Die junge Frau und die Nacht - Guillaume Musso - E-Book

Die junge Frau und die Nacht E-Book

Guillaume Musso

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nur auf Drängen seines besten Freundes Maxime kehrt der erfolgreiche Schriftsteller Thomas anlässlich einer Jubiläumsfeier ihrer alten Schule aus den USA in seine französische Heimatstadt Antibes zurück – an den Ort, an dem vor fünfundzwanzig Jahren Vinca, seine große Liebe, spurlos verschwand. Damals beging Thomas mit Maximes Hilfe aus Liebe und Verzweiflung ein grausames Verbrechen. Nun droht die Vergangenheit sie einzuholen, denn jemand ist hinter ihr Geheimnis gekommen und will nur eines: Rache. Um sich und ihre Familien zu schützen, müssen Thomas und Maxime herausfinden, warum Vinca damals das Internatsgelände verließ. Doch je näher sie der Wahrheit kommen, desto größer wird die Gefahr …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.pendo.de

Für Flora

In Erinnerung an unsere Gesprächein jenem Winter, während der Kleine um vier Uhr morgens sein Fläschchen bekam . . .

Übersetzung aus dem Französischen von Eliane Hagedornund Bettina Runge (Kollektiv Druck-Reif)

© Calmann-Lévy 2018

Titel der französischen Originalausgabe:

» La Jeune Fille et la Nuit «, Calmann-Lévy, Paris 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2019

Illustration: © Matthieu Forichon

Covergestaltung:zero-media.net, München

Coverfoto: FinePic®, München (Himmel); walrusmail / Getty Images (Riss); Millennium Images, UK / Contributing Photographer (Steg & Meer); Stocksy/ © Guille Faingold (Frau)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Karte

Motto

Gestern und heute

FOREVER YOUNG

1. Coca-Cola Cherry

2. Der Klassenbeste und die Bad Boys

3. Was wir getan hatten

4. Das Tor des Unheils

5. Die letzten Tage der Vinca Rockwell

6. Schneelandschaft

DER JUNGE, SO ANDERS ALS DIE ANDEREN

7. In den Straßen von Antibes

8. Der Sommer des Grand Bleu

9. Was alle Rosen erleben

10. Das Kriegsbeil

11. Hinter seinem Lächeln

12. Die Mädchen mit den feuerroten Haaren

DAS JUNGE MÄDCHEN UND DER TOD

13. Der Platz der Katastrophe

14. Die Party

15. Die beste Schule

16. Die Nacht wartet stets auf dich

17. Der Garten der Engel

18. Die junge Frau und die Nacht

Epilog(e)Nach jener Nacht

Das Privileg des Romanautors

Das Wahre vom Falschen unterscheiden

Quellenverzeichnis

Fußnoten

Das Problem der Nacht bleibt.Wie sie durchstehen?[1]

Henri Michaux

Das Mädchen:Vorüber! Ach vorüber!Geh wilder Knochenmann!Ich bin noch jung, geh Lieber!Und rühre mich nicht an.Der Tod:Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,Sollst sanft in meinen Armen schlafen.[2]

Matthias Claudius, Der Tod und das Mädchen

2017

Südspitze des Cap d’Antibes. 13. Mai.

Manon Agostini parkte ihren Dienstwagen am Ende des Chemin de la Garoupe. Die Polizistin schlug die Tür des alten Kangoo zu und fluchte innerlich über die Verkettung der Umstände, die sie hierher geführt hatte.

Gegen einundzwanzig Uhr abends hatte der Hausmeister eines luxuriösen Anwesens am Cap im Kommissariat von Antibes angerufen, um einen Knall oder Schuss zu melden – auf jeden Fall ein auffälliges Geräusch –, den er auf dem Felsweg neben dem Park der Villa gehört hatte. Im Kommissariat hatte man nicht viel Aufhebens um den Anruf gemacht und ihn an die Stadtpolizei weitergeleitet, der nichts Besseres eingefallen war, als sie zu kontaktieren, obgleich ihr Dienst bereits beendet war.

Als ihr Vorgesetzter sie angerufen und gebeten hatte, einen Blick auf den Küstenweg zu werfen, trug Manon schon Abendkleidung und war ausgehfertig. Am liebsten hätte sie ihm geantwortet, er könne sie gernhaben, aber sie konnte ihm diesen Gefallen nicht abschlagen. Denn am Vormittag hatte er genehmigt, dass sie den Kangoo auch nach Dienstschluss nutzen durfte. Manons Privatwagen hatte den Geist aufgegeben, und an diesem Samstagabend brauchte sie unbedingt ein Auto, um zu einem Treffen zu gelangen, das ihr sehr am Herzen lag.

Das Lycée Saint-Exupéry, wo sie zur Schule gegangen war, feierte sein fünfzigjähriges Bestehen, und aus diesem Anlass kamen am Abend die ehemaligen Schüler ihrer Klasse zusammen. Manon hoffte insgeheim, dort einen Jungen wiederzusehen, der sie einst sehr beeindruckt hatte. Er war anders als die anderen, aber sie hatte ihn damals dummerweise ignoriert und ältere Jungs ihm vorgezogen, die sich alle als Vollidioten entpuppt hatten. Ihre Hoffnung entbehrte jeglicher Vernunft – sie war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt zu dem Treffen kommen würde, und wahrscheinlich hatte er sie ohnehin vergessen –, doch sie wollte glauben, dass in ihrem Leben endlich etwas passierte. Maniküre, Friseur, Shoppen: Manon hatte sich den ganzen Nachmittag über vorbereitet. Sie hatte dreihundert Euro in ein schmal geschnittenes Kleid aus nachtblauer Spitze und Seidenjersey investiert, bei ihrer Schwester eine Perlenkette ausgeliehen und bei ihrer besten Freundin Pumps – ein Paar Wildlederschuhe von Stuart Weitzman, die höllisch drückten.

