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Der Schriftsteller Tom Boyd hat geschafft, wovon viele träumen: Er lebt in Malibu, fährt einen Sportwagen und liebt eine berühmte Pianistin. Doch als die ihn verlässt, stürzt er in eine tiefe Krise. Obwohl seine Fans sehnsüchtig darauf warten, sieht Tom sich außerstande, einen neuen Roman zu schreiben. Da taucht eines Abends eine hübsche junge Frau bei ihm auf. Sie behauptet, Billie zu sein, eine seiner Figuren. Sie sei versehentlich aus dem Buch gefallen. Tom traut seinen Ohren nicht. Aber ehe er sichs versieht, überredet Billie ihn, mit ihr eine abenteuerliche Reise anzutreten, die in Mexiko beginnt und bis nach Paris führen wird.
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Für meine Mutter
Übersetzung aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-Reif
ISBN 978-3-492-97863-7
© XO Éditions 2010
Titel der französischen Originalausgabe:
»La Fille de Papier«
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: Jonathan Chen/EyeEm/GettyImages (Frau);
Kristina Dominianni/Arcangel (Himmel und Papier);
Daniel Sahlberg plainpicture/Folio Images (Skyline)
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Zitat
Vorwort
1 Das Haus am Meer
2 Zwei Freunde
3 Der kummervolle Mann
4 Die innere Welt
5 Paradies in Scherben
6 Als ich dich traf
7 Billie im Mondschein
8 Das gestohlene Leben
9 Die tätowierte Schulter
10 The Paper Girl
11 Das kleine Mädchen aus MacArthur Park
12 Rehab
13 Die Flüchtigen
14 Who’s that girl?
15 Der Pakt
16 Geschwindigkeitsbegrenzung
17 Billie & Clyde
18 Motel Casa del Sol
19 Road Movie
20 The City of Angels
21 Amor, Tequila und Mariachi
22 Aurore
23 Einsamkeit(en)
24 La Cucaracha
25 Die Gefahr, dich zu verlieren
26 Das Mädchen, das von anderswo kam
27 Always on my mind
28 Auf dem Prüfstand
29 Wenn wir zusammen sind
30 Das Labyrinth des Lebens
31 Die Straßen von Rom
32 Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben
33 Sich aneinander festhalten
34 Das Buch des Lebens
35 Herzensprüfung
36 Das letzte Mal, dass ich Billie gesehen habe
37 Die Hochzeit meiner besten Freunde
38 Lilly
39 Neun Monate später
Quellennachweis
Anmerkungen
Was ist der Sinn von Büchern,
wenn sie uns nicht dem wahren Leben näher bringen,
uns noch begieriger machen, es zu leben?
Henry Miller, Von der Unmoral der Moral
Sich für das Leben eines Autors zu interessieren,
weil man dessen Bücher liebt,
ist genauso absurd, wie sich für Gänse zu interessieren,
weil man gern Gänseleber isst.
Margaret Atwood
(USA Today, 6. Februar 2008)
Die »Angel Trilogy« fasziniert Amerika
Die aussichtslose Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und ihrem Schutzengel ist die literarische Sensation des Jahres. Die Entschlüsselung eines Phänomens.
Bei Doubleday, einem amerikanischen Verlag, hatte niemand wirklich damit gerechnet. Und trotzdem ist der erste Roman eines dreiunddreißigjährigen Unbekannten, Tom Boyd, bei einer Erstauflage von nur zehntausend Exemplaren innerhalb von zehn Monaten zu einem der absoluten Bestseller des Jahres geworden. Der Roman In the Company of Angels, erster Band einer geplanten Trilogie, stand achtundzwanzig Wochen an der Spitze der Bestsellerlisten. Mit über drei Millionen verkauften Exemplaren in den USA soll der Roman jetzt in über vierzig Sprachen übersetzt werden.
Zwischen Romanze und Fantasy angesiedelt, beschreibt der in Los Angeles spielende Roman die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen Dalilah, einer jungen Medizinstudentin, und Raphael, ihrem Schutzengel, der seit Kindertagen über sie wacht. Aber hinter dieser übernatürlichen Rahmenhandlung geht es um so sensible Themen wie Inzest, Vergewaltigung, Organspende und Wahnsinn.
Ähnlich wie bei Harry Potter oder der Twilight-Serie, hat In the Company of Angels schnell eine Leserschaft für diesen an Mythen reichen Roman gefunden. Seine leidenschaftlichsten Fans bilden eine echte »Community« mit einem eigenen Kodex und vielfältigen Theorien. Im Internet existieren bereits Hunderte von Sites, die Tom Boyds fiktionalen Charakteren gewidmet sind. Der ruhige und unprätentiöse Autor ist ein junger Lehrer aus dem Arbeiterviertel MacArthur Park in Los Angeles. Bevor er diesen unerwarteten Erfolg hatte, lehrte Boyd schwierigen Teenagern Englische Literatur in demselben Gymnasium, auf dem er selbst fünfzehn Jahre zuvor die Schulbank gedrückt hatte.
Nach dem Erfolg seines ersten Romans gab Boyd den Lehrberuf auf und unterschrieb einen Vertrag bei Doubleday für die beiden folgenden Titel der Trilogie – und erhielt zwei Millionen Dollar.
*
(Gramophone, 1. Juni 2008)
Die französische Pianistin Aurore Valancourt erhält den hoch dotierten Avery Fisher Prize
Am Samstag erhielt die berühmte einunddreißigjährige Pianistin den Avery Fisher Prize. Diese mit fünfundsiebzigtausend Dollar dotierte Auszeichnung wird alljährlich einem Musiker oder einer Musikerin für seine oder ihre herausragende Leistung im Bereich der klassischen Musik verliehen.
Die am 7. Juli 1977 in Paris geborene Aurore Valancourt gilt als eine der herausragendsten Musikerinnen ihrer Generation.
Eine Klaviervirtuosin
Ausgebildet am Curtis Institute of Philadelphia, wird sie 1997 vom Dirigenten André Grévin entdeckt, der sie zu einer Tournee unter seiner Leitung einlädt. Eine Anerkennung, die ihr die Tore zu einer internationalen Karriere öffnet. In der Folge tritt sie regelmäßig mit einigen der führenden Orchester der Welt auf, ist aber durch den Elitismus des Systems schnell ernüchtert. Ohne Vorwarnung zieht sie sich im Januar 2003 aus der Klassikszene zurück. Sie unternimmt eine zweijährige Weltreise mit dem Motorrad, die im indischen Sawai Madhopur endet. Hier verbringt sie mehrere Monate, umgeben von den Seen und Bergen des nahe gelegenen Nationalparks.
2005 lässt sie sich in Manhattan nieder und findet den Weg in die Musikszene und die Aufnahmestudios zurück, engagiert sich aber gleichzeitig auch aktiv als Umweltschützerin. Das steigert das Medieninteresse und ihren Bekanntheitsgrad nicht nur bei Musikfreunden.
Sie macht sich ihr gutes Aussehen zunutze und posiert für mehrere Modemagazine (Glamourfotos für Vanity Fair, andere, etwas spärlicher bekleidet, für Sports Illustrated ...) und wird zur Werbeträgerin einer großen Damenwäsche-Marke. Dank dieser Verträge ist sie die bestbezahlte Musikerin der Welt.
Ein atypischer und umstrittener Star
Trotz ihres jungen Alters ist Valancourts Spiel technisch perfekt, auch wenn man ihr gelegentlich vorwirft, es sei nicht emotional genug, besonders bei der Interpretation der Stücke ihres romantischen Repertoires.
Indem sie mit Nachdruck auf ihre Freiheit und Unabhängigkeit pocht, wird sie zum »Albtraum« für Konzertorganisatoren: Sie ist berühmt für Absagen in letzter Minute und ihre Divaallüren.
