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Im April 1800 beschloss er, für mehrere Monate nach Russland zu reisen, aber auf seiner Reise dorthin wurde er wegen des Verdachts, er sei Jakobiner, an der Grenze verhaftet und nach Sibirien verbannt. Glücklicherweise hatte er eine Komödie geschrieben, die der Eitelkeit des Zaren Paul I. schmeichelte; er wurde infolgedessen bald begnadigt, zurückgeholt und mit einem Gut in Livland entschädigt. Seine Erlebnisse während dieser Zeit hat er in dem autobiographischen Werk Das merkwürdigste Jahr meines Lebens niedergeschrieben.
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Seitenzahl: 362
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Das merkwürdigste Jahr meines Lebens
August von Kotzebue
Inhalt:
August von Kotzebue – Biografie und Bibliografie
Das merkwürdigste Jahr meines Lebens
Vorbericht
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Das merkwürdigste Jahr meines Lebens, A. von Kotzebue
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849629779
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Deutscher Schriftsteller, geb. 3. Mai 1761 in Weimar, wo sein Vater Legationsrat war, gest. 23. März 1819 in Mannheim, erhielt seine Erziehung nach dem frühen Tode des Vaters von seiner Mutter und deren Schwager Musäus (s. d.), widmete sich seit 1777 in Jena und Duisburg juristischen Studien und ließ sich hierauf als Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt nieder, ging aber schon 1781 nach Petersburg, wurde Sekretär bei dem Generalgouverneur v. Bauer, 1783 Assessor in Reval und erhielt 1785, gleichzeitig geadelt, die Stelle des Präsidenten des Gouvernementsmagistrats der Provinz Esthland. Inzwischen hatte er sich durch eine Reihe von Erzählungen, wie »Die Leiden der Ortenbergischen Familie« (1785 f.), und mehrere sentimentale Dramen (namentlich durch das bald weitverbreitete Stück »Menschenhaß und Reue«, 1789) zum Liebling des Publikums gemacht, wogegen ihm das 1790 in Pyrmont unter Knigges Namen herausgegebene Pasquill »Doktor Bahrdt mit der eisernen Stirn« in der öffentlichen Meinung sehr schadete. Nach dem Tode seiner ersten Gemahlin (einer Tochter des russischen Generalleutnants v. Essen) nahm er seine Entlassung aus dem Staatsdienst, privatisierte in Paris (vgl. »Meine Flucht nach Paris im Wintermonate 1790«, neue Ausg., Berl. 1883) und Mainz und zog sich 1795 auf sein Landgut Friedenthal bei Reval zurück, fortwährend nur mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt. »Die jüngsten Kinder meiner Laune« (Leipz. 1793–96, 6 Bde.) sowie über 20 Schauspiele, darunter als die bedeutendsten: »Armut und Edelsinn« (1795), »Die Spanier in Peru« (1796), »Die Negersklaven« (1796) und »Die Verleumder« (1796), waren die Frucht dieser Muße. 1798 wirkte er mehrere Monate als Theaterdichter in Wien (vgl. seine Schrift »Mein Aufenthalt in Wien und meine erbetene Dienstentlassung«, Wien 1799), ließ sich hierauf in seiner Vaterstadt nieder, wo ihm aber Goethes entschiedene Ablehnung und die Angriffe der Romantiker, die er durch die Posse »Der hyperboreische Esel« (1799) gereizt hatte, bald den Aufenthalt verleideten, so daß er sich entschloss, nach Russland zurückzukehren. Kaum hatte er jedoch die Grenze überschritten, als er (im April 1800) verhaftet und nach Sibirien geführt wurde. Ein kleines Drama: »Der Leibkutscher Peters III.« (1799), eine indirekte Lobrede auf Paul I., die Krasnopolski ins Russische übersetzt hatte, brachte ihm jedoch nicht nur bald wieder die Freiheit, sondern erwarb ihm auch die Gunst des Kaisers, der ihn mit dem Krongut Worroküll in Livland beschenkte und zugleich zum Direktor des deutschen Theaters in Petersburg ernannte. Die Erlebnisse in Sibirien beschrieb K. in dem romanhaften Buch: »Das merkwürdigste Jahr meines Lebens« (Berl. 1801, 2 Bde.). Nach Pauls I. Tode ging er wieder nach Weimar. Da aber hier sein Versuch, Goethe durch alberne Ovationen für Schiller herabzusetzen, gänzlich misslang, wendete er sich nach Berlin, wo er in der von ihm mit Merkel herausgegebenen Zeitschrift »Der Freimütige« eine heftige Polemik gegen Goethe und die romantische Schule eröffnete. Dieser Tendenz sollte auch das gemeine dramatische Pamphlet »Expektorationen« dienen, dessen Autorschaft K. übrigens ableugnete. Anfang 1806 begab er sich nach Königsberg, wo er Geschichtsstudien trieb, die er für das nur durch den Abdruck von Urkunden bemerkenswerte, sonst misslungene Werk »Ältere Geschichte Preußens« (Riga 1809, 4 Bde.) verwertete; zu Ende des Jahres kehrte er auf sein Gut nach Estland zurück und gab von hier aus die Zeitschriften: »Die Biene« (1808–1809) und »Die Grille« (1811–12) heraus, worin er gegen Napoleon und das Franzosentum in satirischer Weise, und zwar im Interesse Russlands, auftrat. Infolgedessen wurde er 1813 vom Kaiser Alexander I. zum Staatsrat ernannt, folgte als solcher 1814 dem russischen Hauptquartier und erhielt nach dem Sturz Napoleons I. die Stelle eines russischen Generalkonsuls in Königsberg. Hier beschäftigte er sich wieder vorzugsweise mit historischen Forschungen und schrieb in reaktionärem Sinn eine »Geschichte des Deutschen Reichs« (Bd. 1 u. 2, Leipz. 1814–15; fortgesetzt von Rüder, Bd. 3 u. 4, 1833), die 1817 beim Wartburgfest von den Burschenschaftern verbrannt wurde. 1816 nach Petersburg zurückberufen, wurde K. als Staatsrat im Departement des Auswärtigen angestellt, erhielt aber schon 1817 die Erlaubnis, in Deutschland zu wohnen. Er siedelte zunächst wieder nach Weimar, dann nach Mannheim über und gab ein »Literarisches Wochenblatt« heraus, das viel gelesen wurde, seinem Autor aber bald den Hass aller liberal Gesinnten, vor allem auch der burschenschaftlichen Kreise, zuzog. Aus deren Mitte erstand der Fanatiker Karl Ludw. Sand (s. d.), der K. 23. März 1819 in Mannheim erdolchte. K. zeichnet sich als Lustspieldichter durch Schlagkraft der Situationskomik, theatralische Behendigkeit des Dialogs und große Kenntnis der Bühnenwirkungen aus; in seinen ernsten Dramen versteht er mit großer Geschicklichkeit durch pathetische Effekte zu erschüttern und durch Sentimentalität zu rühren; hier wie dort entfernt er sich aber durchaus von innerer künstlerischer Wahrheit, er ist im Kern seines Wesens frivol und ohne alles Verständnis für die tieferen Probleme des Lebens. Im ganzen veröffentlichte K. 15 Trauerspiele, 60 Schauspiele, 73 Lustspiele, 30 Possen, 11 Parodien und Travestien, 13 Vor- und Nachspiele und 17 Opern und Singspiele. Zu seinen besten Schwänken und Lustspielen, die begabten Darstellern noch heute Gelegenheit zu seiner Charaktermalerei bieten, gehören: »Die Verwandten«, »Die beiden Klingsberge«, »Der Wildfang«, »Die deutschen Kleinstädter«, deren Fortsetzung »Carolus Magnus«, ferner »Pachter Feldkümmel«, »Der verbannte Amor«, »Der gerade Weg ist der beste«, »Das Intermezzo«, »Die Pagenstreiche« und »Die Zerstreuten«. Kotzebues »Sämtliche dramatischen Werke« erschienen zuerst in 28 Bänden (Leipz. 1797–1823), dann in 44 Bänden (das. 1827–29; neue Aufl. u. d. T.: »Theater von K.«, das. 1840–41), später eine »Auswahl dramatischer Werke« in 10 Bänden (das. 1868) und eine Sammlung »Ausgewählter Lustspiele« (2. Aufl., das. 1873). Seine Romane sind schwach, seine rhetorisch-pathetischen »Gedichte« (Wien 1818, 2 Bde.) bis auf einige (»Es kann ja nicht immer so bleiben« u. a.) ohne Wert. Vgl. »August v. Kotzebue. Urteile der Zeitgenossen und der Gegenwart«, zusammengestellt von W. v. Kotzebue (Dresd. 1881); Bahlsen, K. und Sheridan (Berl. 1889); Rabany, K., sa vie et son temps (Nancy 1893) sowie die Dissertationen von Jaeckh, Studien zu Kotzebues Lustspielen (Heidelb. 1900) und Sellier, K. in England (Leipz. 1902).