Manon schaltete die Taschenlampe ihres Smartphones ein und stöckelte über den schmalen Weg, der mehr als zwei Kilometer bis zur Villa Eilenroc an der Küste entlangführte. Sie kannte diesen Ort gut. Als sie noch ein Kind war, hatte ihr Vater sie zum Angeln in die kleinen Buchten mitgenommen. Früher nannten die Einheimischen diesen Bereich den Zöllner- oder Schmugglerpfad. Heute hörte er auf den nichtssagenden Namen »Küstenweg«.

Nach rund fünfzig Metern stieß Manon auf eine Absperrung, die mit einem Warnschild versehen war: »Gefährlicher Bereich – Zugang verboten«. Bei dem schweren Unwetter Mitte der Woche hatten anbrandende Wellen zu Erdrutschen geführt, die den Weg auf einigen Abschnitten unpassierbar machten.

Manon zögerte einen Moment, dann entschied sie sich, über die Absperrung zu steigen.

1992

Südspitze des Cap d’Antibes. 1. Oktober.

Fröhlich und beschwingt sprang Vinca Rockwell an der Plage de la Joliette vorbei. Es war zweiundzwanzig Uhr. Um vom Lycée hierherzukommen, hatte sie eine ihrer Klassenkameradinnen aus dem ersten Jahr der zweijährigen Vorbereitungsklasse für die École Normale Supérieure, die einen Motorroller besaß, überreden können, sie am Chemin de la Garoupe abzusetzen.

Als sie sich auf den Schmugglerpfad begab, spürte sie Schmetterlinge in ihrem Bauch. Sie würde Alexis wiedersehen. Sie würde ihre große Liebe wiedersehen!

Es wehte ein sehr starker Wind, aber die Nacht war derart schön und der Himmel so klar, dass man beinahe so gut sah wie am Tag. Vinca liebte diese Gegend, weil sie noch unberührt war und so gar keine Ähnlichkeit mit dem abgenutzten Sommerklischee der Französischen Riviera hatte. Schien die Sonne, wurde man überwältigt von den weiß und ockerfarben leuchtenden Kalkfelsen und den unendlichen Variationen des Azurblaus, in dem die kleinen Buchten badeten. Einmal hatte Vinca, als sie in Richtung der Îles de Lérins blickte, sogar Delfine gesehen.

Bei heftigem Wind, wie an diesem Abend, veränderte sich die Landschaft radikal. Die zerklüfteten Felsen wurden gefährlich, die Olivenbäume und Pinien schienen sich vor Schmerz zu winden, als versuchten sie krampfhaft, sich gegen den Sturm zu stemmen. Aber Vinca kümmerte das nicht. Sie würde Alexis wiedersehen. Sie würde ihre große Liebe wiedersehen!

2017

Verfluchter Mist!

Ein Absatz von Manons Pumps war abgebrochen. Verflixt! Vor ihrer Abendveranstaltung würde sie noch einmal zu Hause vorbeischauen müssen, und morgen würde ihre Freundin ihr Vorhaltungen machen. Sie zog die Schuhe aus, steckte sie in ihre Handtasche und lief barfuß weiter.

Sie folgte dem schmalen, betonierten Pfad, der sich oben an den Felswänden entlangzog. Die Luft war klar und belebend. Der Mistral hatte den wolkenlosen Nachthimmel mit Sternen übersät.

Die beeindruckende Aussicht reichte von den Befestigungsmauern des alten Antibes über die Berge des Hinterlandes bis zur Bucht von Nizza. Im Schutz der Pinien lagen die sicherlich nobelsten Anwesen der Côte d’Azur. Man hörte die Gischt der Wellen an den Felsen aufspritzen und spürte die ganze Kraft und Gewalt der Wogen.

In der Vergangenheit war der Ort wiederholt Schauplatz tragischer Unfälle gewesen. Die Brandung hatte bereits Fischer, Touristen oder Verliebte mit sich gerissen, die sich am Ufer trafen. Im Kreuzfeuer der Kritik stehend, waren die Behörden gezwungen gewesen, den Weg abzusichern, indem sie stabile Treppen und Geländer bauten und Abgrenzungen errichteten, die den übermütigen Spaziergänger daran hinderten, sich dem Ufer zu sehr zu nähern. Doch sobald der Wind auch nur für wenige Stunden auffrischte, wurde dieser Ort trotzdem gefährlich.

Manon erreichte eine Stelle, wo eine Aleppo-Kiefer umgestürzt war, dabei das Geländer der Brüstung niedergerissen hatte und den Durchgang versperrte. Man kam unmöglich weiter. Sie überlegte umzukehren. Hier war keine Menschenseele. Der starke Mistral hatte die Spaziergänger abgeschreckt.

Geh zurück, Mädchen!

Sie blieb stehen und lauschte dem Heulen des Windes. Er trug eine Art Klage mit sich, zugleich nahe und doch fern. Eine dumpfe Drohung.

Obgleich sie barfuß war, kletterte sie auf einen Felsen, um das Hindernis zu umgehen, und setzte ihren Weg fort, nur beleuchtet von der Taschenlampe ihres Handys.

Ein dunkler Schatten zeichnete sich am Fuß der Felswand ab. Manon kniff die Augen zusammen. Nein, sie war zu weit entfernt, um etwas erkennen zu können. Sie versuchte, mit größter Vorsicht hinabzusteigen. Sie hörte ein leises Geräusch. Der Saum ihres Spitzenkleides war aufgerissen, aber sie achtete nicht darauf. Sie konnte jetzt erkennen, was sie stutzig gemacht hatte. Es war ein Körper, eine Frau, die auf den Felsen lag. Je näher sie kam, desto mehr wurde sie von Entsetzen ergriffen. Das sah nicht nach einem Unfall aus. Das Gesicht der Frau war nur noch blutiger Brei. Mein Gott! Manon spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie entsperrte ihr Handy, um den Rettungsdienst zu alarmieren. Sie hatte kein Netz, aber auf dem Display war dennoch zu lesen: Nur Notrufe möglich. Sie wollte gerade den Notruf absetzen, als sie bemerkte, dass sie nicht allein war. Ein in Tränen aufgelöster Mann saß ein Stück weiter entfernt. Vornübergesunken, den Kopf zwischen den Händen, schluchzte er.

