Das Mädchen aus Brooklyn - Guillaume Musso - E-Book

Das Mädchen aus Brooklyn E-Book

Guillaume Musso

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Beschreibung

Raphaël ist überglücklich, in wenigen Wochen wird er seine große Liebe Anna heiraten. Aber wieso weigert sie sich beharrlich, ihm von ihrer Vergangenheit zu erzählen? Während eines romantischen Wochenendes an der Côte d'Azur bringt Raphaël sie endlich dazu, ihr Schweigen zu brechen. Was Anna dann offenbart, übersteigt jedoch alle seine Befürchtungen. Sie zeigt ihm das Foto dreier Leichen und gesteht: »Das habe ich getan.« Raphaël ist schockiert. Wer ist die Frau, in die er sich verliebt hat? Doch ehe Anna sich ihm erklären kann, verschwindet sie spurlos. Raphaël bittet seinen Freund Marc, einen ehemaligen Polizisten, um Hilfe. Gemeinsam setzen sie alles daran, seine Verlobte wiederzufinden – der Beginn einer dramatischen, atemlosen Suche nach der Wahrheit, die sie bis in die dunklen Straßen von Harlem und Brooklyn führt.

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Seitenzahl: 437

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Ingrid

und Nathan

Übersetzung aus Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-Reif

ISBN 978-3-492-96588-0

Mai 2017

© XO Éditions, Paris 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: gettyimages/LT Photo und gettyimages/Jordan Siemens

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Auf und davon ...

Antibes, Mittwoch, 31. August 2016

Drei Wochen vor unserer Hochzeit kündigte sich dieses lange Wochenende wie ein kostbares Intermezzo an – ein Moment der Intimität unter der Spätsommersonne der Côte d’Azur.

Der Abend hatte wunderbar begonnen: Spaziergang auf der Befestigungsmauer der Altstadt, ein Glas Merlot auf einer Terrasse und ein Teller Spaghetti mit Venusmuscheln unter dem steinernen Gewölbe des Michelangelo. Wir hatten über deinen Beruf gesprochen und über meinen und auch über die bevorstehende Zeremonie, die im kleinsten Rahmen geplant war. Zwei Freunde als Trauzeugen und mein Sohn Theo zum Beifallklatschen.

Auf dem Rückweg fuhr ich mit unserem gemieteten Cabrio langsam über die kurvenreiche Küstenstraße, damit du die Aussicht auf die kleinen Buchten des Kaps genießen konntest. Ich erinnere mich genau an diesen Augenblick: an deine klaren smaragdgrünen Augen, deinen unkonventionellen Haarknoten, deinen kurzen Rock, deine dünne Lederjacke, die du offen über einem kräftig gelben T-Shirt mit dem Slogan »Power to the people« trugst. Wenn ich in den Kurven schalten musste, betrachtete ich deine gebräunten Beine, wir tauschten ein Lächeln aus, du trällertest einen alten Hit von Aretha Franklin. Alles war gut. Die Luft war mild und erfrischend. Ich erinnere mich genau an diesen Moment: an das Funkeln in deinen Augen, dein strahlendes Gesicht, deine Haarsträhnen, die im Wind flatterten, deine Finger, die auf dem Armaturenbrett den Takt klopften.

Die Villa, die wir gemietet hatten, lag in der Domaine des Pêcheurs de Perles, einer geschmackvollen Wohnanlage mit einem Dutzend Häuser oberhalb des Meers. Während wir die Kiesallee durch den duftenden Pinienwald hinauffuhren, hast du beim Anblick des spektakulären Panoramas vor Begeisterung die Augen aufgerissen.

Ich erinnere mich genau an diesen Moment: Es war das letzte Mal, dass wir glücklich waren.

Das Zirpen der Grillen. Das Wiegenlied der Brandung. Die leichte Brise, die seidige feuchte Luft.

Auf der Terrasse, die sich zum Felsrand hin erstreckte, hattest du Duftkerzen und Windlichter angezündet, die die Mücken vertreiben sollten, ich hatte eine CD von Charlie Haden aufgelegt. Wie in einem Roman von F. Scott Fitzgerald hatte ich mich hinter die Theke der Freiluftbar begeben, wo ich uns einen Cocktail mixte. Deinen Lieblingscocktail: einen Long Island Iced Tea mit viel Eis und einer Limettenscheibe.

Selten hatte ich dich so heiter gesehen. Wir hätten einen schönen Abend verbringen können. Wir hätten einen schönen Abend verbringen müssen. Stattdessen war ich von einem Gedanken wie besessen, der mir seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf ging, den ich bislang jedoch unterdrückt hatte: »Weißt du, Anna, wir dürfen keine Geheimnisse voreinander haben.«

Warum stieg diese Angst, dich nicht wirklich zu kennen, ausgerechnet an diesem Abend wieder in mir hoch? War es die kurz bevorstehende Hochzeit? Die Angst vor diesem Schritt? Das Tempo, in dem wir beschlossen hatten, uns zu binden? Sicher eine Mischung aus allem, wobei meine eigene Geschichte noch hinzukam, die durch den Verrat von Menschen geprägt war, die ich zu kennen geglaubt hatte.

Ich reichte dir dein Glas und nahm dir gegenüber Platz.

»Ich meine es ernst, Anna. Ich will nicht mit einer Lüge leben.«

»Das trifft sich gut, ich nämlich auch nicht. Aber nicht mit einer Lüge zu leben, das bedeutet nicht, keine Geheimnisse zu haben.«

»Du gibst es also zu: Du hast welche!«

»Aber alle haben doch Geheimnisse, Raphaël! Und das ist auch gut so. Unsere Geheimnisse prägen uns. Sie sind ein Teil unserer Identität, unserer Geschichte, unserer Rätselhaftigkeit.«

»Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«

»Ach, das solltest du aber!«

Du warst enttäuscht und wütend. Und ich war es auch. Die ganze Freude und gute Laune vom Beginn dieses Abends waren verflogen.Wir hätten das Gespräch an dieser Stelle abbrechen müssen, aber ich ließ nicht locker, wobei ich sämtliche Argumente aufbot, um zu der Frage zu kommen, die mich nicht losließ.

»Warum weichst du mir immer aus, wenn ich etwas über deine Vergangenheit wissen möchte?«

»Weil die Vergangenheit definitionsgemäß vergangen ist. Man kann sie nicht mehr rückgängig machen.«

Ich reagierte gereizt.

»Du weißt genauso gut wie ich, dass die Vergangenheit Aufschluss über die Gegenwart gibt. Was, um Himmels willen, versuchst du vor mir zu verbergen?«

»Nichts, was unserer Beziehung gefährlich werden könnte. Vertrau mir! Vertrau uns!«

»Hör auf mit diesen Floskeln!«

Ich hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen, woraufhin du zusammengezuckt warst. Dein schönes Gesicht veränderte sich und zeigte jetzt einen Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst.

Ich war wütend, weil ich unbedingt beruhigt werden wollte. Ich kannte dich erst seit sechs Monaten, und seit unserer ersten Begegnung hatte ich alles an dir geliebt. Aber ein Teil dessen, was mich anfangs betört hatte – deine Rätselhaftigkeit, deine Reserviertheit, deine Diskretion, deine Zurückhaltung –, waren jetzt Anlass zu einer Angst geworden, die mich fest im Griff hatte.

»Warum willst du unbedingt alles verderben?«, fragtest du, und in deiner Stimme lag Überdruss.

»Du kennst mein Leben. Ich habe mich schon ein Mal getäuscht und kann mir keinen Irrtum mehr erlauben.«

Ich wusste, wie sehr ich dir wehtat, aber ich hatte das Gefühl, ich würde alles hören können, würde aus Liebe zu dir alles ertragen. Solltest du mir etwas Schmerzliches zu gestehen haben, würde ich die Last mit dir teilen und sie damit für dich erleichtern.

Ich hätte den Rückzug antreten und aufhören sollen, aber die Diskussion ging weiter. Und ich habe dir nichts erspart. Denn ich spürte, dass du mir dieses Mal etwas anvertrauen würdest. Also habe ich meine Pfeile systematisch platziert, um dich so zu erschöpfen, dass du dich nicht mehr verteidigen würdest.