Wenn ich es der Mühe wert halte, dem Publikum meine Begebenheiten in dem letztverflossenen Jahre mitzuteilen, so nenne man das nicht Eitelkeit. Mein Schicksal war so sonderbar, daß es schon als Roman interessieren würde; wie weit mehr als wahre Geschichte – möge doch das Individuum, welches sie erlebte, heißen, wie es wolle.
Mich bestimmen noch andre und wichtigere Gründe. Deutschland – ja, ich darf sagen ein Teil von Europa – hat sich, teils neugierig, teils wohlwollend, für mein Schicksal interessiert; überall hat man nach der Veranlassung desselben geforscht. Die auffallende Wirkung erzeugte ein Grübeln nach der Ursache. Man erfand hundert und wieder hundert Geschichten: bald sollte ich ein Buch geschrieben haben, das der eine Der weiße Bär, der andre Der nordische Bär nannte und das manche sogar gelesen haben wollten. Bald hieß es wieder, der Verfasser sei ein andrer, dessen Name mit eben den Anfangsbuchstaben wie der meinige bezeichnet werde, und ich sei daher das Opfer einer bloßen Namensverwechselung geworden. Andre suchten meine Schuld in unbesonnenen Reden, noch andre in Stellen gewisser Schauspiele, die ich schon zehn Jahre vorher geschrieben hatte. Kurz, der eine glaubte dies, der andre jenes; keiner aber fiel auf den eigentlichen Grund, der doch einzig und allein in einer argwöhnischen Laune des Augenblicks zu suchen war. Mich dünkt daher, ich bin es meinem Rufe, meinen Kindern und meinen Freunden schuldig, was mir begegnet ist, mit einfacher Wahrheit zu erzählen und so auf einmal alle Urteile zu berichtigen.
Ich habe indes auch noch eine höhere Verpflichtung: dem Monarchen, dessen Verfahren gegen mich so allgemein und so bitter getadelt worden ist, bin ich es schuldig, dieses Verfahren zwar nicht zu rechtfertigen, aber den ausgezeichneten Edelmut öffentlich bekannt zu machen, mit welchem er sein Unrecht einsah, gestand und vergütete. Vergütung nenne ich hier nicht die reichen Geschenke, mit denen er mich überhäufte und welche die Zeitungen bereits in die Welt posaunt haben (denn Geschenke kosten einen Monarchen wenig und Titel nichts); Vergütung nenne ich die Art und Weise, wie er diese Geschenke gab, die Art und Weise, wie er mich behandelte, mit mir sprach, mit mir umging. Wahrlich, hier wäre er schon als Privatmann liebenswürdig gewesen; um wieviel mehr als Herr über einen halben Weltteil! Er besaß eine Tugend, die man im gemeinen Leben nicht oft und auf dem Throne noch viel seltener findet: er erkannte willig sein Unrecht und machte es wieder gut, nicht wie ein Kaiser gegen den Untertan, sondern wie ein Mensch gegen den Menschen.
Auch eine nicht minder heilige Pflicht als die, das Andenken jenes Monarchen zu ehren – Dankbarkeit gegen den jetzt regierenden milden jungen Kaiser gibt mir die Feder in die Hand. Er hat mich meiner alten kränklichen Mutter und den Musen wieder geschenkt; er hat die Wohltaten seines Vaters vermehrt und mich, wenngleich außer den Grenzen seines Reiches, auf immer zu seinem treuesten Untertan gemacht. Heil ihm! Jeder Tag seiner Regierung sei wie der erste, dessen Zeuge ich war: ein lauter, allgemeiner Jubel der Volksliebe!
Fast drei Jahre waren verflossen, seitdem ich Rußland und meine geliebte Frau ihr Vaterland verlassen hatte. Ich hatte meiner Frau versprochen, sie nach drei Jahren in die Arme unserer Kinder, Verwandten und Freunde zurückzuführen, und gern hielt ich mein Wort. Zwar mußte ich eine kindlich geliebte Mutter, biedere Freunde und ein kleines Eigentum in Weimar zurücklassen; aber es sollte ja auch nur eine Trennung von vier Monaten sein: nur ein Besuch, durch welchen meine gute Frau ihr Heimweh zu stillen hoffte.
