Die Unbekannte - Guillaume Musso - E-Book

Die Unbekannte E-Book

Guillaume Musso

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Beschreibung

Eine geheimnisvolle Unbekannte und eine tödliche Wahrheit – Der neue packende Roman vom französischen Bestsellerautor Guillaume Musso!

In einer kalten Dezembernacht wird in Paris eine junge Frau aus der Seine gerettet. Sie ist nackt, spricht kein Wort und scheint an einer Amnesie zu leiden. Ein DNA-Test soll ihre Identität klären, doch das Ergebnis macht den Fall nur noch rätselhafter: Die Frau ist Milena Bergmann, jene gefeierte Pianistin, die vor einem Jahr bei einem tragischen Flugzeugabsturz starb. Noch bevor die Polizei die Unbekannte befragen kann, flieht diese aus der Krankenstation des Präsidiums. Polizistin Roxane nimmt die Ermittlungen auf. Zusammen mit Raphaël, dem ehemaligen Verlobten von Milena Bergmann, folgt sie der Spur der jungen Frau. Als sie erkennen, welch tödliches Spiel die Unbekannte mit ihnen spielt, ist es schon fast zu spät …

Guillaume Musso ist seit zwölf Jahren der meistgelesene Autor in Frankreich und begeistert auch die deutschen Leser:innen mit jedem neuen Roman! Nach »Das Mädchen aus Brooklyn«, »Die junge Frau und die Nacht« und »Ein Wort, um dich zu retten« folgt mit »Die Unbekannte« einer neuer absolut mitreißender und hochspannender Roman aus der Feder des Ausnahmetalents!

Die französische und die internationale Presse feiern Guillaume Musso: 

»Der Meister der französischen Spannung.« New York Times

»Einer der besten Thrillerautoren der Gegenwart.« The Daily Express

»Der König des europäischen Noir.« La Repubblica

»Ein Phänomen.« El Mundo

»Eine atemberaubende Ermittlung.« Paris Match

»Ein purer Krimi, eine irrsinnige Ermittlung - Sie werden diese Buch nicht mehr aus der Hand legen!« RTL

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www.piper.de

 

für Ingrid, für Nathan und Flora

 

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge (Kollektiv Druck-Reif)

 

© Calmann-Lévy 2021

Titel der französischen Originalausgabe: »L’Inconnue de la Seine«, Calmann-Lévy, Paris 2021

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Getty Images (Horst Gerlach; Sergio Formoso); FinePic®, München

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Romain Gary, Frühes Versprechen

I. DIE UNBEKANNTE AUS DER SEINE

Montag, 21. Dezember

1 Der Turm de l’Horloge

1.

2.

3.

4.

2 Die Krankenstation

1.

2.

3.

4.

Dienstag, 22. Dezember

3 Milena Bergman

1.

2.

3.

4.

4 Die Passagierin des Flugs AF 229

1.

2.

3.

5 Das Glashaus

1.

2.

3.

6 Ein Schriftsteller bei den Irren

1.

2.

3.

II. DOPPELGÄNGER

7 Raphaël Batailley

1.

2.

3.

4.

8 Die Welt, so wie sie nicht ist

1.

2.

3.

Mittwoch, 23. Dezember

9 Der Schatten des Dionysos

1.

2.

3.

10 Die Nacht in den Herzen

1.

2.

3.

4.

5.

11 Der Palast der Illusionen

1.

2.

3.

4.

5.

Donnerstag, 24. Dezember

12 Der verborgene Grund

1.

2.

3.

4.

13 Der Sohn von Bébel

1.

2.

3.

4.

5.

III. DIE GAUKLER DES DIONYSOS

14 Die ganze Wahrheit

1.

2.

3.

4.

5.

15 Der Punkt der Demenz

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Freitag, 25. Dezember

16 Die ganze Welt ist eine Bühne

1.

2.

3.

4.

17 Die Unbekannte auf der Bühne

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Ouest france

Bildnachweise

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Ich habe viele Schlachten geschlagen in meinem Leben,

habe aber lange Zeit gebraucht,

um mich an den Gedanken zu gewöhnen,

dass man noch so viele Schlachten gewinnen mag,

den Krieg aber trotzdem nicht gewinnt.

Romain Gary,Frühes Versprechen[1]

I. DIE UNBEKANNTE AUS DER SEINE

Montag, 21. Dezember

1 Der Turm de l’Horloge

Es kommt für jeden der Augenblick,

wo er sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht,

sein weiteres Geschick festzulegen,

den alles entscheidenden Schritt zu tun,

der unwiderruflich ist.

Georges Simenon,Der verlorene Sohn[2]

1.

Paris

»Diesmal haben Sie uns aber wirklich alle in Gefahr gebracht, Roxane – die Kripo, Ihre Kollegen und mich …«

Der Zivilstreifenwagen verließ die Avenue de la Grande Armée, um auf die Place de l’Étoile einzubiegen.

Seitdem sie Nanterre verlassen hatten, hatte Commandant Sorbier den Mund nicht aufgemacht. Die Hände fest um das Lenkrad geklammert, fuhr er düster mit seinen Vorwürfen fort.

»Wenn die Presse in der augenblicklichen Lage erfahren würde, was Sie angestellt haben, muss möglicherweise sogar Commissaire Charbonel seinen Hut nehmen.«

Neben ihm auf dem Beifahrersitz hüllte Roxane Montchrestien sich in Schweigen, den Blick starr auf das von Regenstreifen überzogene Seitenfenster gerichtet. Unter dem tiefen, grauen Himmel hatte Paris etwas Düsteres – ein Tag nach dem anderen ohne Licht, und das schon seit Beginn des Monats. Das ganze Wageninnere war feucht. Die Polizistin beugte sich vor, stellte das Gebläse auf Hochtouren und kniff die Augen zusammen. Hinter dem Regenvorhang tauchte schemenhaft die gespenstische Masse des Arc de Triomphe auf. Bei der Tristesse dieser Kulisse musste sie an jenen Samstag der Ausschreitungen denken, bei denen extreme Randgruppen während der Demonstration die Fassade des Triumphbogens beschädigt hatten. Die Bilder dieses Aufstands waren um die Welt gegangen und zeigten die gewalttätige Atmosphäre, die das Land vergiftete. Seither hatten sich die Dinge nicht wirklich gebessert.

»Kurz, Sie bringen uns in eine Scheißsituation«, schloss Sorbier, während er herunterschaltete und in die Avenue Marceau einbog.