»Ich suche nur die Wahrheit, Anna.«

»Die Wahrheit! Die Wahrheit! Du führst dieses Wort im Mund, aber hast du dich jemals gefragt, ob du in der Lage wärst, die Wahrheit auch zu ertragen?«

Dieses Wortgefecht säte Zweifel in mir. Ich erkannte dich nicht wieder. Dein Eyeliner war verlaufen, und in deinen Augen brannte ein Feuer, das ich bisher noch nicht gesehen hatte.

»Du willst wissen, ob ich ein Geheimnis habe, Raphaël? Die Antwort lautet: Ja! Du willst wissen, warum ich nicht mit dir darüber sprechen will: Weil du, sobald du es kennst, nicht nur aufhören wirst, mich zu lieben, sondern mich sogar verabscheuen wirst.«

»Das stimmt nicht,du kannst mir alles sagen.«

Zumindest war ich in diesem Moment felsenfest davon überzeugt, dass nichts, was du mir enthüllen würdest, mich erschüttern könnte.

»Nein, Raphaël, das sind nur leere Worte! Worte, wie du sie in deinen Romanen schreibst, aber die Wirklichkeit ist stärker als Worte.«

Irgendetwas hatte sich verändert. Ein Damm war gebrochen. Jetzt begriff ich, dass auch du dich fragtest, wie viel Mut ich tatsächlich hatte. Auch du wolltest es jetzt wissen. Ob du mich immer lieben würdest, ob ich dich genügend liebte. Ob unsere Beziehung der Granate, die du zünden würdest, standhielte. Dann hast du in deiner Handtasche gewühlt und dein Tablet herausgeholt. Du hast ein Passwort eingegeben und die Foto-App geöffnet. Langsam hast du dich durch die Bilder gescrollt, um ein bestimmtes Foto zu finden. Du hast mir fest in die Augen geblickt, einige Worte gemurmelt und mir das Tablet gereicht. Und ich sah das Geheimnis vor mir, dessen Enthüllung ich dir abgerungen hatte.

»Das habe ich getan«, wiederholtest du mehrmals.

Wie vor den Kopf geschlagen, starrte ich mit leicht zusammengekniffenen Augen auf das Display, bis es mir den Magen umdrehte und ich mich abwenden musste. Ein Frösteln durchlief meinen Körper. Meine Hände zitterten, das Blut pochte mir in den Schläfen. Mit allem hatte ich gerechnet. Ich glaubte, alles im Voraus bedacht zu haben. Aber niemals wäre ich auf diesen Gedanken gekommen.

Mit weichen Knien stand ich auf. Von Schwindel ergriffen, schwankte ich, aber ich zwang mich, mit festem Schritt das Wohnzimmer zu verlassen.

Meine Reisetasche stand noch im Eingang. Ohne dich auch nur anzusehen, nahm ich sie und verließ das Haus.

Fassungslosigkeit. Gänsehaut. Aufsteigende Übelkeit. Schweißtropfen, die meinen Blick trübten.

Ich schlug die Tür des Cabrios zu und fuhr wie ferngesteuert durch die Nacht. Wut und Verbitterung tobten in mir. In meinem Kopf drehte sich alles: die Brutalität des Fotos, Verständnislosigkeit, das Gefühl, dass mein Leben in Scherben vor mir lag.

Nach einigen Kilometern bemerkte ich die gedrungene Silhouette des Fort Carré, auf einem Hügel hinter dem Hafen erbaut, um die Stadt zu verteidigen.

Nein. So konnte ich nicht gehen. Ich bedauerte mein Verhalten bereits. Unter dem Schock hatte ich die Fassung verloren, aber ich konnte nicht verschwinden, ohne mir deine Erklärungen anzuhören.

Ich trat auf die Bremse und wendete mitten auf der Straße, wobei ich auf den unbefestigten Seitenstreifen geriet und beinahe mit einem Motorradfahrer zusammengestoßen wäre, der in der Gegenrichtung fuhr.

Ich musste dich dabei unterstützen, diesen Albtraum aus deinem Leben zu verjagen. Ich musste mich so verhalten, wie ich es versprochen hatte, musste deinen Schmerz verstehen, ihn mit dir teilen und dir helfen, ihn zu überwinden. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr ich die Straße zurück: Boulevard du Cap, Plage des Ondes, Port de l’Olivette, Batterie du Graillon, dann die schmale Straße entlang, die zu dem Privatgrundstück führte.

Ich parkte das Auto unter den Pinien und eilte zum Haus, dessen Eingangstür halb offen stand.

»Anna!«, rief ich, während ich in den Vorraum stürzte.

Im Wohnzimmer war niemand. Der Boden war von Glasscherben übersät. Ein mit Nippes vollgestelltes Regal war umgestürzt und hatte den niedrigen Glastisch zerbrochen, der in tausend Stücke zersprungen war. Mitten in diesem Chaos lag der Schlüsselbund mit dem Anhänger, den ich dir wenige Wochen zuvor geschenkt hatte.

»Anna!«

Die große, von Vorhängen gerahmte Glasfront stand offen. Ich schob die im Wind flatternden Stoffbahnen zur Seite und trat auf die Terrasse. Wieder rief ich deinen Namen. Ich wählte deine Handynummer, aber mein Anruf wurde nicht angenommen.

Ich sank auf die Knie. Wo warst du? Was war in den zwanzig Minuten meiner Abwesenheit geschehen? Welche Büchse der Pandora hatte ich geöffnet, als ich die Vergangenheit heraufbeschwor?

Ich schloss die Augen und sah Bruchstücke unseres gemeinsamen Lebens vorüberziehen. Sechs Monate des Glücks, die sich, wie ich erahnte, soeben für immer in Luft aufgelöst hatten. Verheißungen einer Zukunft, einer Familie, eines Babys, die nie Wirklichkeit werden würden.

Ich machte mir Vorwürfe.

Was nützte die Behauptung, jemanden zu lieben, wenn man nicht in der Lage war, diesen Menschen zu beschützen?

Erster TagVerwischte Spuren

1. Der Papiermensch

Sobald ich kein Buch mehr unter der Feder habe

oder davon träume, eins zu schreiben,

fühle ich eine Langeweile, dass ich weinen könnte.

Das Leben erscheint mir wirklich nur erträglich,

wenn man es beiseiteschiebt.

Gustave Flaubert, Briefe an George Sand1

1.

Donnerstag, 1. September 2016

»Meine Frau schläft jede Nacht mit Ihnen ein, zum Glück bin ich nicht eifersüchtig!«

Entzückt über seinen Geistesblitz, zwinkerte mir der Pariser Taxifahrer im Rückspiegel zu. Er verlangsamte das Tempo und setzte den Blinker, um auf den Autobahnzubringer des Flughafens Orly Richtung Innenstadt zu gelangen.

»Man muss wirklich sagen, dass sie beinahe süchtig nach Ihnen ist. Ich habe auch zwei oder drei Ihrer Bücher gelesen«, fuhr er fort, während er sich über seinen Schnurrbart strich. »Das ist alles sehr spannend, aber mir ist das wirklich zu hart. Diese Morde ... diese Gewalt ... Bei allem Respekt, Monsieur Barthélémy, ich finde, Sie haben eine ungesunde Meinung von der Menschheit. Würde man im echten Leben so vielen Gestörten begegnen wie in Ihren Romanen, sähe es schlecht für uns aus.«

Die Augen auf das Display meines Handys gerichtet, tat ich so, als hätte ich ihn nicht gehört. Das Letzte, worauf ich an diesem Vormittag Lust hatte, war, über Literatur oder über den Zustand der Welt zu diskutieren.

Es war 8:10 Uhr, ich hatte das erste Flugzeug genommen, um schnellstens nach Paris zurückzukehren. Annas Handy leitete die Anrufe direkt auf die Mailbox weiter. Ich hatte ihr Dutzende von Nachrichten hinterlassen, hatte sie mit Entschuldigungen überschüttet, ihr meine Unruhe mitgeteilt und sie angefleht zurückzurufen.

Ich war ratlos. Noch nie zuvor hatten wir uns ernsthaft gestritten.