Der erste Schritt zu Erreichung unsers Wunsches, den die Grenzsperre Rußlands notwendig machte, war ein Brief an den Russischen Minister in Berlin, den Herrn Geheimrat und Ritter Baron von Krüdener. Ich bat ihn, mir einen Paß zu verschaffen. Er versprach, sogleich deshalb bei dem Kaiser anzufragen, riet mir aber, auch selbst an den Monarchen zu schreiben. Ich befolgte diesen Rat schon am nächsten Posttage und bat um Erlaubnis, auf vier Monate nach Rußland kommen zu dürfen, teils um meine Kinder zu umarmen, teils um über mein dortiges Vermögen Dispositionen zu treffen, welche meine persönliche Gegenwart erforderten. Doch ehe noch dieser Brief Petersburg erreicht haben konnte, erhielt ich bereits einen zweiten von dem Herrn Baron von Krüdener, den ich, aus mehreren Ursachen, ganz hieher setze:
Es verursacht mir ein wahres Vergnügen, daß ich Ew. etc. eine günstige Antwort in Ansehung des gewünschten Passes mitzuteilen habe. Ich erhalte soeben den Befehl, Ihnen einen Paß zu geben, aber auch zugleich ungesäumt in Petersburg den Weg, den Sie nehmen werden, anzuzeigen, damit den Schwierigkeiten, die Sie ungeachtet eines Passes an der Grenze finden würden, von dort aus durch einen ausdrücklichen Befehl vorgebeugt werden könne. Sie werden daher die Güte haben, mir mit umgehender Post Ihren Weg zu melden und zu bestimmen, wohin ich den Paß zu senden habe, im Fall Sie nicht selbst über Berlin kommen. Die Personen, die Sie auf Ihrer Reise begleiten werden, bitte ich mir nochmals aufzugeben. – Mit aller Hochachtung habe ich die Ehre zu sein etc.
Berlin, am 15. Februar 1800
B.v. Krüdener
Dieser Brief erregte bei meiner Frau eine unbeschreibliche Freude, bei mir hingegen einige Bedenklichkeiten. Zwar hatte ich Rußland mit ausdrücklicher Bewilligung des Monarchen verlassen; auch existierte damals noch nicht der Befehl, kraft dessen jeder Abreisende sich schriftlich verbindlich machen mußte, das Reich nie wieder zu betreten: aber – ich wußte, daß Kaiser Paul den Schriftstellern überhaupt nicht hold war; unmöglich konnte ich also eine so schnelle und dem Anschein nach so überaus gnädige Bewilligung meiner Bitte erwarten. Ich sah nicht ein, welche Schwierigkeiten ich ungeachtet eines Passes noch an der Grenze finden könne und, wenn jeder Reisende dergleichen fand, warum man gerade bei mir eine Ausnahme machen und noch durch einen ausdrücklichen Befehl von Petersburg aus denselben vorbeugen wolle. Wodurch konnte ich auf eine solche Auszeichnung Anspruch machen und was konnte überhaupt dem Kaiser daran gelegen sein, gerade den Weg zu wissen, den ich nehmen würde?
Alle diese Bedenklichkeiten teilte ich meiner Frau mit, die aber nur darüber lächelte. Wir waren an demselben Abend, da ich den Brief erhielt, zu einer Dame eingeladen, die sowohl durch ihren Rang als durch ihre Tugenden sich auszeichnet, und fanden dort wie immer eine gewählte Gesellschaft beiderlei Geschlechts. Meine Frau teilte ihre Freude, ich meine Besorgnisse mit, aber auch nicht ein einziger in der Versammlung hielt die letzteren für gegründet, sondern alle waren der einstimmigen Meinung: es sei durchaus unmöglich, hier eine Gefahr im Hinterhalte zu vermuten, und jede Ahndung derselben sei eine Beleidigung des geheiligten Kaiserworts.
Ich beruhigte mich nun. Die einzige Sorge, die mir übrig blieb, war der Umstand, daß der von mir ausdrücklich bestimmten Zeit von vier Monaten in der Bewilligung des Passes nicht erwähnt worden war und daher meine Rückreise Schwierigkeiten finden konnte. Indessen suchte ich auch dieser Unannehmlichkeit vorzubeugen. Da ich die Ehre habe, als Hoftheaterdichter in Kaiserlich-Königlichen Diensten zu stehn, so bewirkte ich mir von Wien aus einen auf vier Monate beschränkten Urlaub. Diesen wollte ich im Notfall dem Österreichischen Minister in Petersburg vorzeigen, und ich zweifelte nicht, mit dessen Hülfe unaufgehalten den Rückweg antreten zu dürfen.
So vorbereitet verließ ich am 10ten April 1800 Weimar, begleitet von meiner Frau und drei kleinen Kindern. In Berlin fand ich mehrere Briefe von Freunden aus Livland und Petersburg, welche mich warnten, »wohl zu bedenken, ob auch das Klima meiner Gesundheit zuträglich sei«. (Deutlicher durften sie sich nicht ausdrücken.) Bei dem Bewußtsein der reinsten Unschuld hielt ich ihre Warnungen für übertriebene Ängstlichkeit und achtete nicht darauf.
Dem Russischen Minister machte ich sogleich meine Aufwartung. Er empfing mich mit gewohnter Güte. Ich wagte es, ihn beim Abschiede dringend zu bitten, mir, dem Vater einer zahlreichen Familie, aufrichtig zu sagen, ob er glaube, daß es mit Schwierigkeiten verknüpft sein werde, nach vier Monaten die Erlaubnis zur Rückreise zu erhalten. (Daß mir noch etwas weit Unangenehmeres begegnen könne, kam mir wahrlich nicht in den Sinn.) »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre«, sagte er, nachdem er einige Sekunden nachgedacht hatte, »so würde ich noch einmal nach Petersburg schreiben, um mich meines Wunsches vorher zu vergewissern Sie können ja indessen die Reise bis Königsberg fortsetzen und dort die Antwort abwarten.«
Der Rat war vortrefflich; er machte Eindruck auf mich. Ich teilte ihn meiner Frau mit; die Sehnsucht nach Vaterland und Kindern erlaubte ihr aber nicht, ihn gehörig zu würdigen. Wir beide nahmen die Sache auf die leichte Achsel und verließen Berlin, mit einem Passe versehen, der im Namen und auf Befehl des Kaisers aller Reußen ausgefertigt war.
Da die Preußische Extrapost sehr langsam fährt, ging ich oft zu Fuße, und mein gewöhnlicher Schritt trug mich nicht selten meiner Equipage meilenweit voraus. Eines Tages kam ich auf diese Weise nach einem kleinen pommerschen Städtchen, das, wenn ich nicht irre, Zanow hieß. Als ich hindurch war, sah ich vor dem jenseitigen Tore mehrere Wege, und ich fragte einen langen hagern Greis, vielleicht den Torschreiber, der gerade da stand: welchen Weg ich zu wählen hätte. Er ließ sich mit mir in ein trauliches Gespräch ein und erkundigte sich nach dem Ziel meiner Reise. Als er hörte, daß ich nach Rußland wollte, fing er an, mich herzlich und mit einer fast väterlichen Ängstlichkeit von dieser Reise abzumahnen. Als er endlich sah, daß nichts fruchtete und daß ich im Begriff stand, weiterzugehen, schloß er mit den Worten: »Nun, wer jetzt nach Rußland geht, dem gnade Gott!« Ich lachte und ging. Aber wie oft habe ich mich nachher seiner merkwürdigen Worte erinnert, wie oft bin ich in Versuchung geraten, ihn für ein höheres Wesen zu halten, das sich herabgelassen habe, mir mein bevorstehendes Schicksal zu verkünden!