Tief in ihren Sitz gedrückt, registrierte Roxane die Vorwürfe und dachte nicht daran, sich zu verteidigen. Sie respektierte ihren Chef, Commandant Sorbier, den Leiter der Zielfahndungseinheit. Das Problem lag bei ihr. Seit mehreren Monaten fühlte sie sich wie in einem Tunnel, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Sie rieb sich die Augen und ließ ihre Seitenscheibe herunter. Beim Kontakt mit der frischen Luft glaubte sie, neue Energie zu spüren, die zu einer plötzlichen Einsicht führte: Ihr Schicksal würde sich fortan weit entfernt von der Nationalpolizei abspielen.

»Ich werde kündigen, Chef«, sagte sie und richtete sich in ihrem Sitz auf. »Das ist besser für alle, glauben Sie mir.«

Roxane verspürte eine gewisse Erleichterung, als sie diese Worte aussprach. Sie, die immer für ihren Beruf gelebt hatte, sah sich inzwischen außerstande, ihn korrekt auszuüben. Wie bei vielen ihrer Kollegen hatte sich dieses Unbehagen mit der Zeit in echte Hoffnungslosigkeit verwandelt. In Frankreich und ganz besonders in Paris war der Hass gegen die Polizei deutlich spürbar. Überall.

»SUICIDEZ-VOUS! SUICIDEZ-VOUS!«

Sie hörte noch die aggressiven Slogans während der großen Demos. Jetzt oder nie, dachte sie und holte mehrmals tief Luft. Jetzt ist der Moment, zu gehen.

Ein verhängnisvolles Räderwerk war in Gang gesetzt worden, das die Menschen dazu gebracht hatte, diejenigen zu hassen, die sie beschützen sollten. Man stellte den Flics Fallen, man belagerte die Kommissariate, man beschimpfte sie bei den Demonstrationen, man attackierte sie mit Granatwerfern – und das mitten in Paris. Ihre Kinder hatten Angst, zur Schule zu gehen, ihre Familien zerbrachen, und Samstag für Samstag, Demo für Demo wurden sie von den Protestierenden mit obszöner Geschmacklosigkeit als Nazis hingestellt.

»SUICIDEZ-VOUS! SUICIDEZ-VOUS!«

Jetzt oder nie muss ich gehen. Zu ihrem großen Glück hielt nichts sie zurück. Keine Darlehen, die sie begleichen, kein Kind, das sie aufziehen, keine Rentenzahlungen, die sie leisten musste. Sie würde nicht nur die Polizei, sondern auch dieses kranke Land verlassen. Ein Fleckchen abseits, aber nicht zu weit entfernt, finden, von dem aus sie gequält beobachten könnte, wie alles in Flammen aufging.

»Sie haben meine Kündigung noch heute Abend auf dem Schreibtisch«, versprach sie.

Sorbier schüttelte den Kopf.

»Hören Sie auf zu träumen, Roxane. So leicht können Sie sich nicht aus der Affäre ziehen!«

Inzwischen fuhren sie entlang der Seine in Richtung Place de la Concorde. Zum ersten Mal zeigte die Polizistin ihre Verärgerung.

»Dürfte ich wenigstens wissen, wohin Sie mich fahren?«

»Einfach nur ins Grüne.«

Der Ausdruck hätte fast ein Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert. Sie stellte sich die aufblühende Vegetation vor, die sanfte Brise, die endlosen Felder, das reife Getreide unter der Sonne, das Läuten der Kuhglocken. Alles weit entfernt von der Pariser Realität: eine metastasierte Stadt, dreckig und apathisch und überzogen von einer Schicht aus Umweltschmutz und endloser Tristesse.

Sorbier wartete, bis sie auf der Pont de la Concorde waren, um zu erklären, was er im Sinn hatte.

»Hier ist der Plan, Roxane: Charbonnel hat eine ruhige Stelle für Sie gefunden, damit Sie einige Monate von der Bildfläche verschwinden.«

»Ich werde also versetzt, ist es das?«

»Vorübergehend, ja.«

François Charbonnel war der Commissaire Divisionnaire und Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, der die Zielfahndungseinheit unterstellt war.

»Und mein Team?«

»Lieutenant Botsaris wird in der Übergangszeit die Verantwortung übernehmen. Sie bekommen eine Chance, wieder Fuß zu fassen. Wenn Sie danach immer noch Wert darauf legen, können Sie gehen.«

Plötzlich verspürte Roxane starkes Sodbrennen und presste die Hand auf ihr Brustbein.

»Worum handelt es sich konkret bei dieser Versetzung?«

2.

»Haben Sie schon mal von BANC gehört?«

»Nein.«

»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht – bis heute Morgen.«

Sorbier war wenigstens so aufrichtig, seinen Vorschlag nicht schönzureden.

Die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen auf der Frontscheibe an. Am linken Seine-Ufer auf dem Boulevard Saint-Germain geriet der Wagen in einen Stau.

»Das Büro zur Aufklärung außergewöhnlicher Fälle wurde 1971 ins Leben gerufen«, erklärte Sorbier. »Es untersteht direkt dem Polizeipräsidium. Anfangs hatte diese Dienststelle zum Ziel, in außergewöhnlichen Fällen zu recherchieren, bei denen die Kriminalpolizei keine rationalen Antworten fand.«

»Dürfte ich wissen, was Sie unter ›außergewöhnlich‹ verstehen?«

»Alles, was ans Paranormale grenzt.«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Nein, aber man muss sich in den Kontext der Zeit zurückversetzen«, rechtfertigte sich Sorbier. »Die Gesellschaft entdeckte das, was man den ›magischen Realismus‹ nannte. Man begann, gewisse Sachbereiche zu erforschen, die sich außerhalb der offiziellen Wissenschaft befinden. Die Leute begeisterten sich zum Beispiel für Ufos, in den Buchhandlungen war Der Morgen der Magier ein Bestseller, und der Verband für die Erforschung unbekannter Flugobjekte öffnete in Toulouse seine Tore …«

»Und warum kennt niemand diesen Verein?«

Roxanes Vorgesetzter zuckte mit den Schultern.

»In der damaligen Presse findet man verschiedene Artikel. Gegen Ende der Siebziger- und Achtzigerjahre bestand die Abteilung aus einem Dutzend Personen. Aber die sozialistische Regierung und die Entwicklung der Gesellschaft haben die Natur der Einrichtung geändert und sie immer mehr zur Anlaufstelle für ausgepowerte oder übergriffige Polizisten gemacht.«

Roxane hatte schon vom Centre du Courbat in der Touraine gehört, das Polizisten mit Depressionen, Alkohol- und Burnout-Problemen aufnahm, nicht aber von diesem Rückzugsort.

»Nach und nach ist das BANC umgezogen, und sein Personalbestand ist geschmolzen wie Schnee in der Sonne. Heute ist es nur noch ein Budgetposten, der ab nächstem Juni ganz verschwinden wird. Sie werden also der letzte Flic sein, der diesen Posten besetzt.«

»Ist das das einzige Sterbeheim, das Sie für mich auftreiben konnten?«

Sorbier ließ diese Bemerkung nicht einfach so durchgehen.