Manon bekam es mit der Angst zu tun. In diesem Moment bedauerte sie, nicht bewaffnet zu sein. Vorsichtig näherte sie sich. Der Mann richtete sich auf. Als er den Kopf hob, erkannte Manon ihn.

»Ich war das«, sagte er und deutete auf die Leiche.

1992

Leicht und anmutig sprang Vinca Rockwell über die Felsen. Der Wind blies immer stärker. Vinca liebte die Brandung, die Gefahr, den Rausch der Seeluft, die schwindelerregenden Steilwände. Nichts war in ihrem Leben berauschender gewesen als die Begegnung mit Alexis. Überwältigend und unauslöschlich. Eine Verschmelzung der Körper und Seelen. Selbst wenn sie hundert Jahre leben sollte, könnte niemals etwas dieser Erinnerung den Rang ablaufen. Die Aussicht, Alexis heimlich wiederzusehen und zwischen den Felsen zu lieben, ließ sie vor Wonne erschauern.

Sie spürte den warmen Wind, der sie umhüllte und um ihre Beine strich, ihren Rock anhob wie ein Vorspiel zur lang ersehnten Vereinigung ihrer Körper. Das Herz, das entbrennt, die Hitze, die einen ergreift und davonträgt, das Blut, das pulsiert und jeden Zentimeter des Körpers beben lässt.

Sie würde endlich ihre große Liebe wiedersehen.

Alexis war der Sturm, die Nacht, der Augenblick. Im Grunde ihres Herzens wusste Vinca, dass sie im Begriff war, eine Dummheit zu machen, und dass die Sache schlecht ausgehen würde. Aber sie hätte die Erregung dieses Augenblicks gegen nichts auf der Welt eingetauscht. Die Vorfreude, die Liebestollheit, die schmerzliche Wonne, von der Nacht fortgetragen zu werden.

»Vinca!«

Plötzlich zeichnete sich Alexis’ Gestalt vor dem klaren Himmel ab, der vom Vollmond erhellt wurde. Vinca lief einige Schritte, um den Schatten zu erreichen. Für einen Moment schien es ihr beinahe, als könnte sie das bevorstehende Vergnügen bereits spüren. Intensiv, brennend, unkontrollierbar. Miteinander verschmelzende Körper, die sich auflösen, bis sie eins sind mit Wellen und Wind. Die Schreie, die sich unter die der Möwen mischen. Die überwältigende Explosion, die den Körper durchzuckt, das ganze Wesen auszulöschen scheint.

»Alexis!«

Als Vinca endlich das Objekt ihrer Liebe umarmte, flüsterte ihr eine innere Stimme erneut zu, dass dies alles ein böses Ende nehmen würde. Aber das junge Mädchen scherte sich nicht um seine Zukunft. Die Liebe ist alles oder nichts.

Was zählte, war einzig dieser Moment.

Die verzehrende und toxische Verführung der Nacht.

Gestern und heute

(aus demNice-Matin – Montag, 8. Mai 2017)

Das Lycée international Saint-Exupéry feiert sein fünfzigjähriges Bestehen

Die Vorzeigeeinrichtung des Technologieparks Sophia Antipolis wird am kommenden Wochenende fünfzig Jahre alt.

Das 1967 von der französischen Laienmission als Schule für die Kinder von Expats gegründete Lycée international ist eine für die Côte d’Azur untypische Einrichtung. Sie ist für ihr hohes Niveau bekannt und auf Fremdsprachenunterricht ausgerichtet. In den bilingualen Zweigen können internationale Diplome erworben werden. Heute besuchen beinahe tausend französische und ausländische Schüler diese Schule. Die Feierlichkeiten beginnen am Freitag, 12. Mai, mit einem Tag der offenen Tür, an dem Schüler und Lehrkräfte ihre künstlerischen Arbeiten präsentieren – Fotoausstellungen, Filme, Theateraufführungen –, die zu diesem Anlass vorbereitet wurden.

Das Fest geht am nächsten Tag mittags mit einem Empfang weiter, bei dem sich ehemalige Schüler und Lehrer treffen. Während dieser Veranstaltung findet die Grundsteinlegung für ein neues Gebäude statt, den »Glasturm«, der sich über fünf Etagen am aktuellen Standort der Sporthalle erheben soll, die in Kürze abgerissen wird. Dieses ultramoderne Gebäude wird die Vorbereitungsklassen für die Hochschulen aufnehmen. Die Jahrgänge 1990 – 1995 haben die Ehre, an diesem Abend bei der »Ehemaligen-Party« die letzten Nutzer der Sporthalle zu sein.

Die Schulleiterin Madame Florence Guirard hofft, dass anlässlich dieses Jubiläums möglichst viele Besucher zu der Gedenkfeier erscheinen werden. »Ich lade alle ehemaligen Schüler und Lehrer herzlich zu dieser geselligen Zusammenkunft ein. Der Gedankenaustausch, das Wiedersehen und die Erinnerungen rufen uns ins Gedächtnis, woher wir kommen, und sind unverzichtbar, um zu wissen, wohin wir gehen«, fährt die Schulleiterin in einer etwas altmodischen Formulierung fort, bevor sie darüber informiert, dass eigens für diesen Anlass eine Facebook-Gruppe gegründet worden ist.

Stéphane Pianelli

FOREVER YOUNG [3]

1. Coca-Cola Cherry

Wenn man in einem abstürzenden Flugzeug sitzt,nützt Anschnallen auch nichts mehr.[4]

Haruki Murakami, IQ84

1.

Sophia AntipolisSamstag, 13. Mai 2017

Ich parkte den Leihwagen unter den Pinien in der Nähe der Tankstelle, etwa dreihundert Meter vom Eingang zum Lycée entfernt. Ich war nach meinem Flug von New York nach Nizza, während dem ich kein Auge zugetan hatte, direkt vom Airport hierhergekommen.

