Das neue Zimmer - Stephan Weidt - E-Book

Das neue Zimmer E-Book

Stephan Weidt

4,8

Beschreibung

Das leise Drama eines ehrgeizigen Kindes, von dem das Büchlein erzählt, geschieht in einem Raum, zu dem die Erwachsenen um es herum keinen Zugang haben. Nicht einmal der Außenseiter, der Klavierlehrer Holtinger, der "mit seinem langen Mantel und dem schräg auf dem Kopf sitzenden Barett derart aus dem enggesteckten Rahmen" des Dorfes in den 50er Jahren fällt, dass er die Mutter des Protagonisten sofort verzaubert.

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Für meine Eltern, in liebevoller Erinnerung

Ich war mittags aus der Schule gekommen und wollte, bevor das Essen auf dem Tisch stand, noch ein, zwei Stücke spielen.

Das Klavier, das meine Eltern mir kurz nach unserem Einzug in das Haus gekauft hatten, stand im „neuen Zimmer“. „Neu“ war das Zimmer, weil es in den letzten Monaten angebaut worden war. Die darunter befindliche Garage hatte es bereits gegeben, und ich weiß nicht mehr, ob der Anbau von Anfang an geplant gewesen war. Jedenfalls kam, falls das zutrifft, dieser Plan erst anderthalb Jahre nach unserem Einzug zur Ausführung.

Das Haus war, wenn meine Eltern die Wahrheit sagten, nach wenigen Jahren abbezahlt. Im Dorf, an dessen Rand es stand, galten wir als reich, aber heute kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass das zumindest damals nicht zutraf (wir hatten zum Beispiel keine Hausangestellten). Meine Großeltern hatten meinen Eltern zu ihren Lebzeiten lediglich das Grundstück vermacht. In der Hauptsache entstanden die Gerüchte um den Reichtum unserer Familie wohl deshalb, weil das Unternehmen meines Vaters florierte. Die 50er Jahre waren ein Jahrzehnt emsiger Flächenversiegelung, und folglich standen Pflastersteine für Einfahrten und Gartenwege hoch im Kurs. Die Horizont-GmbH baute die Maschinen, die es zur Herstellung solcher Pflastersteine brauchte.

Das „neue Zimmer“ war nicht nur deshalb „neu“, weil es später als der Rest des Hauses erbaut und eingerichtet worden war, neu war es noch in einem anderen Sinn, und der enthüllte sich im Laufe der Jahre dadurch, dass es seinen Namen beibehielt: Es blieb das „neue Zimmer“, und ich lernte immer besser zu verstehen, dass „neu“ eine Qualität war, die sich nicht abnutzte, sich im Gegenteil über die Jahre dem Gegenstand, der mit diesem Attribut bezeichnet wurde, immer tiefer einprägte, so dass man sagen konnte, dass das Zimmer seiner Bezeichnung immer mehr gerecht wurde. Es wurde nicht älter (oder höchstens im kalendarischen Sinn), es wurde im Gegenteil immer neuer, und ich, Junge von 10 Jahren, hatte das schnell begriffen, und mein Bestreben ging dahin, es – und ich wusste nicht, wann das geschafft sein würde – ganz und gar zu dem zu machen, was es dem Namen nach bereits war.

Meine Eltern hatten das Zimmer mit einer goldfarbenen Polstergarnitur eingerichtet. An den crèmefarben tapezierten Wänden hingen Ölgemälde mit romantischen Motiven: die Zigeunerin, der Kellergeist, der Jägersmann mit langstieliger Pfeife. Mein Großvater väterlicherseits hatte uns diese Bilder hinterlassen, und ich nehme an, es hätte ihn mit Stolz erfüllt, sie in diesem besonderen Raum hängen zu sehen. Besonders – abgesondert – war der Raum, weil er den am weitesten von der Haustür entfernt liegenden Punkt markierte. Vor allem aber sonderte ihn ein Merkmal ab, das er mit keinem anderen Zimmer im Haus gemeinsam hatte: Er wurde nicht bewohnt. In ihm fand kein Leben statt. Die kostbaren Sessel brauchten keine Schoner, denn es saß nie jemand darin. Diesen einen Raum gab es – „einen Raum wenigstens im Haus“, sagte meine Mutter -, diesen einen Raum, in dem sie nicht „ständig hinter uns herräumen“ musste, und das Sensationelle, das Einzigartige daran hatte ich sofort begriffen, man musste es mir nicht erklären. Ich stand manchmal an der Schwelle zu diesem Zimmer und ließ den Blick über die Polstermöbel gleiten, und ich wusste, dass diese Art der Berührung die einzige war, die die „Neuheit“ des „neuen Zimmers“ unangetastet ließ.

Dann – eines Tages – wagte ich schüchtern die Frage, ob man nicht mein Klavier dort hinein stellen könne. Es hatte bis dahin im Wohnzimmer gestanden, links von der Küche (man konnte auch vom Entrée – einem annähernd quadratischen, mit Marmor ausgelegten Vorraum, von dem Türen in alle bewohnten Bereiche des Erdgeschosses abgingen – direkt dorthin gelangen). Anders als ich erwartet hatte, waren meine Eltern begeistert. Sie fanden nicht die Worte, um zu begründen, warum ihnen die Idee sofort einleuchtete, und das mussten sie auch nicht: Niemals hatte ich mich ihnen so nahe gefühlt, es war ein Moment des…ja, man könnte es so nennen, wenn es nicht ein so sehr antiquierter Ausdruck wäre (aber was kann ich dafür, dass die Sprache verarmt)…des Gleichklangs der Seelen. Hoch und heilig versprach ich, das Zimmer nur zu betreten, wenn ich Klavier spielen wollte, und ich versprach sogar, zum Klavier den immer selben Weg zurückzulegen (damit das Zimmer, dachte ich im Stillen, nur ja nicht den Eindruck gewönne, ich dringe in es ein). Meine Eltern quittierten diese altklugen, pathetischen Schwüre mit einem Lächeln, ich hatte sogar den Eindruck, dass sie mich nicht ernstnahmen. Aber sie würden sich wundern.