Alle jene Warnungen, Ahndungen und Bedenklichkeiten hatten denn doch wider meinen Willen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, daß ich eine gewisse Beklommenheit empfand, die immer mehr zunahm, je mehr ich mich der russischen Grenze näherte. Es ging so weit, daß ich meiner Frau einige Male und zuletzt noch in Memel sehr ernstlich den Vorschlag tat: sie möchte die Reise ohne mich vollenden; ich wollte ihre Zurückkunft in Memel abwarten. Doch sie konnte sich nicht entschließen, darein zu willigen.
Als wir aus Memel fuhren, brauchte ich noch die Vorsicht, die wenigen Bücher, die ich bei mir hatte, zurückzulassen, um auf keinen Fall mit der unsinnigen Zensur des Herrn Tumanski in Riga Händel zu bekommen.
Was nun folgt, habe ich in Sibirien, gleich nach meiner Ankunft an dem Orte meiner Bestimmung, niedergeschrieben, als das Andenken an meine Leiden noch ganz neu war. Vieles muß berichtigt werden; denn über manche Dinge und manche Menschen bin ich bei meiner Zurückkunft eines andern und nicht immer eines Bessern belehrt worden. Indessen verspare ich diese Berichtigungen auf die Folge der Geschichte und ändere vorläufig an dem, was ich in Sibirien geschrieben habe, kein Wort. Der Leser erfährt nun unverfälscht, was ich damals empfand, dachte, glaubte und hoffte.
Jetzt nähern wir uns der russischen Grenze; wir passieren die Grenzpfähle; wir sind wirklich schon auf russischem Grund und Boden. Noch steht es in unserer Gewalt umzukehren; noch hat keine Wache uns angehalten, trennt uns kein Fluß, keine Brücke, kein Schlagbaum von den Preußischen Staaten. Schweigend und mit Beklommenheit sah ich links durch das Fenster: alle Warnungen gingen aufs neue vor meiner Seele vorüber; der Atem wurde mir schwer. Meine Frau beobachtete mich schweigend; auch ihr war nicht ganz wohl zu Mute, das hat sie mir nachher gestanden. Noch können wir umkehren. Ein Augenblick, und es ist zu spät. Der Augenblick schwand; das Los war geworfen.
»Halt!« rief ein Kosak, mit einer langen Pike bewaffnet. Wir standen vor der Brücke, die über einen schmalen Bach leitet. Links das Wachthaus. Der Offizier wird gerufen. »Ihren Paß, mein Herr!« – »Hier ist er.« Der Offizier entfaltet ihn, liest und studiert die Unterschrift. »Wie heißt dieser Name?« – »Krüdener.« – »Sie kommen von Berlin?« – »Ja.« – »Ganz recht, belieben Sie nur zuzufahren.« Ein Wink; der Schlagbaum hebt sich, der Wagen rollt mit dumpfem Gerassel über die Brücke; der Schlagbaum fällt hinter uns zu, mir entschlüpft ein Seufzer. »Herein sind wir!« sage ich mit erzwungenem Lächeln. Und doch weiß Gott, daß meine schlimmste Ahndung sich immer nur mit der mutmaßlichen Schwierigkeit beschäftigte, einen Paß zur Rückreise zu erhalten; daß meine persönliche Sicherheit im geringsten gefährdet sein könnte, schien mir durchaus unmöglich.
Nach einigen Minuten befanden wir uns mitten in dem Flecken Polangen, und der Wagen hielt vor dem Grenz-Zollhause. Der Chef des Zollamts daselbst ist ein gewisser Obristlieutenant Sellin, ein menschenfreundlicher Mann. Wir waren alte Bekannte und hatten uns vor drei Jahren auf eben dieser Grenze mit vieler Herzlichkeit getrennt. So freuten wir, meine Frau und ich, uns schon unterwegs, als wir erfuhren, daß er noch immer auf seinem Posten wäre.
Ich sprang zuerst aus dem Wagen. Sellin kam mir auf der Treppe entgegen. Ich umarmte ihn; er erwiderte meine Umarmung etwas feierlich. Ich fragte ihn, ob er mich nicht mehr kenne, und nannte meinen Namen. Er schwieg, machte eine Verbeugung und zwang sich, freundlich zu scheinen. Das entging mir nicht, und ich wurde bestürzt.
Jetzt ist auch meine Frau ausgestiegen. Er empfängt sie höflich, aber verlegen. Sie bemerkt es, und das Blut steigt ihr zum Herzen. Er führt uns in sein Zimmer. Der Schauspieler Weyhrauch, der von Memel aus neben unserm Wagen hergeritten war, folgt uns unaufgehalten. Meine Frau sucht vergebens den fröhlichen Ton anzustimmen, den man sich mit einem alten Bekannten zu erlauben pflegt. Er antwortet einsilbig, wendet sich dann zu mir und fragt nach meinem Passe. »Der ist noch in den Händen des Kosakenoffiziers.« Er schweigt; es ist sichtbar, daß den guten Mann etwas drückt.
Nach einigen Minuten wird der Paß gebracht. Sellin liest, und ich stehe in banger Erwartung. »Sie sind also der Herr Präsident von Kotzebue?« sagt er zu mir, nachdem er gelesen hat. Die Frage befremdet mich natürlich, da wir einander seit Jahren kannten. »Allerdings bin ich es,« antworte ich ihm.
»Nun denn!« fährt er fort, indem er sich zu meiner Frau wendet, und seine eignen Wangen erblassen, seine eignen Lippen zittern: »erschrecken Sie nicht, gnädige Frau; ich habe Order, Ihren Herrn Gemahl zu arretieren.« Meine arme Frau schreit laut auf, und ihre Knie wanken. Sie stürzt auf mich zu, klammert sich um meinen Hals, macht sich selbst die bittersten Vorwürfe; meine kleinen Kinder stehen da und wissen nicht, was das bedeutet. Ich selbst bin heftig erschrocken; aber der Anblick meiner fast ohnmächtigen Gattin gibt mir schnell die Fassung wieder. Ich nehme sie in meine Arme, trage sie auf einen Stuhl und bitte, beschwöre sie, ruhig zu sein, da es unmöglich Folgen haben könne. Kurz, ich sage alles, was ihr rührender Anblick mir eingibt. Sie kommt zu sich. Jetzt erst denke ich an mich selbst und wende mich hastig zu Sellin: »Wie lautet Ihre Order? Sagen Sie mir alles.«
»Ich soll mich Ihrer Papiere bemächtigen und diese sowohl als Sie selbst nach Mitau an den Herrn Gouverneur senden.«
»Was dort?«
»Dort werden Ihre Papiere untersucht werden, und der Herr Gouverneur wird nach seinen weitern Instruktionen verfahren.«
»Sonst nichts?«
»Sonst gar nichts.«
»Und meine Familie darf mich begleiten?«
»Allerdings.«
»Nun, liebe, beste Christel!« rief ich aus: »siehst du, daß wir ganz ruhig sein dürfen? Wir fahren nach Mitau; das wollten wir ja ohnehin. Dort werden wir vielleicht einen Tag aufgehalten, das ist alles. Meine Papiere enthalten nichts Verdächtiges, das weißt du. Es ist also eine bloße Vorsichtsmaßregel, die man in unsern Schwindelzeiten keinem Monarchen verdenken kann. Der Kaiser kennt mich nicht, er weiß bloß, daß ich Schriftsteller bin; er weiß, daß viele Schriftsteller sich von dem Freiheitsstrudel haben mit fortreißen lassen; er argwöhnt, daß auch ich zu dieser Zahl gehöre: und wahrhaftig, es ist mir lieber, daß er diesen Argwohn geradezu aufklären will, als wenn er denselben im stillen fortgenährt hätte. Aus meinen Papieren wird er mich ganz kennen lernen; das ist mein Vorteil: er wird in Zukunft Vertrauen zu mir fassen.«
So sprach ich, indem ich meine zitternde Frau mit frohem Mute an mein Herz drückte; und Gott weiß, daß ich in vollem Vertrauen so sprach. Bei der festesten Überzeugung von meiner Unschuld – was brauchte ich zu fürchten? Auch meine Frau erholte sich. Sie hatte geglaubt, man werde uns trennen, man werde mich übel behandeln, mich auf einen Karren werfen und Hals über Kopf fortschleppen. Als sie aber hörte, daß wir ungetrennt in unserm bequemen Wagen die Reise fortsetzen durften und daß man vorderhand nichts von mir begehrte als meine Papiere, so verschwanden zum Teil die Schreckbilder, die sie geängstigt hatten.
