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Atmosphärisch, fesselnd, rasant – der neue Musso! Paris, Weihnachten: Als Mathias nach einem Schwächeanfall im Krankenhaus aufwacht, glaubt er, einen Engel zu sehen. Doch es ist die Musikstudentin Louise, die für die Patienten Cello spielt. Nachdem sie erfahren hat, dass Mathias einst Kommissar war, bittet sie ihn um Hilfe. Anders als die Polizei ist Louise nämlich davon überzeugt, dass ihre Mutter nicht durcheinem Unfall starb, sondern ermordet wurde. Mathias, der mit eigenen Dämonen kämpft, warnt Louise – vor sich und den Folgen ihrer Nachforschungen. Und er behält recht: Die Suche nach der Wahrheit und einer Frau namens Angélique wird immer gefährlicher. Bis es n Venedig zum tödlichen Showdown kommt ... »Der König der französischen Spannung.« New York Times »Ein außergewöhnlicher Romancier!« France Info
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Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Barbara Reitz (Kollektiv Druck-Reif)
© Calmann-Lévy 2022
Titel der französischen Originalausgabe: »Angélique«, Calmann-Lévy, Paris 2022
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2024
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Cover & Impressum
Widmung
Zitate
I
LOUISE COLLANGE
1 Das Mädchen mit dem Cello
1.
2.
2 Der tiefe Fall der Stella Petrenko
1.
2.
3.
4.
3 Unmögliche Ermittlungen
1.
2.
3.
4.
5.
4 Eine unvernünftige Zeit
1.
2.
3.
4.
II.
ANGÉLIQUE CHARVET
5 Die unsichtbare Grenze
1.
2.
3.
4.
6 Ein klein wenig verrückt
1.
2.
3.
4.
7 Ihren Platz einnehmen
1.
2.
3.
8 Der Entschluss
1.
2.
3.
9 Eine Tochter der Familie
1.
2.
3.
III.
MATHIAS TAILLEFER
10 Ohne Spuren zu hinterlassen
1.
2.
3.
4.
11 Hikikomori
1.
2.
3.
12 Place de l’Étoile
1.
2.
3.
13 Ordnung und Chaos
1.
2.
14 Das Broken-Heart-Syndrom
1.
2.
3.
4.
15 Der Mann im roten Mantel
1.
2.
3.
16 Die finstere Nacht der Seele
1.
2.
3.
17 Lena Khalil
1.
2.
18 Zwei Mörder im Haus
1.
2.
3.
4.
5.
IV.
FRAGMENTE
Historisches Hochwasser verwüstet Venedig
Nach der Sturmflut
Das Ehrengericht
Syrinx
Alice Bakker
Ein libanesischer Frühling
Der Friedhof von Montparnasse
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Nathan und Flora
Ich bin neugierig auf diesen ewig
unzufriedenen Teil des Menschen, der
immer etwas anderes sein will, nicht
unbedingt besser, aber etwas anderes.
Patricia Highsmith,Tage- und Notizbücher[1]
Ich suche einen Stil, der nicht nur neutral
ist, sondern der in genau diesem Augenblick
zu den Gedanken meiner Personen passt. Der
Stil muss sich stets anpassen, sich entsprechend
dem Entwurf meiner Helden verändern.
Georges Simenon,Portrait souvenir de Georges Simenon[2]
Man kommt nur zusammen,
indem man aufeinanderprallt.
Gustave Flaubert,Die Briefe an Louise Colet[3]
Paris – Hôpital Pompidou – Montag, 27. Dezember
Ein Lichtschein am sturmbewegten Himmel. Das war das Bild, das die Musik in meinem Kopf entstehen ließ. Die lange Phrasierung des Cellos zeichnete hypnotische Wellen, die zum Loslassen einluden. In seinem Dämmerzustand spürte Mathias, wie sich seine Atmung veränderte und dem Rhythmus der Melodie anpasste. Von der Musik getragen, gab er sich dieser inneren Reise hin und empfand einen Frieden, wie er ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte. Bewegende Bilder und Empfindungen stiegen in ihm auf. Das Blau des Mittelmeers, träge Körper, ausgestreckt auf dem Sand, Küsse auf salzige Lippen.
Doch dieses Glücksgefühl war zerbrechlich. Ein Sturm lauerte in der Nähe. Widersprüchliche Gefühle waren miteinander verwoben, eine erzwungene Symbiose zwischen Unbekümmertheit und Ernsthaftigkeit. Plötzlich verflog die Harmonie, ganz so, als wäre der Bogen von den Saiten abgerutscht und hätte jegliche Hoffnung auf weiteren Genuss zunichtegemacht.