»Ich glaube, Sie befinden sich hier in keiner wirklich guten Ausgangsposition, Roxane. Und für jemanden, der noch vor fünf Minuten kündigen wollte, sind Sie ganz schön pedantisch.«

Der Commandant war rechts in die Rue du Bac eingebogen. Roxane öffnete ihr Fenster, so weit es ging. Rue de Grenelle, Verneuil, Varenne … Sie war im Viertel Saint-Thomas-d’Aquin aufgewachsen und hatte die Schule Saint-Clothilde ganz in der Nähe besucht; ihr Vater, Soldat, hatte im Hôtel de Brienne, dem Verteidigungsministerium, gearbeitet; die Familie hatte in der Rue Casimir-Perier gewohnt. Das Quartier Saint-Thomas-d’Aquin war wie Saint-Germain-des-Prés nur ohne Touristen und das affektierte Getue. Heute hierherzukommen war für sie eine Überraschung. Vage, aber beruhigende Erinnerungen tauchten auf: vom Sonnenlicht schraffiertes Parkett, weiße Stuckaturen in Form von Akanthus-Blättern, die wohltönenden Klänge eines alten Steinway-Flügels, Giacomettis Bronzeskulptur Chat Maître d’Hotel, die die Betrachter vom Kaminsims herab zu verspotten schien.

Das wütende Hupen eines Taxifahrers brachte sie in die Realität zurück.

»Über wie viele Leute verfüge ich in meinem Team?«

»Über keine. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass die Dienststelle seit Jahren zurückgefahren wird. In den letzten Monaten war nur noch eine einzige Person auf diesem Posten: Commissaire Marc Batailley.«

Roxane runzelte die Stirn. Der Name sagte ihr etwas, aber sie wusste ihn nicht richtig einzuordnen.

Sorbier frischte ihr Gedächtnis auf.

»Batailley ist ein Urgestein bei der Kripo. Er hatte seine große Stunde Anfang der 1990er-Jahre, als das Team, das er in Marseille leitete, den ›Gärtner‹ identifiziert und festgenommen hat, einen der ersten französischen Serienmörder.«

»Der Gärtner?«

»Der Typ schnitt mit der Gartenschere alles ab, was bei seinen Opfern vorstand: die Finger, die Zehen, die Ohren, den Penis …«

»Sehr originell.«

»Nach dieser Glanzleistung wurde er an den Quai d’Orfèvres versetzt, konnte aber die Hoffnungen, die er geweckt hatte, nicht erfüllen. Schuld daran war wohl ein allzu turbulentes Familienleben. Er hat ein Kind verloren, und seine Ehe ging in die Brüche. Das Ende seiner Karriere war wegen seiner nachlassenden Gesundheit chaotisch, deshalb seine Versetzung zum BANC.«

»Ist er schon in Rente?«

»Noch nicht, aber er hatte letzte Nacht einen schweren Herzanfall. Dank dieser Info konnte Charbonnel die ersten Schritte einleiten, um Sie auf diesem Posten unterzubringen.«

Sorbier schaltete die Warnblinkanlage ein, bevor er den Wagen gegenüber dem Gittertor des Square des Missions-Étrangères parkte. Es regnete nicht mehr. Roxane stieg eilig aus. Die Feuchtigkeit durchdrang ihre Kleidung, ihr Haar, ihr Gehirn. Sorbier tat es ihr gleich, lehnte sich an die Motorhaube und zündete sich eine Zigarette an.

Ein leichter Wind war aufgekommen. Endlich konnte man wieder atmen. Ein Loch blauen Himmels, schüchtern erst, öffnete sich über dem Park. Schon tauchten die ersten Kinder auf, stießen Freudenschreie aus, während sie sich auf die Schaukeln und Rutschen stürzten. Das Umfeld rief alte Erinnerungen bei Roxane hervor: die Vanille-Erdbeer-Eishörnchen vom Bac à Glace, die Besuche mit ihrer Mutter beim Bon Marché und im Conran Shop, das Haus von Romain Gary etwas weiter unten, vor dem sie als Abiturientin im Vorbeigehen versucht hatte, einen Blick ins Innere des Hofes zu erhaschen – in der Hoffnung, den Phantomen von Romain, Jean und Diego, zu begegnen.

»Und hier ist Ihr Büro«, sagte Sorbier, den Zeigefinger gen Himmel gestreckt.

Roxane hob den Kopf. Zunächst verstand sie nicht, worauf ihr Vorgesetzter hinauswollte, dann entdeckte sie eine Art Wachturm mit einer großen Uhr. Ein Turm, abseits der Straße, den sie vorher nie bemerkt hatte und der über die Dächer der anderen Häuser hinausragte.

»Der Bau stammt aus den Zwanzigerjahren«, begann Sorbier in professoralem Ton. »Es war ein Nebengebäude des Bon Marché, erbaut vom Architekten Louis-Hippolyte Boileau. Anfang der Neunzigerjahre hat sich ihn die Polizeipräfektur einverleibt, der Staat aber hat ihn jetzt zum Verkauf angeboten.«

Roxane trat an das hohe, blau gestrichene Hoftor.

»Ich muss los«, verkündete Sorbier und überreichte ihr einen Schlüsselbund. »Und vor allem eines, Roxane, keinen Unsinn.«

»Haben Sie den Eingangscode?«

»301207: das Datum der Gründung der Brigades du Tigre. Gefolgt von einem B wie Brigade.«

»Oder wie Bureau des affaires non conventionnelles«, erwiderte sie.

»Ich hoffe, wir haben uns richtig verstanden, Roxane: Sorgen Sie dafür, dass man Sie vergisst. Wir können nicht immer zur Stelle sein, um Ihren Mist wiedergutzumachen.«

3.

Auch wenn der Turm von der Straße aus kaum zu sehen war, erhob er sich, sobald man die Toreinfahrt passiert hatte, geradezu majestätisch in den Himmel. Am Ende eines kleinen baumbestandenen Innenhofes präsentierte er sich in voller Anmut, wurde allerdings von zwei unschönen Gebäuden eingerahmt. An seiner Spitze verankerten die Ziffernblätter der Uhr seine Silhouette fest im Pariser Himmel. Ein wahrhafter Bergfried mitten im 7. Arrondissement.

Roxane lief über die Pflastersteine zum Eingang des »Leuchtturms«, vor dem ein knallroter Motorroller abgestellt war. Mit einem der Schlüssel, die Sorbier ihr ausgehändigt hatte, schloss sie eine Tür aus lackiertem Massivholz auf. Der Wachturm öffnete sich auf einen Lichtschacht. Wie in einer Kirche drang die Helligkeit durch die Fenster und tauchte die drei Etagen in warmen Glanz. Das Erdgeschoss bot einen Vorgeschmack: roter Backstein, Eichenparkett,eine Metallstruktur à la Gustave Eiffel.