Am Vortag hatte ich Manhattan überstürzt verlassen, nachdem ich per Mail einen Artikel erhalten hatte, in dem über das fünfzigjährige Bestehen meiner ehemaligen Schule berichtet wurde. Mein damals bester Freund Maxime Biancardini, den ich jedoch seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte ihn mir über meinen Verlag geschickt. Ich hatte zunächst gezögert, die Handynummer anzurufen, die er mir mitgeteilt hatte, doch schnell musste ich mir eingestehen, dass mir kaum eine andere Wahl blieb.

»Hast du den Artikel gelesen, Thomas?«, fragte Maxime nach einem kurzen Eingangsgeplänkel.

»Deswegen rufe ich dich an.«

»Du weißt, was das bedeutet?«

Der einst vertraute Tonfall seiner Stimme war von Stress, Anspannung und Angst entstellt.

Ich antwortete nicht sofort auf seine Frage. Ja, ich wusste, was das bedeutete. Dass es für uns beide das Ende unseres bisherigen Lebens sein könnte und wir dann den Rest unseres Lebens hinter Gittern verbringen würden.

»Du musst an die Côte d’Azur kommen, Thomas«, rief Maxime nach einigen Sekunden des Schweigens. »Wir müssen eine Strategie entwerfen, um das zu verhindern. Wir müssen irgendetwas versuchen.«

Ich schloss die Augen und malte mir die Konsequenzen dessen aus, was geschehen würde: Die Tragweite des Skandals, seine juristischen Folgen, die Schockwelle, die sich auch auf unsere Familien auswirken würde.

Tief in meinem Inneren hatte ich immer gewusst, dass dieser Tag mir wahrscheinlich nicht erspart bleiben würde. Ich hatte beinahe fünfundzwanzig Jahre mit diesem Damoklesschwert über meinem Kopf gelebt – oder so getan, als würde ich leben. Regelmäßig wachte ich mitten in der Nacht schweißgebadet auf und dachte an die Ereignisse von damals und an die Möglichkeit, dass sie irgendwann ans Tageslicht kommen würden. In solchen Nächten nahm ich eine Lexotanil mit einem kräftigen Schluck Whisky, es gelang mir jedoch nur selten, wieder einzuschlafen.

»Wir müssen irgendetwas versuchen«, wiederholte mein Freund.

Ich wusste, dass er sich etwas vormachte. Denn diese Bombe, die unser beider Leben zu zerstören drohte, hatten wir an einem Dezemberabend 1992 selbst gelegt.

Und uns war beiden klar, dass es keine Möglichkeit gab, sie zu entschärfen.

2.

Nachdem ich den Wagen abgeschlossen hatte, ging ich einige Schritte bis zur Tankstelle. Es war eine Art General Store im amerikanischen Stil und hieß bei allen Chez Dino. Hinter den Zapfsäulen erhob sich ein Gebäude aus bemaltem Holz, ein Haus im Kolonialstil, mit einem kleinen Laden und einem netten Café mit einer großen, überdachten Terrasse.

Ich öffnete die Tür. Hier hatte sich nicht viel verändert, alles wirkte noch immer wie aus einer anderen Zeit. Hinten im Laden standen hohe Hocker an einer Theke aus gekalktem Holz, an deren Ende mehrere Glasglocken dem Schutz bunter Kuchen dienten. Der Rest des Raums war bis hin zur Terrasse mit Tischen und Sitzbänken vollgestellt. An der Wand hingen alte Reklameschilder aus Emaille für Produkte, die es heute nicht mehr gab, sowie Plakate von der Riviera aus den Goldenen Zwanzigern. Um mehr Platz zu schaffen, hatte man den Billardtisch und die Arcade-Spielautomaten entfernt, die so oft mein Taschengeld geschluckt hatten: Out Run, Arkanoid, Street Fighter II. Nur der Kicker hatte überlebt, ein alter Turnier-Kickertisch der Marke Bonzini, dessen Matte völlig abgenutzt war.

Ich konnte nicht umhin, über das massive Buchengehäuse des Kickers zu streichen. Genau an diesem Platz hatten Maxime und ich stundenlang die großen Spiele von Olympique Marseille nachgespielt. Bunt durcheinander tauchten die Bilder wieder vor mir auf: der Hattrick von Papin beim Französischen Fußballpokal 1989, Vatas Handspiel im Spiel gegen Benfica Lissabon, der Rechtsschuss von Chris Waddle gegen den AC Mailand, dieser berühmte Abend, an dem die Beleuchtung im Stade Vélodrome ausfiel. Leider hatten wir den lang herbeigesehnten Sieg nicht gemeinsam feiern können – den Sieg in der Champions League 1993. Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Côte d’Azur bereits verlassen, um in einer Handelsschule in Paris weiterzustudieren.

Ich ließ mich von der Atmosphäre des Cafés gefangen nehmen. Maxime war nicht der Einzige, mit dem ich mich nach dem Unterricht hier regelmäßig getroffen hatte. Meine markantesten Erinnerungen waren mit Vinca Rockwell verbunden, dem Mädchen, in das ich damals verliebt war. Dem Mädchen, in das damals alle Jungen verliebt waren. Das war gestern. Vor einer Ewigkeit.

Während ich zur Theke ging, wurden die Erinnerungen so intensiv, dass ich Gänsehaut bekam: Vincas helles Lachen, ihre Zahnlücke, ihre leichten Kleider, ihre widersprüchliche Schönheit, ihr distanzierter Blick, mit dem sie alles betrachtete. Ich erinnerte mich daran, dass Vinca bei Chez Dino im Sommer Cola Cherry trank, während sie sich im Winter eine Tasse heiße Schokolade mit kleinen Marshmallows bestellte, die auf der Oberfläche schwammen.

»Was wünschen Sie?«

Ich traute meinen Augen nicht: Das Café wurde noch immer von demselben italienisch-polnischen Paar betrieben – den Valentinis –, und kaum sah ich sie, erinnerte ich mich wieder an ihre Vornamen. Dino hatte das Putzen der Espresso-Maschine unterbrochen, um mich anzusprechen, während Hannah in der Lokalzeitung blätterte. Er hatte zugenommen und seine Haare verloren, sie war nicht mehr blond und hatte Falten bekommen. Doch ihre Beziehung schien sich mit der Zeit eher verbessert zu haben. Das war der normalisierende Effekt des Alters: Er löschte die übermäßig strahlenden Schönheiten aus und verlieh alltäglicheren Erscheinungen gelegentlich etwas Patina und Glanz.