Jetzt kam es zu einer Szene, bei der das Handeln dem armen Sellin sichtbarlich ebenso schwer wurde als mir das Leiden. Man war nämlich mit dem Durchsuchen meiner Koffer fertig; man hatte die darin befindlichen Papiere herausgenommen; man hatte sich auch meines Portefeuille bemächtigt, und nun kam es an meine Person. Ich mußte meine Taschen umkehren, mußte jedes zerrissene Stück Papier, jede alte Wirtshausrechnung auf den Tisch legen. Das tat ich mit einiger Hastigkeit und hatte Mühe, mich zu fassen. »Ich tue nur meine Pflicht,« sagte Sellin mit gepreßter Stimme. Man sah wohl, wie sauer ihm seine Pflicht wurde.
Er ersuchte uns nunmehr sehr höflich, alles aus den Koffern zu nehmen, was wir etwa an Wäsche und Kleidungsstücken bis Mitau nötig haben möchten, weil er die Koffer versiegeln müsse. Wir taten es. Ich hatte einen kleinen Kasten, in welchem ich allerlei Kleinigkeiten führte, die mir täglich notwendig waren, wie Tabak, Rasierzeug, Arzenei. Diesen Kasten bat ich ihn, unversiegelt zu lassen. Er war auch gleich so gefällig es zuzugestehen, nachdem er ihn vorher selbst untersucht haben würde. Ich schloß ihn auf und zeigte alles. Der Kasten hatte einen ziemlich dicken Boden. »Ist hier vielleicht ein verborgenes Behältnis für Papiere?« fragte Sellin. »Nein,« antwortete ich unbefangen. Ich hatte den Kasten in Wien machen lassen und nie dergleichen darin bemerkt. Aber hier verstand man sich besser darauf, das Verborgene an den Tag zu bringen. Sellin versuchte hin und wieder, hob plötzlich den obern Einsatz in die Höhe und, siehe da, es fand sich wirklich ein solches Behältnis, aber – es war leer. »Sehen Sie,« sagte ich lächelnd, »das hab' ich selbst nicht gewußt: ein Beweis, wie wenig ich geheimer Schubfächer bedarf, um meine Papiere zu verstecken.« Er fühlte das wohl und sagte auf russisch zu einem neben ihm stehenden Offizier: »Er selbst hat das nicht einmal gewußt.«
Jetzt war die Untersuchung beendet. Noch mußten wir auf einen Rapport warten, der in der Kanzlei geschrieben wurde. Meine Kinder wurden unruhig; sie hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen: denn wir eilten unserm Unglück so rasch entgegen, daß wir auf der letzten Station sogar die fertige Mittagsmahlzeit verschmähten. Ich bat um ein wenig Butterbrot für meine Kinder; denn meine arme Frau und ich hatten natürlich keinen Hunger. Der menschenfreundliche Sellin ließ alles auftischen, was er im Hause hatte. Aber eine andere Bitte mußte er mir abschlagen. Ich erinnerte mich nämlich in diesem Tumult meiner Empfindungen meiner alten Mutter, die ich kränklich verlassen hatte. Es war leicht vorauszusehen, daß diese Begebenheit ihr schnell zu Ohren kommen und ihr vielleicht, wenn sie unvorbereitet wäre, einen Schlagfluß zuziehen würde. Daher bat ich dringend um die Erlaubnis, einige Zeilen an sie schreiben zu dürfen, die Sellin selbst lesen und versiegeln sollte; aber vergebens. Es tat mir sehr weh – gewiß auch ihm. Da er indes versicherte, daß ich von Mitau aus ungehindert würde schreiben dürfen, so beruhigte ich mich, wandte mich zu dem Schauspieler Weyhrauch, dem stummen und erstaunten Zeugen dieses ganzen Vorfalles, ergriff seine Hand und bat ihn flehentlich, bei seiner Zurückkunft nach Memel nichts von dem laut werden zu lassen, was hier vorgegangen sei, damit kein voreiliger Zeitungsschreiber es bekannt mache. Er versprach es mir heilig.
Der stärkste Beweis, wie wenig der gute Sellin selbst bei einem solchen Auftrage seiner mächtig blieb, war Weyhrauchs unbemerkte Gegenwart bei der ganzen Verhandlung. Ich war ein geheimer Staatsgefangener, (das erfuhr ich freilich erst nachher); die meinetwegen erhaltene Order war eine geheime Order. Eine solche pflegt in Rußland schon auf der Außenseite mit den Worten po secretu bezeichnet zu werden, und der Empfänger darf alsdann bei schwerer Verantwortung den Inhalt niemand offenbaren, noch weniger bei der Ausführung einen Zeugen zulassen. Aber ich will auch darauf schwören, daß Sellin diesen Zeugen nicht einmal gesehen hatte.
Nun war alles bereit, die Pferde vorgespannt, die Koffer versiegelt. Die Korbwiege meines jüngsten Kindes, welche wir hinter unserm Wagen mit uns führten, mußte sehr unsanft zusammengeschnürt werden, um einem von meinen Bedienten Platz zu machen, dessen bisherigen Platz auf dem Kutschbock nun ein Kosak einnehmen sollte. Mein plombiertes Portefeuille hatte man inwendig in die Wagentasche an seinen alten Platz gesteckt, mir selbst aber den Schlüssel dazu gelassen. Noch zu rechter Zeit fiel mir ein, daß durch irgendeinen Zufall das Blei beschädigt werden und mir alsdann Verdacht zuziehn könnte; ich selbst überlieferte daher meinen Schlüssel und bat, ihn zu versiegeln und mit dem Rapport abzuschicken. Es geschah.