Alles erstreckte sich in die Höhe– eine gusseiserne Wendeltreppe verband die vier Etagen. Den Blick nach oben gerichtet, stieg Roxane die Stufen hinauf. Es war angenehm warm. Eine Heizung surrte. Von ganz oben drangen Klaviertöne herab. Schubert, Les Impromptus. Musik aus ihrer Kindheit. Sie hatte den ersten Stock erreicht. Die Etage bestand aus zwei Teilen. Auf der einen Seite Aktenschränke in Hülle und Fülle, Regale, die bis zur Decke reichten, Archivcontainer, ein Faxgerät und sogar ein Minitel. Auf der anderen eine Küchennische mit einer Arbeitsfläche aus Rohholz, an die ein Duschraum grenzte.

Neben einem Kopiergerät wurde ein altmodisch dekorierter Weihnachtsbaum von einem großen Sibirischen Kater bewacht, der auf einem Lager aus Papierunterlagen faulenzte. Das Tier miaute, als es Roxane bemerkte, und wollte weiter nach oben entfliehen.

»Hiergeblieben!«

Die Polizistin konnte ihn auf der Treppe gerade noch packen und beugte sich hinab, um ihn zu streicheln. Gedrungen und muskulös, wie er war, besaß der Kater ein leuchtend silbriges Haarkleid und ein Gesicht wie aus einem Cartoon.

»Er heißt Poutine«, verkündete jemand hinter ihr.

Überrascht schnellte Roxane herum und griff nach der Glock in ihrem Holster. Eine junge Frau stand vor dem Fenster im ersten Stock. Fünfundzwanzig Jahre, gekrauste dichte Locken, dunkle Haut, smaragdfarbener Blick hinter einer Hornbrille, strahlendes Lächeln mit weißen Zähnen.

»Wer sind Sie, verdammt?«, fragte Roxane genervt.

»Valentine Diakité«, stellte sich die junge Frau mit ruhiger Stimme vor. »Ich bin Studentin an der Sorbonne.«

»Was haben Sie hier zu suchen?«

»Ich schreibe meine Doktorarbeit zu dem Thema ›Büro zur Aufklärung nicht konventioneller Angelegenheiten‹.«

Roxane stieß einen Seufzer aus.

»Und was gibt Ihnen das Recht, hier zu sein?«

»Ich habe die Erlaubnis von Commissaire Marc Batailley. Seit etwa sechs Monaten durchforste und ordne ich alle Akten. Sie hätten sehen müssen, in welchem Zustand sich die Archive befunden haben. Eine echte Rumpelkammer!«

Roxane beobachtete die Doktorandin, die sich zwischen den Kartons hin und her bewegte wie eine Prinzessin in ihrem Palast. Mit ihrer schwarzen Strumpfhose, ihrem Samtrock, dem Rollkragenpullover und den fahlroten Lederstiefeln erinnerte sie an eine moderne Version von Emma Peel.

»Und Sie, wer sind Sie?«

»Von der Polizei: Capitaine Roxane Montchrestien.«

»Vertreten Sie Marc Batailley?«

»So könnte man sagen.«

»Wissen Sie, wie es ihm geht?«

»Nein.«

»Der Arme. Schlimm, was ihm passiert ist. Ich kann seit heute Morgen an nichts anderes denken. Ich habe ihn bei meiner Ankunft hier vorgefunden.«

»Hatte er hier seinen Herzanfall?«

»Ich glaube nicht, dass es sich um einen Herzanfall handelt. Ich glaube vielmehr, dass er die Treppe runtergestürzt ist«, sagte Valentine und deutete auf die Metallstruktur der Wendeltreppe. »Die ist lebensgefährlich.«

Roxane ließ die Studentin zurück, um bis zur obersten Etage hinaufzusteigen. Dort, wo sich das Büro von Batailley befand. Der Raum war verblüffend; eine Deckenhöhe von etwa sechs Metern, durchzogen von vernieteten Metallbalken, ein riesiges Chesterfield-Kanapee, ein eleganter Schreibtisch à la Jean Prouvé. Die Einrichtung und die roten Backsteine schufen eine Atmosphäre, die zugleich etwas von einem englischen Club und einem New Yorker Loft hatte. Doch es war vor allem der Ausblick von hier oben – ein erstaunliches Panorama von Paris. Im Westen der Eiffelturm und die Kuppel des Invalidendoms, im Norden Montmartre und Sacré-Cœur, im Süden der Jardin du Luxembourg und die hässliche Tour Montparnasse, im Osten die Kathedrale Notre-Dame, noch immer nicht wieder ganz aufgebaut. Der berauschende Eindruck, über der Welt zu schweben, sie auf Distanz zu halten und ihrem Zorn zu entfliehen.

4.

Roxane kehrte zu Valentine Diakité zurück, die sich ihr eigenes Büro in der Etage darunter eingerichtet hatte. Hinter ihrem braven Bibliothekarinnen-Look verbarg sich ein fröhliches Temperament, das Roxane leicht verwirrte.

»Erklären Sie mir, wie Marc Batailley seine Zeit verbrachte.«

»Der Commissaire arbeitete manchmal auf Sparflamme«, gab Valentine zu. »Als ich hier vor sechs Monaten angefangen habe, hatte sich sein Lungenkrebs leicht zurückgebildet. Marc war erschöpft, aber in jeder Situation freundlich und stets ein guter Ratgeber.«

»Seit wann ist das Büro nicht mehr aktiv?«

Erfreut darüber, dass ihr Wissen gefragt war, gab die Studentin einen kleinen Überblick.

»Ganz zu Anfang, in den Siebzigerjahren, führte das BANC zum Teil erschreckende Untersuchungen über Phänomene wie Zwangsvorstellungen, Telekinese, Bewusstseinskontrolle oder das durch, was man zu der Zeit noch nicht Nahtoderfahrung nannte. Das Büro erhielt damals Hunderte von Erlebnisberichten aus ganz Frankreich.«

Valentine deutete auf die Stapel von Pappkartons rechts und links.

»Alles Mögliche: Gespenster, Weiße Damen, Telepathie … Es war auch die große Epoche der Ufologie. Sollten Sie neugierig sein und in den Archiven dieser Zeit stöbern, so werden Sie sehen, dass wir nicht weit von den X-Files entfernt sind.«

»Und heute?«

Die Studentin verzog das Gesicht.