Auch im Privatleben verhält sie sich nicht anders. Diese ewige Junggesellin gibt vor, nicht an einer festen Bindung interessiert zu sein, und konzentriert sich auf den Augenblick, was ihre Eroberungen zwangsläufig vervielfacht. Ihre Liebschaften mit Berühmtheiten aus dem Showbusiness machen aus ihr die einzige klassische Musikerin, über die regelmäßig in der Regenbogenpresse berichtet wird, was die Puristen der Klaviermusik nicht unbedingt schätzen ...
*
(Los Angeles Times, 26. Juni 2008)
Der Autor der »Angel Trilogy« spendet 500 000 Dollar für eine Schule in L. A.
Tom Boyd, dessen zweiter Roman an der Spitze der Bestsellerlisten steht, spendet, wie die Schulleitung bekannt gibt, der Harvest-Highschool von Los Angeles eine halbe Million Dollar. Als Teenager besuchte Boyd diese Schule, die im sozialen Brennpunkt des MacArthur-Park-Viertels liegt. Selbst Lehrer geworden, unterrichtete er Literatur, bevor er sich aufgrund des Erfolgs seines Romans aus dem Schuldienst zurückzog.
Auf Nachfrage unserer Zeitung wollte er diese Information nicht bestätigen. Der äußerst pressescheue Romancier soll, wie es heißt, bereits am dritten Band seiner Trilogie arbeiten.
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(Stars News, 4. August 2008)
Die schöne Aurora wieder Single!
Das Unglück des einen ist das Glück des anderen. Mit einunddreißig Jahren hat sich Aurora, Pianistin und Topmodel, von ihrem Freund, dem spanischen Tennisspieler Javier Santos, getrennt, mit dem sie eine mehrmonatige Liaison hatte.
Der Tennisstar erholt sich gerade nach seiner eindrucksvollen Leistung in Roland-Garros und Wimbledon bei einem wohlverdienten Kurzurlaub mit Freunden auf Ibiza. Was seine ehemalige Herzensdame betrifft, so dürfte sie nicht lange Single bleiben.
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(Variety, 4. September 2008)
Die »Angel Trilogy« bald im Kino
Columbia Pictures hat soeben die Filmrechte an Tom Boyds Fantasy-Romanze »Angel Trilogy« erworben.
Millionen von Lesern haben In the Company of AngelsundThe Memory of Angels,die ersten beiden Bände der Trilogie, geradezu verschlungen.
Die Arbeit am Drehbuch für die Verfilmung des ersten Bandes soll bald beginnen.
*
Hallo, Mr Boyd. Ich wollte Ihnen schon seit Langem schreiben. Ich heiße Patricia, bin 31 Jahre alt und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Ich habe den Mann, den ich liebte und mit dem ich eine Familie gegründet habe, bis zu seinem letzten Atemzug begleitet. Er litt an einer neurologischen Krankheit, die ihn nach und nach all seiner Kräfte beraubte. Diese Phase meines Lebens hat mich mehr verletzt, als ich mir eingestehen will. Unsere Geschichte war so kurz ... In den Monaten nach dem Tod meines Mannes habe ich Ihre Bücher entdeckt.
Ich habe mich in Ihre Geschichten geflüchtet und bin in Harmonie mit mir selbst daraus hervorgegangen. In Ihren Romanen haben die Personen oft die Chance, ihr Schicksal zu verändern, ihre Vergangenheit und ihre Fehler zu korrigieren. Ich selbst hoffe, das Glück zu haben, noch einmal zu lieben und geliebt zu werden.
Danke dafür, dass Sie mir geholfen haben, mich mit meinem Leben zu versöhnen.
*
(Paris Matin, 12. Oktober 2008)
Aurore Valancourt: Wirklich talentiert oder medienwirksame Hochstaplerin?
Die Menge drängte sich gestern Abend vor dem Théâtre des Champs-Élysées.
Das Medienimage der jungen und brillanten Musikerin erregt weiterhin Neugier.
Auf dem Programm stand Beethovens 5. Klavierkonzert, gefolgt von Schuberts Impromptus. Eine vielversprechende Auswahl, die jedoch nicht die Erwartungen erfüllte.
Trotz einer einwandfreien Technik mangelte es dem Spiel an Seele und Poesie. Scheuen wir uns nicht, es offen zu sagen – Aurore Valancourt ist eher ein Produkt des Marketings als jene hochbegabte und geniale Pianistin, als die sie die Medien feiern. Ohne ihre attraktive Erscheinung und ohne ihr Engelsgesicht wäre sie nur eine gewöhnliche Musikerin, denn das »Valancourt-Phänomen« beruht auf nichts anderem als auf einer gut geölten Maschinerie, die eine durchschnittliche Interpretin in einen internationalen Star verwandelt hat.
Und das Traurigste an alledem ist, dass ihre musikalische Unreife das voreingenommene Publikum nicht davon abgehalten hat, ihre Darbietung mit Standing Ovations zu bedenken.
*
Hallo, Mr Boyd. Ich heiße Myra und bin 14 Jahre alt. Ich komme aus der Vorstadt, wie es in den Zeitungen so schön heißt. Ich gehe in die MacArthur Parc School und habe Ihren Vortrag gehört, den Sie in meiner Schule gehalten haben. Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich eines Tages für Romane interessieren könnte. Und doch haben mich Ihre Geschichten begeistert. Ich habe gespart, um mir Ihr zweites Buch kaufen zu können. Aber da ich nicht genug Geld hatte, war ich mehrmals bei Barnes & Noble, bis ich es ausgelesen hatte.
Ich wollte mich einfach nur bedanken.
*
(TMZ.com, 13. Dezember 2008)
Aurore und Tom verliebt beim Konzert der Kings of Leon?
Die Kings of Leon spielten Samstagnacht im Los Angeles Forum vor vollem Haus. Unter den Fans, die der Rockgruppe aus Nashville applaudierten, wurden auch die Pianistin Aurore Valancourt und der Schriftsteller Tom Boyd gesichtet, die sich sehr nahe zu sein schienen. Arm in Arm tauschten sie verliebte Blicke und tuschelten. Kurz, diese beiden sind sehr viel mehr als Freunde. Die Fotos sprechen für sich. Urteilen Sie selbst ...
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(TMZ.com, 3. Januar 2009)
Aurore Valancourt und Tom Boyd zusammen beim Jogging
Der Wunsch, schlank zu bleiben, oder verliebtes Techtelmechtel? Aurore Valancourt und Tom Boyd haben jedenfalls eine lange Strecke Seite an Seite durch den noch verschneiten Central Park zurückgelegt. [...]
*
(TMZ.com, 18. März 2009)
Aurore Valancourt und Tom Boyd suchen eine Wohnung in Manhattan
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(USA Today, 10. April 2009)
Das neue Buch von Tom Boyd wird vor Jahresende erscheinen
Der Verlag Doubleday kündigte gestern an, dass der letzte Band von Tom Boyds Saga im kommenden Herbst erscheint. Gute Nachrichten für die begeisterten Fans des Autors.
Der letzte Band der Angel-Trilogie – er trägt den Titel Mix-Up in Heaven – dürfte einer der großen Erfolge des Jahres werden.
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(Entertainment Today, 6. Mai 2009)
Tom sucht den perfekten Ring für Aurore
Der Schriftsteller hat drei Stunden bei Tiffany in New York verbracht auf der Suche nach dem perfekten Ring für die Frau, mit der er seit einigen Monaten liiert ist.
