse dienen. Dann kutschierten sie davon und brachten auf dem einen Wagen eine reife Kirsche, auf dem anderen eine Haselnuss herbei gefahren.

   Schalenknacker nahm noch hundert kluge Zwerge zu Hilfe. Die hoben die Haselnuss auf einen Ambos und zerschlugen mit stählernen Hämmern ihre Schale. Und während sie mit neugierigen Augen die harten Schalentrümmer untersuchten, kam ein feines weißes Mäuschen von irgendwo aus den Felsen geschlupft und verspeiste den süßen Kern, der in kleinen Bröselchen vom Ambos auf die Erde gefallen war.

   Auch Kernzwacker hatte hundert kluge Zwerge zu Hilfe genommen. Die schabten mit stählernen Messerchen das rote Fleisch vom Kern der Kirsche herunter. Und während sie den runden, harten Kirschkern mit einer Zange in das Schmiedefeuer heilten, um ihn weich zu glühen, kam ein feines weißes Schlänglein von irgendwo aus den Felsen geschlupft und leckte mit hurtigem Zünglein den süßen roten Kirschsaft auf, der in großen Tropfen auf der Erde lag, und verspeiste das süße rote Fleisch der Kirsche, das in kleinen Fasern von den stählernen Messerchen der Zwerge gefallen war.

   Inzwischen saß der König auf seinem Thron und fragte immer wieder mit Ungeduld: „Was ist denn? Wird’s bald? Wird’s bald?“