»Heute bekommen wir manchmal noch Briefe: Idioten, die denken, die Welt würde von Reptilien regiert, dass Bill Gates Viren entwickelt, um das Problem der Überbevölkerung zu regeln, oder dass die französische Regierung sie mit 5G-Antennen und dem intelligenten Stromzähler ›Linky‹ verbreitet.«

Roxane rieb sich die Augen. Sie wollte allein sein, wollte schlafen, den Strom abstellen, der ihren Geist elektrifizierte.

»Sie können nicht hierbleiben, Valentine.«

»Wieso? Der Commissaire war doch einverstanden …«

»Ja, aber jetzt bin ich hier der Chef. Und eine Polizeidienststelle ist keine Unibibliothek.«

»Ich könnte Ihnen behilflich sein.«

»Ich wüsste nicht, wie. Sie haben Zeit bis heute Abend, um Ihre Sachen zu packen. Und vergessen Sie Ihren Kater nicht.«

Valentine zuckte mit den Schultern.

»Das ist nicht mein Kater. Übrigens auch nicht der von Marc Batailley. Er war schon da, als wir hier angekommen sind. Ich habe Spuren von ihm in den Archiven gefunden. Poutine ist 2002 hier im Büro aufgetaucht, was bedeutet, dass er ein kanonisches Alter erreicht hat.«

Verärgert wandte Roxane sich ab und stieg die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Hinter den Glaswänden gaben die gusseisernen Ziffernblätter der alten Turmuhr den Räumlichkeiten eine fast unwirkliche Note. Sie hatte den Eindruck, sich in einem Kuriositätenkabinett zu befinden. Was jedoch die Büroausstattung betraf, so war man dreißig Jahre hinter der Zeit zurück. Von Computern keine Spur, und das Telefon erinnerte sie an das ihrer Eltern, als sie noch zur Schule ging.

Eine kleine rote Diode blinkte neben dem Hörer. Neugierig drückte sie auf den Lautsprecher, um die Nachricht zu hören, die nach den Datums- und Uhrzeitangaben heute um 13:10 Uhr eingegangen war.

Marc. Hier noch mal Catherine Aumonier. Ich muss dich wirklich sprechen, was meine Nachricht von heute Morgen betrifft. Danke im Voraus für deinen Rückruf.

Da es keine weiteren neuen Nachrichten gab, hörte sich Roxane die vorherige von 07:46 Uhr an.

Hallo Marc, hier ist Catherine Aumonier, stellvertretende Leiterin der psychiatrischen Krankenstation der Pariser Polizeipräfektur. Ich rufe dich an, um deine Meinung in einem recht merkwürdigen Fall einzuholen. Wir haben gestern Morgen eine junge Frau aufgenommen, die von der See- und Flussbrigade splitternackt aus der Seine gefischt wurde und die sich an nichts erinnern kann. Da ich deine Mail-Adresse nicht habe, schicke ich dir ihr Dossier per Fax. Ruf mich an, um mir zu sagen, ob du sie kennst. Bis später.

Neugierig spielte Roxane die Nachricht noch einmal ab. Wenn Batailley sie gehört hat – was die Diode neben dem Hörer vermuten ließ –, dann musste das nur wenige Minuten vor seinem Sturz gewesen sein.

Sie verspürte ein Prickeln in ihrem Bauch. Alles, was direkt oder indirekt die psychiatrische Krankenstation der Polizeipräfektur betraf – die berühmte 13P mit ihrer etwas mysteriösen Arbeitsweise –, hatte immer schon ihr Interesse geweckt. Catherine Aumonier behauptete, Batailley ein Fax geschickt zu haben. Roxane durchsuchte den Papierkram, die Bücher, die Magazine, die auf dem Schreibtisch gestapelt waren, fand aber keine Spur von dem Fax. Sie hatte registriert, dass sich der Apparat neben dem Fotokopierer befand. Sie stieg die Treppe bis zur ersten Etage hinab. Valentine Diakité saß schmollend im Schneidersitz auf dem Parkett und ordnete irgendwelche Papiere.

»Haben Sie heute ein Fax erhalten?«, fragte Roxane.

Die Studentin begnügte sich mit einem stummen Kopfschütteln.

Es war nichts im Papierfach des Fotokopierers. Roxane versuchte, zu rekonstruieren, was passiert war. Marc war früh am Morgen gekommen. Er hatte die Nachricht von Catherine Aumonier abgehört und das Fax geholt, bevor er über die Treppe in sein Büro zurückgehen wollte. Und da war er gestürzt. Aber wo war dieses Fax jetzt? Roxane sah unter der Treppe nach, dann unter den Möbeln und den Metallschränken. Nichts. Dann folgte sie einer Eingebung: Sie ging zu dem Weihnachtsbaum, wo die Katze erneut auf irgendwelchen Unterlagen faulenzte, die nichts anderes waren als … das Fax von Catherine Aumonier.

Sie glättete die beiden zusammengehefteten Blätter. Poutine hatte sie zum Teil zerrissen, doch man konnte das Dokument ohne Schwierigkeiten entziffern. Wie die stellvertretende Leiterin der 13P erklärt hatte, handelte es sich um die Aufnahmebestätigung einer Patientin mit schweren Gedächtnislücken. Der Bericht war knapp, doch das Foto der jungen Frau weckte ihre Neugier: ein zartes, ängstliches Gesicht, eingerahmt von langen Haaren, die bis auf die Schultern herabfielen.

Sie überlegte kurz, ob sie Catherine Aumonier anrufen sollte, beschloss dann aber, sich persönlich zu der psychiatrischen Krankenstation zu begeben. Sie hatte schon ihren Blouson angezogen, als ihr bewusst wurde, dass sie keinen Dienstwagen mehr hatte. Ihr Peugeot 5008 war in Nanterre geblieben, und sie würde ihn nicht so schnell zurückbekommen.

Auf dem Schreibtisch von Valentine entdeckte sie einen Jethelm ohne Visier in den Farben braun und gelb, versehen mit einem Riemen im Würfelmuster.

»Gehört dir der Motorroller, der vor dem Eingang geparkt ist?«, fragte Roxane und setzte den Helm auf. »Kannst du mir deine Schlüssel geben?«

Büro zur Aufklärung außergewöhnlicher Fälle

Soeben haben das Innenministerium und die Pariser Polizeipräfektur die Einrichtung eines Büros zur Aufklärung außergewöhnlicher Fälle bekanntgegeben, in dem bestimmte unerklärliche Phänomene, die heutzutage von zahlreichen Bürgern gemeldet werden, wissenschaftlich untersucht werden sollen.

»Diesem Büro kommt die Aufgabe zu, das Auftreten scheinbar irrationaler Ereignisse zu untersuchen und mithilfe moderner Untersuchungsmethoden auf der Grundlage von Wissenschaft und Vernunft aufzuklären«, präzisiert der Pariser Präfekt Monsieur Jacques Lenoir. »Die Wissenschaft lehrt uns heute, dass es hinter dem einfachen Sichtbaren das komplizierte Unsichtbare gibt«, fährt der Präfekt fort.