Eine Verkäuferin erzählt: »Er schien sehr verliebt zu sein und sehr bemüht, den Ring zu finden, der seine Freundin glücklich machen würde.«
*
Dear Mr Boyd,
zunächst entschuldige ich mich für meine Schreibfehler. Ich bin Russin, und mein Englisch ist nicht perfekt. Ihr Roman wurde mir von einem Mann geschenkt, den ich in Paris kennengelernt und sehr geliebt habe. Als er mir das Buch übergab, hat er nur gesagt: »Lies, und du wirst verstehen.« Dieser Mann (er heißt Martin) und ich sind heute nicht mehr zusammen, aber Ihre Geschichte erinnert mich an unsere Beziehung, die mich erfüllt und glücklich gemacht hat. Wenn ich Ihre Bücher lese, kann ich der Wirklichkeit entfliehen. Mit dieser Mail möchte ich mich bedanken und wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrem Privatleben.
Svetlana
*
(Onl!ne, 30. Mai 2009)
Aurore Valancourt und Tom Boyd streiten sich in einem Restaurant
*
(Onl!ne, 16. Juni 2009)
Ist Aurore Valancourt Tom Boyd »untreu«?
*
(TMZ.com, 2. Juli 2009)
Aurore Valancourt und Tom Boyd: Das Ende einer Liebesgeschichte
Die berühmte Pianistin, die seit mehreren Monaten mit dem Schriftsteller Tom Boyd sehr glücklich gewesen zu sein schien, wurde letzte Woche in Begleitung von James Bugliari, dem Drummer der Rockgruppe The Sphinx, gesehen.
*
Sicher haben Sie dieses Video schon gesehen ... Es gehörte lange zu den meist aufgerufenen Clips auf YouTube und Dailymotion und erhielt unzählige Kommentare – die meisten spöttisch, andere aber auch mitfühlend.
Der Ort? Die Royal Albert Hall in London. Das Event? Die Proms, eine der berühmtesten Konzertreihen klassischer Musik, direkt übertragen von der BBC.
Am Anfang des Videos sieht man Aurore Valancourt die Bühne betreten, bejubelt von ihren Fans, die sich unter der prächtigen viktorianischen Kuppel von ihren Sitzen erhoben haben. In ihrem schwarzen Kleid, lediglich eine schlichte Perlenkette als Schmuck, begrüßt sie das Orchester, setzt sich an den Flügel und spielt die ersten Takte von Schumanns Klavierkonzert a-Moll op. 54.
Während der ersten fünf Minuten lauscht das Publikum gebannt, ist betört von der Musik. Zunächst ungestüm, wird die Phrasierung freier, sanft wie ein Traum, bis ...
... bis ein Mann, ungeachtet der Sicherheitsbarrieren, auf die Bühne klettert und auf die Pianistin zugeht.
»Aurore!«
Die junge Frau zuckt zusammen und stößt einen erstickten Schrei aus.
Während das Orchester abrupt aufhört zu spielen, tauchen zwei Leibwächter auf, die den Eindringling ergreifen und zu Boden drücken.
»Aurore!«, ruft er noch einmal.
Die Pianistin, die sich wieder gefasst zu haben scheint, erhebt sich und bedeutet den beiden Bodyguards, den Unruhestifter loszulassen. Nach einem Moment der Verwirrung herrscht jetzt eine befremdliche Stille im Saal.
Der Mann steht auf und steckt, um wenigstens den Anschein von Haltung zu wahren, das Hemd zurück in seine Hose. Seine Augen sind gerötet von Alkohol und Schlafmangel.
Er ist weder ein Terrorist noch ein Erleuchteter.
Nur ein verliebter Mann.
Nur ein unglücklicher Mann.
Tom nähert sich Aurore und macht ihr eine ungeschickte Liebeserklärung in der irrwitzigen Hoffnung, damit die Glut im Blick der noch immer Geliebten wieder entfachen zu können.
Doch Aurore, unfähig, ihre Verlegenheit zu verbergen oder seinem Blick standzuhalten, unterbricht ihn: »Es ist aus, Tom.«
Als Zeichen des Unverständnisses hebt er die Arme.
»Es ist aus«, murmelt sie und senkt die Augen.
*
(Los Angeles News, 10. September 2009)
Der Autor der Angel-Trilogie wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet
Am Freitag wurde der Bestsellerautor, der alkoholisiert mit 150 km/h über eine Straße mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h raste, von der Polizei festgenommen.
Statt sich reumütig zu zeigen, soll Boyd mehrere Polizeibeamte beleidigt und gedroht haben, für ihre Entlassung zu sorgen. Er wurde in Handschellen abgeführt und in eine Ausnüchterungszelle gesperrt. Boyd hatte 1,6 Promille Blutalkohol, die Promille-Obergrenze in Kalifornien liegt bei 0,8 Promille.
Wenige Stunden später wieder freigelassen, ließ er über seinen Agenten Milo Lombardo eine Entschuldigung verlesen. »Ich habe mich wie einer der letzten Idioten aufgeführt und mit meinem unverantwortlichen Verhalten nicht nur mein Leben, sondern auch das anderer gefährdet.«
*
(Publishers Weekly, 20. Oktober 2009)
Das Erscheinen des letzten Bandes der Angel Trilogy verzögert sich
Der Verlag Doubleday hat soeben angekündigt, dass Tom Boyds neuer Roman erst nächsten Sommer erscheint. Die Leser müssen sich also noch acht Monate gedulden, um zu erfahren, wie die Erfolgssaga ausgeht.
Die Verzögerung, so heißt es, sei auf den angeschlagenen Zustand des Autors zurückzuführen, der nach einer schmerzvollen Trennung an einer Depression leide.
Diese Version wird aber von Boyds Agenten Milo Lombardo vehement zurückgewiesen: »Tom leidet keinesfalls unter einer Schreibblockade! Er arbeitet täglich äußerst hart, um seinen Lesern einen bestmöglichen Roman liefern zu können. Das kann jeder verstehen.«
Diese Erklärung scheint allerdings nicht alle Fans zu überzeugen! Innerhalb von einer Woche wurden die Büros von Doubleday mit Protestschreiben überschüttet. Es wurde sogar eine Petition ins Internet gestellt, in der verlangt wird, Tom Boyd möge seinen Verpflichtungen nachkommen.
*
Dear Mr Boyd. Ich werde Ihnen nicht mein Leben erzählen. Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass ich unlängst wegen einer schlimmen Depression in einer psychiatrischen Klinik war. Ich habe sogar mehrmals versucht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Während dieses Klinikaufenthalts hat mich eine Krankenschwester dazu überredet, eines Ihrer Bücher zu lesen. Ich hatte natürlich schon von Ihnen gehört – es ist kaum möglich, das Cover Ihrer Bücher in der Subway, im Bus oder auf den Caféterrassen zu übersehen. Doch bisher war ich der Meinung, Ihre Geschichten wären nichts für mich. Das war ein Irrtum. Ich weiß, das Leben ist nicht wie in einem Roman, doch ich habe in Ihren Plots und Ihren Hauptpersonen diesen kleinen, so wichtigen Hoffnungsschimmer gefunden.
Dafür danke ich Ihnen.
Yunjin Buym
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(Onl!ine, 23. Dezember 2009)
Tom Boyd in Paris verhaftet
Der Bestseller-Autor wurde letzten Montag am Pariser Airport Charles-de-Gaulle festgenommen, nachdem er sich mit dem Kellner einer Cafeteria geprügelt hatte, der ihn wegen seines angetrunkenen Zustands nicht bedienen wollte. Boyd wurde in Polizeigewahrsam genommen. Nach einer Befragung hat die Staatsanwaltschaft das Prozessdatum auf Ende Januar festgelegt. Boyd muss sich vor der Strafkammer von Bobigny wegen Störung der öffentlichen Ordnung, mutwilliger Beschädigung, Beleidigung und Körperverletzung verantworten.
*
Dear Mr Boyd. Zum ersten Mal wende ich mich an jemanden, den ich nur über seine Bücher kenne!
Ich lehre Literatur in einem kleinen Dorf im Süden von Serbien, wo es weder Buchhandlungen noch Bibliotheken gibt. Erlauben Sie mir, Ihnen an diesem 25. Dezember frohe Weihnachten zu wünschen. Die Dunkelheit senkt sich über die verschneite Landschaft. Ich hoffe, dass Sie eines Tages unser Land besuchen ... und warum dann nicht auch mein Dorf Rickanovica!