In der Nacht hatte ich kein Auge zugetan, sondern die ganze Zeit über nach ihr gesucht. Zuerst war ich zum Wachdienst des Anwesens gegangen, wo mir der Zuständige mitteilte, dass während meiner Abwesenheit mehrere Wagen auf das Gelände gefahren seien, darunter auch die Limousine eines privaten Chauffeurdienstes.

»Der Fahrer sagte mir, Madame Anna Becker, wohnhaft in der Villa Les Ondes, habe ihn bestellt. Ich rief die Mieterin über das Haustelefon an, und sie bestätigte mir dies.«

»Wie können Sie sicher sein, dass es sich um einen privaten Chauffeurdienst gehandelt hat?«, fragte ich ihn.

»Er hatte auf der Windschutzscheibe den vorgeschriebenen Aufkleber.«

»Und Sie haben keine Ahnung, wohin er sie gefahren haben könnte?«

»Woher soll ich das wissen?«

Der Chauffeur hatte Anna zum Flughafen gebracht. Diese Schlussfolgerung zog ich zumindest, als ich mich einige Stunden später auf der Internetseite von Air France einloggte. Als ich unsere Flugdaten eingab – unsere Tickets hatte ich gekauft –, entdeckte ich, dass die Passagierin Anna Becker ihr Rückflugticket umgebucht hatte auf die letzte Maschine Nizza–Paris dieses Tages. Der für 21:20 Uhr vorgesehene Abflug hatte aus zwei Gründen erst um 23:45 Uhr starten können: wegen der üblichen Verspätungen des Urlauberrückreiseverkehrs und wegen einer EDV-Panne, die jeglichen Start unmöglich gemacht hatte.

Diese Entdeckung hatte mich ein wenig beruhigt. Anna war zwar wütend genug auf mich, um einen Couchtisch zu zertrümmern und vorzeitig nach Paris zurückzufliegen, aber sie war zumindest gesund und wohlbehalten.

Das Taxi verließ die Autobahn mit ihren tristen, Graffiti besprühten Tunneln, um auf den Périphérique zu fahren. Der bereits dichte Verkehr kam bei der Porte d’Orléans noch weiter ins Stocken und dann beinahe ganz zum Erliegen. Die Autos fuhren Stoßstange an Stoßstange, gefangen im bläulichen Abgasdunst der Lastwagen und Busse. Ich schloss mein Fenster. Stickoxid, krebserregender Feinstaub, Hupkonzert, Schimpftiraden. PARIS ...

Ich hatte den Taxifahrer aus alter Gewohnheit gebeten, mich nach Montrouge zu bringen. Obgleich wir in den letzten Wochen zusammengezogen waren, hatte Anna ihr Appartement behalten, eine Zweizimmerwohnung in einem modernen Wohnhaus in der Avenue Aristide-Briand. Sie hing an dieser Wohnung und hatte die meisten ihrer Sachen noch dort gelassen. Ich hegte die große Hoffnung, dass sie in ihrer Wut auf mich dorthin zurückgekehrt war. Wir drehten eine endlose Schlaufe im Kreisverkehr Vache-Noire, bevor wir in der richtigen Richtung weiterfahren konnten.

»Da wären wir, Monsieur Schriftsteller«, verkündete mein Chauffeur und hielt vor einem modernen, aber reizlosen Gebäude am Straßenrand.

Er hatte eine rundliche, gedrungene Figur, einen kahlen Schädel, einen bedächtigen Blick, schmale Lippen und eine Stimme wie Raoul Volfoni in dem Film Mein Onkel, der Gangster.

»Können Sie kurz auf mich warten?«, fragte ich.

»Kein Problem. Ich lasse das Taxameter weiterlaufen.«

Ich warf die Tür zu und nutzte die Tatsache, dass ein Junge mit Schulranzen auf dem Rücken das Haus verließ, um rasch hineinzuschlüpfen. Der Aufzug war, wie so oft, defekt. Ich stieg die zwölf Stockwerke ohne Pause zu Fuß hinauf, bevor ich außer Atem und erschöpft an Annas Wohnungstür klopfte. Niemand antwortete. Ich spitzte die Ohren, nahm jedoch kein Geräusch wahr.

Anna hatte den Schlüssel zu meiner Wohnung zurückgelassen. Wenn sie nicht zu Hause war, wo hatte sie dann die Nacht verbracht?

Ich klingelte an sämtlichen Türen auf dieser Etage. Der einzige Nachbar, der mir öffnete, war keine Hilfe. Nichts gesehen, nichts gehört: die übliche Devise, die das Gemeinschaftsleben in großen Wohnblocks regelt.

Bitter enttäuscht lief ich wieder hinunter auf die Straße und gab Raoul meine Adresse in Montparnasse.

»Wie lange ist es her seit Ihrem letzten Roman, Monsieur Barthélémy?«

»Drei Jahre«, antwortete ich mit einem Seufzer.

»Ist ein neuer in Vorbereitung?«

Ich schüttelte den Kopf.

»In den kommenden Monaten nicht.«

»Da wird meine Frau aber enttäuscht sein.«

In dem Wunsch, die Unterhaltung zu beenden, bat ich ihn, das Radio lauter zu stellen, um die Nachrichten zu hören. In dem populären Sender kamen gerade die die Neun-Uhr-Kurznachrichten. An diesem Donnerstag, dem 1. September, machten sich zwölf Millionen Schüler wieder auf den Weg in die Schule, François Hollande verlieh seiner Freude über einen leichten Anstieg des Wirtschaftswachstums Ausdruck, wenige Stunden vor dem Ende der Wechselperiode hatte der Fußballverein Paris Saint-Germain sich einen neuen Mittelstürmer geleistet, während sich die Republikaner in den USA darauf vorbereiteten, ihren Kandidaten für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu nominieren ...

»Ich verstehe das nicht so recht«, beharrte der Taxifahrer. »Haben Sie beschlossen, sich einen schönen Lenz zu machen, oder leiden Sie unter einer Schreibblockade?«

»Das ist alles etwas komplizierter«, antwortete ich und blickte aus dem Fenster.

2.

Die Wahrheit war, dass ich seit drei Jahren keine einzige Zeile mehr zu Papier gebracht habe, weil das Leben mich eingeholt hatte.

Ich litt weder unter einer Schreibblockade, noch mangelte es mir an Ideen. Ich erzählte mir im Kopf Geschichten, seit ich sechs Jahre alt war, und in meiner Jugend hatte sich mir das Schreiben als Mittelpunkt meines Lebens aufgedrängt, als geeigneter Weg, meine überbordende Fantasie zu kanalisieren. Die Fiktion war eine Ausflucht. Das billigste Flugticket, um dem trübsinnigen Alltag zu entfliehen. Viele Jahre lang hatte das Schreiben meine gesamte Zeit und all meine Gedanken eingenommen. Mit meinem Notizblock oder Laptop wie verwachsen, hatte ich immer und überall geschrieben: auf Parkbänken oder im Café sitzend, in der Metro stehend. Und wenn ich einmal nicht schrieb, dachte ich an meine Figuren, an ihre Qualen, ihre Lieben. Alles andere zählte nicht wirklich. Die Unzulänglichkeiten der realen Welt hatten wenig Einfluss auf mich. Immer zurückgezogen und durch eine Kluft von der Wirklichkeit getrennt, bewegte ich mich in einer Fantasiewelt, deren einziger Schöpfer ich selbst war.

Seit 2003 – dem Jahr, in dem mein erster Roman erschien – hatte ich alle zwölf Monate ein Buch veröffentlicht. Hauptsächlich Krimis und Thriller. In Interviews hatte ich mir die Behauptung angewöhnt, ich würde jeden Tag arbeiten, außer an Weihnachten und an meinem Geburtstag – diese Antwort hatte ich von Stephen King übernommen. Aber es war, genau wie bei ihm, eine Lüge: Ich arbeitete auch an Weihnachten und sah keinen stichhaltigen Grund, warum ich am Erinnerungstag an meine Geburt nicht hätte arbeiten sollen.

Denn ich hatte nur selten etwas Besseres zu tun, als mich vor meinen Bildschirm zu setzen, um Neues von meinen Figuren zu erfahren.