Mathias Taillefer öffnete die Augen.
Er lag in einem Krankenhausbett, bekleidet mit einem dieser hässlichen, verwaschenen Baumwollhemden, bei denen das Hinterteil immer frei lag. In dem Katheter in seinem Arm steckten zwei Infusionsschläuche, während zu seiner Linken ein Elektrokardioskop den febrilen Verlauf seiner Herzfrequenz aufzeichnete. Der betagte Zimmergenosse im Nachbarbett war den ganzen Tag lang nicht aufgewacht und vermittelte ihm den unangenehmen Eindruck, sich eher auf der Palliativstation als in der Kardiologie zu befinden. Das deprimierende Stakkato des Regens hatte die warme, vibrierende Cellomusik verdrängt. Und statt auf das blaue Mittelmeer fiel sein Blick nur auf das Pariser Grau. Für eine Weile hatte ihn in seinem Traum die Musik aus dem Krankenhaus entführt, doch die Flucht war nur von kurzer Dauer gewesen.
Verdammtes Leben.
Mühsam rückte Mathias sein Kopfkissen zurecht, um sich ein wenig aufrichten zu können. Und in diesem Moment entdeckte er sie: Halb im Schatten verborgen, saß ein junges Mädchen mit einem Cello sehr aufrecht auf seinem Stuhl.
»Wer bist du?«, fragte Mathias mit belegter Stimme.
»Ich heiße Louise. Louise Collange.«
Die helle Stimme, die darauf schließen ließ, dass das Mädchen noch recht jung war, klang keineswegs verschüchtert.
»Und was machst du in meinem Zimmer, Louise Collange? Glaubst du, das ist der geeignete Ort, um für das Schulkonzert zu üben?«
»Ich bin freiwillige Helferin des Vereins ›Musiker im Krankenhaus‹«, antwortete sie.
Mathias kniff die Augen leicht zusammen, um sie besser mustern zu können, während sie auf ihn zutrat. Ihr ovales Gesicht war von glattem blondem Haar umrahmt. Grübchen am Kinn, Pullover mit Bubikragen, ausgestellter Rock, Lederstiefel. Ein heller Lichtstrahl, der die Schatten des lethargischen Krankenhauses erhellte.
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Dein Schubert-Stück? Nein … davon habe ich Schmerzen an den Haarwurzeln und Zähnen bekommen.«
»Sie übertreiben.«
»… und es hat mich geweckt.«
Verärgert zuckte Louise mit den Schultern.
»Normalerweise mögen die Leute es sehr, wenn wir spielen.«
»Den Patienten gefällt es, wenn man in ihr Krankenzimmer kommt, um sie zu belästigen?«
»Man bezeichnet das als sensorielle Gegenstimulation«, erklärte das Mädchen, zog den roten Stuhl aus Kunstleder neben sein Bett und setzte sich. »Die Musik wirkt wie ein Gegenmittel, sie sorgt dafür, dass der Kranke den Schmerz weniger spürt.«
»So ein Unsinn.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Hältst du dich für eine Ärztin? Wo hast du das überhaupt her?«
»Aus medizinischen Lehrbüchern. Ich bin in meinem zweiten Studienjahr.«
»Aber wie alt bist du denn?«
»Siebzehn. Ich habe zwei Klassen übersprungen.«
Wenn sie glaubte, ihn damit beeindrucken zu können … Taillefer blieb ungerührt. In dem Haltegriff aus Chrom spiegelten sich verzerrte Fragmente seines müden Gesichts: struppiges Haar, grau melierte Schläfen, Dreitagebart, müde, marineblaue Augen.
»Gut, nachdem du dein kleines Konzert gegeben hast, kannst du uns jetzt allein lassen, Louise.«
Mit einer Kopfbewegung deutete er auf seinen Bettnachbarn.
»Ich glaube nicht, dass deine Musik die geringste Chance hat, den Opa hier aus seinem Formalinrausch zu holen.«
»Wie Sie meinen.«
Während das junge Mädchen ihr Instrument in die Hülle schob, rieb sich Taillefer erschöpft die Augen. Er war am Vortag nach einem scheinbar harmlosen koronaren Schwächeanfall ins Krankenhaus eingeliefert worden, der jedoch aufgrund seiner Vorgeschichte und seines Transplantationsstatus eine Reihe von Untersuchungen erforderte. Sollten die Ergebnisse zufriedenstellend ausfallen, könnte er auf eine Entlassung am nächsten Tag hoffen. Doch zunächst musste er es noch einige Stunden in diesem trostlosen Krankenzimmer aushalten, das von einem Vorgeschmack auf den Tod erfüllt war.
