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Wladimir Putin führt Krieg gegen die Ukraine - und bedroht alle westlichen Demokratien, vor allem in Europa. Wie konnte es dazu kommen, dass die Freiheit und Offenheit, die einst durch Glasnost und Perestroika in Russland Einzug hielten, heute wieder in Gefahr sind? Wer verstehen will, was Putin antreibt, warum er die Konfrontation mit dem Westen sucht und den Krieg in Kauf nimmt, sollte das politische Vermächtnis von Michail Gorbatschow lesen. Wie kein zweiter Politiker hat er auf Annäherung und Gewaltfreiheit gesetzt. Er ist ein Politiker von gestern mit einem wachen Blick für das Morgen. Mit einzigartiger Kennerschaft beschreibt er die Entstehung des "Systems Putin" und die Absichten dieses Mannes. Unverblümt rechnet er mit Putin ab. Dieser zerstöre um seiner eigenen Macht willen die Errungenschaften der Perestroika in Russland und errichte ein System ohne Zukunft.
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Seitenzahl: 782
Veröffentlichungsjahr: 2015
Gorbatschow erklärt Putin
Nach Jahren der Annäherung ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland so angespannt wie seit mehr als 25 Jahren nicht mehr. Was Putin antreibt, warum er die Konfrontation mit dem Westen sucht und den Rückfall in den Kalten Krieg in Kauf nimmt, ist vielen ein Rätsel. Nicht Michail Gorbatschow. Mit einzigartiger Kennerschaft beschreibt er die Entstehung des »Systems Putin« und rechnet kritisch mit ihm ab. Putin zerstöre um seiner eigenen Macht willen die Errungenschaften der Perestroika in Russland und errichte ein System ohne Zukunft. Deshalb fordert Gorbatschow ein neues politisches System für Russland, und er mahnt den Westen, nicht mit dem Feuer zu spielen.
Ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das neue Blickwinkel eröffnet – und das politische Vermächtnis des großen Mannes, der den Kalten Krieg beendete und die deutsche Einheit mitermöglichte.
Michail Gorbatschow ist einer der bedeutendsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Sein Wirken beendete den Kalten Krieg und das Sowjetsystem und führte die Ostblockstaaten in die Freiheit. Deutschland verdankt ihm die Wiedervereinigung. Gorbatschow wurde am 2. März 1931 im russischen Priwolnoje geboren und war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Für sein politisches Wirken erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis. Zahlreiche weitere Auszeichnungen folgten, unter anderem das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Michail Gorbatschow
Das neue Russland
Der Umbruch und das System Putin
Übersetzung aus dem Russischenvon Boris Reitschuster
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der russischen Originalausgabe:
»Posle Kremlja«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Mikhail Sergeevich Gorbachev
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Quadriga Verlag, Berlin in der Bastei Lübbe AG, Köln
Der Abdruck des Auszugs aus Wolf Biermanns Lied »Michail Gorbatschow« erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hoffmann und Campe Verlags. Copyright © 1988 by Wolf Biermann.
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlagmotiv: © Andrey Trukhachev, Moskau
Gesamtgestaltung: fuxbux, Berlin
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-1377-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
An meine Leser
Lange Schatten – die Rache für Glasnost
TEIL I – POST-PERESTROIKA
Das Schicksalsjahr 1991
Der Augustputsch in Moskau und die Folgen
Mein Rücktritt als Präsident der Sowjetunion – die Rede
»Sie haben sehr viele Unterstützer« – Reaktionen aus der Bevölkerung
Mein letzter Tag im Kreml
Nachfragen aus dem In- und Ausland – die Journalisten
Die Verteidigung der Perestroika beginnt
Die »Schocktherapie« – Russland im Jahr 1992
Über Politik und Moral
Die Gorbatschow-Stiftung – mein neuer Lebensmittelpunkt
Sperrfeuer von allen Seiten
Der KPdSU-Prozess – so sinnlos wie schädlich
Die wirtschaftliche Lage spitzt sich zu
»Störfaktor Gorbatschow«
Das Land gleitet in die soziale Katastrophe
Verhängnisvolle Entscheidungen, verhängnisvolle Tage – das Jahr 1993
Der blutige Kampf um das Parlament
Der Ausnahmezustand – kein Weg zur Stabilität
Die neue Verfassung – ein Mängelexemplar
Von Beginn an alarmierend – das Jahr 1994
Die tauben Ohren der Regierung
Eine Lektion in Sachen Mut und Fehler – Nikita Chruschtschow
Man hätte die Sowjetunion erhalten können ….
Was tun mit der Wirtschaft?
Begegnungen in den Regionen
Vermeidbar: der erste Tschetschenien-Krieg
Zehn Jahre Perestroika – das Jahr 1995
Menschen und Meinungen – die Intelligenzia
Das Ohr am Volk – Reisen durch die Regionen
Konzerne zum Spottpreis – Jelzin und die Oligarchen
Beklemmend alternativlos – die Präsidentschaftswahlen 1996
»Ich kandidiere!«
Ein steiniger Weg – der Wahlkampf
Wahlen ohne Wahl
Am Ende des Jahrtausends – die Jahre 1997 bis 1999
Fünf Jahre Gorbatschow-Stiftung
Keine Stabilität in Sicht
Donnergrollen in Russland – das Jahr 1998
Die Regierung Primakow
Raissa Gorbatschowa
TEIL II – QUO VADIS, RUSSLAND?
Die Ära Putin beginnt
Ein neues Jahrtausend – ein neuer Präsident
Das Erbe der Perestroika: Glasnost und Meinungsfreiheit
Die schwere Last des Präsidentenamtes
Putin und die Demokratie
Sozialdemokraten in Russland
Die Alarmsignale häufen sich
Die »Nuller-Jahre«
Der Fall Yukos – eine unendliche Geschichte
Die Partei der neuen Bürokraten – Einiges Russland
Putins zweite Amtszeit
Auf neuem Kurs oder alten Gleisen?
Voller Widersprüche – das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends
Der steinige Weg zur Demokratie
Putin und die »Operation Nachfolger«
Saakaschwilis Abenteuer und der Westen
Russland während der Finanz- und Wirtschaftskrise
Unvergänglich – das Credo der Perestroika
Alarmierende Tendenzen – das Jahr 2010
Wertschätzung und Anerkennung – mein 80. Geburtstag
Das Dilemma der russischen Politik
Droht eine neue Stagnation?
Dmitri Medwedew – die Rochade und die Duma-Wahlen
Für ehrliche Wahlen!
Die Gesellschaft wacht auf
Die Wiedergeburt der Daumenschrauben
Sendepause zwischen Politik und Gesellschaft
TEIL III – DIE BEUNRUHIGENDE NEUE WELT
Die Aktualität des Neuen Denkens
Ein Phänomen mit Schattenseiten – die Globalisierung
Sicherheit als Herausforderung
Meine Vision: eine atomwaffenfreie Welt
Die Folgen der NATO-Erweiterung
Die Welt nach dem 11. September 2001
Armut – ein politisches Problem
Die ökologische Herausforderung
Die Wasserkrise
Die Bedrohung durch den Klimawandel
Die Welt braucht ein neues Lebensmodell
Amerikanische Reisen und Gespräche
Im Herzen der amerikanischen Politik
Nur eine gleichberechtigte Partnerschaft ist eine gute Partnerschaft
Über die Rolle der USA in der Welt
Eine amerikanische Perestroika
Barack Obama wird US-Präsident
Das Schicksal Europas
Deutschland
Auf einem soliden Fundament – die deutsch-russischen Beziehungen
Meine wichtigsten europäischen Partner
Der Blick nach Osten: China
Japan und wir
Der Nahe Osten
Ägypten
Syrien
Die Appelle der Friedensnobelpreisträger
Brandaktuell – der Konflikt mit der Ukraine
Russland gestern und heute
Die unvergänglichen Maximen der Perestroika
Die Welt im 21. Jahrhundert
Russland und die Demokratie
Gedanken über mich
ANHANG
Epochen und Regierungen in Russland von 1924 bis heute
Michail Gorbatschow
Personenverzeichnis
Anmerkungen
Seit dem Erscheinen meines Buches Alles zu seiner Zeit im Herbst 2012 sind nun schon einige Jahre vergangen. Dieses Buch war keine leichte Geburt gewesen, viele Male habe ich die Seiten umgeschrieben. Ich wollte, dass nicht nur die politischen Ereignisse vor den Augen der Leser Konturen gewinnen, sondern auch die Menschen dahinter. Ich wollte, dass die Leser auch mich sehen, meine Angehörigen, dass sie die Atmosphäre spüren, in der wir in diesen Jahren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt haben, und dass unsere menschlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen sie berühren.
Damals ging ich davon aus, dass Alles zu seiner Zeit mein letztes Buch wäre. In diesem Sinne habe ich mich sowohl gegenüber Kollegen in meiner Stiftung als auch in Interviews vor Journalisten geäußert.
Dann fand im Spätherbst 2012 die Präsentation des Buches in der Buchhandlung »Moskwa« (Moskau) statt. Es kamen so viele Menschen, dass man sich in dem geräumigen Saal in der ersten Etage kaum noch umdrehen konnte. Innerhalb eines einzigen Tages wurden mehrere hundert Exemplare verkauft. Bis Mitternacht habe ich Buch um Buch signiert – ich wollte niemanden enttäuschen.
Das Interesse an meinem Buch hat mich tief berührt. Deshalb habe ich beschlossen, das Zwiegespräch mit den Menschen fortzusetzen und zu erzählen, was ich in den Jahren nach meinem Rücktritt vom Amt des Präsidenten erlebt habe.