Ich liebte meinen »Beruf« abgöttisch und fühlte mich wohl in diesem Universum der Spannung, der Morde und der Gewalt. Genau wie Kinder – denken Sie nur an den Menschenfresser in Der gestiefelte Kater, an die verbrecherischen Eltern in Der kleine Däumling, an den Unhold Blaubart oder den Wolf in Rotkäppchen – lieben es auch die Erwachsenen, mit der Angst zu spielen. Auch sie brauchen Geschichten, um ihre Ängste zu vertreiben.

Die Vorliebe der Leser für Krimis hatte mir zehn märchenhafte Lebensjahre beschert, in denen ich in die Bruderschaft der begrenzten Anzahl von Autoren eingetreten war, die vom Schreiben leben konnten. Jeden Morgen, wenn ich mich an meinen Schreibtisch setzte, war ich mir des Glücks bewusst, dass überall in der Welt Menschen auf das Erscheinen meines nächsten Romans warteten.

Aber dieser magische Kreis aus Erfolg und Schaffen war seit drei Jahren wegen einer Frau unterbrochen. Auf einer Lesereise nach London hatte mir mein Presseattaché Natalie Curtis vorgestellt, eine junge englische Wissenschaftlerin, die für Biologie ebenso begabt war wie für Geschäftliches. Sie war an einem medizinischen Start-up-Unternehmen beteiligt, das »intelligente« Kontaktlinsen entwickelte, die verschiedene Krankheiten anhand des Glukosegehalts in der Augenflüssigkeit erkennen konnten.

Natalie arbeitete achtzehn Stunden am Tag. Mit einer verwirrenden Mühelosigkeit jonglierte sie zwischen Softwareprogrammierung, der Überwachung klinischer Studien, der Entwicklung von Geschäftsplänen und verschiedenen Zeitzonen, die sie in alle Welt führten, wo sie weit entfernten Finanzpartnern Rechenschaft ablegte.

Wir bewegten uns in zwei konträren Universen. Ich war ein Papiermensch, sie war ein Wesen der digitalen Welt. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt mit dem Erfinden von Geschichten, sie verdiente ihren mit der Entwicklung von Mikroprozessoren, die so fein waren wie die Haare eines Säuglings. Ich war der Typ Mann, der im Gymnasium Griechisch gelernt hatte, Gedichte von Aragon liebte und Liebesbriefe mit dem Füllfederhalter schrieb. Sie war der Typ ultravernetzte junge Frau, die sich in der kalten und grenzenlosen Welt der Flughafen-Drehkreuze zu Hause fühlte.

Nicht einmal mit dem heutigen Abstand zu ihr gelang es mir, zu verstehen, woher unsere Zuneigung füreinander rührte. Was hatte uns zu diesem Zeitpunkt unseres Lebens glauben lassen, unsere unpassende Geschichte könnte eine Zukunft haben?

»Man liebt, was man nicht ist«, schrieb Albert Cohen.2 Vielleicht verliebt man sich aus diesem Grund gelegentlich in Personen, mit denen man nichts teilt. Vielleicht lässt uns der Wunsch nach gegenseitiger Ergänzung eine Wandlung, eine Metamorphose erhoffen. Als würde der Kontakt zu dem anderen aus uns ein vollständigeres, reicheres, offeneres Wesen machen. Auf dem Papier ist das ein schöner Gedanke, aber in der Wirklichkeit ist es selten der Fall.

Die Illusion unserer Liebe hätte sich rasch verflüchtigt, wäre Natalie nicht schwanger geworden. Die Aussicht, eine Familie zu gründen, hatte dem Trugbild längeren Bestand gegeben. Zumindest was mich betraf. Ich hatte Frankreich verlassen, um in die Wohnung einzuziehen, die sie in London im Stadtviertel Belgravia gemietet hatte, und sie während der Schwangerschaft begleitet, so gut ich konnte.

»Welche Ihrer Romane sind Ihnen die liebsten?« Bei jeder neuen Lesereise tauchte die Frage aus dem Mund von Journalisten wieder auf. Jahrelang war ich ihr eher ausgewichen und hatte mich mit einer lakonischen Antwort begnügt: »Das kann ich unmöglich sagen. Meine Romane sind für mich alle wie Kinder, wissen Sie.«

Aber Bücher sind keine Kinder. Ich war bei der Geburt unseres Sohnes mit im Kreißsaal. Als mir die Hebamme den kleinen Theo in den Arm legte, wurde mir innerhalb einer Sekunde bewusst, was für eine Lüge diese wiederholte Behauptung in verschiedenen Interviews war.

Bücher sind keine Kinder.

Bücher haben eine Besonderheit, die an Zauberei grenzt: Sie sind der Reisepass an einen anderen Ort, bieten die Möglichkeit zu einer großartigen Flucht aus der Wirklichkeit. Bei den Prüfungen des Lebens, denen man sich stellen muss, können sie als Wegzehrung dienen. Wie Paul Auster behauptet, sind sie »der einzige Ort auf der Welt, an dem zwei Fremde sich auf intime Weise begegnen können«.3

Aber sie sind keine Kinder. Nichts lässt sich mit einem Kind vergleichen.

3.

Zu meiner großen Überraschung nahm Natalie zehn Tage nach der Entbindung ihre Arbeit wieder auf. Ihr ausufernder Terminplan und ihre zahlreichen Reisen erlaubten es ihr kaum, die ersten – ebenso zauberhaften wie erschreckenden – Wochen voll auszukosten, die auf eine Geburt folgen. Es schien ihr nicht sonderlich nahezugehen. Den Grund dafür begriff ich, als sie mir eines Abends, während sie sich in dem begehbaren Kleiderschrank auszog, der an unser Schlafzimmer grenzte, mit tonloser Stimme verkündete:

»Wir haben ein Angebot von Google angenommen. Sie werden die Mehrheitsanteile des Firmenkapitals übernehmen.«

Ich war so verblüfft, dass ich einige Sekunden brauchte, bevor ich erwidern konnte:

»Ist das dein Ernst?«

Mit abwesendem Blick zog sie ihre Schuhe aus und massierte sich einen schmerzenden Knöchel, bevor sie mir den Schlag versetzte.

»Absolut. Ich werde schon ab Montag mit meinem Team in Kalifornien arbeiten.«

Verstört starrte ich sie an. Sie hatte gerade zwölf Flugstunden hinter sich, aber ich war derjenige, der sich fühlte, als hätte er einen Jetlag.

»Das ist doch nicht allein deine Entscheidung, Natalie! Darüber müssen wir sprechen!«

Sie setzte sich niedergeschlagen auf die Bettkante.

»Ich weiß sehr wohl, dass ich dich nicht bitten kann, mitzukommen.«

Ich verlor völlig die Fassung.

»Aber ich bin gezwungen, mitzukommen! Darf ich dich daran erinnern, dass wir ein drei Wochen altes Baby haben!«

»Schrei mich nicht an! Ich bin davon am stärksten betroffen, aber ich kann es einfach nicht, Raphaël.«

»Was kannst du nicht?«

Sie brach in Tränen aus.

»Eine gute Mutter für Theo sein.«

Ich versuchte, ihr zu widersprechen, aber sie wiederholte mehrfach diesen schrecklichen Satz, der verriet, was in ihrem Herzen vorging: »Ich bin dafür nicht geschaffen. Es tut mir unendlich leid.«

Als ich sie fragte, wie sie sich unsere Zukunft konkret vorstellte, warf sie mir einen undefinierbaren Blick zu, bevor sie den Trumpf ausspielte, den sie seit dem Beginn dieses Gesprächs im Ärmel hatte.

»Wenn du Theo in Paris aufziehen möchtest, allein, sehe ich darin keinen Nachteil. Um ehrlich zu sein, glaube ich sogar, dass das die beste Lösung für uns alle ist.«

Ich nickte schweigend, schockiert von der ungeheuren Erleichterung, die ich auf ihrem Gesicht las. Dem Gesicht der Mutter meines Sohnes. Dann breitete sich eine bleierne Stille in unserem Schlafzimmer aus, und Natalie nahm ein Schlafmittel, bevor sie sich im Dunkeln hinlegte.

Bereits am übernächsten Tag kehrte ich nach Frankreich zurück in meine Wohnung in Montparnasse. Ich hätte eine Tagesmutter engagieren können, aber ich tat nichts dergleichen. Ich war fest entschlossen, meinen Sohn aufwachsen zu sehen. Vor allem lebte ich in der ständigen Angst, ihn zu verlieren.