»Ich hätte gern einen Kaffee. Einen doppelten Espresso.«

Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann beschwor ich die Vergangenheit herauf, indem ich Vincas Geist herbeirief: »Und eine Cola Cherry mit Strohhalm und Eiswürfeln.«

Einen Augenblick lang glaubte ich, einer der Valentinis würde mich erkennen. Meine Eltern waren zwischen 1990 und 1998 Schulleiter am Lycée Saint-Exupéry gewesen. Mein Vater war für das Gymnasium zuständig gewesen und meine Mutter für die Vorbereitungsklassen. In dieser Funktion waren sie in den Genuss einer Dienstwohnung auf dem Campusgelände gekommen. Ich hatte also oft hier herumgesessen. Gegen ein paar kostenlose Partien Street Fighter hatte ich Dino bisweilen geholfen, seinen Keller aufzuräumen oder seine berühmten frozen custards zuzubereiten, deren Rezept er von seinem Vater übernommen hatte. Während seine Frau den Blick weiterhin auf ihre Zeitung richtete, nahm der alte Italiener mein Geld entgegen und reichte mir meine Getränke, jedoch ohne jeglichen Funken des Erkennens in seinem müden Blick.

Drei Viertel des Lokals waren leer, was für einen Samstagvormittag erstaunlich war. Saint-Exupéry hatte viele Internatsschüler, und zu meiner Zeit blieb ein Großteil von ihnen am Wochenende in der Schule. Ich nutzte diesen Umstand, um zu dem Tisch zu gehen, an dem Vinca und ich am liebsten gesessen hatten: Es war der letzte am Ende der Terrasse, unter den duftenden Pinienzweigen. Da sich die Gestirne immer zueinander hingezogen fühlen, wählte Vinca stets den Platz, wo sie in der Sonne saß. Ich setzte mich, das Tablett in den Händen, auf meinen üblichen Platz, den Rücken den Bäumen zugewandt. Ich nahm meine Kaffeetasse und stellte das Glas Cola Cherry vor den leeren Stuhl.

Aus dem Lautsprecher ertönte ein alter Hit von R. E. M., Losing My Religion. Die meisten Leute dachten, in diesem Song sei vom Glauben die Rede, obwohl er einfach nur die Qualen einer schmerzlichen und einseitigen Liebe beschrieb. Die Verzweiflung eines Jungen, der ein Mädchen anlacht, das er liebt: »Hey, schau her, ich bin hier! Warum siehst du mich nicht?« Eine Kurzfassung meiner Lebensgeschichte.

Ein leichter Wind ließ die Äste zittern, das Sonnenlicht schimmerte auf den Bodenbrettern. Für ein paar Sekunden wirkte der Zauber und versetzte mich zurück in die frühen Neunzigerjahre. Vor mir wurde im Frühlingslicht, das durch die Zweige fiel, Vincas Geist lebendig, und ich hatte den Widerhall unserer leidenschaftlichen Diskussionen im Ohr. Ich hörte, wie sie mir voller Begeisterung von Der Liebhaber und Gefährliche Liebschaften erzählte. Ich antwortete ihr und bezog mich auf Martin Eden und Die Schöne des Herrn. Genau an diesem Tisch unterhielten wir uns üblicherweise auch stundenlang über die Filme, die wir am Mittwochnachmittag im Star in Cannes oder im Casino von Antibes gesehen hatten. Sie schwärmte für Das Piano und Thelma und Louise, ich liebte Ein Herz im Winter und Die zwei Leben der Veronika.

Der Song ging zu Ende. Vinca setzte ihre Ray-Ban-Sonnenbrille auf, trank durch ihren Strohhalm und zwinkerte mir hinter den getönten Gläsern zu. Ihr Bild verblasste, bis es völlig verschwunden war und unser verzaubertes Intermezzo beendete.

Wir befanden uns nicht mehr in der sorglosen Sommerhitze des Jahres 1992. Traurig und atemlos war ich ganz allein dabei, den Trugbildern meiner verlorenen Jugend nachzulaufen. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte ich Vinca nicht mehr gesehen.

In diesen fünfundzwanzig Jahren hatte im Übrigen niemand sie noch einmal gesehen.

3.

Sonntag, den 20. Dezember 1992, war Vinca Rockwell, neunzehn Jahre alt, nach Paris durchgebrannt, zusammen mit Alexis Clément, ihrem siebenundzwanzigjährigen Philosophielehrer, mit dem sie heimlich liiert war. Ein letztes Mal hatte man die beiden am nächsten Morgen in einem Hotel des siebten Arrondissements bei der Basilika Sainte-Clotilde gesehen. Danach hatte sich ihre Spur in der Hauptstadt verloren. Sie waren nie mehr in Erscheinung getreten, hatten nie mehr mit ihren Familien oder Freunden Kontakt aufgenommen. Sie hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst.

So weit die offizielle Version.

Ich zog den Zeitungsartikel des Nice-Matin aus der Tasche, den ich bereits mehrere Hundert Male gelesen hatte. In einem scheinbar alltäglichen Text enthielt er eine Information, deren dramatische Konsequenzen alles infrage stellen würden, was die Welt über diese Affäre wusste. Man schwört heute auf Wahrheit und Transparenz, aber die Wahrheit ist selten das, was sie zu sein scheint, und in diesem speziellen Fall würde sie weder Beruhigung noch Trauerverarbeitung, noch echte Gerechtigkeit bedeuten. Die Wahrheit würde nur Unglück, Verfolgungsjagd und Verleumdung nach sich ziehen.