Wir nahmen herzlichen Abschied von dem wackern Sellin. Er war in diesen letzten Augenblicken wieder ganz der Alte; er hatte seine saure Pflicht erfüllt, er hatte uns getröstet, so viel er vermochte, und ihm war ein Stein vom Herzen gefallen. Ich werde diesen Mann wahrscheinlich nie wiedersehn; wenn aber die Erzählung meines traurigen Schicksals je das Licht der Welt erblickt, so lese er hier den Dank eines gerührten Herzens, in welches er sein Bild und seinen Namen mit unauslöschlichen Zügen eingegraben hat!
Wir stiegen in den Wagen und hatten nun vor uns auf dem Kutschbocke den Anblick eines mit Säbel und Pistolen wohlbewaffneten Kosaken. Meine Kinder ergötzten sich daran; meine Frau weinte. Ich selbst hatte meine ganze Fassung wieder gefunden; ich versuchte sogar zu scherzen, und es gelang mir nach und nach, meine gute Frau fast gänzlich zu beruhigen. Auch hatte der Anblick des Kosaken, seine Waffen ausgenommen, eben nichts Fürchterliches. Er war ein schlanker, wohlgebildeter und gutgekleideter Mann, sehr dienstfertig und sehr höflich: so oft jemand von uns aus dem Wagen stieg, nahm er seine Mütze ehrerbietig in die Hand. Hinter uns her fuhr in einem Kibitken ein Hauptmann, von Geburt ein Pole, dessen Namen ich unglücklicherweise vergessen habe. Wir lebten während der Reise auf einem sehr höflichen, freundlichen Fuß miteinander: er fiel mir nicht im geringsten beschwerlich; nur meine Börse erinnerte mich in dem teuren Kurland an seine Gegenwart, denn ich war genötigt, sowohl die Postpferde als auch die Zehrungskosten für ihn zu bezahlen.
Von Polangen bis Mitau rechnet man noch 36 deutsche Meilen. Wir legten diesen Weg in drei Tagen zurück, und was mich betrifft, darf ich behaupten, bei völliger Gemütsruhe.
Auch meine Frau hatte sich, dem Anschein nach, gänzlich von ihrem Schrecken erholt. Wir befürchteten nichts als einen etwas längeren Aufenthalt in Mitau, der uns teils wegen der dortigen Teuerung, teils deshalb unangenehm war, weil wir unsern Freunden in Livland von Danzig aus den Tag unserer Ankunft bestimmt hatten. Was hätten wir auch sonst fürchten sollen? Ich hatte fünfzehn Jahre in Rußland redlich gedient; ich konnte die besten Zeugnisse darüber aufweisen; ich war vor drei Jahren mit Bewilligung des Kaisers in österreichische Dienste getreten; ich war noch in diesem Augenblicke besoldeter Hoftheaterdichter in Wien; ich hatte mich dort jederzeit als ein guter Staatsbürger betragen und alle meine Pflichten treu erfüllt; worüber ich gleichfalls vollgültige Atteste besaß; nach meiner Entfernung von Wien hatte ich im Fürstentum Weimar gelebt und nie ein Land, das mit Rußland oder Östreich Krieg führte, betreten: was also hatte ich zu fürchten? Es schien ja bloß ein Verdacht gegen meine Papiere zu bestehen. Und was enthielten die?
Man erlaube mir hier eine notwendige Abschweifung. Ich muß den Leser durch ein Verzeichnis dieser Papiere in Stand setzen, meinen damaligen Gemütszustand zu beurteilen und meine Ruhe begreiflich zu finden.
In meinem Portefeuille waren:
Erstens: Ein Attest der Regierung zu Reval, daß ich während meiner fünfzehn Dienstjahre mich untadelhaft betragen habe.
Zweitens: Die Kopie eines Senats-Ukas, durch welche mir mein Abschied, mit Erhöhung des Ranges, zugesichert wurde.
Drittens: Das Wiener Hofdekret wegen meiner dortigen Anstellung.
Viertens: Das Wiener Hofdekret, meine Entlassung als Regisseur und meine Beibehaltung als Hoftheaterdichter mit einem Gehalt von tausend Gulden betreffend, von dem Herrn Grafen von Colloredo unterzeichnet.
Fünftens: Ein sehr schmeichelhaftes Zeugnis der dortigen Oberhof-Theatral-Direktion.
Sechstens: Ein eigenhändiger Brief des Römisch-Kaiserlichen Ministers, Grafen Colloredo. Da man nämlich in dem Dekret Nr. 4 unterlassen hatte anzumerken, daß mir das Gehalt auf Lebenszeit zugesichert sei, so fragte ich deshalb schriftlich bei dem Minister an, ob ich auch einst im Alter, wenn ich unfähig wäre, für die Bühne zu arbeiten, jenes Gehalt als Pension bekommen würde, und erhielt darauf die hier erwähnte, sehr befriedigende Antwort.
Siebentens: Ein eigenhändiges Billett des Römisch-Kaiserlichen Ministers, Grafen Saurau, als Chef der Geheimen Polizei, und ein Brief des Herrn Hofrats von Schilling in Wien, als eines Mitglieds dieses Kollegiums. Als ich nämlich den Entschluß faßte, Wien zu verlassen, war ich nicht bloß mit den meine Verwaltung betreffenden ehrenvollen Zeugnissen zufrieden, sondern ich glaubte den Zeitumständen die Vorsicht schuldig zu sein, auch noch überdies ein Zeugnis zu verlangen, daß ich während meines Aufenthalts als Mensch und Staatsbürger mich untadelhaft betragen und nie Veranlassung zu irgendeinem Verdacht im Punkte meiner politischen Gesinnungen gegeben hätte. Ich wandte mich deshalb an den Herrn Grafen von Saurau, mit der Bemerkung, daß ein solches Zeugnis vielleicht ungewöhnlich sei, daß wir aber, leider, auch in ungewöhnlichen Zeiten lebten. Er hatte hierauf die Güte, mich durch jenes Billett und durch jenen Brief gänzlich zu beruhigen. Es hieß darin am Schlusse: »daß, wenn je über mein in politischer Hinsicht unverdächtiges Betragen ein Zweifel entstehen sollte, man mir gewiß Gerechtigkeit leisten werde«.
Achtens: Ein auf vier Monate beschränkter Urlaub der Oberhof-Theatral-Direktion in Wien, um nach Rußland zu reisen, mit dem Beifügen, daß ich spätestens im Oktober dieses Jahres wieder in Deutschland sein müsse, weil die Geschäfte, welche man mir aufzutragen gedenke, eine so weite Entfernung nicht länger gestatteten.
Neuntens: Der oben mitgeteilte Brief des Herrn Barons von Krüdener.
Zehntens: Ein versiegelter Brief der regierenden Frau Herzogin von Weimar Durchlaucht an die Frau Großfürstin Elisabeth Kaiserliche Hoheit.
Elftens: Ein Brief nebst einem Buche von dem Herrn Legationsrat Bertuch in Weimar an den Herrn Hofrat Storch in Petersburg.