Mehrere Monate lang rechnete ich bei jedem Klingeln des Telefons damit, Natalies Anwalt am Apparat zu haben, der mir ankündigen würde, seine Mandantin habe ihre Meinung geändert und beanspruche das alleinige Sorgerecht für Theo. Aber dieser albtraumhafte Anruf kam nie. Zwanzig Monate verstrichen, ohne dass ich von Natalie irgendetwas gehört hätte. Zwanzig Monate, die wie im Flug vergingen. Mein Tagesablauf, früher vom Schreiben bestimmt, verlief nun im Rhythmus von Fläschchengeben, Breifüttern, Windelwechsel, Spaziergängen im Park, Baden bei 37 Grad Celsius und häufigem Wäschewaschen. Daneben zehrten der Schlafmangel, die Sorge beim geringsten Fieber meines Sohnes und die Furcht, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein, an mir.

Doch ich hätte diese Erfahrung gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen. Wie die fünftausend Fotos bezeugten, die auf meinem Handy gespeichert waren, hatten mich die ersten Lebensmonate meines Sohnes in ein faszinierendes Abenteuer geführt, in dem ich eher die Rolle des Schauspielers als die des Regisseurs innehatte.

4.

Auf der Avenue du Général-Leclerc lief der Verkehr wieder flüssiger. Das Taxi beschleunigte und steuerte auf den hohen Turm von Saint-Pierre-de-Montrouge zu. An der Place d’Alésia bog der Wagen auf die Avenue du Maine ab. Zwischen den Bäumen brach das Sonnenlicht hindurch. Fassaden mit weißen Quadersteinen, unzählige kleine Geschäfte, preiswerte Hotels.

Obwohl ich geplant hatte, Paris vier Tage fernzubleiben, war ich bereits wenige Stunden nach meiner Abreise wieder zurück. Um meine überstürzte Rückkehr anzukündigen, schrieb ich eine SMS an Marc Caradec, den einzigen Mann, auf den ich genügend zählen konnte, um ihm meinen Sohn anzuvertrauen. Die Vaterrolle hatte mich paranoid gemacht, als könnten die Mord- und Entführungsgeschichten, die ich in meinen Krimis inszenierte, mein Familienleben infizieren. Seit Theos Geburt hatte ich nur zwei Menschen erlaubt, sich um ihn zu kümmern: Amalia, der Concierge in meinem Haus, die ich seit beinahe zehn Jahren kannte, und Marc Caradec, meinem Nachbarn und Freund, einem ehemaligen Polizisten der BRB, einer Spezialeinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Er beantwortete meine Nachricht umgehend:

Keine Sorge. Goldlöckchen schläft noch. Ich warte Gewehr bei Fuß, dass er aufwacht: Der Fläschchenwärmer ist eingeschaltet, das Kompottgläschen aus dem Kühlschrank genommen und das Hochstühlchen auf die richtige Höhe eingestellt.Erzähl mir später, was passiert ist.

Bis gleich.

Erleichtert versuchte ich erneut, Anna anzurufen, aber ich erreichte wieder nur ihre Mailbox. Handy ausgeschaltet? Akku leer?

Ich legte auf und rieb mir die Augen, noch immer niedergeschlagen von der Geschwindigkeit, in der meine Gewissheiten zusammengebrochen waren. In meinem Kopf ließ ich den Film des Vorabends noch einmal ablaufen und wusste nicht mehr, was ich davon zu halten hatte. War unser Glück nur eine Luftblase gewesen, die nun zerplatzt war und eine alles andere als glänzende Realität zum Vorschein brachte? Musste ich mir um Anna Sorgen machen oder mich vor ihr hüten? Die letzte Frage bescherte mir Gänsehaut. Es war schwierig, jetzt auf diese Art an sie zu denken, obwohl ich wenige Stunden zuvor noch davon überzeugt gewesen war, die Frau fürs Leben gefunden zu haben: die Frau, auf die ich seit Jahren gewartet hatte und mit der ich weitere Kinder haben wollte.

Ich hatte Anna vor sechs Monaten kennengelernt, in einer Februarnacht in der Kindernotaufnahme des Hôpital Pompidou, wo ich um ein Uhr morgens angekommen war. Theo hatte anhaltend hohes Fieber. Er krümmte sich und verweigerte jede Nahrung. Ich hatte der absurden Versuchung nachgegeben, die Liste seiner Symptome in eine Suchmaschine einzugeben. Beim Durchsehen der Internetseiten war ich zu der Überzeugung gelangt, dass er an einer akuten Meningitis litt. Als ich den überfüllten Wartesaal betrat, starb ich fast vor Sorge. Angesichts der Wartezeit beschwerte ich mich am Empfang: Ich brauchte Gewissheit, ich wollte, dass man meinen Sohn sofort behandelte. Er würde vielleicht sterben, er ...

»Beruhigen Sie sich, Monsieur.«

Eine junge Ärztin war wie durch Zauberhand aufgetaucht. Ich folgte ihr in das Untersuchungszimmer, wo sie Theo sorgfältig abhörte.

»Ihr Baby hat geschwollene Lymphknoten«, stellte sie fest, als sie seinen kleinen Hals abtastete. »Der Kleine leidet an einer Mandelentzündung.«

»Es ist eine einfache Angina?«

»Ja. Die Schluckbeschwerden erklären, warum er die Nahrung verweigert.«

»Es vergeht also mit einem Antibiotikum?«

»Nein, es handelt sich um eine Virusinfektion. Geben Sie ihm weiter Paracetamol, und er wird in wenigen Tagen wieder gesund sein.«

»Sind Sie sicher, dass es keine Meningitis ist?«, insistierte ich, während ich, völlig groggy, Theo wieder in seiner Babyschalefestschnallte.

Sie hatte gelächelt.

»Sie sollten aufhören, im Internet auf medizinischen Seiten zu surfen. Das schürt nur Ängste.«

Sie hatte uns in die große Eingangshalle zurückbegleitet. Als es Zeit war, mich von ihr zu verabschieden, deutete ich, beruhigt durch die Gewissheit, dass mein Sohn wieder gesund würde, auf den Getränkeautomaten und schlug vor:

»Darf ich Ihnen einen Kaffee ausgeben?«

Nach kurzem Zögern hatte sie ihrer Kollegin gesagt, sie würde eine kleine Pause machen, und wir hatten uns eine Viertelstunde lang angeregt unterhalten.

Sie hieß Anna Becker, war fünfundzwanzig Jahre alt und absolvierte das zweite Jahr ihrer Assistenzarztzeit in der Pädiatrie. Ihren weißen Kittel trug sie wie einen Burberry-Regenmantel. Alles an ihr war elegant, ohne spröde zu wirken: die selbstsichere Haltung, ihre unglaublich feinen Gesichtszüge, der sanfte und warmherzige Klang ihrer Stimme.

Die Krankenhaushalle, im steten Wechsel zwischen ruhigen Momenten und großer Hektik, badete in einem unwirklichen Licht. Mein Sohn war in seiner Babyschale eingeschlafen. Ich sah Annas Wimpernschlag. Schon lange glaubte ich nicht mehr daran, dass sich hinter einem Engelsgesicht unbedingt eine schöne Seele verbergen musste, aber dennoch ließ ich mich von ihren langen gebogenen Wimpern, ihrer Haut von der Farbe eines Edelholzes und von ihrem glatten Haar betören, das auf beiden Seiten ihres Gesichts symmetrisch herabfiel.

»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie und deutete auf die Wanduhr.

Trotz der fortgeschrittenen Zeit hatte sie darauf bestanden, uns zum Taxistand zu begleiten, der etwa dreißig Meter vom Ausgang entfernt war. Es war mitten in der Nacht, mitten in einem eiskalten Winter. Einige flauschige Flocken schwebten vom Himmel, der mehr Schnee verhieß. Als ich Anna neben mir spürte, empfand ich uns in einem merkwürdigen Gedankenblitz bereits als Paar. Ja, sogar als Familie. So als würde die Sternenformation am Himmel uns genau dies ankündigen. Als würden wir drei nun nach Hause fahren.