Die Klavierträger kamen. Sie waren beide kräftig, der eine dick, der andere dünn, und sie trugen die gleichen blauen Hosenanzüge, wie ich sie an den Arbeitern in der Fabrik meines Vaters gesehen hatte, als er mich – ein paar Monate war das her – einmal mitgenommen hatte, um mir alles zu zeigen: die langen grauen Flure, von denen die Türen zu den Büros abgingen, die Werkshallen mit den Maschinen, dem Geruch nach Eisen und dem Funkenflug der Schweißgeräte. Was mich dort als Teil eines ohnehin fremden Gesamtbildes fasziniert hatte, kam mir in dieser Umgebung mit dem Parkettboden und den Eichenmöbeln seltsam vor. Der Dicke reagierte mit einem Blick, gemischt aus Skepsis und Geringschätzung, als mein Vater erklärte, es gehe darum, das Klavier in ein anderes Zimmer zu tragen, zuckte dann die Achseln und hakte seine Gurte ein, der Dünnere hatte währenddessen keine Miene verzogen.

Würden die Männer begreifen, dass das neue Zimmer kapriziös wie ein junges Mädchen auf das Eindringen ihrer plumpen, schweren, verschwitzten Körper reagieren musste? Die Männer hoben das Instrument auf ein Brett mit vier Rollen, und mit klopfendem Herzen stolperte ich mehr als ich ging hinter ihnen her und hielt den Atem an, als sie daran gingen, den schweren Holzkasten durch die schmale Türöffnung zu manövrieren. Hätte ich doch um alles in der Welt das Klavier selbst schieben können! Ich war drauf und dran, meinen Vater zu bitten, ja ihn anzuflehen, er möchte die Männer anweisen, das Klavier zurückzutragen, es an seinem alten Ort zu belassen.

Es war zu spät. Dreiviertel des riesigen Kastens waren schon durch die Tür, und eben verschwanden die letzten Zentimeter zwischen den Rahmen, als der Dicke aufschrie. Er taumelte und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vornüber. Die Finger seiner Hand liefen im Nu blau an, meine Mutter, die sich irgendwo – vielleicht in der Küche – aufgehalten hatte, eilte herbei, blieb beim Anblick der Verletzung ruhig und kam zwei Minuten später mit einem Verbandskasten und einer Tüte, gefüllt mit Eiswürfeln, zurück. Mein Vater telefonierte, ich verstand aber nichts von dem, was er sagte.

Und ich?

Ich hätte mir Kummer und Schmerz erspart, wenn ich es zugelassen hätte, dass die Eindrücke auf mich einprallten. Ich hätte mich für Augenblicke nicht mehr von den Eindrücken unterscheiden können, getreu dem Motto, dass man sich mit einem Gegner verbünden soll, den man nicht überwinden kann, und durch diese chemische Verbindung wäre ich vielleicht als ein anderer aus der Situation herausgekommen, als ich hineingeraten war, aber ganz sicher hätte ich meine Energie nicht auf einen nutzlosen Abwehrkampf (ein Lieblingswort meines Vaters) verschwendet. Denn so war es: Ich wehrte mich. Ich baute in mir sekundenschnell einen Wall auf, hinter den ich mich zurückzog. Ich weigerte mich strikt, mich mit den Eindrücken zu verbünden: der Wirklichkeit dieser schwitzenden Panik, mit der der Arbeiter, vor Schmerz stöhnend, mit dem Fuß aufstampfte, der Wirklichkeit seines verzerrten Gesichts. Ich fand alles furchtbar – am meisten aber den Lärm! Sein Kollege, auf der anderen Seite der Tür, unserem Blick entzogen, brüllte polternd irgendwelche Unsinnigkeiten, die nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit waren, mir aber wehtaten wie persönliche Verletzungen. Begriff dieser Dummkopf denn nicht, dass die Neuheit des neuen Zimmers solches Poltern, Brüllen und Fluchen nicht vertrug? Oh Gott, was würde das anrichten? Ich hätte vor Wut weinen mögen. Das Zimmer war hilflos, schutzlos, und konnte seine Neuheit nicht verteidigen, aber ich, ich war nicht wehrlos, ich klatschte Mörtel in die Risse meines Schutzwalls, und ich spürte, dass ich es schaffte, in mir einen Raum freizuhalten – an des Zimmers statt freizuhalten -, in den die Eindrücke nicht eindrangen, in dem alles neu blieb, und diese Neuheit vermischte sich mit der des Zimmers und sie wurden eins.

Unterdessen hatte meine Mutter dem Klavierträger einen Verband angelegt, und mein Vater erbot sich, den verletzten Mann ins zwanzig Kilometer entfernte Krankenhaus zu bringen. Das wollte der aber nicht. „Sie können mich nachhause bringen“, sagte er und nannte eine Adresse im Nachbardorf. „Wie Sie meinen“, sagte mein Vater. Und teilte mit, dass „Ersatz“ bereits auf dem Weg hierher sei.