Am 8. August 2013 lief über die Nachrichtenticker vieler Agenturen und Medien folgende Mitteilung:
Der erste und letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, ist verstorben. Dies geht aus einer entsprechenden Meldung im Twitter-Account von RIA Nowosti hervor. Gorbatschow wurde 82 Jahre alt. Eine offizielle Bestätigung für die Nachricht gibt es bisher nicht.
Daraufhin rief mich der Korrespondent der Nachrichtenagentur ITAR-TASS, Andrei Karpljuk, an, der früher bei Interfax gearbeitet hatte. Wir standen schon seit einigen Jahren in engem Kontakt.
»Michail Sergejewitsch, ich rufe Sie ja oft an, aber dieser Anruf ist ein besonderer, das können Sie mir glauben!«
Ich hörte ein Lachen in seiner Stimme.
»Was meinst du2?«, fragte ich.
»Na, also, RIA Nowosti hat mitgeteilt, Gorbatschow sei gestorben, und zwar in Sankt Petersburg. Ich wollte das nicht glauben«, sagte er.
»Ich glaube es auch nicht«, antwortete ich, und wir brachen beide in Gelächter aus.
Innerhalb von neun Minuten war die »Neuigkeit« wieder von den Nachrichtentickern verschwunden. Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief von der Agentur:
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Wir bereuen es unendlich, dass Hacker Ihren Namen für eine neue, lautstarke Kampagne zur Diskreditierung der Medien missbraucht haben. Wir bitten Sie, unsere aufrichtigste Entschuldigung anzunehmen für dieses unwürdige Rauschen im Informationswald, das Unbekannte ausgelöst haben, die sich illegal Zugang zu den Seiten unserer Agentur in den sozialen Netzwerken verschafft und dort die falschen Informationen über Sie verbreitet haben.
Das, was geschehen ist, halten wir nicht einfach nur für einen bösen Scherz oder Rowdytum, sondern für ein Verbrechen, das aufgeklärt werden muss. RIA Nowosti erstattet Anzeige bei den Rechtsschutzorganen, dass die Twitter-Kanäle der Agentur gehackt wurden. Wir werden alles tun, was wir können, damit eine sorgfältige Aufklärung dieses Vorfalls stattfindet und auch alle früheren Fälle solcher Falschmeldungen aufgeklärt werden.
Das Hacken der Accounts von RIA Nowosti ist nicht der erste Fall, bei dem große Medien für die Verbreitung von gefälschten Informationen missbraucht wurden. Aber dieser Fall ist außerordentlich ernst, außerordentlich unmoralisch und zynisch.
Michail Sergejewitsch, Sie wissen, welche Hochachtung wir Ihnen entgegenbringen; umso mehr erschüttert es uns, dass die gegen RIA gerichtete Attacke Sie getroffen hat. Wir sind darauf vorbereitet, dass es weitere Versuche geben wird, Provokationen und Falschinformationen zu verbreiten, und wir versichern Ihnen und allen unseren Lesern, dass wir alles tun werden, was in unserer Macht steht, um dies rechtzeitig zu verhindern.
RIA Nowosti und mich verbindet eine lange Beziehung. Im Frühjahr 2013 hielt ich im Haus der Agentur vor einer großen Gruppe von jungen Menschen einen Vortrag zum Thema »Ändert der Mensch die Politik oder die Politik den Menschen?«. Ich erzählte von meinem Leben, von dem, was mich bewegt, vom schwierigen Weg Russlands zur Demokratie – einem Weg, den wir erst noch zurücklegen müssen. Die jungen Leute hörten aufmerksam zu und stellten viele Fragen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, denn der Dialog mit der Jugend hat bei mir, wie immer, positive Gefühle hinterlassen.
Und dann kam plötzlich dieser Zwischenfall mit der Falschmeldung bei RIA.
Was steckte hinter dieser Provokation? Es war ja nicht die erste – wie oft war Gorbatschow nun schon »beerdigt« worden? Ich habe eine Antwort auf diese Frage: Es geht um Rache für die Perestroika3. Und das wichtigste Instrument dabei ist die Lüge, die sich aus unverschämten Erfindungen und entstellten Fakten speist. So war es damals in der alten Zeit, und mit den gleichen Waffen kämpfen sie auch jetzt gegen mich.
Ich muss mich nicht besonders anstrengen, um mich an Beispiele für diesen »Kampf« zu erinnern.
Auf dem Kongress der Volksdeputierten im Dezember 1990 erteilte der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Anatoli Lukjanow, als einer der ersten Rednerinnen einer gewissen Sascha Umalatowa das Wort. Diese rief prompt dazu auf, ein Misstrauensvotum gegen Präsident Gorbatschow auf die Tagesordnung zu setzen. Die Abgeordneten wiesen diesen Angriff allerdings zurück.
Im darauffolgenden Jahr wurde im April-Plenum des Zentralkomitees eine derart massive psychische Attacke gegen mich gestartet, dass ich mich gezwungen sah, Folgendes zu erklären: »Ich trete zurück! Wie lange kann man gleichzeitig Generalsekretär von zwei, drei oder fünf Parteien sein?« Daraufhin bestürmten mich die Mitglieder des Politbüros mit der Bitte, im Amt zu bleiben.
Beim nächsten Mal erörterte eine ganze Versammlung von Parteibossen unterschiedlicher Ebenen die Frage, wie man mich absetzen könne. Das Ganze fand unter dem Vorwand eines Treffens von Vertretern der zwölf sowjetischen Heldenstädte4 statt.
Im Sommer 1991, als ich mich gerade mit den Führern der Sowjetrepubliken traf, um die letzten Fragen im Zusammenhang mit dem Projekt eines neuen Unionsvertrags zu erörtern, brachten drei Minister – zuständig für die Sicherheit, also Polizei, Militär und Geheimdienste – auf einer Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR den Antrag ein, mir als dem Präsidenten Vollmachten zu entziehen und diese auf den Ministerpräsidenten und die besagten Sicherheitsminister zu übertragen.
Es verging kein Tag, keine Woche, ohne dass Männer wie Alexander Prochanow von der Nationalen Front und andere ihre Lieder der »Anti-Perestroika-Nachtigallen« erklingen ließen.
Auch heute noch werden idiotische Gerüchte verbreitet, Fälschungen für die Verbreitung im Internet aufbereitet, es werden angebliche »Dokumentarfilme« im Fernsehen gezeigt, die im Wesentlichen aus nichts anderem als Lügen und bösartigen Erfindungen bestehen.
Auf der Internetseite der Gorbatschow-Stiftung heißt es zu einem solchen Fall: »Ende August 2008 stellte Pawel Borodin, der ein hohes Amt im Unionsstaat von Russland und Weißrussland innehat, in einem Interview mit der Zeitung Komsomolskaja Prawda unverhohlen verleumderische Behauptungen über Michail Gorbatschow und den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl auf. Michail Gorbatschow hat sich mit Helmut Kohl in Verbindung gesetzt; dieser bestätigte ihm, dass die erwähnten Aussagen von Borodin ›frei erfunden‹ seien.«
Die Gorbatschow-Stiftung wandte sich an ihre Anwälte, welche die notwendigen rechtlichen Schritte einleiteten. Schließlich war die Komsomolskaja Prawda gezwungen, eine Gegendarstellung abzudrucken. Diese erschien am 28. Januar 2009 mit folgendem Wortlaut:
In der Ausgabe Nr. 127 (24154) der Zeitung Komsomolskaja Prawda vom 29. August 2008 wurden Informationen verbreitet, die nicht den Tatsachen entsprechen.
In der Ausgabe Nr. 127 (24154) der Zeitung Komsomolskaja Prawda vom 29. August 2008 und im Internet unter der Adresse http://www.kp.ru/daily/24154/369892 wurde ein Interview mit dem Staatsekretär des Unionsstaates Russlands und Weißrusslands P. P. Borodin veröffentlicht unter der Überschrift: »Pawel Borodin: Wenn Südossetien und Abchasien der Union Russlands und Weißrusslands beitreten, bin ich bereit, drei Liter Wodka auf einmal zu trinken.« Borodin behauptet in dem Interview, der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl habe ihm erzählt, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow »für Osteuropa« eine Zahlung von 100 Millionen Dollar an »seine eigene Stiftung gefordert« habe, und »100 Millionen an die Stiftung von Schewardnadse, und darüber hinaus noch 100 Millionen an einen Freund«.
Diese Information entspricht genauso wenig den Tatsachen wie die Behauptung, dass Helmut Kohl gegenüber Pawel Borodin eine entsprechende Aussage gemacht hätte. Ziel dieser Aussagen ist es, die Würde und das Ansehen von Michail Gorbatschow zu beschädigen.
Ich bin ein Störfaktor für die russische Regierung. Die heutige politische Elite hat einen Kurs eingeschlagen in Richtung »ewiger Machterhalt«, um ohne jegliche Kontrolle regieren zu können – und um ihren eigenen materiellen Wohlstand zu sichern. Die von der Regierung kontrollierten Medien verleumden die Perestroika. Sie übergießen all jene mit Schmutz, die sich in einem Land mit immensen Problemen, die jahrzehntelang nicht in Angriff genommen worden waren, für die gigantischen und riskanten Umstrukturierungen und für Wahlen eingesetzt hatten.
Nicht nur Menschen, die die Wahrheit sagen oder suchen, nehmen die Redefreiheit für sich in Anspruch, sondern auch solche mit schlechtem Gewissen und bösen Absichten. Bis heute bin ich erstaunt über den Verrat von Personen, denen ich vertraut habe und mit denen ich jahrelang durch gemeinsame Arbeit verbunden gewesen war. Das prägnanteste Beispiel dafür ist der Augustputsch5 des sogenannten Staatskomitees für den Ausnahmezustand von 1991 in Moskau, der den Weg für die Zerstörung unseres Landes ebnete.