Seine Gedanken kreisten um seinen Hund, der allein zu Hause geblieben war, und um das schlechte Wetter, das zu diesem Jahresende in Paris herrschte: Es regnete bereits seit Wochen, und der Himmel war schon so lange derart verhangen, dass man den Eindruck hatte, es könne nie wieder Frühling werden. Und jetzt auch noch dieses Mädchen, das nicht gehen wollte …
»Bist du noch immer da?«, knurrte er.
»Nur noch zwei Minuten, ich muss meine Noten einpacken.«
»Hast du nichts Besseres zu tun, als ins Krankenhaus zu kommen und dich für Jacqueline du Pré zu halten?«
Louise zuckte mit den Schultern.
»Wer ist Jacqueline du Pré?«
»Musst du halt recherchieren. Aber jetzt mal ernsthaft – verschwinde von diesem trostlosen Ort, und mach irgendwas deinem Alter Entsprechendes.«
»Und was ist Ihrer Meinung nach ›meinem Alter entsprechend‹?«
»Keine Ahnung, mit Freundinnen ausgehen, mit Jungs abhängen, trinken …«
»Na, das ist ja sehr inspirierend.«
Sein Ton wurde schärfer.
»Los jetzt, raus! Geh einfach nach Hause, wenn du keine Freundinnen und Freunde hast.«
»Sie sind wirklich nicht sehr liebenswürdig.«
»Aber schließlich bist du ja hergekommen, um mir auf die Nerven zu gehen!«, erregte er sich und hob die Stimme.
Bei einem lauten Magenknurren legte er die Hand auf den Bauch und verzog das Gesicht.
»Und außerdem habe ich Hunger. Hör mal, wenn du dich wirklich nützlich machen willst, dann versuch, etwas zu essen aufzutreiben, ehe du gehst.«
»Ich frage die Krankenschwestern.«
»Nein, bloß nicht! Deren undefinierbaren Brei will ich nicht. Im Lichthof des Krankenhauses gibt es eine Cafeteria. Hol mir ein Sandwich mit Butter und Schinken oder ein schwedisches Smörrebröd mit Lachs.«
»Vielleicht auch noch ein Bier? Salz ist schlecht fürs Herz.«
»Tu bitte, um was ich dich gebeten habe. Das macht mir viel mehr Freude als dein Schubert.«
Louise zögerte, dann sagte sie: »Passen Sie auf mein Cello auf?«
Er nickte.
»Keine Sorge.«
Als er allein mit seinem Bettgenossen war, sah Taillefer auf seine Uhr – es war noch nicht einmal vier Uhr nachmittags, und doch war es schon fast dunkel. Er legte die Hand auf die große Narbe, die seinen Brustkorb vertikal durchzog. Schon seit fünfeinhalb Jahren lebte er mit einem fremden Herzen. Mit der Zeit war die Narbe ein wenig verblasst, doch zugleich wuchs seine Angst, sein Ersatzherz könnte eines Tages aufhören zu schlagen. Er schloss die Augen. Am Vortag, ganz in der Nähe der Bienenstöcke des Parks Montsouris, hatte er geglaubt, der Augenblick sei gekommen. Plötzlich hatte er einen starken stechenden Schmerz im Brustkorb verspürt, dann das Gefühl, sein Herz stecke in einem Schraubstock. Der Schmerz strahlte bis in seinen Kiefer aus, brachte ihn ins Taumeln und verursachte ihm Übelkeit und Kurzatmigkeit, so als hätte er gerade einen Mittelstreckenlauf hinter sich gebracht.
Erst im Krankenwagen, der ihn zur Klinik Georges-Pompidou brachte, war er wieder zu sich gekommen. Auch wenn die ersten Analysen und Untersuchungen eher gut ausgefallen waren, ließ ihn die Angst nicht los. Das Krankenhaus lähmte ihn. Die trübselige Stimmung, das widerwärtige Essen, die Bevormundung der Patienten, die Plastikflasche, in die er pinkeln musste, das erhöhte Risiko, sich eine nosokomiale Infektion einzufangen. Er wurde von der tief sitzenden Angst beherrscht, dass man wegen einer Kleinigkeit hier eingeliefert wurde und mit den Füßen voran wieder herauskam.
»Hier ist der Snack!«
Taillefer schreckte aus seiner Benommenheit hoch. Louise Collange wedelte mit einer Papiertüte.