»Oh! ’tschuldigung!«

Ein unachtsamer Schüler, der zwischen den Tischen hindurchlief, hatte mit seinem Rucksack soeben das Cola-Glas ins Wanken gebracht. Durch eine schnelle Reaktion konnte ich es auffangen, bevor es zu Boden fiel. Mit mehreren Papierservietten trocknete ich die Tischplatte, die Limonade war jedoch auf meine Hose gespritzt. Ich durchquerte das Café in Richtung der Toiletten. Ich brauchte gute fünf Minuten, um die Flecken zu entfernen, und noch einmal etwa ebenso lang, um die Hose völlig zu trocknen. Auf dem Ehemaligentreffen kreuzte ich besser nicht so auf, dass man glauben konnte, ich hätte mich bepinkelt.

Anschließend ging ich an meinen Platz zurück, um meine Jacke zu holen, die ich über die Stuhllehne gehängt hatte. Als ich einen Blick auf den Tisch warf, spürte ich, wie mein Herz zu rasen begann. In meiner Abwesenheit hatte jemand die Kopie des Zeitungsartikels zusammengefaltet und eine Sonnenbrille darauf abgelegt. Eine Ray-Ban-Clubmaster mit getönten Gläsern. Wer hatte mir diesen schlechten Scherz gespielt? Ich schaute mich um. Dino stand an den Zapfhähnen und unterhielt sich mit einem Mann. Hannah goss auf der anderen Seite der Terrasse ihre Geranien. Abgesehen von den drei Müllmännern, die an der Theke Pause machten, waren die wenigen Gäste Schüler, die an ihrem MacBook arbeiteten oder telefonierten.

Verdammt ...

Ich musste die Brille in die Hand nehmen, um mich zu überzeugen, dass es keine Halluzination war. Als ich sie hochhob, bemerkte ich, dass jemand etwas auf den Zeitungsausschnitt geschrieben hatte. Nur ein Wort, in einer runden und sorgfältigen Schrift:

Rache.

2. Der Klassenbeste und die Bad Boys

Wer die Vergangenheit kontrolliert,kontrolliert die Zukunft.[5]

George Orwell, 1984

1.

Paint It Black, No Surprises, One ...

Am Eingang zum Campus empfing das Schulorchester die Ankömmlinge mit Songs der Stones, von Radiohead und U2. Die Musik – ebenso quälend wie mitreißend – begleitete die Gäste bis ins Zentrum des Gymnasiums, zur Place des Marronniers, wo die Festivitäten des Vormittags stattfinden sollten.

Sophia Antipolis, das zwischen verschiedenen Gemeinden lag – darunter Antibes und Valbonne – und häufig als das Silicon Valley Frankreichs bezeichnet wurde, war ein Schmuckstück voller Grün an der viel zu dicht bebauten Côte d’Azur. Tausende von Start-up-Unternehmen und Großkonzernen der Spitzentechnologie hatten sich in diesem zweitausend Hektar großen Kiefernwald niedergelassen. Der Ort verfügte über einige Pluspunkte, um Führungskräfte aus aller Welt anzuziehen: die Sonne, die neun Monate im Jahr vom Himmel schien; die Nähe zum Meer und zu den Skigebieten in den Alpen; zahlreiche Sportanlagen und erstklassige internationale Schulen, deren Zugpferd das Lycée Saint-Exupéry war. Die Spitze der Bildungspyramide des Departements Alpes-Maritimes. Eine Einrichtung, von der alle Eltern hofften, ihre Sprösslinge eines Tages dort anmelden zu können, im Vertrauen auf die von der Devise der Schule versprochene Zukunft: »Scientia potestas est.«

Nachdem ich das Pförtnerhäuschen passiert hatte, ging ich am Verwaltungskomplex vorbei. Die derzeitigen Gebäude der Schulanlage waren Mitte der Sechziger erbaut worden und in die Jahre gekommen, aber der Ort insgesamt war und blieb außergewöhnlich, da der verantwortliche Architekt den einmaligen natürlichen Rahmen der Hochebene von Valbonne intelligent zu nutzen gewusst hatte. An diesem Samstagvormittag war die Luft mild und der Himmel türkisblau. Zwischen Kiefernwald und Garrigue, zwischen Felswänden und einem zerklüfteten Relief fügten sich die Würfel und Quader aus Stahl, Beton und Glas harmonisch in die hügelige Landschaft ein. Am Fuß der Hochebene erhoben sich um einen großen See, und halb verdeckt von Bäumen, kleine, farbige, zweistöckige Gebäude: die Häuser des Internats, von denen jedes den Namen eines Künstlers trug, der sich an der Côte d’Azur aufgehalten hatte: Pablo Picasso, Marc Chagall, Nicolas de Staël, Francis Scott Fitzgerald, Sidney Bechet, Graham Greene ...

Zwischen meinem fünfzehnten und neunzehnten Lebensjahr hatte ich hier in der Dienstwohnung gelebt, die meine Eltern damals bewohnten. Die Erinnerungen an diese Zeit waren noch sehr lebendig. Insbesondere die Begeisterung, die ich jeden Morgen empfand, wenn ich mit Blick auf den Kiefernwald aufwachte. Von meinem damaligen Zimmer aus hatte man dieselbe fantastische Aussicht, die ich jetzt wieder bewunderte: die glitzernde Oberfläche des Sees, den hölzernen Schiffsanleger und die Bootshäuser. Nach zwanzig Jahren in New York hatte ich mir schließlich eingeredet, den blauen Himmel Manhattans dem Gesang des Mistrals und der Zikaden vorzuziehen, die Energie von Brooklyn und Harlem dem Duft von Eukalyptus und Lavendel. Aber stimmt das eigentlich immer noch?, fragte ich mich, während ich um die Agora herumging, ein Glasgebäude, das Anfang der Neunzigerjahre rund um die Bibliothek gebaut worden war und mehrere Hörsäle sowie ein Kino beherbergte. Dann stand ich vor den alten, roten, gotisch beeinflussten Backsteingebäuden, in denen die Unterrichtsräume untergebracht waren und die an gewisse amerikanische Universitäten erinnerten. Diese Häuser waren total anachronistisch, und es bestand eine deutliche architektonische Diskrepanz zum Gesamtensemble. Dennoch waren sie immer der ganze Stolz von Saint-Exupéry gewesen, sie verliehen der Schule eine gewisse Ivy-League-Note, und die Eltern waren stolz, ihre Sprösslinge auf die örtliche Harvard School zu schicken.