Im August 1991 war nach sehr schweren Krisenmonaten ein Reformprogramm unter dem Namen Perestroika entwickelt und verabschiedet worden, an dem sich auch die baltischen Republiken beteiligten. Die Arbeit an dem neuen Unionsvertrag war vollendet, und am 20. August sollten ihn die Führer der Sowjetrepubliken unterzeichnen. Für den Herbst planten wir einen außerordentlichen Parteitag; die KPdSU hätte sich in Richtung Sozialdemokratie wandeln sollen, zu einer Reformpartei. Natürlich wäre auch weiterhin nicht alles einfacher geworden, aber ich bin überzeugt: Wäre es damals nicht zu dem Putsch gekommen, hätte sich der ganze folgende Irrsinn vermeiden lassen.
Der Weg in die Demokratie ist keine leichte Prüfung. Die Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten im Jahr 1989 hatten zu unerwarteten Ergebnissen geführt: Einerseits handelte es sich bei 84 Prozent der Gewählten um Mitglieder der Kommunistischen Partei. Andererseits wurden Dutzende von Partei-Apparatschiks nicht gewählt. Der reaktionäre Teil der Partei-Nomenklatura startete einen wütenden Widerstand gegen die Perestroika. Im offenen politischen Kampf schafften es meine Gegner jedoch nicht, ihre Ziele zu erreichen. Deshalb entschlossen sie sich im August 1991 zu einem Staatsstreich. Der Putsch scheiterte, aber er ebnete den Weg für Separatisten, für Radikale, für Extremisten.
Die Konsequenzen summieren sich zu einer langen Liste: der Zerfall der Sowjetunion, die Abkehr von der Demokratie in praktisch allen Teilrepubliken, das Chaos in der Wirtschaft, das geldgierige und prinzipienlose Menschen ausnutzten und das fast alle anderen in Armut stürzte, die internationalen Konflikte, das Blutvergießen in Russland und in den anderen Republiken und schließlich der Beschuss des Obersten Sowjets von Russland durch Panzer im Oktober 1993.
Ich werde oft gefragt, ob ich mich für all das verantwortlich fühle. Man sagt, dass ich nach dem Komplott von Belowesch entschlossener hätte handeln müssen. Am 8. Dezember 1991 hatten der Ministerpräsident von Russland, Boris Jelzin, der Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, und Stanislaw Schuschkewitsch, der Vorsitzende des obersten Rates der Republik Belarus, in Belowesch ein Abkommen unterzeichnet, in dem die Auflösung der Sowjetunion und die Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) erklärt wurden.
Ich antworte auf die Frage nach meiner Verantwortung: »Ich habe bis zum Letzten für die Einheit des Staates gekämpft. Aber man konnte nicht zulassen, dass die Situation zu einer Spaltung der Gesellschaft führte oder möglicherweise gar zu einem Bürgerkrieg. Es war offensichtlich, was das in einem Land, das nicht nur über konventionelle Waffen verfügt, sondern auch über Nuklearwaffen, hätte bedeuten können.«
Nach gründlicher Überlegung traf ich deshalb die Entscheidung, die ich auch heute noch unter den damaligen Umständen für die einzig richtige halte. Am 25. Dezember 1991 trat ich als Präsident der Sowjetunion zurück und hielt eine Fernsehansprache:
Liebe Landsleute, Mitbürger,
aufgrund der Situation, die sich durch die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ergeben hat, lege ich mein Amt als Präsident der UdSSR nieder. Ich treffe diese Entscheidung aus prinzipiellen Beweggründen.
Ich habe mich immer entschieden für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Völker der Sowjetunion eingesetzt, für die Souveränität ihrer Republiken. Aber gleichzeitig war ich auch ein Befürworter der Bewahrung des Unionsstaates, der unversehrten Ganzheit des Landes.
Die Ereignisse schlugen einen anderen Weg ein. Oberhand gewann eine neue Marschrichtung, die zur Zerstückelung des Landes und der Aufspaltung des Staates führen wird. Ich kann damit nicht einverstanden sein. Auch nach dem Treffen von Alma-Ata6 und den dort getroffenen Vereinbarungen hat sich meine Position in dieser Hinsicht nicht geändert. Außerdem bin ich überzeugt, dass Entscheidungen von einer solchen Tragweite auf Grundlage einer Volksabstimmung erfolgen müssen.
Nichtsdestoweniger werde ich alles tun, was in meinen Kräften steht, damit die Vereinbarungen, die dort getroffen wurden, zu wirklichem Einvernehmen in der Gesellschaft führen, damit sie einen Ausweg aus der Krise ermöglichen und die Reformen erleichtern.
Ich wende mich hier und jetzt das letzte Mal in meiner Eigenschaft als Präsident der Sowjetunion an Sie und halte es für notwendig, meine Einschätzung des Weges abzugeben, den wir seit 1985 zurückgelegt haben. Umso mehr, als es dabei nicht wenige Widersprüche gibt, dazu oberflächliche Einschätzungen, denen es an Objektivität mangelt.
Das Schicksal hat es so gefügt, dass, als ich zum Staatsoberhaupt wurde, bereits offensichtlich war: Mit dem Land stimmte etwas nicht. Wir waren mit allem reich gesegnet: Land, Öl, Gas und anderen Rohstoffen. Ja, auch was Intelligenz und Talente angeht, hat Gott uns nicht benachteiligt. Dennoch leben wir schlechter als die Menschen in den anderen Industriestaaten und hinken ihnen immer weiter hinterher.
Die Ursache dafür war schon damals sichtbar: Die Gesellschaft erstickte im Würgegriff eines Systems, das auf Bürokratie und Befehlsgewalt ausgerichtet war. Dazu verdammt zu sein, einer Ideologie zu dienen und gleichzeitig die schreckliche Last eines Rüstungswettlaufs zu tragen – das geht an die Grenzen des Möglichen.
Alle Versuche von Teilreformen – und davon gab es nicht wenige – scheiterten einer nach dem anderen. Unser Land verlor seine Zukunftsaussichten. So konnten wir nicht mehr weiterleben. Alles musste sich grundlegend ändern.
Das ist der Grund, warum ich kein einziges Mal bereut habe, dass ich meine Stellung als Generalsekretär nicht genutzt habe, um einfach ein paar Jahre wie ein Zar zu regieren. Das wäre in meinen Augen verantwortungslos und unmoralisch gewesen.
Ich war mir bewusst, dass es sehr schwierig, ja, sogar riskant werden würde, in einer Gesellschaft wie der unseren Reformen von einer solchen Tragweite und Größenordnung in Angriff zu nehmen. Aber ich bin bis heute davon überzeugt, dass diese Reformen, die im Frühling 1985 begannen, historisch begründet und richtig waren.
Der Erneuerungsprozess in unserem Land und die grundlegenden Veränderungen in der internationalen Gemeinschaft gestalteten sich viel komplizierter, als man es hätte voraussagen können. Dennoch sollte das, was getan wurde, angemessen beurteilt werden.
Allem voran: Die Gesellschaft bekam ihre Freiheit und konnte sich aus ihren politischen und geistigen Fesseln lösen. Genau das ist die wichtigste Errungenschaft, deren Bedeutung uns noch gar nicht in allen Konsequenzen bewusst ist, weil wir bis jetzt nicht gelernt haben, diese Freiheit zu nutzen.
Nichtsdestoweniger haben wir Historisches geleistet:
Wir haben das totalitäre System überwunden, das unser Land daran hinderte, Wohlstand und Blüte zu erreichen.
Wir haben einen Durchbruch auf dem Weg zu demokratischen Reformen erzielt. Freie Wahlen, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, repräsentative Volksvertretungen, ein Mehr-Parteien-System – all das ist Realität geworden. Die Menschenrechte wurden als oberstes Prinzip anerkannt.
Wir haben den Weg in Richtung einer vielschichtigen Wirtschaftsstruktur eingeschlagen und die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen anerkannt. Durch die Landreform kam es zu einer Wiedergeburt des Bauernstandes, es entstand die gesellschaftliche Gruppe der Landwirte. Millionen Hektar Land wurden an die Dorfbewohner verteilt, an die Bürger. Wir haben die wirtschaftliche Freiheit von Produzenten legalisiert, das Unternehmertum, die Umwandlung in Aktiengesellschaften und die Privatisierung schreiten voran.
Beim Wandel unserer Ökonomie in eine Marktwirtschaft müssen wir daran denken, dass dabei der Mensch im Mittelpunkt steht. In dieser schwierigen Zeit muss alles unternommen werden, um seine sozialen Belange zu verteidigen, vor allem, was Rentner und Kinder betrifft.
Wir leben in einer neuen Welt. Der Kalte Krieg ist zu Ende, der Rüstungswettlauf ist gestoppt, ebenso wie die irrsinnige Militarisierung unseres Landes, die unsere Wirtschaft, unser Bewusstsein und unsere Moral verunstaltet hat. Die Gefahr eines Weltkriegs ist gebannt.
Ich möchte noch einmal betonen, dass ich in dieser Übergangsphase persönlich alles unternommen habe, um eine zuverlässige Kontrolle der Atomwaffen sicherzustellen.
Wir haben uns gegenüber der Welt geöffnet, haben aufgehört, uns in die Belange anderer Länder einzumischen und unsere Streitkräfte im Ausland einzusetzen. Im Gegenzug haben wir Vertrauen geerntet, Solidarität und Achtung.
Wir wurden einer der wichtigsten Stützpfeiler beim Umbau der modernen Zivilisation auf ein friedliches, demokratisches Fundament.