Danke für all diese Träume.
Herzlich,
Mirka
PS: Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich kein Wort von dem glaube, was in den Zeitungen und im Internet über Ihr Privatleben erzählt wird.
*
(New York Post, 2. März 2010)
Der Abstieg des Tom Boyd
Gestern Abend gegen 23 Uhr geriet der Bestsellerautor aus noch unbekanntem Grund mit einem Gast des Freeze, einer Szenebar in Beverly Hills, aneinander. Die Auseinandersetzung der beiden Männer endete in einer handfesten Schlägerei. Die Polizei, die schnell zur Stelle war, nahm den jungen Boyd fest, nachdem sie zehn Gramm Crystal Meth bei ihm gefunden hatte.
Boyd wurde wegen Drogenbesitzes verurteilt, auf Bewährung freigelassen, wird sich aber demnächst vor dem Obersten Gerichtshof von Los Angeles verantworten müssen.
Eines steht fest: Diesmal wird er einen guten Anwalt brauchen, um nicht im Knast zu landen.
*
Ich möchte mich Ihnen vorstellen: Ich heiße Eddy, bin 19 Jahre alt und bereite mich gerade auf meine Prüfung zum Konditor in Stains, einem Vorort von Paris, vor. Meine Schulzeit habe ich wegen meines schlechten Umgangs und meiner Vorliebe für Gras total versaut.
Aber vor einem Jahr ist ein tolles Mädchen in mein Leben getreten, und um sie nicht zu verlieren, habe ich beschlossen, mit dem ganzen Quatsch aufzuhören. Ich habe mich wieder ans Lernen gemacht, und mit ihr lerne ich nicht nur, sondern fange auch an zu verstehen. Unter den Büchern, die sie mir empfohlen hat, sind Ihre meine Favoriten: Sie bringen meine besten Seiten zum Vorschein.
Jetzt warte ich ungeduldig auf Ihre nächste Geschichte, doch mir gefällt überhaupt nicht, was in den Medien über Sie zu lesen ist. In Ihren Romanen sind meine liebsten Charaktere diejenigen, die es verstehen, sich selbst und ihren Werten treu zu bleiben. Wenn also etwas wahr am Inhalt Ihrer Bücher ist, dann geben Sie acht auf sich, Mister Boyd, und verlieren Sie sich nicht in Alkohol oder Drogen.
Und werden Sie kein Loser, so wie ich einer war ...
Mit den besten Wünschen,
Eddy
Eine Frau, die nicht dumm ist, versucht,
wenn sie ein Bruchstück von einem Menschen trifft,
früher oder später, es zu retten. Das gelingt ihr manchmal.
Aber eine Frau, die nicht dumm ist, verwandelt,
wenn sie einen gesunden Mann findet,
ihn früher oder später in ein Bruchstück.
Das gelingt ihr immer.
Cesare Pavese
»Mach auf, Tom!«
Der Schrei verlor sich im Wind und blieb ohne Antwort.
»Tom, ich bin’s, Milo. Ich weiß, dass du da bist. Komm aus deiner Höhle, verdammt noch mal!«
Los Angeles County, KALIFORNIEN
Ein Haus am Strand
Seit mehr als fünf Minuten stand Milo Lombardo jetzt schon auf der Terrasse des Hauses seines besten Freundes und trommelte mit den Fäusten gegen die Fensterläden.
»Mach auf, Tom, oder ich breche die Tür auf! Ich bin stark genug, wie du weißt!«
Milo, in elegantem Anzug, maßgeschneidertem Hemd und mit modischer Sonnenbrille, schien äußerst schlecht gelaunt.
Er hatte zunächst geglaubt, die Zeit würde Toms Wunden heilen, doch statt sich allmählich aufzulösen, hatte sich die Krise, die er durchmachte, nur noch verschlimmert. Während der letzten sechs Monate hatte der Autor das Haus kaum mehr verlassen und sich in seinem goldenen Käfig verbarrikadiert, ohne auf das Klingeln seines Handys oder das seiner Sprechanlage zu achten.
»Ich sage es noch einmal, Tom: Lass mich jetzt endlich rein!«
Jeden Abend hämmerte er an die Tür der Luxusresidenz, erhielt aber keine andere Antwort als die Beschwerden der verärgerten Nachbarn oder die unausweichliche Intervention der Security Guards, die über die Ruhe und Sicherheit in der Nobelenklave Malibu Colony wachten.
Dieses Mal aber hatte er genug vom Warten: Er musste handeln, bevor es zu spät war.
»Okay, du hast es nicht anders gewollt!«, drohte er wütend, legte sein Jackett ab und griff nach dem Brecheisen, das ihm Carole, eine Freundin aus Kindertagen, die inzwischen als Detective beim Los Angeles Police Department arbeitete, besorgt hatte.
Milo warf einen Blick hinter sich. Der Strand aus feinem Sand schlummerte unter der frühherbstlichen Sonne. An seinem Saum reihten sich die Luxusvillen auf, gleichsam vereint in demselben Bestreben, Ungebetenen den Zutritt zu versperren. Großindustrielle und Manager der Entertainment-Branche hatten hier ihr Domizil gewählt. Ganz zu schweigen von Filmstars wie Tom Hanks, Sean Penn, Leonardo DiCaprio, Jennifer Aniston, die alle ihren Besitz hier hatten.
Geblendet vom Sonnenlicht, blinzelte Milo. Etwa fünfzig Meter entfernt saß auf seinem Hochsitz ein gebräunter Adonis in Shorts, ein Lifeguard, der mit seinem Fernglas wie hypnotisiert die Surferinnen beobachtete, die sich dem Spiel der mächtigen Wellen des Pazifiks hingaben.
Nachdem er sicher war, freie Hand zu haben, machte sich Milo ans Werk.
Er schob das gebogene Ende des Brecheisens unter den Rahmen des Fensterladens und drückte den Griff mit aller Gewalt nach unten, bis die Holzlatten zersplitterten.
Hat man das Recht, seine Freunde vor sich selbst zu schützen?, fragte er sich und drang in das Haus ein.
Dieser Moment moralischer Zweifel aber war nur von kurzer Dauer. Einmal abgesehen von Carole, hatte Milo immer nur einen einzigen Freund auf dieser Welt gehabt, und er war zu allem bereit, um ihn seinen Kummer vergessen zu lassen und ihm neue Lebensfreude zu geben.
*
»Tom?«
Die Luft in dem dämmerigen Erdgeschoss war stickig und roch nach Verdorbenem. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Küchenspüle, und im Wohnzimmer sah es aus wie nach einem schweren Einbruch: umgestoßene Möbel, Kleidungsstücke waren am Boden verteilt, Gläser und Teller zerbrochen. Milo stieg über Pizzaschachteln, leere Aluschalen von Fertiggerichten, Bierflaschen und öffnete die Fenster, um Licht und frische Luft hereinzulassen.
Das in L-Form gebaute Haus besaß zwei Stockwerke und ein unterirdisches Schwimmbad. Trotz der Unordnung strahlte es mit seinen Möbeln aus Ahornholz, dem honigfarbenen Parkett und der Fülle an natürlichem Licht eine friedliche Atmosphäre aus. Die Einrichtung war eine Mischung aus Vintage- und Designmöbeln und vereinte modernes Mobiliar mit klassischem, das aus einer Zeit stammte, zu der Malibu noch ein Strand für Surfer und nicht der Rückzugsort von Milliardären war.
Tom lag zusammengerollt auf seinem Sofa. Ein Angst einflößender Anblick: blass, mit struppigem Haar, das Gesicht halb verborgen unter einem Bart à la Robinson Crusoe – so hatte er nichts mit den Fotos auf der Rückseite seiner Romane gemein.