»Na, Thomas Degalais, auf der Suche nach Inspiration für den nächsten Roman?«

2.

Die Stimme hinter mir überraschte mich. Ich fuhr herum und entdeckte das vergnügte Gesicht von Stéphane Pianelli. Lange Haare, Spitzbärtchen wie ein Musketier, runde Brille à la John Lennon und Umhängetasche: Der Journalist des Nice-Matin sah noch genauso aus wie als Student. Einziges Zugeständnis an die heutige Zeit war das T-Shirt, das er unter seiner ärmellosen Reporterweste trug und das mit dem berühmten Phi –ϑ – verziert war, dem Symbol der Bewegung der extremen Linken, La France insoumise.

»Hallo, Stéphane«, antwortete ich und schüttelte ihm die Hand.

Wir gingen einige Schritte zusammen. Pianelli war so alt wie ich und stammte, wie ich, von hier. Wir hatten bis zum Ende der Schulzeit dieselbe Klasse besucht. Ich hatte ihn als vorlaut in Erinnerung, als brillanten Redner mit Sinn für logische Schlussfolgerungen, der unsere Lehrer häufig in Verlegenheit brachte. Er war an dieser Schule einer der wenigen Schüler mit einem politischen Bewusstsein gewesen. Nach dem Abitur hätten es ihm seine Noten erlaubt, eine Vorbereitungsklasse für ein Studium der politischen Wissenschaften am Saint-Exupéry zu besuchen, er hatte es jedoch vorgezogen, seine Studien an der philosophischen Fakultät in Nizza fortzusetzen. Eine Fakultät, die mein Vater als »Fabrik für Arbeitslose« bezeichnete und meine Mutter, noch radikaler, als »Sammelbecken linksextremer Nichtsnutze«. Aber Pianelli hatte immer zu seiner aufrührerischen Seite gestanden. In Carlone – der geisteswissenschaftlichen Fakultät – hatte er sich in der sozialistischen Bewegung geschickt positioniert und an einem Frühlingsabend 1994 bei einer Fernsehsendung auf France 2, Morgen ist die Jugend dran, seine erste Sternstunde erlebt. Die Livesendung hatte mehr als zwei Stunden lang einem Dutzend Studenten Redezeit gewährt, die den Mindestlohn für Jugendliche ablehnten, den die Regierung Balladur einführen wollte. Ich hatte mir die Sendung kürzlich im Archiv noch einmal angeschaut und war von Pianellis Selbstsicherheit beeindruckt gewesen. Man hatte ihm das Mikrofon zweimal gegeben, und er nutzte die Gelegenheit, um erfahrene Persönlichkeiten wie Alain Madelin und Bernard Tapi zu kritisieren und in die Enge zu treiben. Ein echter Sturkopf, der sich von niemandem beeindrucken ließ.

»Wie denkst du über die Wahl Macrons?«, fragte er mich aus heiterem Himmel. Er war also weiterhin politisch engagiert. »Das ist eine gute Nachricht für Leute wie dich, oder?«

»Für Schriftsteller?«

»Nein, für die miesen Reichen!«, antwortete er mit funkelnden Augen.

Pianelli nahm einen gern auf den Arm, manchmal wurde er auch zynisch oder boshaft, aber ich mochte ihn dennoch. Er war der einzige Mitschüler in Saint-Ex, den ich häufig getroffen hatte, denn jedes Mal, wenn ein neuer Roman von mir erschien, interviewte er mich für seine Zeitung. Meines Wissens hatte er nie den Ehrgeiz gehabt, in der nationalen Presse Karriere zu machen, er zog es vor, ein Allroundjournalist zu bleiben. Beim Nice-Matin konnte er über alles schreiben, was er wollte – Politik, Kultur, Stadtleben –, und er schätzte diese Freiheit sehr. Trotz der mit spitzer Feder verfassten Exklusivberichte hinderte ihn die Rolle des Jägers nicht daran, sich eine gewisse Objektivität zu bewahren. Ich interessierte mich stets sehr für seine Rezensionen meiner Romane, denn er verstand es, zwischen den Zeilen zu lesen. Seine Artikel waren nicht grundsätzlich unkritisch, aber sogar wenn er Vorbehalte hatte, vergaß Pianelli nie, dass hinter einem Roman – und dasselbe galt für einen Film oder ein Theaterstück – oft viele Jahre Arbeit, Selbstzweifel und Korrekturen standen, die man kritisieren konnte. Aber es war grausam und eitel, dies mit wenigen Sätzen abzuhandeln. »Der mittelmäßigste Roman ist sicher wertvoller als die Kritik, die ihn als solchen abtut«, hatte er mir eines Tages anvertraut, wobei er die berühmte Formulierung von Anton Ego, dem Restaurantkritiker im Film Ratatouille[6], auf die Literatur übertrug.

»Scherz beiseite, was führt dich hierher?«

Geschickt sondierte der Journalist das Terrain und warf seine Köder aus. Er kannte einige Bruchstücke meiner Vergangenheit und würde mich nicht so schnell von der Leine lassen. Vielleicht spürte er meine Nervosität, als ich in meiner Tasche die Kopie von Vincas Brille und die Drohung befingerte, die man mir vor einer Viertelstunde überbracht hatte.

»Es ist doch nie schlecht, wieder einmal zu seinen Wurzeln zurückzukehren, oder? Mit zunehmendem Alter ...«

»Hör mit dem Unsinn auf«, unterbrach er mich höhnisch grinsend. »Dir sind doch solche Veranstaltungen wie diese zuwider, Thomas. Schau dich an mit deinem Charvet-Hemd und deiner Patek-Philippe-Uhr. Du willst mir wohl nicht weismachen, dass du mit dem Flieger aus New York gekommen bist, um den Titelsong für Goldorak zu singen und Häppchen mit Typen zu essen, die du verachtest.«

»Da täuschst du dich. Ich verachte niemanden.«

Und das stimmte.