Die Völker, die Nationen haben die reale Freiheit erlangt, den Weg ihrer Entwicklung selbst zu wählen. Die Suche nach einer demokratischen Reformlösung für unseren Vielvölkerstaat hat uns an die Schwelle eines neuen Unionsvertrags gebracht.
Für diesen Umbau war ein gewaltiger Kraftaufwand notwendig, er fand statt unter heftigen Kämpfen, gegen den wachsenden Widerstand der Bestrebungen des Alten, Überlebten, Reaktionären und der früheren Partei- und Staatsstrukturen, des Wirtschaftsapparates – und letztlich auch gegen unsere eigenen Gewohnheiten, unsere ideologischen Vorurteile, unsere Gleichmacherei und Unselbstständigkeit. Diese Umgestaltung musste unserer Intoleranz abgerungen werden, dem niedrigen Niveau unserer politischen Kultur und unserer Angst vor allem Neuen. Das ist der Grund dafür, warum wir so viel Zeit verloren haben. Das alte System war zusammengebrochen, noch bevor das neue die Chance hatte, ans Laufen zu kommen. Und die Krise unserer Gesellschaft spitzte sich noch zu.
Ich kenne die Unzufriedenheit über die momentan schwierige Lage, die Kritik an der Regierung und den Behörden auf allen Ebenen und auch ganz persönlich an meiner eigenen Tätigkeit. Aber eines möchte ich unterstreichen: Grundlegende Veränderungen in einem so riesigen Land – umso mehr mit einem solchen Erbe – können nicht schmerzlos vonstattengehen, ohne Schwierigkeiten, ohne Erschütterungen.
Der Augustputsch brachte die allgemeine Krise zur Kulmination. Das Verhängnisvollste an dieser Krise war der Zerfall des Staatswesens. Am heutigen Tag beunruhigt es mich, dass unsere Landsleute die Staatsangehörigkeit eines großen Landes verlieren, denn die Folgen können für uns alle schwerwiegend sein.
Mir erscheint es geradezu lebenswichtig, die demokratischen Errungenschaften zu bewahren, die wir in den vergangenen Jahren erkämpft haben. Sie sind teuer erkauft durch Leiden an unserer ganzen Geschichte, durch unsere tragischen Erfahrungen. Dennoch dürfen wir unter keinen Umständen, unter keinem Vorwand auf diese Errungenschaften verzichten. Sonst sind sämtliche Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zum Scheitern verurteilt.
Ich sage Ihnen das alles so ehrlich und direkt wie möglich. Das ist meine moralische Pflicht. Ich möchte heute allen Bürgern meinen Dank aussprechen, die meine Politik der Erneuerung unterstützt haben, die bei der Verwirklichung der demokratischen Reformen mitgewirkt haben.
Ich danke all den Politikern, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und den Millionen Menschen im Ausland, denen, die unsere Absichten erkannt und unterstützt haben, die uns entgegengekommen sind und aufrichtig mit uns zusammengearbeitet haben.
Ich verlasse meinen Posten mit Besorgnis. Aber auch mit Hoffnung, im Glauben an Sie, an Ihre Klugheit und an Ihre Willensstärke. Wir sind die Erben einer großen Zivilisation, und heute hängt von allen und jedem von uns ab, dass diese große Zivilisation wieder auflebt, zu einem zeitgemäßen und würdigen Leben.
Ich möchte von ganzem Herzen allen danken, die in diesen Jahren mit mir gemeinsam für die gerechte und gute Sache eingestanden sind. Bestimmt hätte man manche Fehler vermeiden und vieles besser machen können. Aber ich bin überzeugt: Unsere gemeinsamen Anstrengungen werden früher oder später Früchte tragen und unsere Völker in einer blühenden, demokratischen Gesellschaft leben.
Ich wünsche Ihnen allen das Allerbeste!
Das Komplott von Belowesch ist die Geschichte eines großen Betrugs. Und auch eines Selbstbetrugs der Teilnehmer von damals, insbesondere der russischen Seite. Sie hofften, die von ihnen erfundene Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) würde sich zu einer »Sowjetunion ohne Gorbatschow« entwickeln. Aber daraus wurde nichts. Die pro forma in das Dokument von Belowesch aufgenommenen Punkte zur Koordinierung der Außen- und Verteidigungspolitik fielen sogleich dem Vergessen anheim. Ich habe wieder und wieder an das Verantwortungsbewusstsein der Parlamentarier appelliert – sie müssten schließlich den Wählern dienen, seien diesen gegenüber verantwortlich, und es sei nicht ihre Aufgabe, politischen Abenteurern zu Diensten zu sein. Es waren doch die Obersten Sowjets, also die Parlamente von Russland, der Ukraine und Weißrussland, die, praktisch geschlossen, das Abkommen von Belowesch ratifiziert haben – auch die Kommunisten, die heute über den Zerfall der Sowjetunion jammern. Warum wird das immer vergessen?
Es ist genau das eingetreten, was ich mit allen Kräften zu vermeiden gesucht habe: Der Unionsstaat wurde zerstört. Bis zu den allerletzten Tagen in meinem Amt als Präsident habe ich meine Aufgabe darin gesehen, zu verhindern, dass es nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft kam, zu einem Bruch der wirtschaftlichen und menschlichen Beziehungen und zu einer Verstärkung der Desintegrationsprozesse. Ich habe meine internationalen Kontakte genutzt, um die Führer der westlichen Staaten dazu aufzufordern, Russland zu helfen. In meinen Telefonaten mit George Bush, François Mitterrand, John Major und Helmut Kohl sagte ich immer wieder: »Sie müssen der GUS helfen, allen voran Russland. Das ist im Moment das Wichtigste. Wir müssen die alten, zur Routine gewordenen Vorgehensweisen abstellen und die Reformkräfte unterstützen!«
Eines Tages las ich in der Komsomolskaja Prawda7 einen Artikel, in dem es um die Statistik der Mount-Everest-Besteigungen ging. Die Zahlen haben mich sehr beeindruckt. Von den 1500 Menschen, die diesen Berg bezwingen wollten, starben 200– die meisten von ihnen beim Abstieg. Die Menschen starben, nachdem sie den Gipfel erreicht hatten, vor allem auf dem ersten Wegabschnitt danach, gleich nach der Besteigung.
Denjenigen, die den Aufstieg schaffen, gelingt nicht immer der Abstieg.
* * *
Im Leben meines Landes und auch in meinem eigenen Leben begann eine neue Epoche. Ich hatte keine Illusionen – mir war klar, dass es schwer und mühsam werden würde. Eine ganze Flut von Lügen und Verleumdungen ergoss sich über mich. Je größer die wirtschaftlichen Probleme wurden, umso intensiver gestaltete sich die Suche nach einem Sündenbock – und der Kandidat für diese Rolle bot sich ja geradezu an.
Was hat mich in diesen schweren ersten Monaten nach dem Auszug aus dem Kreml aufrechterhalten, was hat mich daran gehindert, mich zu verbiegen oder gar eine Rolle rückwärts zu machen?
Es waren die festen Prinzipien, denen ich mich verschrieben habe, mein Charakter und meine Kampferfahrung, die ich im Laufe meines Lebenswegs gesammelt hatte. Aufrechterhalten haben mich auch die Menschen, die mir am allernächsten standen – allen voran meine Frau Raissa und meine ganze Familie. Aufrechterhalten haben mich meine Freunde und Kampfgefährten aus den Jahren der Perestroika und diejenigen, denen ich danach nähergekommen bin, die mir nicht des eigenen Vorteils wegen, sondern aus Überzeugung bei meiner Arbeit, bei meinen neuen Projekten geholfen haben.
Am meisten geholfen aber hat mir mein Glaube an die Perestroika, meine Überzeugung, dass sie historisch unausweichlich war und dass wir diese schwere Last, die wir auf uns genommen hatten, mit Würde getragen haben. Bei allen Fehlern, die wir begangen haben, ist es uns doch gelungen, das Land aus einer historischen Sackgasse herauszuführen. Wir haben den Menschen eine erste Erfahrung in Sachen Freiheit geschenkt, sie aus ihren Fesseln befreit, ihnen die Möglichkeit gegeben, nach ihrem eigenen Kopf zu leben. Wir haben den Kalten Krieg beendet, den Rüstungswettlauf.
Für mich war damals besonders wichtig – und ist es bis heute –, dass viele meiner Landsleute das verstanden haben. Und deshalb will ich zum Ende dieses Kapitels einige Briefe anfügen, die ich von Mitbürgern bekommen habe – allesamt von Menschen, die ich nicht persönlich kenne. Und denen ich dankbar bin.
Reaktionen auf meinen Rücktritt als Präsident der UdSSR 1991:
Danke für die Wahrheit, für den Mut.
Kapitän Filimonow im Namen der Weißmeer-Fischer, Belomorsk
Dieses Neujahr wird das traurigste. Wir waren immer auf Ihrer Seite, bewunderten Sie, haben Ihnen mit Telegrammen geholfen und mit allem, was wir konnten. Wir hoffen, dass alle Präsidenten für Sie einen Platz finden, der Ihrer würdig ist. Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie Gesundheit und Glück.
A. P. Walikowa, Künstlerin, Moskau
Wir haben mit Bedauern, aber mit Verständnis die Nachricht von Ihrem Rücktritt aufgenommen. Die Samenkörner der Demokratie, der Freiheit, der Glasnost, die vor fünf Jahren gesät wurden, haben schon gekeimt, und wir sind überzeugt, in einigen Jahren werden sie auswachsen und wunderbare Früchte tragen. Wir wünschen Ihnen, dass Sie sich gut ausruhen, neue Kräfte sammeln und das Begonnene fortsetzen.