Zwölftens: Ein Brief und ein Buch von dem Herrn Oberkonsistorialrat Böttiger in Weimar an den Herrn Hofrat Köhler in Petersburg.
Dreizehntens: Ein versiegelter Brief von Herrn Merkel in Berlin an seinen Bruder in Riga.
Vierzehntens: Noch ein paar andre völlig unbedeutende Briefe.
Fünfzehntens: Zwei Obligationen von zehntausend Rubel.
Sechzehntens: Eine Assignation von dreißig Dukaten für einige Manuskripte, im Monat August zu Danzig zahlbar.
Siebzehntens: Vier kleine Gedichte zum Geburtstage meiner Frau, welcher den Tag nach meiner Verhaftung einfiel. Als wir nämlich einige Tage vorher die preußischen Sandwüsten am Kurischen Haff durchzogen und in Nidden einen ganzen Tag auf Pferde warten mußten, nützte ich diese sonst langweiligen Stunden, mich von meiner Familie weg auf einen Sandhügel unter die Tannen zu stehlen und dort für mich und für jedes meiner drei Kinder einige Reime auf diesen frohen Tag zu machen, den wir leider nachher so wenig froh zubringen mußten. Daß schon damals eine düstre Ahndung von dem, was geschehen könnte, in meiner Seele war, beweisen die vier Zeilen, die ich in meinem eigenen Namen entwarf. Sie lauteten so:
Erhält mir Gott an Deiner Hand
Die frohe Häuslichkeit, das höchste Glück auf Erden,
So möge immerhin Dein Vaterland
Mein Kerker werden.
Man sieht auch hieraus, daß meine höchste Furcht sich nur dahin erstreckte, Livland nicht wieder verlassen zu dürfen, welches mir bei der jetzt so sehr erschwerten literarischen Kommunikation großen Nachteil zugefügt haben würde.
Achtzehntens: Eine in Wien von meiner eigenen Hand mit Bleistift geschriebene Kopie eines Rundgesanges der Schweizer beim Fällen des Freiheitsbaumes. Um zu zeigen, in welchem Geiste dieser Rundgesang gedichtet ist, teile ich hier den ganzen Gesang mit, der mir mit meinen übrigen Papieren wieder ausgeliefert worden ist.
Falle immer, arme Tanne, falle!
Ach! gefallen sind auch wir wie du!
Nur gleich Tauben in des Habichts Kralle
Finden wir im Arm der Franken Ruh.
Abgeschunden werden deine Rinden,
Äst' und Zweige rüstig ausgerauft;
Uns auch wird man gleichermaßen schinden,
Ist ja längst schon unsre Haut verkauft!
Zwar man kann dich fein mit Bändern zieren,
Wie man uns mit bunten Schärpen ziert;
Aber gleichen wir nicht Opfertieren,
Die man schmückt und dann zur Schlachtbank führt?
Du verdorrst trotz diesem Flitterstaate,
Weil man dich entwurzelt und entlaubt;
Wir verlumpen, weil man ohne Gnade
Uns Verfassung, Ruh und Glauben raubt.
Spatzen werden dort sich Nester bauen,
Wo jetzt Freiheitshut und Fahne wehn;
Ach! mit unsern Müttern, Töchtern, Frauen
Werden Franken auch zu Neste gehn.
Ochsen ziehen dich bis an die Stelle,
Wo du stehn sollst nackt und glatt;
Ha! ein Ochs wars auch, der uns zur Schwelle
Dieses Elends hingezogen hat!
Beugt, o Baum, der Zeitsturm dich zur Erden
Oder stürzt der Schweizer Mut dich um:
Dann – dann müssest du zum Galgen werden
Für das hohe Direktorium!
Wenngleich manche Härten dieses Gedicht verunzieren, so ist doch wenigstens darin unverkennbar, daß kein Freund der damaligen Franzosen und überhaupt kein Freund von Revolutionen es geschrieben hat.
Neunzehntens: Bemerkungen über die preußische Extrapost.
Zwanzigstens: Verzeichnis mehrerer Arzneimittel von einem Chemiker in Königsberg.
Einundzwanzigstens: Mehrere einzelne beschriebene Bogen mit Plänen zu Schauspielen, Entwürfen von Gedichten und dergleichen; durchaus nichts, was auch nur im mindesten eine politische Tendenz hätte.
Zweiundzwanzigstens: Ein paar gedruckte Bogen aus einem Almanach, die Herr Rhode in Berlin mir für den Sekretär Gerber in Reval mitgegeben hatte; gleichfalls gänzlich ohne Bedeutung.
Dreiundzwanzigstens: Eine angefangene Oper.
Vierundzwanzigstens: Tagebuch über meinen Gesundheitszustand seit einigen Jahren.
Fünfundzwanzigstens: Der Gothaische Kalender für alle Stände, in den ich kleine Reisebemerkungen geschrieben hatte.
Sechsundzwanzigstens: Ein Petschaft in Stein gestochen und in den Brief eines Freundes gewickelt, der mich gebeten hatte, es für ihn verfertigen zu lassen. Dieses Petschaft war bloß ein adliges Wappen, welches die Heroldie in Petersburg vor kurzem erteilt hatte, also auch ganz unverdächtig.
Siebenundzwanzigstens: Ein Weimarscher Kalender, mit weißem Papier durchschossen. Ich hatte darin eine Idee Franklins nachgeahmt, die mir, wenn ich nicht irre, durch die Berlinische Monatsschrift bekannt geworden war. Dieser große und gute Mann hatte nämlich alle seine kleinen Fehler scharf beobachtet und sie gleichsam tabellarisch aufgezeichnet, mit dem festen Vorsatz, sie nach und nach abzulegen. Jeden Abend gab er sich selbst strenge Rechenschaft, wie weit er damit gekommen sei; und so gelang es ihm in der Tat, immer vollkommener, immer freier von Leidenschaften zu werden. So weit ich nun auch in letzterer Rücksicht hinter meinem Vorbilde bleiben mochte, so hatte ich doch wenigstens versucht, seinen guten und weisen Willen zu erreichen; und ich darf behaupten, daß mir dies gelungen war. Auch kann ich jedem Menschen, dem es um seine moralische Besserung zu tun ist, diese Methode aus Überzeugung empfehlen. Man bekommt nach und nach gewissermaßen eine Furcht vor seinem Kalender; man erschrickt, wenn man beim Aufschlagen die weißen Blätter zu voll geschrieben findet, und oft, sehr oft zügelt man die Leidenschaft im Augenblick des Ausbruchs, weil man sich erinnert, daß man abends die ganze Begebenheit schriftlich und treu wiedererzählen muß.