Ich schnallte den Babysitz auf der Rückbank fest und wandte mich anschließend zu Anna um. Das Licht der Straßenlaternen verlieh ihrem durch die Kälte sichtbaren Atem eine bläuliche Färbung. Ich suchte nach einer Bemerkung, die sie zum Lachen bringen würde, aber stattdessen fragte ich sie, wann ihr Dienst endete.

»Bald, um acht Uhr.«

»Wenn Sie zum Frühstück kommen möchten ... Der Bäcker an meiner Straßenecke macht fantastische Croissants ...«

Ich gab ihr meine Adresse, und sie lächelte. Mein Vorschlag hing einen Augenblick in der eiskalten Luft, ohne dass ich eine Antwort bekommen hätte. Dann fuhr das Taxi los, und ich fragte mich auf der Heimfahrt, ob wir beide soeben dasselbe erlebt hatten.

Ich schlief schlecht, aber am nächsten Morgen klingelte Anna genau in dem Moment an meiner Tür, als mein Sohn sein Fläschchen ausgetrunken hatte. Es ging Theo schon besser. Ich zog ihm ein Mützchen und einen Schneeanzug an, und um Wort zu halten, machten wir alle drei uns auf den Weg, um fürs Frühstück einzukaufen. Es war Sonntagmorgen. Paris ächzte unter dem Schnee. Von einem metallisch blauen Himmel beschien die Wintersonne die noch makellosen Bürgersteige.

Wir hatten uns gefunden und seit diesem ersten magischen Morgen nicht mehr verlassen. Sechs idyllische Monate waren verstrichen, die eine wundervolle Zukunft verhießen: die glücklichste Zeit meines Lebens.

Ich schrieb nicht mehr, aber ich lebte. Das Erziehen eines Kindes und das Verliebtsein hatten mich im realen Leben verankert und mir klargemacht, dass die Fiktion viel zu lange mein Leben bestimmt hatte. Durch das Schreiben war ich in die Haut vieler verschiedener Figuren geschlüpft. Wie ein eingeschleuster Agent hatte ich Hunderte von Erfahrungen sammeln können. Aber diese verschiedenen kommissarischen Leben hatten mich vergessen lassen, das einzige und einmalige Dasein zu leben, das wirklich existierte: mein eigenes.

2. Der Professor

Die Maske eines Menschen kann so schön sein,

dass ich Angst vor seinem Gesicht bekomme.

Alfred de Musset4

1.

»Papa! Papa!«

Sobald ich zur Tür hereinkam, begrüßte mich mein Sohn mit überraschtem, begeistertem Geschrei. Unsicheren Schrittes trappelte Theo eilig auf mich zu. Ich hob ihn hoch und schloss ihn in die Arme. Wie jedes Mal empfand ich dasselbe Gefühl von Verbundenheit, Glück und Erleichterung.

»Du kommst gerade richtig zum Frühstück«, rief Marc Caradec und schraubte den Sauger auf das Fläschchen, das er soeben warm gemacht hatte.

Der ehemalige Ermittler wohnte in einem Künstleratelier, das auf den Innenhof des Gebäudes im Herzen von Montparnasse führte, in dem auch ich lebte. Dank des großen Glasdachs war die sparsam eingerichtete Wohnung lichtdurchflutet: gebürstetes Parkett, Regale aus gekalktem Holz, ein rustikaler Tisch, der aus einem knorrigen Stamm gefertigt war. In einer Ecke des Raums führte eine offene Treppe zum Zwischengeschoss unter der Balkendecke.

Theo griff nach seinem Fläschchen und kletterte damit in seinen Kindersitz. Sofort war seine ganze Aufmerksamkeit auf die warme, cremige Milch gerichtet, die er so gierig trank, als hätte er seit einer Ewigkeit nichts zu essen bekommen.

Ich nutzte die Ruhepause, um zu Marc zu gehen, der in seiner Küchenecke stand. Der Anfang Sechzigjährige hatte stahlblaue Augen, kurzes, struppiges Haar, dichte Brauen und einen grau melierten Bart. Je nach Laune zeigte sein Gesicht einen sanften oder extrem kalten Ausdruck.

»Magst du einen Espresso?«

»Mindestens einen doppelten«, erwiderte ich und setzte mich auf den Barhocker an die Theke.

»Und, willst du mir nicht erzählen, was los ist?«

Während er unseren Kaffee zubereitete, erzählte ich ihm alles – oder fast alles. Annas Verschwinden nach unserem Streit, ihre vermutliche Rückkehr nach Paris, die Tatsache, dass sie sich nicht in ihrer Wohnung in Montrouge befand und ihr Handy ausgeschaltet oder der Akku leer war. Nur von dem Foto, das sie mir gezeigt hatte, sagte ich absichtlich nichts. Ehe ich mit irgendjemandem darüber sprechen konnte, musste ich zunächst mehr in Erfahrung bringen.

Der ehemalige Ermittler lauschte aufmerksam und konzentriert, die Stirn gerunzelt. Mit seiner Jeans, dem schwarzen T-Shirt und den abgetragenen Oxford-Schuhen vermittelte er den Eindruck, noch im Dienst zu sein.

»Was hältst du davon?«, fragte ich, nachdem ich meine Ausführungen abgeschlossen hatte.

Er verzog das Gesicht und seufzte.

»Nicht viel. Ich hatte ja nicht oft Gelegenheit, mit deiner Liebsten zu reden. Jedes Mal, wenn ich sie im Hof getroffen habe, hatte ich den Eindruck, dass sie mir absichtlich aus dem Weg ging.«

»Das ist ihr Charakter, sie ist zurückhaltend und auch etwas schüchtern.«

Marc stellte eine Kaffeetasse vor mich hin. Seine Ringerstatur mit dem kräftigen Nacken zeichnete sich im Gegenlicht ab. Bevor er bei einer Schießerei anlässlich eines Raubüberfalls an der Place Vendôme schwer verletzt worden war und frühzeitig in Rente gehen musste, war Caradec ein Elitepolizist gewesen, einer der Helden während der großen Zeit der Polizeibrigade BRB. In den 1990er- und 2000er-Jahren war er an mehreren medienträchtigen Ereignissen beteiligt gewesen: Zerschlagung einer Gang in einem südlichen Vorort von Paris, Verhaftung des sogenannten Dream Teams, das mehrere Geldtransporter überfallen hatte, Verhaftung der Siebenschnürer,einer berüchtigten Gangsterbande, die reiche und berühmte Opfer überfiel, fesselte oder verschnürte und beraubte. Und er war bei der Jagd auf die Pink Panthers dabei gewesen, einer Balkan-Gang, die zehn Jahre lang weltweit die größten Schmuckgeschäfte ausgeraubt hatte. Er hatte mir gestanden, wie schwer es ihm fiel, diesen erzwungenen vorzeitigen Ruhestand zu akzeptieren.

»Was weißt du über ihre Eltern?«, fragte er mich, während er mir gegenüber Platz nahm und nach einem Block und einem Stift griff, die gewöhnlich zur Erstellung der Einkaufsliste dienten.

»Nicht viel. Ihre Mutter war Französin, stammte aber von der Insel Barbados. Sie ist an Brustkrebs gestorben, als Anna zwölf oder dreizehn war.«

»Und ihr Vater?«

»Ein Österreicher, der Ende der 1970er-Jahre nach Frankreich gekommen ist. Er ist vor fünf Jahren bei einem Arbeitsunfall in der Werft Saint-Nazaire tödlich verunglückt.«

»Einzelkind?«

Ich nickte.

»Kennst du ihre engen Freunde?«

Ich ging in Gedanken die Liste derjenigen durch, die ich kontaktieren könnte – sie war sehr beschränkt, wenn nicht gar inexistent. Als ich unter den Kontakten in meinem Handy nachsah, stieß ich auf die Nummer von Margot Lacroix, eine Assistenzärztin, die ihr Gynäkologiepraktikum zeitgleich mit Anna im Krankenhaus Robert-Debré absolviert hatte. Sie hatte uns vor einem Monat anlässlich des Richtfests ihres Hauses eingeladen, und wir hatten uns gut verstanden. Anna hatte sie als Trauzeugin gewählt.