Die Leitung des neuen Büros wurde Kommissar Emmanuel Castera übertragen. »Das neue Büro ermöglicht die zentrale Erfassung zahlreicher Meldungen zu außergewöhnlichen Phänomenen, die bei der Gendarmerie oder den örtlichen Polizeistationen eingehen«, erklärt Monsieur Castera bei seinem Amtsantritt. Schon seit vielen Jahren geht der Kommissar, teils auch in seiner Freizeit, solchen Meldungen nach. Die Gründung des Büros zur Aufklärung außergewöhnlicher Fälle legitimiert sein Interesse und verleiht ihm einen offiziellen Charakter – auch wenn manche seiner Kollegen ihn deshalb zähneknirschend verspotten mögen.

2 Die Krankenstation

»Warum habe ich mich überhaupt ins Wasser

gestürzt?«, dachte die Neuangekommene. […]

Mein armer Kopf ist nur noch von Algen und

Muscheln bevölkert. Und mir ist ganz danach

zumute, das sehr traurig zu finden, obwohl

ich nicht mehr ganz sicher weiß,

was dieses Wort bedeutet.

Jules Supervielle,Das Kind vom hohen Meer[3]

1.

»Sie kommen zu spät«, erklärte Catherine Aumonier.

Die stellvertretende Leiterin – kräftige Statur, weißer Kittel, strenge Miene, eine Halbbrille auf der Nase – schien etwas verärgert. Hinter ihrem kleinen Metallschreibtisch musterte sie die Polizistin misstrauisch.

»Was soll denn das heißen?«, fragte Roxane.

»Die Unbekannte aus der Seine ist nicht mehr bei uns«, antwortete Aumonier.

Hinter der vorwurfsvollen Haltung der Ärztin spürte Roxane eine gewisse Verlegenheit, ganz so, als hätte man sie auf frischer Tat ertappt.

»Nun erzählen Sie mal die ganze Geschichte von Anfang an«, bat sie.

Es war das erste Mal in ihrer Laufbahn, dass Roxane die Krankenstation der Pariser Polizeipräfektur betrat. Diese medizinische Einrichtung gab es nur in Frankreich, und sie stand einigermaßen in Verruf. Sie fungierte als eine Art psychiatrische Notaufnahme für Menschen, die die Polizei der Hauptstadt aufgesammelt hatte und die offensichtlich unter psychischen Störungen litten. Dieser vor eineinhalb Jahrhunderten gegründeten und der Aufsicht der Präfektur unterstellten Institution wurde regelmäßig intransparentes Gebaren vorgeworfen.

»Unsere Unbekannte wurde am Sonntagmorgen gegen fünf Uhr von der See- und Flussbrigade auf der Höhe des Pont-Neuf aus der Seine geborgen«, begann Aumonier, den Blick auf ihre Notizen gerichtet. »Sie war splitterfasernackt und trug lediglich eine Uhr am Handgelenk.«

Trotz ihres Interesses für diesen Fall fühlte Roxane sich unbehaglich. Das Büro war winzig und lag neben der Gefängniszelle. Das grünliche Licht und der Geruch nach Kohl, der in der Luft hing, verursachten ihr Übelkeit. Jeder Atemzug war eine Anstrengung.

»Am selben Tag gegen 10 Uhr hat man sie nach einem kurzen Aufenthalt in der Polizeiabteilung des Krankenhauses Hôtel-Dieu zu uns gebracht.«

Aumonier reichte der Polizistin die vom Krankenhaus ausgefüllte ärztliche Bescheinigung. Roxane überflog sie rasch: Der Arzt hatte sich damit begnügt, einige Kästchen anzukreuzen und eine kurze Zusammenfassung hinzuzufügen: Die Eingelieferte weist psychische Störungen auf, die die Sicherheit anderer sowie ihre eigene gefährden könnten. Die Unbekannte hatte sich geweigert, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen, und das Team der Polizeiabteilung hatte sie nicht dazu gezwungen, da ihr keine Straftat zur Last gelegt wurde – außer vielleicht, dass sie nackt in der Seine gebadet hatte.

»Als die junge Frau aus dem Wasser geborgen wurde, war sie desorientiert, völlig durch den Wind. Sie konnte nicht eine einzige Frage beantworten. Im Hôtel-Dieu hat sie sich noch einigermaßen ruhig verhalten, aber als sie bei uns ankam, ist sie komplett ausgerastet.«

Catherine Aumonier öffnete eine Datei auf ihrem Laptop und drehte dann den Bildschirm zu Roxane.

»Alles wurde von den Sicherheitskameras gefilmt. Wir haben ihr Beruhigungsmittel verabreicht, aber die haben nur bedingt gewirkt. Sie war sehr aufgewühlt, kratzte sich und riss sich büschelweise Haare aus.«

Roxane betrachtete die Bilder. Eine vollständig verloren wirkende, junge Frau im Bademantel. Ein langes, gespenstisch aussehendes und sehr schmales Gesicht, gefangen in Traurigkeit und Wahnsinn.

»Und man konnte überhaupt nicht mit ihr kommunizieren?«

»Ich denke, sie hat die meisten der ihr gestellten Fragen nicht einmal verstanden«, antwortete Aumonier.

»Haben Sie eine Diagnose stellen können?«

»Bei so wenigen Elementen ist das schwierig. Eine Mischung aus Wahnzuständen und dissoziativer Amnesie.«

»Ist es möglich, dass sie simuliert hat?«

»Das ist immer möglich, aber meiner Ansicht nach hier nicht der Fall. Sie schien ein starkes Trauma erlitten zu haben. Nach vierundzwanzig Stunden hatte sich ihr Zustand nicht verbessert, aber sie hat dennoch einen Satz gesagt, der mich verwundert hat. Sie wollte, dass wir Marc Batailley anrufen.«

»Hat sie das gesagt?«

»Sie hat es mehrmals wiederholt wie eine Bitte: Sie müssen Marc Batailley anrufen!«

»Sie hat es auf Deutsch gesagt?«

»Ja.«

»Und Sie wussten, wen sie meinte?«

»Ja, ich habe Marc oft getroffen, als ich noch am Quai de la Rapée gearbeitet habe.«

»Im Rechtsmedizinischen Institut?«

Aumonier nickte.

»Ich habe Batailley zwei Nachrichten hinterlassen, aber er hat nicht zurückgerufen.«

Bei ihrer Ankunft in der psychiatrischen Krankenstation hatte Roxane nicht erwähnt, dass sie den Anrufbeantworter beim BANC abgehört hatte. Aumonier nahm an, die Präfektur habe sie geschickt, und Roxane hatte sie nicht aufgeklärt.