Achtundzwanzigstens: Alle meine neuern, noch in Manuskript vorhandenen Schauspiele: Octavia, Bayard, Johanna von Montfaucon, Gustav Wasa, Die kluge Frau im Walde, Die Sucht zu glänzen, Die Hofmeister (von meiner Frau übersetzt), Der Abbé de l'Epée, Das Schreibpult, Lohn der Wahrheit, Das Epigramm, Die beiden Klingsberg, Der Gefangene, Das neue Jahrhundert, Des Teufels Lustschloß. Es ist meines Wissens keins darunter, für welches ich in politischer oder moralischer Hinsicht zittern müßte. Ich hatte sie mitgenommen, um sie, wie ich es schon sonst getan, an die Schaubühne in Riga zu verkaufen. Auch waren einige durch den Herrn Chevalier du Vau in Weimar verfertigte französische Übersetzungen derselben dabei, die ich dem Französischen Theater in Petersburg anbieten wollte.
Endlich Neunundzwanzigstens: Ein großes dickes gebundenes Buch in Folio, seit fünf Jahren der Bewahrer aller meiner Geschäfte, Briefe und kleinen Geheimnisse. Ich muß von diesem Buche etwas weitläufiger reden, da es allein hinlänglich ist, meine Unschuld in jeder Rücksicht zu beweisen. Wer dieses Buch einmal durchblättert hat, der kennt mich ebenso gut und vielleicht besser, als ich mich selbst kenne. Alle meine bürgerlichen Verhältnisse, alles was ich schreibe, tue, denke, projektiere, ist jenen Blättern anvertraut. Sie enthalten:
1. Ein Verzeichnis meiner Ausgaben und Einnahmen (die letztern jederzeit mit der Bemerkung: wofür, warum, von wem, nebst beigesetztem Datum).
2. Ein in Wien geführtes Tagebuch, meistens die Schaubühne betreffend, einige unbedeutende Nebendinge ausgenommen.
3. Ein jährliches Verzeichnis aller Briefe, die ich geschrieben oder bekommen habe, an wen und von wem, nebst beigefügtem Datum.
4. Die Brouillons aller der Briefe, welche für mich von einiger Wichtigkeit waren. Aus den letzten beiden Nummern kann man also im Augenblick sehen, mit welchen Personen und worüber ich seit fünf Jahren Briefe gewechselt habe. Ich bin sicher, daß man keinen verdächtigen Namen und keine zweideutige Zeile darin finden wird.
5. Ein Tagebuch kleiner merkwürdiger Begebenheiten, die sämtlich bloß auf mein häusliches Leben Bezug haben. Die Geburt oder der erste Zahn eines Kindes, die Pflanzung einer Linde am Geburtstage meiner Frau, eine Krankheit in meiner Familie, ein froher Tag unter freiem Himmel in einer schönen Gegend zugebracht, ein freundschaftlicher Besuch; dergleichen ganz allein macht den Inhalt dieses Tagebuches aus, welches, wenn es auch kein andres Verdienst hat, wenigstens unwidersprechlich beweist, daß ich meine süßesten Freuden immer in der Häuslichkeit und im Schoße meiner Familie gefunden habe.
6. Bemerkungen über meinen Garten zu Friedenthal und das, was ich selbst darin gesät, gepflanzt, geerntet.
7. Verzeichnis meiner jährlichen literarischen Arbeiten.
8. Projekte zu literarischen Arbeiten für die Zukunft. Beide Nummern sind der redendste Beweis, daß ich mich weder bisher in Politik gemischt hatte, noch auch künftig mich hineinzumischen willens war.
9. Ein Verzeichnis der Bücher, die ich meiner Frau vorgelesen habe, und noch einige andre dergleichen unbedeutende Dinge.
Ich frage den Leser: wenn ihm ein solches Buch von einem völlig unbekannten Manne in die Hände fiele, wenn er es durchblättert, gelesen, geprüft und verglichen hätte: welches Urteil würde er von dem Manne fällen?
Ob es mir gleich nie in den Sinn gekommen war, daß jenes Buch vor meinem Tode jemals in fremde Hände fallen würde, so glaube ich doch jetzt, da es nun einmal in fremden Händen befindlich ist, mich voll Vertrauen darauf berufen zu dürfen. Jeder Menschenkenner wird mir zugestehen, daß der Mann, der ein solches Buch hielt, unmöglich ein schlechter oder gefährlicher Mensch sein könne.
Und das waren nun meine Papiere alle, so gut ich sie aus meinem ziemlich schwachen Gedächtnis aufzeichnen kann. Hab' ich etwas vergessen, so ist es gewiß etwas Unbedeutendes, das weder auf mein Schicksal, noch auf die Beurteilung meiner Denkungsart Einfluß haben kann. Es ist folglich dem Leser nunmehr klar, worauf meine Gemütsruhe sich gründete: nicht bloß auf meine Unschuld, sondern auf die Beweise meiner Unschuld, die, ohne mein weiteres Zutun, auch bei der oberflächlichsten Untersuchung in die Augen fallen mußten.
Es wäre mir auf der Reise nach Mitau mehr als einmal sehr leicht gewesen, mich durch die Flucht zu retten. Wir brachten die zweite Nacht in einem Posthause zu; der Hauptmann schlief in einem entfernten Zimmer; ich stand sehr früh auf und ging hinaus auf den Hof. Im Vorsaale lag der Kosak auf einer Streu zwischen meinen beiden Bedienten in tiefem Schlafe. Die Grenze war noch nicht weit, und mit Hilfe eines Bauernpferdes konnte ich nach wenigen Stunden in Sicherheit sein: aber der Gedanke an Flucht blieb fern von mir.
Am 26sten April (alten Stils) früh um zwei Uhr kamen wir in Mitau an und traten in eben dem Wirtshause, in eben den Zimmern ab, die wir vor drei Jahren bei unserer Ausreise, freilich mit ganz andern Empfindungen, betreten hatten. Wir begaben uns auf einige Stunden zur Ruhe. Der Hauptmann schlief abermals in einem von dem unsrigen völlig abgesonderten Zimmer, und ich hatte keine Wache.
Nach einigen Stunden eines ziemlich unruhigen Schlafs kleidete ich mich an, um in Gesellschaft meines Begleiters dem Herrn Gouverneur von Driesen meine Aufwartung zu machen. Ich hatte diesen wackern Mann vormals in Petersburg kennengelernt und liebgewonnen; ich freute mich, daß gerade er es war, vor dessen Augen mein Charakter und Lebenswandel jetzt geprüft werden sollte; ich war insgeheim sogar ein wenig stolz auf den Ausgang, den, nach meinem Bedünken, die Sache nehmen mußte, und betrat sein Haus mit frohem Mute. Meiner guten, ängstlichen Frau hatte ich versprochen, ihr sogleich einen Boten zu schicken, wenn die Sache entschieden sei. Wir hielten das alles für so leicht, so kurz, so unbedenklich. Zu welchen Selbsttäuschungen verleitet nicht das Bewußtsein der Unschuld!
Im ersten Vorzimmer des Gouverneurs erinnerten mich die Bedienten, daß ich in meinem Frack mit einem liegenden Kragen nicht vor ihrem Herrn erscheinen könne. Als sie indes hörten, daß ich ein Fremder sei und daß alle meine Kleider in versiegelten Koffern lägen, machten sie weiter keine Einwendung.