W. S. Gontscharow, Bauer, Kantemirowka, Gebiet Woronesch
Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Freiheit, zu überlegen, zu denken, zu sprechen. Alles andere wird sich daraus ergeben.
G. Gluchomanjuk, P. Logwentschew, Wladiwostok; Mitarbeiter der Abteilung »Ferner Osten« der Russischen Akademie der Wissenschaften
Verzeihen Sie uns, wenn Sie es können. Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Willensstärke, Glück! Möge Gott Sie schützen!
Koschulko, Adamowka, Gebiet Orenburg
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
In dieser Zeit, die für Sie schwierig ist, möchte ich Ihnen Worte der Dankbarkeit zukommen lassen.
Glauben Sie mir, wenn nicht alle Ihr Wirken zu schätzen wissen, dann liegt das nur an den Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden. Diese sind schwerwiegend, aber sie werden vorbeigehen. »Schwere Zeiten gehen vorbei, aber die besten Leute bleiben« – so hat es der Pastor in einer Predigt gesagt. Ihr Rücktritt ist ein mutiger und höchst moralischer Schritt. Ich persönlich habe ihn mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Aber auch mit der Hoffnung, dass die Schwierigkeiten überwindbar sind, und die Zeit ihre Korrekturen anbringen wird.
Sie sind eine wahre Führungsfigur. Sie haben viele Anhänger. Ich wünsche Ihnen neue Kräfte, kreative Erfolge und Durchbrüche.
Schadurskaja Elena, Minsk
Aus den Glückwünschen zum Neuen Jahr 1992:
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Herzliche Glückwünsche zum neuen Jahr!
Sie haben viel getan für das Land, für Russland, für die Welt. Sie waren der erste Präsident unseres Landes, der erste Schritte in Richtung Demokratie unternommen hat. Noch gibt es keine Demokratie in unserem Land, keine Achtung dem Menschen gegenüber, und deshalb wird es sehr schwer für Sie werden …
Ich wünsche Ihnen Mut; Gott schenke Ihnen und Ihrer Familie Gesundheit; alles Gute für das neue Jahr.
Ich bin nur ein »kleiner« Mensch; aber wenn Sie Hilfe brauchen, werde ich versuchen, Ihnen nützlich zu sein.
N. A. Trifonowa, Moskau
Aus Briefen aus dem Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1996
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Es waren die Putschisten, die die Sowjetunion zerstört haben, und juristisch wurde das beurkundet durch die »Belowescher Brüder« Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch.8
Wenn man Gorbatschow etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er so barmherzig war im Umgang mit den einen wie mit den anderen.
Ischkow, Juri, Rentner, Mitglied des städtischen Wählervereins, Rjasan
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Ich weiß, dass alles sehr schwer ist für Sie in diesen Tagen. Vielleicht hilft dieser aufrichtige Brief von mir Ihnen bei Ihrer so schwierigen Arbeit ein kleines bisschen.
Es gab eine Zeit, ganz zu Beginn der Perestroika, als es mir schien, dass Sie das ganze sowjetische Volk liebt. Ich war begeistert und ganz aufgeregt, als Sie in Frankreich waren. Ich jubelte gemeinsam mit den Menschen in den Vereinigten Staaten – wo Tausende Ihnen die Hand schütteln wollten. Wie stolz war ich auf Sie!
Aber es gab auch Zeiten, in denen ich Schmerz empfand und Scham, mehr noch, ich war entrüstet, empört, als das Massaker von Baku begann, das Morden an unbewaffneten Menschen in Tiflis, in Wilna und so weiter.
An all diesen Tragödien hatten auch Sie eine Mitschuld.
Ich konnte es nicht fassen, als Sie mal nach rechts, mal nach links schwankten. Jetzt, zehn Jahre später, habe ich verstanden, dass Sie Angst hatten. Für Sie da oben war vieles deutlicher sichtbar als für mich.
Als Sie ein Gefangener waren in Foros9, habe ich mir große Sorgen um Sie gemacht. Inzwischen glaube ich, wenn da nicht diese verfluchten Putschisten gewesen wären, dann hätten wir uns, wenn auch langsam, in Richtung Demokratie bewegt, und vielleicht hätte es dieses Blutbad in Tschetschenien nie gegeben, die Tragödie in Tadschikistan.10 Aber die Geschichte kennt keinen Konjunktiv.
Was geschehen ist, ist geschehen.
Ich hatte Mitgefühl mit Ihnen, aber Ihr Bild wurde für mich verdeckt von meinem neuen Helden – Boris Jelzin. Wie er da stand, auf einem Panzer vor dem Weißen Haus,11 war er das Sinnbild für den Sieg der Demokratie über den Totalitarismus. Und wieder jubelte das Volk – und ich mit ihm.
Sie wurden sowohl vonseiten der Demokraten als auch der Kommunisten mit Vorwürfen überhäuft. An allem war Gorbatschow schuld.
Aber ich habe nie vergessen, wie Sie vor den Vereinten Nationen eine Rede gehalten haben, die dem Kalten Krieg ein Ende setzte und damit einen dritten, mit Atomwaffen geführten Weltkrieg verhinderte. Ich bin überzeugt, dass die Menschen das nie vergessen und Ihnen ewig dankbar sein werden.
Ich verfolge aufmerksam, was Sie heute tun. Ich weiß, dass Sie das nicht sich selbst zuliebe tun, sondern Russland zuliebe, der Demokratie zuliebe, der Menschheit zuliebe.
Sie tragen heute ein schweres Kreuz auf Ihr Golgota. Und wieder bin ich begeistert von Ihnen.
Mit Hochachtung, Glauben und Hoffnung,
Luschitsch, Swetlana, Mitglied der »Bewegung für nukleare Sicherheit«
Aus Briefen Ende der 1990er-Jahre:
Herr Präsident!
Ich bin seit Langem ein aktiver Anhänger von Ihnen und ein aufrichtiger Verehrer. Wie mir scheint, mein ganzes Leben lang. Ich bin ja erst 22 Jahre alt. Ich lebe, studiere und arbeite in Nischni Nowgorod. Leider bekommen wir in unserer Stadt praktisch keinerlei Information über Ihre aktuellen Aktivitäten, über die Arbeit Ihrer Internationalen Stiftung für sozial-ökonomische und politologische Forschungen. Dabei wäre ich sehr gerne auf dem Laufenden über alles.
Ich möchte Ihnen meine aufrichtige Dankbarkeit dafür aussprechen, was für ein Mensch ich geworden bin. Ja, genau so, bitte wundern Sie sich nicht, aber die von Ihnen begonnene Perestroika hat es erst möglich gemacht, dass wir in unserer Gesellschaft Gedankenfreiheit haben, und sie hat eine objektive Analyse der Vergangenheit und der Zukunft ermöglicht. Dank Ihnen hatte ich das, was meine Eltern nicht hatten, und das, was, zu meinem großen Bedauern, viele meiner heutigen Schüler nicht haben.
In meinem Unterricht rufe ich sie dazu auf, nicht aus der Hüfte zu schießen, sondern nachzudenken, zu analysieren. Aber leider setzen die heutigen Geschichtsbücher den Schülern wieder fertige Urteile vor, mit dem einzigen Unterschied, dass diese genau das Gegenteil von dem besagen, was vor zehn oder fünfzehn Jahren darin stand. Aber dennoch – es gibt noch Schüler, die aufrichtiges Interesse an der Geschichte unseres Landes haben, vor allem der des 20. Jahrhunderts. Und hier hilft mir als Lehrer Ihr letztes Buch, Gedanken über die Vergangenheit und die Zukunft, sehr weiter. Darin habe ich vieles gefunden, das mit meinen persönlichen Ansichten über die Geschichte Sowjetrusslands übereinstimmt. Ich danke Ihnen für dieses kluge, interessante und heute so notwendige Buch.
Auch Ihre anderen Arbeiten haben mir sehr geholfen. Man nehme nur Ihre Memoiren. Das Thema meiner wissenschaftlichen Forschung sind die wechselseitigen Beziehungen zwischen lokalen und zentralen Behörden im vorrevolutionären Russland. In Ihrer Arbeit habe ich eine genaue Analyse dieser wechselseitigen Beziehungen gefunden, Überlegungen über deren Besonderheiten.
Es ist kein Geheimnis, dass heute die politischen Themen zu den am meisten diskutierten in unserer Gesellschaft gehören. Und was und wem ist es zu verdanken, dass die Menschen immer noch dieses Verlangen haben – das Verlangen, zu analysieren, nachzudenken, ihren Standpunkt kundzutun zu den Fragen, die sie am meisten bewegen? Warum haben sie keine Angst, die ja zu Stalins Zeiten so real war, nicht diese schläfrige Gleichgültigkeit, die so typisch war für die Zeit der Stagnation? Die Antwort ist für mich eindeutig – Dank der Perestroika und Gorbatschow. Oft ist es so, dass meine Einstellung zu Ihnen und Ihrer Regierungszeit unter meinen Bekannten, Kollegen und Verwandten Verwunderung auslöst: »Weswegen sollte man ihn unterstützen? Es war Gorbatschow, der unser Land in die Armut geführt hat, der eine Großmacht zerstört hat!« Ich fange dann an, zu widersprechen, zu streiten und meinen Standpunkt zu belegen. War es wirklich Gorbatschow? Waren die Reformen wirklich unbedingt notwendig? Ja, sie waren unbedingt notwendig. Hat Gorbatschow dazu aufgerufen, die Sowjetunion zu zerstören? Nein, er hat dazu aufgerufen, sie umzubauen. Und war das, was wir heute haben, das Ziel der damaligen Reformen? Hatten wir vor Augen, in einer Gesellschaft wie der heutigen zu leben? Habt ihr nicht selbst Gorbatschow und seine Aktionen unterstützt? Wolltet ihr etwa keine Reformen? Ich konnte lange nicht verstehen, warum, aber mit der Zeit habe ich es verstanden: Es tut ihnen weh, sich an die Zeit von damals zu erinnern, an ihre Jugend, an ihre Hoffnungen. Ich sage mir: Wenn ihnen ihre kleinen, nicht eingetretenen Hoffnungen wehtun, wie soll sich dann der Reformator selbst fühlen, der mitansehen musste, wie die Hoffnungen von Millionen zugrunde gingen? Es ist einfach, einem einzelnen Menschen die Schuld für alles in die Schuhe zu schieben. Wahrscheinlich entspringt das der menschlichen Natur – fest daran zu glauben, dass am eigenen Unheil jemand anderer schuld ist, und nicht man selbst. Ja, das ist wahrscheinlich einfacher. Aber nicht immer ist der einfachste Weg auch der richtige.