»Und dann?«

Die stellvertretende Leiterin kratzte sich mit dem kleinen Finger am Ohr. Sie erinnerte an einige der holländischen Bäuerinnen, die van Gogh bei der Vorbereitung seines Gemäldes Die Kartoffelesser porträtiert hatte: rotes Gesicht, grobe Züge, niedrige Stirn, Stumpfnase.

»Wir haben das Mädchen noch einige Stunden hierbehalten, aber wir hatten großen Andrang und mussten das Zimmer räumen.«

»Könnte ich es mir ansehen?«

Mühsam erhob sich die stellvertretende Leiterin von ihrem Stuhl.

»Normalerweise haben wir sechs oder sieben Einlieferungen pro Tag, aber am Montag waren es elf.«

Seufzend knöpfte sie ihren Kittel zu, der die Insignien der Präfektur trug.

»Wir wissen wirklich nicht, was im Moment los ist. Fantasten, Süchtige, Paranoide, Obdachlose, Migranten – wir kommen gar nicht mehr nach. Was zu viel ist, ist zu viel.«

2.

Die Flügeltür öffnete sich auf einen langen gelblichen Gang, von dem zu beiden Seiten dunkelrot gestrichene Türen abgingen. Auf der linken Seite lagen die Büros, die Küche, der Ruheraum und der Medikamentenraum, auf der rechten die Zimmer und die Dusche. Fenster gab es nicht. Jegliche Helligkeit schien abgeschirmt zugunsten eines trüben, schmutzigen Lichts.

Ein dumpfes, beunruhigendes Gemurmel hallte von den Wänden wider. Es war Essenszeit. Zwei Krankenschwestern verteilten Tabletts. Auf dem Speiseplan stand gekochter Fisch, Rosenkohl und Quark.

»Rechtmäßig dürfen die Patienten maximal achtundvierzig Stunden hierbleiben«, erklärte Aumonier. »Anschließend werden einige von ihnen ins Krankenhaus eingewiesen, die anderen werden wieder auf freien Fuß gesetzt oder im Rahmen von Ermittlungen wegen eines Verbrechens oder Vergehens in ein Kommissariat überstellt.«

Hinter einer Plexiglasscheibe brüllte ein zahnloser Mann in einem blauen Schlafanzug: »Mir ist kalt! Mir ist heiß! Mir ist kalt! Mir ist heiß! Ich will meinen Sprit! Will nach Knokke le Zoute!«

»Nachmittags hatten wir keine andere Wahl mehr«, fuhr Aumonier fort. »Wir mussten das Mädchen irgendwo anders unterbringen. Mit den Neuaufnahmen hatten wir hier zwanzig Patienten, dabei verfügen wir nur über sechzehn Betten, die auf zehn Zimmer verteilt sind.«

»Und haben Sie eine Unterkunft für sie gefunden?«

»Natürlich! Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt und schließlich einen Platz im psychiatrischen Zentrum Jules-Cotard für sie aufgetan. Das ist eine kleine Klinik, nicht weit entfernt, in der Nähe des Friedhofs Montparnasse. Aber bei der Überstellung ist dann alles schiefgegangen. Wir haben sie verloren.«

»Verloren? Sie wollen sagen, die Patientin ist geflohen?«

Aufgrund des vorwurfsvollen Tons, den Roxane anschlug, reagierte Aumonier gereizt.

»Normalerweise verfügen wir über vier Sicherheitsleute. Aber der eine hatte seinen freien Tag, der andere ist angeblich krank, und der dritte kommt nicht mehr, seit er seine Versetzung beantragt hat. Der Vorschrift zufolge muss jeder Transfer von zwei Sicherheitsmännern begleitet werden, aber an diesem Nachmittag gab es nur einen.«

Die psychiatrische Krankenstation litt unter dem französischen Syndrom: Das Land war zu hoch besteuert und zu stark verwaltet, aber nichts funktionierte. In einiger Entfernung randalierte der Zahnlose weiter in seinem Zimmer: »Ich will Diesel! Will nach Oberwiesel! Ich will lieber ein Mammut essen als dieses fiese Fressen.«

»Was genau ist passiert?«

»Sie ist dem Sicherheitsmann auf dem Hof der Clinique Cotard entkommen.«

Als sie das Zimmer Nummer 6 erreichten, wischte sich Aumonier die Nase am Ärmel ab und sagte: »Hier ist es.«

Ein Aufseher, gebaut wie ein Kleiderschrank, sperrte ihnen die Tür auf. Es handelte sich um eine kleine Zelle von zehn Quadratmetern ohne Dusche und Fensterläden. Außer einem am Boden verschraubten Metallbett und einer chemischen Toilette, wie sie auf Baustellen oder Campingplätzen zu finden sind, gab es nichts. An den Wänden erzählten Graffitis die Geschichte der Bewohner.

»Du bist nur ein Arschloch, ohne was drum rum«, rief der Patient der stellvertretenden Leiterin zu.

Wie gelähmt saß er im Schneidersitz auf dem Bett und stieß Beschimpfungen aus. Unbehaglich musterte Roxane ihn aus dem Augenwinkel. Mit seinem schiefen Kinn, einem blinden Auge und dem auf den Unterarm tätowierten Anker erinnerte er an Popeye.

»Schick mir deine Mutter vorbei, um dich noch mal zu fabrizieren!«, schrie er weiter.

Aumonier ignorierte den Obdachlosen und kam der Frage zuvor, die Roxane ihr stellen wollte.

»Da wir das Zimmer direkt nach ihrer Überführung desinfiziert haben, wird die Spurensicherung nicht viel finden.«

Roxane überlegte. Sie war nicht sicher, dass die Männer von der Spusi wegen so einer Sache herkommen würden. Das Kommissariat des 14. Arrondissements würde eine Fahndung einleiten. Die Beamten aus der Rue du Maine würden in der Umgebung der Clinique Cotard Patrouille fahren und hoffen, dass das Mädchen wieder auftauchte. Aumonier wusste, dass sie Mist gebaut hatte, aber sie hatte ein Ass im Ärmel.

»Farouk, einer unserer Aufseher, war geistesgegenwärtig genug, die Haare aufzusammeln, die sich das Mädchen ausgerissen hat.«

Sie zog einen kleinen verschlossenen Plastikbeutel aus der Tasche, der eine Handvoll blonder Haare enthielt. Roxane betrachtete ihn skeptisch. Das war besser als nichts, auch wenn sie nicht sicher war, dass genügend Haarwurzeln enthalten waren, um die DNA bestimmen zu können. Ganz zu schweigen von dem Risiko, dass die Probe unbrauchbar sein könnte. Erneut ließ sie den Blick durch das Zimmer wandern und hielt bei der chemischen Toilette inne.