»Los, los, auf!«, rief Milo.
Er trat ans Sofa. Auf dem Couchtisch lagen mehrere zerknüllte Rezepte von Dr. Sophia Schnabel, der »Psychiaterin der Stars«, deren Praxis in Beverly Hills einen Großteil des örtlichen Jetsets mit mehr oder weniger legalen Psychopharmaka versorgte.
»Wach auf, Tom!«, brüllte Milo fast und kniete neben seinem Freund nieder.
Misstrauisch beäugte er die Etiketten auf den Tablettenröhrchen, die am Boden und auf dem Tisch verstreut lagen: Vicodin, Valium, Xanax, Zoloft, Stilnox. Eine höllische Mischung an Schmerzkillern, Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Schlaftabletten. Der tödliche Cocktail des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
»Verdammt!«
Voller Panik, weil er eine Medikamentenvergiftung befürchtete, packte er Tom bei den Schultern und schüttelte ihn, um ihn aus seinem künstlichen Schlaf zu reißen.
Nach einer Weile schlug der Schriftsteller schließlich die Augen auf.
»Was, zum Teufel, tust du hier?«, murmelte er.
Ich hörte nicht auf, all die Dinge zu wiederholen, die man meint sagen zu müssen, um einem gebrochenen Herzen zu helfen, aber Worte sind keine Hilfe ... Es gibt keine Worte, die die Macht besitzen, denjenigen zu heilen, der glaubt, dass ihm nichts geblieben ist, weil er die, die er liebt, verloren hat.
Richard Brautigan
»Was, zum Teufel, tust du hier?«, murmelte ich.
»Ich mache mir Sorgen, Tom! Seit Monaten verbarrikadierst du dich und stopfst dich mit Beruhigungsmitteln voll.«
»Das ist ganz allein mein Problem«, gab ich zurück und versuchte, mich aufzurichten.
»Nein, Tom, deine Probleme sind auch meine Probleme. Ich dachte, dazu sind Freunde da, oder?«
Auf dem Sofa hockend, mit den Händen mein Gesicht bedeckend, zuckte ich die Schultern, halb beschämt, halb verzweifelt.
»Auf alle Fälle«, fuhr Milo fort, »lasse ich nicht zu, dass eine Frau dich in diesen Zustand versetzt!«
»Du bist nicht mein Vater!«, erwiderte ich und erhob mich mühsam.
Mir wurde plötzlich schwindelig, und ich musste mich auf die Rückenlehne des Sofas stützen.
»Das stimmt, aber wenn Carole und ich nicht da sind, um dir zu helfen, wer sollte es dann tun?«
Ich kehrte ihm den Rücken zu und ignorierte seine Frage. In Boxershorts durchquerte ich den Raum und betrat die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Milo folgte mir, griff nach einem Müllsack und öffnete meinen Kühlschrank, um ihn auszumisten.
»Außer, du planst, dich mit abgelaufenem Joghurt umzubringen, rate ich dir, dich von diesen Milchprodukten zu trennen«, sagte er und schnupperte an einer Packung Quark mit zweifelhaftem Geruch.
»Ich zwinge dich nicht, davon zu essen.«
»Und diese Weintrauben ... bist du sicher, Obama war schon im Amt, als du sie gekauft hast?«
Dann wandte er sich dem Wohnzimmer zu und sammelte Pizza- und Fastfoodbehälter und leere Flaschen ein.
»Warum bewahrst du das hier auf?«, fragte er in vorwurfsvollem Ton und deutete auf einen digitalen Fotorahmen, der wechselnde Bilder von Aurore zeigte.
»Weil ich bei mir zu Hause bin und bei mir zu Hause niemandem Rechenschaft schuldig bin.«
»Mag sein, aber dieses Mädchen hat dir dein Herz in tausend Stücke zerbrochen. Glaubst du nicht, dass es an der Zeit ist, sie von ihrem Podest herunterzuholen?«
»Hör zu, Milo, du hast Aurore nie gemocht ...«
»Das stimmt, ich habe sie nicht sonderlich geschätzt. Und um ehrlich zu sein, wusste ich immer schon, dass sie dich verlassen würde.«
»Ach ja? Dürfte ich fragen, warum?«
Die Worte, die Milo seit Langem auf der Zunge hatte, sprudelten nur so aus ihm heraus.
»Weil Aurore nicht so ist wie wir! Weil sie auf Leute wie uns herabblickt! Weil sie mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Weil das Leben für sie immer ein Spiel war, während es für uns immer ein Kampf war ...«
»Als wäre das alles so einfach ... Du kennst sie ja gar nicht richtig!«
»Hör auf, sie ständig zu verteidigen! Schau lieber, was sie dir angetan hat!«
»Dir würde so was natürlich nie passieren! Die Liebe hat in deinem Leben ja auch nie Platz gehabt – du mit deinen Affären.«
Ohne dass sie es wirklich gewollt hatten, war der Wortwechsel lauter geworden, und jede Entgegnung war wie eine Ohrfeige.
»Aber was du empfindest, hat nichts mit Liebe zu tun!«, erregte sich Milo. »Das ist was ganz anderes: Es ist eine Mischung aus Masochismus und zerstörerischer Leidenschaft.«
»Ich gehe wenigstens Risiken ein. Während du ...«
»Ich gehe keine Risiken ein? Ich bin mit dem Fallschirm vom Empire State Building gesprungen. Das Video war überall im Internet zu sehen.«
»Und was hat dir das eingebracht außer einer saftigen Geldstrafe?«
So als hätte er mich gar nicht gehört, zählte Milo weiter auf: »Ich bin die Hänge der Cordillera Blanca in Peru mit Skiern runtergefahren; ich bin vom Gipfel des Mount Everest mit dem Gleitschirm hinabgesegelt; ich bin einer der wenigen Menschen auf der Welt, die den K2 bestiegen haben ...«
»Wenn es darum geht, den Kamikaze zu spielen – da bist du wirklich ein Held. Aber mir geht es um das Risiko, zu ›lieben‹. Und dieses Risiko bist du nie eingegangen, nicht einmal mit ...«
»Hör bloß auf!«, rief Milo wütend und packte mich am Kragen, damit ich den Satz nicht zu Ende sprechen konnte.
So verharrte er mehrere Sekunden, die Hände zu Fäusten geballt und mit finsterem Blick, bis ihm klar wurde, in welcher Situation er sich befand: Er war gekommen, um zu helfen, und jetzt war er kurz davor, mir einen Fausthieb zu verpassen ...
»Tut mir leid«, murmelte Milo und ließ von mir ab.
Ich zuckte nur die Schultern und trat auf die große Terrasse, von der man aufs Meer hinuntersah. Sichtgeschützt führte eine private Treppe hinab zum Strand. Auf den Stufen standen Terrakottatöpfe mit sterbenden Pflanzen, die ich schon seit Monaten nicht mehr gegossen hatte.
Um meine Augen gegen die Sonne zu schützen, setzte ich eine alte Ray-Ban-Brille auf, die vergessen auf dem Teakholztisch lag, und ließ mich auf meinen Schaukelstuhl sinken.
Nach einem kurzen Umweg über die Küche kam Milo mit zwei Tassen Kaffee zurück; eine reichte er mir.
»Gut, lass uns mit den Kindereien aufhören und ernsthaft reden«, sagte er und hockte sich auf die Tischkante.
Den Blick ins Leere gerichtet, antwortete ich nicht. In diesem Moment hatte ich nur einen Wunsch: dass er mir so schnell wie möglich erklärte, weshalb er hergekommen war, und dann augenblicklich wieder verschwand, damit ich meinen ganzen Kummer über der Kloschüssel auskotzen konnte, bevor ich mir wieder eine Handvoll Pillen einwerfen und mich weit von der Realität entfernen würde.