Kipjatkow, Ruslan, Nischni Nowgorod
Aus Briefen seit der Jahrtausendwende:
Guten Tag, Michail Sergejewitsch!
Ich schreibe Ihnen, um Sie zu unterstützen und mich zu entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass ich so gedacht habe wie die Mehrheit denkt. Alle anderen Politiker haben Unfug getrieben, wir haben deshalb auf Sie und Raissa Maximowna geblickt und gedacht, dass alles nur Show ist. Verzeihen Sie uns – wir haben uns geirrt.
Ich möchte Sie unterstützen. Schon lange möchte ich Ihnen schreiben. Heute habe ich im Fernsehsender NTW12 eine Sendung über Sie gesehen. Und mich entschlossen, jetzt wirklich zu schreiben. Einfach für meine Seele. Um Ihnen einfach Danke zu sagen, dass Sie unser Land nicht in einen Bürgerkrieg gestürzt haben. Dass Sie ruhig und in Würde zurückgetreten sind.
Ich denke, es ist schwer, den Verrat enger Kampfgefährten zu verdauen. Statt Ihres Anstands haben wir jetzt Willkür und Kriminalität. Ich bin sicher, die Geschichte wird Sie nicht vergessen.
Ich bin ein einfacher Mensch, ich kenne nicht alle Nuancen. Aber ich sehe, dass Sie aufrichtig sprechen, von Herzen. Es ist schade, dass ich Ihnen nicht helfen kann, aber wenn Sie als Präsident kandidieren, werde ich Ihnen sicher meine Stimme geben.
Kortschagin, Sergei, 30 Jahre, Balakowo, Gebiet Saratow, 4. Oktober 2000
Guten Tag, sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Es hat mich verwundert, dass es Menschen gibt, die Sie für einen gescheiterten Politiker halten. Ich persönlich finde das nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Unser Land ist nicht mehr wie früher ein totalitärer Staat. Die Veränderungsprozesse sind überall in Gang gekommen – in der Wirtschaft und in der Psyche unserer Gesellschaft. Unser Land hat die Möglichkeit erhalten, frei zu atmen. Freilich atmete es auch eine Zuspitzung in den internationalen Beziehungen ein und den Zerfall. Aber offenbar gab es keinen anderen Weg. Die Partei hat uns viel Gutes aufgezwungen. Aber alles, was sie uns aufzwang, hätte aus dem Bewusstsein der ganzen Gesellschaft erwachsen sollen, dann hätte es eine Entwicklung gegeben. Diejenigen, die Ihnen gegenüber mangelnden Respekt zeigen, sind Menschen, die keine Kultur haben und nicht gründlich denken können.
Natascha, 15. Dezember 2003
Ich habe verstanden, dass ich Ihnen sehr danken muss für die Veränderungen, die in der heutigen Welt dank Ihnen geschehen sind.
Die Welt wurde viel offener als früher. Die Möglichkeiten, die es heute gibt, sind nicht zu vergleichen mit denen, die es vor 1985 gab, und das betrifft natürlich in erster Linie die früheren Bürger der Sowjetunion.
Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin 1954 geboren.
Danke für Ihren Mut, für Ihr Verantwortungsbewusstsein, dafür, dass Sie nicht gleichgültig sind. In der Sowjetunion lebten wir nur nicht hinter einem Eisernen Vorhang – wir lebten wie in einem Kasten mit tauben Wänden.
Natürlich hat die radikale Umgestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen schwere Folgen für das Leben der Menschen gehabt, aber das war unvermeidbar. Dafür sind Perspektiven entstanden für die heutigen und für die zukünftigen Generationen.
Waleria Karlowna Agejewa, Sankt Petersburg, 19. Juni 2012
Guten Tag, sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Vielleicht ist es unnötig, aber ich möchte Ihnen ein paar Zeilen schreiben.
Ich und meine Angehörigen haben Sie immer unterstützt, schon seit jenem Zeitpunkt, als Sie an die Macht kamen, und bis zum heutigen Tag.
Ich möchte Ihnen erzählen, was ich von dem »Schauprozess« gegen Sie halte.
Das Ganze ist niederträchtig und unehrlich Ihnen gegenüber, sowohl was die Perestroika betrifft als auch die Gegenwart.
In unserem Volk (die Slawen – Weißrussen, Russen und Ukrainer) ist folgende Tradition entstanden: Wenn ein Mensch an die Macht kommt, wird er von allen gerühmt, und wenn er geht, dann spuckt man ihm hinterher. Das ist ekelhaft!
Ich finde, dass überhaupt die Frage »Ist Gorbatschow schuld oder nicht?« nicht richtig ist.
Wie kann man über einen Menschen urteilen, der dem Volk der Sowjetunion die Freiheit gegeben hat (Redefreiheit, Reisefreiheit) – und zu guter Letzt auch das Recht zu wählen.
Der Präsident der UdSSR, der alles Mögliche und Unmögliche getan hat, um die Union zu reformieren, um das zu bewahren, was gut war. Doch dann kam der Putsch mit all seinen Folgen – eine Kettenreaktion.
Und vor Raissa Maximowna möchte ich mich überhaupt verneigen – sie war eine sehr gute Frau, Gattin, Mutter und Großmutter.
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch, möge Gott Sie und Ihre Verwandten und Angehörigen vor jedem Übel beschützen!
Hochachtungsvoll,
Pawel Lewada, 35 Jahre, Ukraine, Lwow, 6. August 2012
Guten Tag, Michail Sergejewitsch!
Ich heiße Anna. Ich bin 32 Jahre alt. Ich bin in der UdSSR geboren und kann mich an Ihre Reden erinnern, die ich im Fernsehen gesehen habe. Als ich ein Kind war, konnte ich alles noch nicht verstehen, und das ist überhaupt nicht erstaunlich. Wir wunderten uns damals, warum unsere geliebten Eltern die Nachrichten anmachten oder Berichte über Versammlungen und uns, ihre Kinder, anzischten, damit wir sie nicht beim Zuhören störten.
Dann war plötzlich das Wort »Putsch« zu hören. Dann haben zuerst meine Oma und später auch meine Mama aufgehört, Sie zu mögen. Von Kindesbeinen an kann ich mich daran erinnern, dass just Gorbatschow an allen Übeln schuld war.
Und erst jetzt sehe ich mir Ihre Auftritte und Interviews aus jener Zeit an und wundere mich. Wie konnten Sie all das aushalten? Wie konnten Sie genug Kraft und Mut aufbringen, um diese Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen? Die Menschen konnten in dieser Zeit doch gar nicht verstehen, wozu Sie das alles taten.
Ich verstehe, dass Sie diesen Brief kaum lesen werden, aber … ich möchte Ihnen unbedingt sagen, Michail Sergejewitsch, dass Sie ein wunderbarer Mensch sind. Und ein Präsident, der das Leben der Menschen wirklich verbessern wollte. Es tut mir sehr leid, dass es solche Menschen in unserer heutigen Regierung nicht gibt … Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass es sie in nächster Zeit dort geben wird.
Ich danke Ihnen und bitte gleichzeitig um Verzeihung für die gewisse Naivität, mit der ich Ihnen schreibe.
Anna, Kiew, 31. Januar 2013
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch,
ich habe das, was Sie gemacht haben, offen gestanden nie verstanden (und das ist noch fein ausgedrückt). Obwohl die Jahre von 1986 bis 1991 in meiner Erinnerung die besten in meinem Leben waren. Freiheit!
Erst heute habe ich verstanden, WAS SIE FERTIGGEBRACHT HABEN! Sie, der in dem System geboren wurde, schafften es, dieses System derart aufzubrechen. Sie haben das UNMÖGLICHE geschafft. Ich weiß nicht, ob Sie ein Team von Gleichgesinnten haben, aber ich kann mir die Schwere Ihrer Last vorstellen.
Ich möchte Ihnen meine aufrichtige Dankbarkeit für diese Zeit aussprechen.
Ich kann vielen die Wichtigkeit und den Sinn dieser Veränderungen nicht erklären, und das ist auch gar nicht nötig. Die Zeit wird alles richtigstellen. Das ist eine ihrer Eigenschaften.
Hochachtungsvoll
Konstantin S. Kapustin, 5. Februar 2013
Guten Tag, sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Ich bin geboren und aufgewachsen in der Ukraine, und 1989 bekam unsere Familie die Erlaubnis, aus der Sowjetunion auszureisen.
Ich war damals 16 Jahre alt, jetzt bin ich 40.
Ich habe mein ganzes Leben davon geträumt, Michail Gorbatschow einfach dafür zu danken im Namen von Hunderten von Millionen Menschen, denen er das Leben gerettet hat, in den politischen Gefängnissen, in Afghanistan, denen er die Freiheit wiedergegeben hat. Ich weine nie, aber jetzt schreibe ich diesen Brief an den geschätzten Michail – und die Tränen fließen mir nur so aus den Augen.