»Ruf sie an«, riet Caradec mir.

Ich versuchte mein Glück. Margot hob ab und versicherte mir, seit zwei Tagen nichts mehr von Anna gehört zu haben.

»Ich dachte, ihr würdet Flitterwochen an der Côte d’Azur machen! Ist alles in Ordnung?«

Ich ignorierte die Frage, bedankte mich und legte auf. Dann zögerte ich kurz, bevor ich Marc fragte: »Wahrscheinlich macht es keinen Sinn, zur Polizei zu gehen, oder?«

Marc trank seinen Espresso aus.

»Du weißt so gut wie ich, dass sie in diesem Stadium nicht viel tun können. Anna ist erwachsen, und nichts deutet darauf hin, dass sie sich in Gefahr befindet.«

»Kannst du mir helfen?«

Er sah mich von der Seite an.

»An was genau denkst du?«

»Du könntest deine Kontakte bei der Polizei nutzen, um Annas Handy orten zu lassen, Zugriff auf ihre Verbindungen und ihre Kreditkarte zu bekommen, auf die Kontobewegungen und Auswertungen von ...«

Er hob die Hand, um mich zu unterbrechen.

»Findest du das nicht etwas übertrieben? Wenn alle Polizisten das jedes Mal machen würden, wenn sie sich mit ihren Freundinnen gestritten haben ...«

Verärgert wollte ich mich erheben, doch er hielt mich am Ärmel zurück.

»Moment mal! Wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du mir die ganze Wahrheit sagen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Verkauf mich nicht für blöd, Raphaël! Ich habe dreißig Jahre Verhörerfahrung. Ich spüre, wenn man mich belügt.«

»Ich habe nicht gelogen.«

»Nicht die ganze Wahrheit zu sagen, das heißt lügen. Es gibt zwangsläufig etwas Wichtiges, das du mir verschwiegen hast, sonst wärst du nicht so beunruhigt.«

2.

»Fertig, Papa! Fertig«, rief Theo und schwenkte sein Fläschchen in meine Richtung.

Ich hockte mich neben meinen Sohn, um es ihm abzunehmen.

»Willst du noch etwas, mein Kleiner?«

»Kado! Kado!«, verlangte er, wobei er seine Lieblingssüßigkeit meinte – die Schoko-Keks-Stäbchen Mikado.

Ich erklärte ihm beruhigend:

»Mikado gibt’s am Nachmittag.«

Als er begriff, dass er seine Kekse nicht bekommen würde, zeichnete sich auf seinem engelsgleichen Gesichtchen Enttäuschung, ja gar Zorn ab. Er drückte seinen Stoffhund Fifi, von dem er sich nie trennte, an sich und war drauf und dran, in Tränen auszubrechen, als Marc Caradec ihm eine Scheibe getoastetes Brot reichte.

»Hier, mein Kleiner, nimm stattdessen ein Stück Brot!«

»Stübro! Stübro!«, rief Theo begeistert.

Man konnte es nicht leugnen – der ehemalige Spezialist für Einbrüche und Geiselnahmen verstand es, mit Kindern umzugehen.

Ich kannte Marc Caradec, seit er vor fünf Jahren in dieses Haus gezogen war. Er war ein eher atypischer Ermittler, ein Freund von klassischer Literatur, alter Musik und des Kinos. Er gefiel mir auf Anhieb, und wir freundeten uns an. Bei seiner Spezialeinheit hatte ihm dieser intellektuelle Touch den Spitznamen »Professor« eingebracht. Als ich meinen letzten Thriller schrieb, hatte ich ihn oft um Rat gebeten. Er geizte nicht mit Geschichten von seinem früheren Job, gab mir viele Tipps und war bereit, mein Manuskript zu lesen.

Nach und nach waren wir gute Freunde geworden. Jedes Mal, wenn Paris Saint-Germain spielte, sahen wir uns zusammen im Stadion Parc des Princes das Match an. Und mindestens ein Mal pro Woche verbrachten wir den Abend mit einem Teller Sushi und einer Flasche Bier vor meinem Home Cinema, um uns koreanische Krimis und Klassiker von Jean-Pierre Melville, William Friedkin oder Sam Peckinpah anzusehen.

Ebenso wie unsere Hausmeisterin Amalia war mir Marc eine große und wertvolle Hilfe bei Theos Erziehung. Er passte auf ihn auf, wenn ich etwas zu erledigen hatte, und er gab mir die besten Ratschläge, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Und vor allem hatte er mir das Wesentliche beigebracht – nämlich, dass man seinem Kind vertrauen und ihm zuhören muss, bevor man Regeln aufstellt, und dass man keine Angst haben darf, zu versagen.

3.

»›Das habe ich getan‹, waren Annas Worte, als sie mir das Foto auf ihrem iPad gezeigt hat.«

»Und was war auf dem Foto zu sehen?«, wollte Marc wissen.

Wir saßen beide in der Küche. Er hatte uns noch einmal Kaffee gemacht. Sein Blick war auf mich gerichtet. Wenn ich seine Hilfe wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen. In ihrer ganzen Grausamkeit. Wegen Theo senkte ich die Stimme, auch wenn er nicht in der Lage war, meine Worte zu verstehen.

»Auf dem Bild waren drei verbrannte Körper zu sehen.«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Nein, drei Leichen, die nebeneinander aufgereiht lagen.«

In den Augen des Ermittlers flammte ein Blitz auf. Leichen. Tote. Eine makabere Inszenierung. In Sekundenschnelle hatten wir das Terrain des Ehestreits verlassen und uns auf sein Spezialgebiet begeben.

»War es das erste Mal, dass Anna das erwähnt hat?«

»Natürlich.«

»Und du hast keine Ahnung, was sie mit der Sache zu tun hat?«

Ich schüttelte den Kopf. Doch er insistierte.

»Hat sie dir das einfach so ohne jede Erklärung hingeknallt?«

»Ich sage dir doch, ich habe ihr keine Zeit dazu gelassen. Ich war verblüfft, völlig schockiert! Das Foto war so furchtbar, dass ich gegangen bin, ohne irgendetwas zu fragen. Und als ich zurückkam, war sie schon weg.«

Er sah mich seltsam an, so als würde er daran zweifeln, dass sich die Dinge wirklich genau so abgespielt hatten.

»Wie groß waren die Leichen? Waren es Kinder oder Erwachsene?«

»Schwer zu sagen.«

»Und an welchem Ort befanden sie sich? Im Freien, auf einem Seziertisch? Oder ...«

»Ich weiß es nicht, verdammt noch mal! Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass sie pechschwarz waren, von Hitze und Flammen zerfressen. Völlig verkohlt.«

Caradec trieb mich in die Enge.

»Versuch, präziser zu sein, Raphaël. Erinnere dich genau. Gib mir mehr Details.«

Ich schloss die Augen und versuchte, das Bild in mir heraufzubeschwören. Und da es mich so sehr angewidert hatte, gelang es mir schnell. Schädel zertrümmert. Brustkorb zerfetzt. Aufgeschlitzter Bauch, aus dem die Eingeweide quollen. Auf Caradecs Drängen hin tat ich mein Bestes, um ihm die verrenkten Glieder und die verbrannte, rissige Haut genau zu beschreiben. Die hellen Knochen, die aus dem Fleisch ragten.

»Auf was lagen sie?«

»Instinktiv würde ich sagen auf dem Boden, vielleicht aber auch auf einem Leintuch.«

»Ist Anna deines Wissens nach clean? Keine Drogen? Keine Geisteskrankheit? Kein Aufenthalt in der Psychiatrie?«

»Ich darf dich daran erinnern, dass du von der Frau sprichst, die ich heiraten will.«

»Beantworte bitte meine Frage.«

»Nein, absolut nichts. Sie beendet bald ihre Zeit als Assistenzärztin. Sie ist extrem begabt.«

»Warum hattest du dann Zweifel an ihrer Vergangenheit?«

»Du kennst doch meine Geschichte, zum Teufel noch mal! Du weißt, wie meine letzte Beziehung geendet hat!«

»Aber was genau hat dich beunruhigt?«

»Eine gewisse Unsicherheit, wenn sie von früher sprach, ein bisschen so, als hätte sie keine Kindheit und Jugend gehabt. Eine extreme Zurückhaltung. Der Wunsch, unbemerkt zu bleiben, der bei ihr eine Art zweite Natur war. Nicht fotografiert werden wollen. Und, ehrlich gesagt, kennst du viele Fünfundzwanzigjährige, die keinen Facebook-Account haben und nicht in den sozialen Netzwerken präsent sind?«

»Das ist wirklich merkwürdig«, stimmte der Ermittler zu, »aber es ist zu vage, um Nachforschungen einzuleiten.«

»Drei Leichen nennst du vage?«

»Beruhig dich! Wir wissen nichts über diese Leichen. Schließlich ist sie Ärztin, sie kann auch während ihres Studiums damit zu tun gehabt haben.«

»Ein Grund mehr, um zu suchen, oder?«

4.