»Wie lange kennen wir uns schon, Tom? Fünfundzwanzig Jahre?«
»So in etwa«, antwortete ich und nahm einen Schluck Kaffee.
»Seit unserer Kindheit bist du immer die Stimme der Vernunft gewesen«, begann Milo. »Du hast mich in der Vergangenheit von mehr als einer Dummheit abgehalten. Ohne dich wäre ich schon vor Langem im Knast gelandet oder vielleicht sogar tot. Ohne dich wäre Carole nicht Polizistin geworden. Ohne dich hätte ich nicht das Haus für meine Mutter kaufen können. Kurz, ich weiß, dass ich dir alles verdanke.«
Verlegen fegte ich all diese Argumente mit dem Handrücken beiseite. »Wenn du nur hergekommen bist, um mir solchen Blödsinn zu erzählen ...«
»Das ist kein Blödsinn! Wir haben allem widerstanden, Tom: den Drogen, der Gewalt in den Gangs, einer beschissenen Kindheit ...«
Dieses Argument traf ins Schwarze und löste ein leichtes Frösteln in mir aus. Trotz meines gesellschaftlichen Aufstiegs war ein Teil von mir immer noch fünfzehn Jahre alt und hatte nie das Arbeiterviertel MacArthur Park verlassen mit seinen Dealern, seinen Verlierern, seinen von Geschrei und Gebrüll erfüllten Treppenhäusern. Und auch nicht die Angst, die dort herrschte.
Ich wandte den Kopf ab, und mein Blick verlor sich über dem Meer. Das Wasser war ruhig und schimmerte in tausend Schattierungen – von Türkis bis Ultramarin. Nur ein paar Wellen bewegten den Pazifik. Eine Ruhe, die im Gegensatz stand zu unserer turbulenten Kindheit und Jugend.
»Wir sind clean«, fuhr Milo fort. »Wir haben unser Geld auf ehrliche Weise verdient. Wir tragen keine Knarre unter dem Blouson. Kein Tropfen Blut klebt an unseren Hemden, keine Spur von Kokain an unseren Banknoten ...«
»Ich verstehe nicht ganz, was das zu tun hat mit ...«
»Wir haben alles, um glücklich zu sein, Tom! Gesundheit, Jugend, einen Job, der uns Spaß macht. Du kannst doch nicht alles wegen einer Frau kaputt machen! Das wäre zu blöd. Sie verdient es nicht. Spar dir deine Trauer für Zeiten auf, wenn ein wirkliches Unglück an unsere Tür klopft.«
»Aurore war die Liebe meines Lebens! Kannst du das nicht verstehen? Kannst du meinen Schmerz nicht respektieren?«
Milo seufzte. »Soll ich dir sagen, was ich denke: Wenn sie wirklich die Frau deines Lebens wäre, dann säße sie heute hier bei dir und würde versuchen, dich aus diesem selbstzerstörerischen Wahn zu befreien.« Er kippte seinen Espresso hinunter und fuhr dann fort: »Du hast alles getan, um sie zurückzuerobern. Du hast sie auf Knien angefleht, hast versucht, sie eifersüchtig zu machen, hast dich vor der ganzen Welt lächerlich gemacht. Es ist aus: Sie kommt nicht zurück. Sie hat ein neues Kapitel aufgeschlagen, und das solltest du auch tun.«
»Das schaffe ich nicht«, gab ich zu.
Er schien einen Augenblick nachzudenken, und plötzlich huschte über sein Gesicht ein Ausdruck, der zugleich sorgenvoll und mysteriös schien.
»Ich glaube, du hast einfach nicht mehr die Wahl.«
»Warum?«
»Geh duschen und zieh dich an.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu Spago, um ein saftiges Rindersteak zu essen.«
»Ich hab eigentlich keinen Hunger.«
»Wir gehen nicht wegen des Essens dorthin.«
»Warum dann?«
»Wegen des Drinks, den du zur Stärkung brauchst, wenn du gehört hast, was ich dir zu sagen habe.«
Nein, Jef, bist nicht allein,
Und nu heul doch nich mehr.
Was solln die Leute denn sagen!
Nur weil das Stückchen Mist
dir ausgerissen ist (...)
Weiß, dass du traurig bist,
Doch lass uns endlich gehn, Jef
Jacques Brel, Der zivilisierte Affe
»Warum parkt da ein Panzer vor meinem Haus?«, fragte ich und deutete auf einen imposanten Sportwagen, dessen breite Reifen auf dem schmalen Bürgersteig der Colony Road standen.
»Das ist kein Panzer«, antwortete Milo gekränkt, »das ist ein Bugatti Veyron, Modell Black Blood, einer der leistungsstärksten Sportwagen der Welt.«
Ein sonniger Nachmittag
Das Rauschen des Windes in den Baumkronen
»Hast du schon wieder ein neues Auto gekauft! Sammelst du die jetzt, oder was?«
»Aber das ist viel mehr als ein Auto, mein Lieber. Das ist ein Kunstwerk!«
»Für mich sieht dein Kunstwerk mehr wie eine Tussifalle aus. Gibt es wirklich Mädchen, die noch auf die Sportwagentour reinfallen?«
»Als bräuchte ich so ’ne Kiste, um Frauen aufzureißen!«
Ich war mir da nicht ganz sicher. Ich hatte nie die Begeisterung meiner männlichen Artgenossen für Coupés, Roadsters und Cabriolets verstanden ...
»Komm, sieh ihn dir mal aus der Nähe an!«, schlug Milo mit leuchtenden Augen vor.
Um meinen Freund nicht zu enttäuschen, ließ ich die ganze Führung um das Fahrzeug herum über mich ergehen. Mit seiner ovalen, elliptischen Form glich der Bugatti einem Kokon mit ein paar Auswüchsen, die in der Sonne glitzerten und sich von der nachtblauen Karosserie abhoben: verchromter Kühlergrill, metallische Außenspiegel, glitzernde Felgen, hinter denen man das Flammenblau der Bremsscheiben erahnte.
»Möchtest du einen Blick auf den Motor werfen?«
»Aber natürlich«, erwiderte ich mit einem Seufzer.
»Wusstest du, dass es auf der ganzen Welt nur fünfzehn Exemplare von diesem Modell gibt?«
»Nein, aber ich bin begeistert, es zu erfahren.«
»Mit diesem geilen Teil erreichst du innerhalb von nur zwei Sekunden eine Beschleunigung von null auf hundert Stundenkilometer. Und die Höchstgeschwindigkeit beträgt schlappe vierhundert Stundenkilometer.«
»Sehr nützlich bei den derzeitigen Benzinpreisen und den Radarfallen alle hundert Meter ... und für die Umwelt ist es wirklich super.«
Diesmal konnte Milo seine Enttäuschung nicht verbergen.
»Musst du denn immer so ein Spielverderber sein, Tom, unfähig, die Leichtigkeit und Freuden des Lebens einfach mal zu genießen?«
»Nun, einer von uns beiden muss so sein, und da du deine Rolle als Erster gewählt hast, konnte ich nur die nehmen, die noch übrig war.«
»Komm, steig ein.«
»Darf ich fahren?«
»Nein.«
»Warum?«
»Weil du ganz genau weißt, dass dein Führerschein eingezogen wurde ...«
*
Der Rennwagen verließ die schattigen Alleen von Malibu Colony und bog auf den Pacific Coast Highway, der an der Küste verläuft. Der Bugatti hatte eine optimale Straßenlage. Das Innere, mit weichem Leder ausgestattet, strahlte etwas Warmes, Behagliches aus. Ich fühlte mich beschützt in dieser Atmosphäre und schloss die Augen, als die Melodie eines alten Songs von Otis Redding ertönte.
Ich wusste, dass dieses zerbrechliche Gefühl von Ruhe nur auf die Beruhigungsmittel zurückzuführen war, die ich nach dem Duschen unter der Zunge hatte zergehen lassen, aber diese kleinen Atempausen waren so selten, dass ich gelernt hatte, sie zu schätzen.