Ein ganz uneigennütziges Dankeschön, geehrter Michail Gorbatschow!
Ich füge mein Foto bei, auf dem ich als Junge zu sehen bin, mit meinen Eltern, damit Sie drei von den Hunderten Millionen Menschen sehen, deren Leben Sie besser gemacht haben.
Wladislaw Gorwiz (jetzt Wlad James Mitchel), 28. Februar 2013
Guten Tag, sehr geehrter Michail Sergejewitsch!
Ich heiße Iwan, bin 34 Jahre alt, und ich bin Unternehmer. Ich möchte Ihnen danken für Ihren Beitrag zur Entwicklung Russlands. Ich persönlich bin Ihnen dankbar für die Freiheit, die ich heute habe.
Gebe Gott Ihnen Gesundheit, ich wünsche Ihnen das Allerbeste! Und ich wünsche Ihnen auch, dass das, was Sie erreicht haben, sich weiterentwickelt und nicht mit der Zeit verloren geht. Wir alle brauchen das sehr.
Eine riesige Zahl von bemerkenswerten Menschen ist Ihnen sehr dankbar für das, was Sie getan haben.
Danke! Ich wünsche Ihnen Glück! Und Frieden!
Hochachtungsvoll,
Jablonko Iwan, 3. Juni 2013
Sehr geehrter Herr Gorbatschow!
Vor einiger Zeit habe ich Ihr Buch Alles zu seiner Zeit gelesen, und ich möchte, wenn Sie nichts dagegen haben, einige meiner Gedanken dazu mit Ihnen teilen.
Ich bin 47 Jahre alt, ich bin in Schtscholkowo bei Moskau auf die Welt gekommen und aufgewachsen in Armenien, in Jerewan.
Zur Zeit Ihrer Präsidentschaft war ich schon erwachsen genug, um das, was geschah, zu verstehen und zu analysieren. Ich kann mich erinnern, dass die Mehrheit der Menschen nicht zufrieden war mit Ihrer Politik.
Ich hatte immer den Eindruck, dass wir nicht über alle erforderlichen Informationen verfügten, und deshalb habe ich nie alle Schuld bei einem einzigen Menschen gesucht, habe versucht, unvoreingenommen zu sein.
Ihr Buch hat mir die Möglichkeit gegeben, ein genaues Bild zu bekommen, was die Ursachen des Geschehens damals waren, und ich bin überzeugt, dass niemand ein ähnliches Resultat hätte vermeiden oder die Situation verbessern können.
Ungeachtet aller Fehler, die in der Vergangenheit passiert sind, und der Fehler, die wir – mich eingerechnet – in der Zukunft noch machen werden, habe ich eine hohe Meinung von dem, was Sie versucht haben zu tun. In späteren Jahren werden neue Generationen über Sie sprechen und sich an Sie erinnern als an einen Menschen, der das Land in die richtige Richtung gewendet hat. Ich denke, das ist sehr viel wert.
Ich schätze es auch sehr, dass Sie in Ihrem Buch die Erinnerung an Ihre Frau Raissa hochhalten – sie war und ist bis heute die einzige First Lady im Staat, die offen über die Probleme des Landes gesprochen und dabei Klugheit und Weitsicht gezeigt hat. Unserem Volk hat das sehr gefallen.
Ich wünsche Ihnen eine kräftige Gesundheit und viele, viele Lebensjahre!
Möge Gott Sie segnen!
Pawel Sarkisjan, 11. Juli 2013
Ich unterstreiche besonders, dass Sie eine der großen Persönlichkeiten Ihrer Zeit sind und Ihren Platz in der Geschichte gefunden haben. Nicht, weil Sie angeblich die »Sowjetunion vernichtet« haben. Das ist absurd! Sie haben die Risse in der UdSSR bemerkt und Schritte zur Ausbesserung unternommen, Sie haben die Bedeutung des Faktors Mensch erkannt und ausgeweitet, haben die Gesellschaft reformiert für die Menschen, haben die internationale Isolierung der UdSSR beendet und ihr den Weg in die moderne Zivilisation geebnet. Zerstört haben die Sowjetunion in Wirklichkeit all die kleinen Fürsten, diejenigen, die Macht und Geld lieben.
Wenn die Sowjetunion so umgebaut worden wäre, wie Sie sie geplant haben, dann würde sie auch heute noch bestehen, ohne jeden Nachteil für ihre eigene Bevölkerung und ihre Völker. Die Kombination aus Energie, Wirtschaft und Kultur wäre erhalten geblieben.
Ich wünsche Ihrer Exzellenz Erfolge, Ausdauer und eine kräftige Gesundheit.
Prof. Dr. Teo-Teodor Marschalowski, Belzy, 18. Oktober 2013
Ich möchte Michail Sergejewitsch Gesundheit, Geduld und Erfolg wünschen, und ich möchte ihm danken für seine Arbeit zum Wohle der Gesellschaft in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, für seine Sorge um die Freiheit und die Gerechtigkeit in Russland. Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem die Menschen in Russland allem zum Trotz aufhören, Sklaven zu sein, ihre Augen öffnen und ihren Tribut an Hochachtung nicht den heutigen Pseudo-Reformern zollen, sondern dem Mann, der wirklich anderen zuliebe sein eigenes Wohl und seine Position geopfert hat. Ich hoffe, dass statt der zahllosen Denkmäler für Henker wenigstens eines aufgestellt wird für einen echten, großen Menschen.
T. A. Kasumow, Sankt Petersburg, 20. Oktober 2013
Ich glaube an die Aufrichtigkeit dieses Menschen, der ein Land regiert hat, dessen Volk im Laufe seiner ganzen Geschichte immer in Armut und Erniedrigung lebte. Und mir scheint es, dass just diese Aufrichtigkeit zu einem Ruck führte, dazu, dass der Stolz des nationalen Selbstbewusstseins erwachte; dass diese Aufrichtigkeit vielen Bürgern unseres Landes das Gefühl der inneren Freiheit geschenkt hat.
Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv. Die Sowjetunion ist aufgrund von Systemfehlern auseinandergefallen, und es ist längst Zeit, dass man sich mit dieser Tatsache abfindet. Das, was Russland heute ausmacht? Es ist ein Polizeistaat mit einem unterentwickelten politischen System und, als Konsequenz, fehlender Wahlfreiheit für die Menschen. Es hat keinen Sinn, auf Niederträchtigkeit zu reagieren, sie hört von alleine auf und krepiert infolge ihrer Perspektivlosigkeit. Man muss sich mit realen Dingen beschäftigen – das ist der einzige Weg, um stärker zu sein.
Mit aufrichtiger Hochachtung,
Ilja Alexejew, Architekt
Michail Sergejewitsch! Ich bin Ihnen schon seit vielen Jahren dankbar dafür, dass Sie mich befreit haben von der täglichen Furcht vor einem Atomkrieg, der für mich etwa seit meinem achten Lebensjahr eine greifbare Realität war. Sie und nur Sie haben mich von dieser Angst befreit, die zu einem Teil meines Lebens geworden war.
Zudem möchte ich Ihnen danken für Ihre wertvollen Bücher, die ich in meiner Jugend habe lesen können, eine ganze Flut von wunderbarer Literatur, die das Bewusstsein unseres ganzen Landes überflutete.
Ich möchte Ihnen danken für die Fernsehübertragung des ersten Parteitages, die ich anschaute, während ich mich parallel auf meine Examen vorbereitete.
Mit Hochachtung,
Jelena Rodina, 1. Dezember 2013
Wir möchten uns an Sie, sehr geehrter Michail Sergejewitsch, wenden und Sie unserer Unterstützung und Dankbarkeit versichern. Zum wiederholten Male haben wir im Internet gemeine Gerüchte über Sie gefunden. Wir möchten, dass Sie wissen, dass es ungeachtet der unendlichen Schmutzkampagne gegen Sie Leute gibt, die Sie lieben und zutiefst verehren.
Sehr geehrter Michail Sergejewitsch, unsere Kindheit und unsere Jugend fielen in die Jahre, in denen Sie am Steuer unseres Staates standen. Wir sind Ihnen sehr dankbar für die Glasnost (Offenheit – was für ein schönes Wort), die unserer Heimat eine reale Chance gab, frei zu sein und aufzublühen. Schade, dass es bisher nicht gelungen ist, diese Chance zu nutzen. Aber vielleicht ist noch nicht alles verloren.
Gesundheit Ihnen und Ihren Angehörigen. Und nochmals danke!
Alexander Jagodin mit Familie, 26. Dezember 2013
Am 26. Dezember 1991 betrat ich mein Arbeitszimmer im Kreml, das ich entsprechend meiner Vereinbarung mit Boris Jelzin zum 30. Dezember räumen sollte. Ich musste alle Papiere und persönlichen Dinge in Ordnung bringen. Am meisten interessierten mich die Reaktionen auf meine Rücktrittserklärung aus den verschiedenen Ecken des Landes. Ich sah die Zeitungen durch, die Post, die Telegramme der Bürger. Die Mehrzahl der Äußerungen war wohlwollend und mitfühlend. Die meisten Menschen zeigten Verständnis für meine Entscheidung. Einige Beispiele habe ich ja oben zitiert.
In manchen Telegrammen wurde Kritik an meinem Schritt laut – schließlich hätte ich den »Prozess der Perestroika noch nicht beendet«; zu lesen waren auch Zweifel an der Fähigkeit der neu gegründeten GUS, die Völker zu vereinigen, die früher Teil der Sowjetunion gewesen waren, ihnen ihre Eintracht und reale Gleichberechtigung zu garantieren und das Leben der Menschen zu verbessern. Viele kritisierten die Entscheidung, die GUS zu gründen, als zu schlecht vorbereitet und nicht gesetzeskonform. Manche schrieben, ich solle der GUS helfen oder sie nicht behindern.