Der Journalist sah mich skeptisch an. Unmerklich hatte sich sein Blick verändert. Seine Augen funkelten, als hätte er etwas entdeckt.

»Verstehe«, sagte er schließlich nickend, »du bist hierhergekommen, weil du meinen Artikel gelesen hast!«

Seine Bemerkung nahm mir den Atem, als hätte er mir einen Schlag direkt in den Magen versetzt. Wie konnte er auf dem Laufenden sein?

»Wovon sprichst du, Stéphane?«

»Spiel nicht den Unschuldigen.«

Ich täuschte einen oberflächlichen, lockeren Ton vor.

»Ich wohne in TriBeCa. Dort lese ich die New York Times zum Kaffee. Nicht dein lokales Käseblatt. Auf welchen Artikel spielst du an? Auf die Ankündigung der Fünfzigjahrfeier unserer Schule?«

Seine Grimasse und seine gerunzelte Stirn zeigten, dass wir nicht von derselben Sache sprachen. Aber meine Erleichterung hielt nur kurz an, denn gleich darauf schreckte er mich mit der Bemerkung auf: »Ich spreche von dem Artikel über Vinca Rockwell.«

Dieses Mal erstarrte ich förmlich vor Überraschung.

»Es stimmt also tatsächlich, du bist nicht auf dem Laufenden!«, sagte er.

»Über was auf dem Laufenden, verdammt noch mal?«

Pianelli schüttelte den Kopf und zog seinen Notizblock aus der Umhängetasche.

»Ich muss an die Arbeit«, sagte er, als wir den großen Platz erreichten. »Ich muss einen Artikel für mein lokales Käseblatt schreiben.«

»Warte, Stéphane!«

Zufrieden über die Wirkung, die er erzielt hatte, verließ er mich, winkte mir zu und sagte noch: »Wir sprechen uns später.«

Mir schlug das Herz bis zum Hals.

Eines war sicher: Das war nicht die letzte Überraschung, die mich erwartete.

3.

Die Place des Marronniers war erfüllt von den Rhythmen des Orchesters und den lebhaften Gesprächen der Gäste, die in kleinen Gruppen zusammenstanden. Früher hatte es hier einmal majestätische Bäume gegeben, doch sie waren längst durch einen Parasiten dezimiert worden. Der Platz hatte seinen Namen behalten, aktuell war er jedoch anstelle der Kastanien mit Kanarischen Dattelpalmen bepflanzt, deren anmutige Silhouetten an Ferien und Faulenzen denken ließen. Unter großen naturfarbenen Stoffzelten hatte man ein Büfett aufgebaut, Stuhlreihen aufgestellt und Blumengirlanden aufgehängt. Auf dem Vorplatz, der schwarz war von Menschen, bemühten sich eifrige Kellner in Matrosenshirt und mit Strohhut die Gäste mit Getränken zu versorgen.

Ich erwischte ein Kelchglas von einem der Tabletts, benetzte meine Lippen mit dem Getränk und entsorgte die Mischung sofort in einem Blumenkasten. Der Schulleitung war als Cocktail des Hauses nichts Besseres eingefallen als eine widerliche Mischung aus Kokoswasser und Ingwer-Eistee. Ich näherte mich dem Büfett. Auch dort hatte man sich gut erkennbar für die Light-Version eines Festessens entschieden. Man hätte meinen können, in Kalifornien zu sein oder an bestimmten Orten Brooklyns, wo die Devise healthy galt. Vergessen waren Farcis niçois, Beignets de fleurs de courgettes und Pissaladière. Es gab nur trauriges, in Scheiben geschnittenes Gemüse, Gläschen mit kalorienarmer Creme und Käsetoast, der als garantiert glutenfrei deklariert war.

Ich entfernte mich von den Tischen, um mich oben auf den großen Stufen aus geschliffenem und poliertem Beton niederzulassen, die einen Teil des Platzes nach Art eines Audimax umgaben. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und betrachtete von diesem geschützten Beobachtungsposten aus neugierig meine einstigen Mitschüler.

Sie begrüßten sich, klopften sich gegenseitig auf den Rücken, umarmten einander, zeigten den anderen die schönsten Fotos ihrer Kinder, tauschten ihre Mailadressen, ihre Handynummern aus, trugen sich gegenseitig in die »Freunde«-Listen in den sozialen Netzwerken ein. Pianelli hatte schon recht: Ich gehörte nicht dazu. War sogar unfähig, wenigstens so zu tun als ob. Zum einen, weil ich keinerlei nostalgische Empfindungen bezüglich meiner Jahre im Lycée verspürte. Zum anderen, weil ich im Grunde ein Einzelgänger war, der zwar immer ein Buch in der Tasche, aber keinen Facebook-Account hatte, ein Spielverderber, der nicht den Erwartungen einer Epoche entsprach, die von Fans der Like-Klicks geprägt war. Und schließlich, weil mich das Verstreichen der Zeit nie geängstigt hatte. Ich war weder in Panik geraten, als ich an meinem vierzigsten Geburtstag die vielen Kerzen ausgeblasen hatte, noch, als sich die ersten silbrigen Strähnen an meinen Schläfen zu vermehren begannen. Um ehrlich zu sein, hatte ich es sogar kaum erwarten können, älter zu werden, weil dies bedeutete, Distanz zu einer Vergangenheit zu gewinnen, die mir – weit davon entfernt, ein verlorenes Paradies zu sein – wie das Epizentrum eines Dramas erschien, vor dem ich mein Leben lang geflohen war.

4.

Erste Feststellung, als ich die ehemaligen Schüler unter die Lupe nahm: Die meisten bewegten sich in jenen wohlhabenden Kreisen, in denen man darauf achtete, nicht zu sehr zuzunehmen. Bei den Männern war die Geißel Nummer eins die Glatze. Nicht wahr, Nicolas Dubois? Bei ihm waren die Transplantationen missglückt. Alexandre Musca versuchte seine Tonsur unter einer langen Strähne zu verbergen, die er oben über seinen Schädel drapiert hatte. Und Romain Roussel wiederum hatte sich schlichtweg dafür entschieden, sich den Schädel zu rasieren.