»Ist deine Putzfrau noch nicht da?«

»Sie kommt erst am frühen Nachmittag.«

»Umso besser«, meinte Marc.

Wir waren über den Hof zu meiner Wohnung gegangen und standen jetzt in der Küche, einem lang gestreckten Raum, auf der einen Seite die Rue Campagne-Première und auf der anderen die Impasse d’Enfer. Zu unseren Füßen amüsierten sich Theo und Fifi damit, die Magnete mit Tierbildern vom Kühlschrank abzunehmen und wieder anzubringen.

Nachdem er sich die Spüle genauer angesehen hatte, öffnete Marc die Spülmaschine.

»Was suchst du eigentlich?«

»Etwas, das nur Anna berührt hat. Zum Beispiel die Tasse, aus der sie gestern Morgen ihren Kaffee getrunken hat.«

»Sie trinkt ihren Tee aus diesem Becher«, erklärte ich und deutete auf einen türkisfarbenen, auf dem Tintin abgebildet war und den sie aus dem Museum Hergé mitgebracht hatte.

»Hast du einen Stift?«

Komische Frage an einen Schriftsteller, dachte ich und reichte ihm meinen Roller-Pen.

Er nahm ihn und schob ihn in den Henkel der Tasse, um sie herauszuheben und auf ein Stück Küchenrolle zu stellen, das er auf den Tisch gelegt hatte. Dann öffnete er den Reißverschluss eines kleinen Etuis und zog ein Glasröhrchen mit schwarzem Pulver, einen Pinsel, Klebefolie und eine Spurenkarte heraus.

Ein Forensik-Set.

Mit geübten Bewegungen tauchte er den Pinsel in das schwarze Pulver und stäubte den Becher damit ein, in der Hoffnung, das Ruß-Eisenoxid-Gemisch würde von Anna hinterlassene Fingerabdrücke sichtbar machen.

Eine solche Szene hatte ich schon oft in meinen Krimis beschrieben. Doch was hier geschah, war Wirklichkeit. Und die Person, die wir jagten, war keine Verbrecherin, sondern die Frau, die ich liebte.

Marc blies auf die Tasse, um überschüssiges Pulver zu entfernen, setzte seine Brille auf und betrachtete die Tasse.

»Siehst du den Abdruck? Da ist der Daumen deiner Liebsten«, erklärte er zufrieden.

Er schnitt ein Stück Klebefolie ab und fixierte es unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen auf der Spurenkarte.

»Mach ein Foto davon«, sagte er dann.

»Warum?«

»Ich habe nicht mehr viel Kontakt zu meiner alten Brigade, die meisten meiner ehemaligen Kollegen sind in Rente. Aber ich kenne noch jemanden bei der Kripo, Jean-Christophe Vasseur. Ein Idiot, und noch dazu ein schlechter Ermittler, aber wenn wir einen halbwegs ordentlichen Abdruck haben und ihm vierhundert Euro geben, wird er ihn mit der zentralen Datenbank für Fingerabdrücke abgleichen.«

»Zentrale Datenbank für Fingerabdrücke? Ich bezweifele, ehrlich gesagt, dass Anna jemals in irgendein Verbrechen oder Vergehen verwickelt oder gar im Gefängnis gewesen ist.«

»Vielleicht erleben wir eine Überraschung. Alles, was du mir über ihre auffällige Zurückhaltung erzählt hast, lässt vermuten, dass sie etwas zu verbergen hat.«

»Wir haben doch alle etwas zu verbergen, oder?«

»Hör auf mit deinen Romanfloskeln. Mach das Foto, um das ich dich gebeten habe, und schick es mir per Mail, damit ich Vasseur kontaktieren kann.«

Mit meinem Handy machte ich mehrere Aufnahmen, die ich anschließend mit dem Bildbearbeitungsprogramm optimierte, um den Abdruck so scharf wie möglich wiederzugeben. Dabei betrachtete ich fasziniert die Rillen und Erhebungen, die sich zu einem Labyrinth verschlangen, das einzigartig und geheimnisvoll war und nicht über einen Ariadnefaden verfügte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich und schickte die Mail an Caradecs Adresse.

»Wir fahren zu Annas Wohnung nach Montrouge. Und suchen sie so lange, bis wir sie finden.«

3. Die dunkle Nacht der Seele

Fühle dich nie sicher

beim Weibe, das du liebst.

Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz5

1.

Nach den zahlreichen Vignetten zu urteilen, die die Windschutzscheibe von Marc Caradecs Auto zierten, war der Range Rover schon seit den 1980er-Jahren unterwegs.

Der alte Geländewagen, der bereits mehr als dreihunderttausend Kilometer hinter sich hatte, fädelte sich mit der Anmut eines Bulldozers in den Verkehr ein und fuhr dann am Parc Montsouris vorbei, über den Périphérique, die von Graffitis gesäumte Avenue Paul-Vaillant-Couturier und dann an der Schachbrettfassade des ibis Hotels in der Rue Barbès entlang.

Ich hatte Theo Amalia anvertraut und war erleichtert, dass Marc mich begleitete. Zu diesem Zeitpunkt hoffte ich, dass alles doch noch in Ordnung kommen würde. Vielleicht würde Anna bald wieder auftauchen. Vielleicht war ihr »Geheimnis« letztlich nicht so schlimm. Sie würde mir alles erklären, das Leben würde wieder seinen normalen Lauf nehmen und unsere Hochzeit zum vorgesehenen Zeitpunkt stattfinden – Ende September, in der kleinen Kirche von Saint-Guilhem-le-Désert, dem historischen Ursprungsort meiner Familie.

Im Wagen hing ein merkwürdiger Geruch – eine Mischung aus getrockneten Kräutern und vagem Zigarrenrauch. Marc schaltete zurück. Der Geländewagen stotterte, als ginge ihm plötzlich die Puste aus. Man konnte ihn nur als rustikal bezeichnen: verschlissene Samtsitze, Stoßdämpfer, die schon seit Langem abgenutzt waren. Er hatte jedoch den Vorteil, dass man aufgrund seiner Höhe und der Panoramascheibe das Verkehrsgewühl überblicken konnte.

Die Avenue Aristide-Briand, ehemals die Nationalstraße 10, glich mit ihren vier breiten Spuren einer Autobahn.

»Hier ist es«, sagte ich und deutete auf ein Haus auf der anderen Straßenseite, in dem Anna wohnte. Aber du kannst da nicht abbiegen, du musst weiterfahren bis zur nächsten Kreuzung und ...«

Noch ehe ich ausgesprochen hatte, riss Marc das Steuer herum. Unter einem Konzert aus Hupen und Reifenquietschen wendete er und nahm dabei zwei Wagen die Vorfahrt, deren Fahrer nur durch eine Vollbremsung einen Zusammenstoß verhinderten.

»Bist du verrückt geworden!«

Der Ermittler schüttelte den Kopf und begnügte sich nicht mit dieser ersten, gefährlichen Regelwidrigkeit, sondern fuhr auf den Bürgersteig, um den Range Rover zu parken.

»Hier können wir nicht stehen bleiben, Marc!«

»Wir sind von der Polizei!«, erklärte er und zog die Handbremse an.

Er klappte die Sonnenblende herunter, auf der sich ein Aufkleber mit der Aufschrift »Police Nationale« befand.

»Und wer sollte glauben, dass die Polizei in solchen Schrottkisten herumfährt? Außerdem bist du kein Polizist mehr ...«