»Haben Sie die gereinigt?«

»Natürlich, das Auffangbecken wird bei jedem Patienten gewechselt. Nach dem Prinzip von Katzenstreu.«

»Versuchen Sie, das Becken der Unbekannten zu finden, und entnehmen Sie, so gut es geht, Proben.«

»Nach was genau suchen wir?«

Roxane zuckte mit den Schultern.

»Ihre Pisse, ihre Scheiße, alles, was Sie finden.«

3.

19 Uhr. Roxane saß auf Valentine Diakités Motorroller. Der eisige Wind lähmte ihr Gesicht, durchbohrte ihren Körper und brannte an ihren Händen. Der Lederblouson und das Langarm-T-Shirt schützten sie nicht ausreichend gegen die beißende Kälte der Nacht.

An der Place Denfert-Rochereau bog sie in den Boulevard Raspail ein, um ihr neues Büro zu erreichen. Die Straße war verstopft, und der Verkehr wurde wegen der nicht enden wollenden Bauarbeiten, die die Hauptstadt verschandelten, teilweise umgeleitet. Roxane war in Paris geboren, aber in einem solchen Zustand hatte sie die Stadt noch nie gesehen. Seit Monaten gab es mehr und mehr Baustellen. Keine Straße, keine Kreuzung, kein Häuserblock ohne aufgebaggerte Bürgersteige. Das Schlimmste war, dass die meisten Baustellen verwaist waren. Die Arbeiter hatten Gräben ausgehoben und waren dann aus unbekanntem Grund woanders eingesetzt worden. Ohne dass sich die Behörden weiter darum kümmerten, blieben die Baugruben wochenlang offen, geschützt durch grässliche, graugrüne Blechbarrieren, die am Wochenende den Demonstranten dazu dienten, die Polizei anzugreifen.

Der Fall der »Unbekannten aus der Seine« ging ihr nicht aus dem Kopf. Dieser Vorfall hatte etwas Poetisches, das ihr gefiel. Er erinnerte sie an einen literarischen Stoff, an dem sie in ihrem Vorbereitungskurs gearbeitet hatte. Eine junge Frau hatte Ende des 19. Jahrhunderts in der Seine Selbstmord begangen, und man hatte ihre Leiche in der Nähe einer Brücke geborgen. Der Angestellte des Leichenschauhauses war so sehr von ihrer Schönheit fasziniert, dass er heimlich einen Abguss ihres Gesichts angefertigt hatte. Später wurden aus Gips Kopien dieser Totenmaske hergestellt, und im Laufe der Jahre war sie zu einer Ikone geworden, die Anfang des folgenden Jahrhunderts in zahlreichen unkonventionellen Pariser Künstlerwohnungen zu finden war. Louis Aragon erwähnte sie in seinem Roman Aurélien und nannte sie »die Mona Lisa des Selbstmords«. Auch Supervielle widmete ihr eine Novelle, und Camus besaß eine Kopie der Maske in seinem Arbeitszimmer. Die Harmonie ihres Gesichts faszinierte, sie war von einzigartiger Schönheit – hohe, ausgeprägte Wangenknochen, glatte Haut, halb geschlossene Augen mit feinen Wimpern und ein kleines mysteriöses Lächeln, erstarrt in Frohsinn, so als hätte der Übertritt auf die andere Seite des Lebens sie in einen Zustand absoluter Glückseligkeit versetzt.

In der Rue de Sèvres riss Roxane ein E-Roller, der ihr in verkehrter Richtung entgegenkam, aus ihren literarischen Betrachtungen. Sie konnte gerade noch ausweichen und entkam schließlich dem dichten Verkehr, indem sie in die Rue du Bac einbog. Halb erfroren fuhr sie mit dem Roller durch das große Tor und im Hof weiter bis zur Nummer 11 a, wo sie parkte. Als sie die Tür zum Glockenturm öffnete, schien ihr die Atmosphäre ihres Büros ein wahres Vergnügen: die Wärme, die beruhigenden Klavierklänge, der Weihnachtsschmuck, der sie an ihre Kindheit erinnerte, und der Sibirische Kater, der sich sofort an ihren Beinen rieb.

There’s no place like home …

Im zweiten Stock saß Valentine Diakité noch immer an ihrem Schreibtisch, und Roxane wurde klar, dass es nicht so leicht wäre, sie loszuwerden.

»Und?«, fragte Valentine strahlend und neugierig, mehr zu erfahren.

Von ihrer Spontaneität gerührt und nicht ohne Hintergedanken, fasste Roxane kurz ihren Besuch in der psychiatrischen Krankenstation zusammen.

»Wenn du mir wirklich helfen willst, dann ist dies der geeignete Moment!«, sagte sie, als sie ihren Bericht beendet hatte.

Sie zog die kleinen Plastiktütchen aus der Innentasche ihres Blousons, das eine enthielt die Haarsträhnen, das andere ein kleines Röhrchen mit der Urinprobe der Unbekannten.

»In einer halben Stunde fährt an der Gare du Nord ein TGV ab, du kannst um 21 Uhr in Lille sein.«

»In Lille?«

»Dort befindet sich das europäische Institut für genetische Fingerabdrücke, eines der wichtigsten Privatlabore im Norden Frankreichs.«

Valentine machte sich bereits Notizen auf ihrem Handy.

»Meine Dienststelle, die Zielfahndungseinheit, arbeitet oft mit ihnen zusammen, als Ergänzung zum Nationalen Institut für Kriminaltechnologie«, fuhr Roxane fort. »Ihre Stärke liegt in der Schnelligkeit, vor allem, wenn man Untersuchungsergebnisse braucht, bevor ein Polizeigewahrsam abläuft.«

»Aber es hat Sie doch noch niemand mit diesem Fall beauftragt!«

»Wer weiß das schon?«, entgegnete Roxane. »Du fährst hin und übergibst das genetische Material einem Typen namens Johan Moers.«

»Um 9 Uhr abends?«

»Das ist kein Problem, der Typ ist etwas strange, er schläft sogar dort. Um es dir leichter zu machen, kündige ich deinen Besuch per SMS an.«

Roxane hatte angenommen, Valentines Einsatzbereitschaft würde bei der ersten Schwierigkeit nachlassen, aber mitnichten.

»Alles klar«, sagte die Doktorandin, während sie ihren Helm aufsetzte.

Sie schob die Proben in ihre Lady-Dior-Tasche und reichte Roxane eine elfenbeinfarbene Visitenkarte.

»Schicken Sie mir die Fahrkarten und die Adresse des Labors an meine Mail-Adresse?«

»Wird gemacht. Du bist vor Mitternacht wieder zurück in Paris.«

4.

Ende der Leseprobe