Seit Aurore mich verlassen hatte, fühlte ich mich, als würde eine Art von Krebs mein Herz zerfressen, sich darin dauerhaft einnisten wie eine Ratte in einer Speisekammer. Hungrig auf frisches Fleisch, hatte der Kummer mich verschlungen, bis ich nicht mal mehr zu einer Gefühlsregung oder auch nur der geringsten Willensanstrengung fähig war. Während der ersten Wochen hatte mich die Angst vor der Depression wach gehalten und genötigt, mich mit Händen und Füßen gegen Verzweiflung und Verbitterung zu wehren. Doch dann hatte mich auch die Angst verlassen und mit ihr die Würde und selbst der einfache Wille, den Schein zu wahren. Diese innere Lepra hatte mich gnadenlos zernagt, hatte die Farben des Lebens verwaschen, alle Energie aus mir gesogen, jeden Funken zum Erlöschen gebracht. Bei der geringsten Anwandlung, mein Leben wieder unter Kontrolle zu bringen, verwandelte sich das Geschwür in eine Schlange, die mir bei jedem Biss ihre Giftdosis einimpfte und in Form von schmerzhaften Erinnerungen in mein Gehirn drang: der Schauder auf Aurores Haut, ihr Geruch, ihr Wimpernschlag, das Gold in ihren Augen ...
Dann waren sogar die Erinnerungen verblasst, da ich so mit Medikamenten vollgepumpt war, dass alles verschwamm. Ich hatte begonnen, mich treiben zu lassen, meine Tage im Dunkeln auf dem Sofa ausgestreckt zu verbringen, geschützt durch eine chemische Rüstung, betäubt von Xanax, was an schlechten Tagen in Albträume ausartete, bevölkert von Nagetieren mit spitzen Schnauzen und rauen Schwänzen, Albträume, aus denen ich schweißgebadet und zitternd erwachte, nur von dem Wunsch besessen, durch eine noch höhere Dosis an Antidepressiva erneut der Realität zu entfliehen.
In diesem komatösen Nebel vergingen Tage und Monate ohne Sinn und Substanz und ohne dass ich mir dessen bewusst wurde. Doch die Realität existierte: Mein Schmerz war immer noch da, und ich hatte seit einem Jahr keine Zeile mehr geschrieben. Mein Gehirn war gelähmt. Die Worte waren mir entflohen, jede Lust zu schreiben hatte mich verlassen, meine Fantasie war versiegt.
*
Auf Höhe des Santa Monica Beach bog Milo auf die Interstate 10 Richtung Sacramento.
»Hast du die Baseballresultate gesehen?«, fragte Milo und reichte mir sein iPhone, das eine Sportsite anzeigte. »Die Angels haben die Yankees geschlagen!«
Ich warf zerstreut einen Blick auf das Display. »Milo?«
»Ja?«
»Du solltest dich auf die Fahrbahn konzentrieren, nicht auf mich.«
Ich wusste, dass meine inneren Qualen meinem Freund zu schaffen machten und mit etwas konfrontierten, das er nur schwer zu verstehen vermochte: Meine mentale Entgleisung und diese Unausgeglichenheit, die wir alle in uns tragen und von der er mich zu Unrecht verschont geglaubt hatte.
Wir nahmen die Ausfahrt nach Westwood und erreichten das Golden Triangle von Los Angeles. Wie oft hervorgehoben wird, besitzt das Viertel weder Krankenhaus noch Friedhof. Nur makellose Straßen mit teuren Boutiquen, in denen man wie beim Arzt einen Termin vereinbaren muss. Demografisch betrachtet wurde niemand in Beverly Hills geboren oder beerdigt ...
»Ich hoffe, du bist hungrig«, sagte Milo und bog in den Canon Drive ein.
Vor einem edlen Restaurant brachte er den Bugatti zum Stehen.
Nachdem er einem Mann vom Parkservice den Schlüssel überreicht hatte, führte mich Milo in sein »Stammlokal«.
Der einstige Straßenjunge von MacArthur Park konnte ohne Reservierung im Spago ein und aus gehen, wie er wollte, während Normalsterbliche Wochen vorher reservieren mussten. Der Oberkellner führte uns in einen exklusiven Innenhof, in dem die besten Plätze den Berühmtheiten der Geschäftswelt und des Showbiz vorbehalten waren. Milo gab mir diskret ein Zeichen: Nur ein paar Meter von uns entfernt tranken Jack Nicholson und Michael Douglas ihren Digestif, während einen Tisch weiter eine Sitcom-Schauspielerin, die unsere Jugendfantasien angeregt hatte, ihren Salat aß.
Unbeeindruckt von all diesen Stars ringsherum nahm ich Platz. Während der letzten zwei Jahre hatte ich bei meinem Aufstieg in Hollywood-Sphären nicht selten Gelegenheit gehabt, mich Menschen zu nähern, die ich früher idealisierte. Auf Privatpartys, in Klubs oder in Villen, groß wie Paläste, plauderte ich mit Schauspielern, Sängern und Schriftstellern, von denen ich als Jugendlicher geträumt hatte. Doch diese Begegnungen hatten zu nichts anderem als zu Desillusionierung und Ernüchterung geführt. Besser, man weiß nicht, was sich hinter den Kulissen der Traumfabrik abspielt. Im »wirklichen Leben« waren die Helden meiner Kindheit oft nur moralische Wracks auf der Jagd nach Mädchen, die sie nach Gebrauch wegwarfen, um sich auf noch frischeres Fleisch zu stürzen. Nicht weniger traurig: Manche Schauspielerinnen, die auf der Leinwand so charmant und apart waren, lavierten in der Realität zwischen Kokslinien, Anorexie, Botox und Fettabsaugen. Aber wer war ich, um über diese Leute zu urteilen? War ich nicht selbst zu einem dieser Typen geworden, die ich verachtete? Opfer der gleichen Vereinsamung, der gleichen Abhängigkeit von Betäubungsmitteln, der gleichen Egozentrik, die in lichten Momenten zum Selbstekel führten?
»Lass dir’s schmecken!« Milo lächelte und deutete auf die Kanapees, die uns zusammen mit unserem Aperitif serviert worden waren.
Ich nahm einen winzigen Bissen von einem Stückchen Brot, das mit einer hauchdünnen Scheibe zarten marmorierten Fleisches bedeckt war.
»Das ist Kobe-Rind«, erklärte er. »Wusstest du, dass die Tiere in Japan mit Sake massiert werden, damit sich das Fett gleichmäßig in den Muskeln verteilt?«
Ich runzelte die Stirn.
»Um sie zu verwöhnen«, fuhr er fort, »mischt man Bier unter ihr Futter, und um sie zu entspannen, spielt man ihnen klassische Musik vor. Vielleicht hat das Fleisch auf deinem Teller die Konzerte von Aurore gehört. Und vielleicht hat es sich sogar in sie verliebt. Dann habt ihr etwas gemeinsam!«
Ich wusste natürlich, dass er nur darauf bedacht war, mich aufzumuntern, doch sogar der Humor hatte mich verlassen.
»Los, Milo, ich werde allmählich müde. Erklärst du mir jetzt bitte, was du mir Wichtiges zu sagen hast?«
Er verschlang ein letztes Kanapee, ohne es richtig zu genießen, zog dann einen kleinen Laptop hervor und klappte ihn auf.