Es gab auch Vorwürfe, ich sei schuld am Auseinanderbrechen des Landes, an seinem wirtschaftlichen Ruin. An einigen Orten gebe es wochenlang kein Brot, keine Milch, und auch andere Lebensmittel fehlten. Die Rede war von ellenlangen Warteschlangen in den Geschäften, von einer schlechten Vorbereitung auf den Winter, Unterbrechungen der Strom- und Wärmeversorgung, der Lieferung von Brennmaterial, über Kälte in den Wohnungen. Es gab verzweifelte Bitten um dringend benötigte Medikamente, an denen es mangelte. Die Menschen fanden es dringend notwendig, sich um den Status der Streitkräfte zu kümmern, die in den früheren Sowjetrepubliken verblieben waren, und um die sozialen Probleme der Militärangehörigen. Einige Briefschreiber forderten, auf die Hilfe der Armee zurückzugreifen, denn diese solle ihrer Meinung nach »nicht nur den Staat, sondern auch das Leben des ganzen Volkes verteidigen«.
Ich signierte ein paar Fotos für meine engsten Mitstreiter. Sinngemäß schrieb ich: »Wir haben angefangen, das Leben geht weiter, und wer glaubt, die Epoche Gorbatschow sei zu Ende, der irrt. Alles beginnt erst.«
Aber es gab auch andere, böse Stimmen. Die Maschinerie der Verunglimpfung und Verleumdung war bereits in Schwung gekommen – da war die Rede von angeblichen »Konten bei Schweizer Banken«, von einer »Datscha im Ausland«. Mein erster Gedanke war: Viele Leute haben offenbar nicht verstanden, dass wir gerade unser Land verlieren.
Während ich noch die Post durchsah, rief mich Raissa völlig verärgert an. Die neue Regierung fordere, sagte sie, dass wir sofort unsere Präsidentenwohnung in Moskau verlassen und auch unsere Dienst-Datscha räumen sollten. Gleichzeitig weigerte sich die Regierung, uns Wagen für den Transport unserer Sachen zur Verfügung zu stellen. Mir blieb nur eines: in sehr deutlichen – und sehr russischen – Worten den übereifrigen Verwaltungsbeamten aus dem neuen Regierungsapparat die Meinung zu sagen.
Vor Kurzem fand ich in meinem Archiv eine Notiz dazu:
Privatisierung einer Wohnung
M. S. Gorbatschow und R. M. Gorbatschowa haben am 28. Dezember 1991 einen Vertrag mit dem Wohnungsbau-Komitee der Regierung der Stadt Moskau geschlossen, demzufolge sie in Übereinstimmung mit Artikel 7 des Gesetzes über die Privatisierung von Wohnungen in der RSFSR13 in gleichen Anteilen das Eigentumsrecht an der von ihnen bewohnten Wohnung in der Kossygin-Straße erhalten, mit einer Gesamtfläche von 140 (einhundertvierzig) Quadratmetern, davon 65,1 (fünfundsechzig und ein Zehntel) Quadratmeter Wohnfläche. Die Bürger M. S. Gorbatschow und R. M. Gorbatschowa werden die privatisierte Wohnung auf eigene Kosten instand halten und renovieren. In dieser Wohnung lebten früher Beamte der Wachmannschaft des Präsidenten der UdSSR.
Die Notarin, die am 29. Dezember 1991 eine Kopie des Privatisierungsvertrags beglaubigte, fragte meinen Assistenten verwundert: »Kann das wahr sein, dass die Gorbatschows jetzt nur noch eine kleine Wohnung ihr Eigen nennen?«
Wie mir erzählt wurde, besichtigte Jelzin die hastig geräumte Präsidenten-Dienstwohnung, in der wir bis dahin gewohnt hatten, höchstpersönlich, aber sie gefiel ihm nicht. Mit dem Segen der neuen Regierung wurde die Wohnung verkauft und später mehrfach weiterverkauft.
Am Abend des 26. Dezember, meines letzten Tags im Kreml, nahm ich an einem Abschiedsbriefing teil, das mein Pressedienst für die Journalisten ausrichtete. Es fand im Hotel Oktjabrskaja in Sankt Petersburg statt, das die neue Regierung in »Präsident-Hotel« umbenannte.
Die Journalisten, die russischen wie die ausländischen, empfingen mich mit Applaus. Mehr als zwei Stunden antwortete ich auf ihre Fragen, gab Autogramme, bekam sehr viele gute Wünsche mit auf den Weg.
Hier das Wichtigste aus meiner Rede:
Wir müssen jetzt alle politischen Sympathien zur Seite legen, vielleicht sogar unsere Meinungsverschiedenheiten. Die oberste Priorität muss jetzt sein, dem Land zu helfen und die Reformen voranzubringen.
Das ist das Wichtigste. Ich habe dazu auch meine Kollegen aufgefordert – vor allem diejenigen, auf denen jetzt die Last der Verantwortung für unseren Staat liegt. Das betrifft auch unsere ausländischen Partner, da das, was bei uns in den nächsten Monaten geschehen wird, auch den Kurs der Weltpolitik bestimmen wird. Wir wollen, dass die Politik der Umgestaltung beibehalten wird. Wir wollen, dass die Reformen fortgesetzt werden, dass die Demokratie gestärkt wird. Und aus diesem Grunde habe ich unsere ausländischen Partner gebeten, unser Land zu unterstützen und dabei vielleicht alte Grenzen zu überwinden (…), weil der Preis ein sehr hoher ist, für alle. An erster Stelle muss dabei die Notwendigkeit stehen, Russland konkret zu helfen – und zwar nicht nur politisch, sondern in jeder Hinsicht. Die Rolle, die Russland spielt, muss groß sein – und verantwortungsbewusst.
Die Journalisten befragten mich nach meinen Zukunftsplänen. Ich sagte ihnen, genauso wie meinen anderen Gesprächspartnern in diesen Tagen, dass ich nicht vorhätte, mich in der Taiga oder im Ausland zu verstecken. Dass ich die Politik und das öffentliche Leben nicht verlassen würde. Dass ich es weiter als meine wichtigste Aufgabe betrachte, die demokratischen Reformen in Russland und die Verfestigung des Neuen Denkens14 in der ganzen Welt mit aller Kraft zu unterstützen, jetzt in einer neuen Eigenschaft. Diesen Zielen, so hoffte ich, würde auch die Internationale Stiftung für sozialökonomische und politologische Forschung dienen, die ich gründete.
* * *
Für den Morgen des 27. Dezember war ein Interview mit japanischen Journalisten geplant. Ich hatte beschlossen, dass es das letzte sein sollte, das ich in meinem Arbeitszimmer im Kreml gab. Sie warteten bereits auf mich.
Ich näherte mich im Auto dem Kreml, als man mir über das Autotelefon Folgendes mitteilte: »In Ihrem Arbeitszimmer sitzen seit heute früh Jelzin, Poltoranin, Burbulis und Chasbulatow.15 Sie haben schon eine ganze Flasche geleert. Sie feiern und trinken …«
Die Präsidentenwohnung gefiel ihm nicht, aber in das Arbeitszimmer des Präsidenten im Kreml, das unter den Leuten, die sich im Kreml auskennen, der »Gipfel« genannt wird, konnte Jelzin also gar nicht früh genug kommen.
Die Männer, mit denen Jelzin dort feierte, waren, nebenbei bemerkt, die Gleichen, die zwei Jahre später bei der Zerschlagung des Parlaments aufeinander schießen sollten. Bevor sie ungestüm auftauchten, wurden die letzten privaten Sachen des ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion auf einem Handwagen irgendwohin weggebracht. Ich habe dieses Arbeitszimmer nie wieder betreten.
An 29. Dezember 1991 traf ich mich mit Journalisten der italienischen Zeitungen La Stampa und Repubblica und gab mein erstes Interview nach meinem Rücktritt.
Auf die erste Frage der Italiener – »Wie fühlen Sie sich?« – antwortete ich: »Wenn man eine Entscheidung einmal getroffen hat, fühlt man sich in der Regel besser. Veränderungen in den Lebensverhältnissen machen mir keine Angst – meine Familie und ich, wir sind nicht verwöhnt.«
Der Korrespondent von La Stampa, Giulietto Chiesa, nutzte die Gelegenheit, um ein paar prinzipielle Dinge anzusprechen.
»Bezeichnen Sie sich immer noch als Sozialisten? Halten Sie den Sozialismus immer noch für ein Projekt, an das man glauben kann?«, begann er.
»Es war nicht der Sozialismus, der eine Niederlage erlitten hat«, antwortete ich, »sondern der Stalinismus, der sich als Sozialismus ausgegeben hat. Eine Niederlage erlitten hat das Modell, das alles gleichgemacht und sämtliches Suchen verhindert hat. Ich hingegen fühle mich als jemand, der an der kollektiven Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie mitgewirkt hat. Die Menschheit wird diese Suche fortsetzen. Daran sind unterschiedliche Strömungen beteiligt, die sich zu unterschiedlichen Idealen bekennen.«
»Man könnte meinen, Sie zitieren Andrei Sacharow …«
»Ja«, sagte ich, »die Theorie von der Konvergenz zweier Welten. Für mich ist die Meinung von Menschen wie ihm sehr wichtig, ihre moralische Autorität.«
»Fühlen Sie sich gelassen? Haben Sie keine Angst, dass man aus Ihnen einen Sündenbock machen wird, wenn die Dinge nicht zum Besten stehen?«