»Gut, dann geh davon aus, dass nicht mehr dein Freund, sondern dein Agent mit dir spricht.«
Das war die Standardformulierung, mit der er unsere sogenannten »Business Meetings« zu eröffnen pflegte. Milo war das Rückgrat unseres kleinen Unternehmens. Das iPhone ans Ohr gepresst, war er immer in Aktion, ständig in Kontakt mit den Verlegern, den ausländischen Agenten und den Journalisten, stets auf der Suche nach einer guten Idee, um die Bücher seines einzigen Klienten – das heißt, meine – zu promoten. Ich weiß nicht, wie er Doubleday davon überzeugen konnte, mein erstes Buch herauszubringen. In der harten Welt des Verlagswesens hatte er seinen Job durch »learning by doing«, ohne Studium und ohne Weiterbildung, erlernt und war einer der Besten geworden, nur weil er an mich glaubte, im Übrigen viel mehr als ich selbst.
Er hatte sich immer vorgestellt, dass er mir alles verdankte, ich aber wusste, dass, ganz im Gegenteil, er mich zu einem Starautor gemacht hatte, indem er mein erstes Buch auf alle Bestsellerlisten gebracht hatte. Nach diesem ersten Erfolg hatten die besten Literaturagenten mir Verträge angeboten, doch ich hatte sie allesamt abgelehnt.
Denn über die Tatsache hinaus, dass er mein Freund war, hatte Milo eine seltene Eigenschaft, die ich über alles schätzte: Loyalität.
Das jedenfalls dachte ich, bevor ich seine Enthüllungen zu hören bekam.
Je trostloser die äußere Welt sich darstellt,
desto mehr preise ich die innere.
Emily Brontë, Fünf Gedichte
»Fangen wir mit den guten Nachrichten an: Deine ersten beiden Romane verkaufen sich so gut wie eh und je.«
Milo drehte den Bildschirm des Laptops zu mir. In der grafischen Darstellung schlugen rote und grüne Kurven heftig nach oben aus.
»Jetzt sind die internationalen Verkaufszahlen an die Stelle der amerikanischen Zahlen getreten. Die Angel Trilogy entwickelt sich zu einem weltweiten Phänomen. Innerhalb der letzten sechs Monate hast du fünfzigtausend E-Mails von deinen Lesern bekommen! Kannst du dir das vorstellen?«
Ich wandte den Kopf ab und hob den Blick. Ich konnte mir gar nichts vorstellen. Nebelhafte Wolken zogen durch die verschmutzte Luft von Los Angeles. Aurore fehlte mir. Welchen Sinn hatte der Erfolg, wenn ich ihn mit niemandem teilen konnte?
»Eine weitere gute Nachricht: Nächsten Monat beginnen die Dreharbeiten zum Film. Keira Knightley und Adrien Brody haben zugesagt, und die Bosse der Columbia sind enthusiastisch. Sie haben den Filmarchitekten von Harry Potter engagiert und rechnen damit, dass der Film im nächsten Juli zeitgleich in dreitausend Kinos starten wird. Ich war bei einigen Castings dabei, einfach toll. Du hättest auch kommen sollen ...«
Während eine Kellnerin unser Essen brachte – er hatte Tagliatelle mit Krebsfleisch bestellt, ich ein Omelette mit Pfifferlingen –, vibrierte Milos Handy, das auf dem Tisch lag. Er sah auf die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, runzelte die Stirn, zögerte kurz und nahm dann das Gespräch an. Er erhob sich und trat in den kleinen Glasgang, der den Innenhof mit dem Restaurant verband.
Das Telefonat dauerte nicht lange. Trotz des Geräuschpegels schnappte ich einzelne Wortfetzen auf. Ich spürte, dass es hoch herging, dass Vorwürfe ausgetauscht und Probleme angesprochen wurden, die mir nichts sagten.
»Das war Doubleday«, erklärte Milo und setzte sich wieder. »Er rief wegen einer Geschichte an, die ich ohnehin mit dir besprechen wollte. Es ist nicht besonders schlimm, nur ein Druckproblem bei der Luxusausgabe deines letzten Romans.«
Diese Ausgabe lag mir besonders am Herzen, und ich hatte mir eine sorgfältige und gediegene Ausstattung gewünscht: Ein verzierter Einband aus Kunstleder, im Vorwort Aquarellzeichnungen der Protagonisten, ein noch unveröffentlichtes Nachwort.
»Welche Art Probleme?«
»Um auf die große Nachfrage zu reagieren, haben sie die Ausgabe überstürzt hergestellt. Sie haben die Druckerei gedrängt, und dann ist etwas schiefgelaufen. Das Ergebnis ist, dass sie jetzt einhunderttausend Fehldrucke am Hals haben. Sie werden eingestampft, aber dummerweise sind einige Exemplare bereits an die Buchhändler ausgeliefert worden. Sie werden sie schriftlich zurückrufen.«
Er zog einen Band aus seiner Tasche und reichte ihn mir. Selbst bei unkonzentriertem Durchblättern war der Fehler offensichtlich, denn von den fünfhundert Seiten des Romans war nur die Hälfte bedruckt. Die Geschichte hörte plötzlich auf der Seite 226 mitten im Satz auf:
Billie trocknete ihre maskaraverschmierten Augen.
»Bitte, Jack, geh nicht einfach so.«
Aber der Mann hatte schon seinen Mantel angezogen. Er öffnete die Tür, ohne sich noch einmal nach seiner Geliebten umzusehen.
»Ich flehe dich an!«, schrie sie und fiel
Das war alles. Nicht einmal ein Punkt. Das Buch hörte auf mit »und fiel«, dann folgten zweihundert weiße Seiten.
Da ich meine Romane sozusagen auswendig kannte, war es keine Schwierigkeit, mich an den vollständigen Satz zu erinnern: »Ich flehe dich an!«, schrie sie und fiel auf die Knie.
»Na gut, das ist egal«, erklärte Milo und griff nach seiner Gabel. »Es ist ihr Problem, wie sie die Sache regeln. Das Wichtigste, Tom, ist ...«
Ich wusste, was er sagen würde, noch ehe er es ausgesprochen hatte.
»Das Wichtigste, Tom, ist dein nächster Roman.«
Mein nächster Roman ...
Er verschlang eine Gabel voll Nudeln und tippte dann erneut etwas in die Tastatur seines Computers.
»Die Erwartungen sind riesig! Hier, sieh dir das mal an!«
Er hatte die Seite des Online-Buchversands amazon.com aufgerufen. Allein durch die Vorbestellungen war mein »zukünftiger Roman« bereits ein absoluter Bestseller und lag sogar vor dem vierten Band von Millennium.
»Was hältst du davon?«
Ich wich der Frage aus.
»Ich dachte, Stieg Larsson sei tot, und der vierte Band würde nie erscheinen.«
»Ich spreche von deinem Roman, Tom.«
Ich starrte erneut auf den Bildschirm, fasziniert von der Tatsache, dass man etwas zum Verkauf anbot, das noch gar nicht existierte und wahrscheinlich auch nie existieren würde. Mein nächstes Buch war für den zehnten Dezember angekündigt, das heißt, in weniger als drei Monaten. Ein Buch, von dem ich noch keine Zeile geschrieben und nur eine vage Idee des Plots im Kopf hatte.
»Hör zu, Milo ...«
Doch mein Freund war entschlossen, mich nicht zu Wort kommen zu lassen.
»Diesmal verspreche ich dir eine Werbekampagne, die eines Dan Brown würdig ist – man müsste wirklich auf einem anderen Planeten leben, um nicht über das Erscheinen des Romans informiert zu sein.«
Von seinem eigenen Enthusiasmus mitgerissen, war Milo nicht mehr zu bremsen. »Ich habe schon alle heißgemacht, und der Hype auf Facebook, Twitter und in den Diskussionsforen ist enorm. Deine Fans prügeln sich mit deinen Kritikern.«
»Milo ...«
»Allein in den USA und England hat Doubleday sich zu einer Startauflage von vier Millionen Exemplaren verpflichtet. Die Buchhandlungen rechnen mit einer phänomenalen Woche. Wie bei Harry Potter werden sie bereits um Mitternacht öffnen!«
»Milo ...«