»Ich habe Rohkost für Sie genommen, das ist besser für die Gesundheit«, erklärte sie und zog eine Plastikschüssel mit Salat daraus hervor.
Er brauste sofort auf: »Machst du dich über mich lustig? Warum hat du das getan? Ich wollte Lachs oder …«
»Keine Panik, der Rohkostteller ist für mich. Und hier ist Ihr Sandwich.«
Er bedachte sie mit einem bösen Blick – solche Art Scherze brachten ihn nicht zum Lachen – und packte knurrend sein Brot aus.
»Fühl dich bloß nicht verpflichtet, mir Gesellschaft zu leisten«, warnte er sie, als sie sich auf dem Stuhl neben seinem Bett niederließ.
»Stimmt es, dass Sie Polizist sind?«
Er runzelte die Stirn. Der Tag versprach lang zu werden.
»Wer hat dir das gesagt?«
»Die Krankenschwestern haben darüber gesprochen. Sie haben gesagt, dass Sie bei der Kripo sind.«
Taillefer schüttelte den Kopf.
»Das war in einem anderen Leben. Ich bin schon vor fünf Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden.«
»Wie alt sind Sie?«
»Siebenundvierzig.«
»Das ist ziemlich jung für die Rente.«
»So ist das Leben«, erklärte er und biss in sein Smörrebröd.
Sie beharrte: »Was ist passiert? Ist es wegen Ihrer Herzprobleme?«
»Das geht dich rein gar nichts an.«
»Und was machen Sie jetzt?«
»Ich höre dir zu.« Er seufzte. »Ich ertrage dein Verhör und frage mich, womit ich das verdient habe.«
»Sie sind echt nicht umgänglich.«
»Das kann ich bestätigen.«
Er aß schweigend sein Sandwich auf, ehe er energischer wurde.
»Hör zu, Louise, du bist sicher ein sehr intelligentes Mädchen, aber ich mag es nicht, wenn man mir auf die Nerven geht. Deine ehrenamtliche Tätigkeit gefällt wahrscheinlich so manchem auf dieser Station. Mir hingegen sind dein Leben, deine Befindlichkeiten und alles, was du mir erzählst, völlig egal. Und auch wenn es vielleicht nicht den Anschein hat, bin ich kein netter Kerl. Also bitte ich dich zum letzten Mal höflich, mein Zimmer zu verlassen, sonst …«
»Was sonst?«, unterbrach sie ihn. »Wollen Sie die Krankenschwester rufen?«
»Sonst werde ich aufstehen und dich mit Fußtritten hinausbefördern«, antwortete er ruhig. »War das jetzt deutlich genug?«
»Wenn Sie nichts zu tun haben, hätte ich vielleicht Arbeit für Sie.«
»Ich suche keine Arbeit!«, schrie er. »Ich versuche, hier wieder auf die Beine zu kommen.«
»Ich könnte Sie ja auch bezahlen. Ich habe Geld, wissen Sie.«
Taillefer war von ihrer Unverfrorenheit derart verblüfft, dass er für einen Moment entmutigt war. Das Mädchen war derart anstrengend und aufdringlich, eine solche Nervensäge, dass er sie wirklich – notfalls mit Gewalt – loswerden musste.
»Ich möchte, dass Sie Ermittlungen zum Tod meiner Mutter anstellen.«
»Na, das ist ja mal ganz was anderes …«
»Sie ist vor drei Monaten gestorben.«
»Tut mir leid für dich.«
Louise nickte, und Taillefer fühlte sich bemüßigt hinzuzufügen: »Woran ist sie denn gestorben?«
»Die Polizei behauptet, es sei ein Unfall gewesen.«
»Und was denkst du?«
»Ich glaube, dass sie ermordet wurde.«
In diesem Moment betrat eine Krankenschwester das Zimmer, um die Infusionen, die Vitalwerte und den Sauerstoffgehalt zu überprüfen, wobei sie einen halbherzigen Gesprächsversuch startete. Taillefer zögerte, diese Gelegenheit zu ergreifen, um seinen Eindringling loszuwerden, schwieg aber schließlich doch. Sobald die Schwester gegangen war, ergriff Louise wieder das Wort.
»Ich möchte, dass Sie einen Blick in die Akte werfen, ein paar Telefonate führen und …«
»Aber von welcher Akte sprichst du?«
»Lesen Sie zunächst die Presseartikel über ihren Tod. Geben Sie einfach ihren Namen im Internet ein.«
»Das kommt gar nicht infrage.«
»Das kostet Sie nicht mehr als zwei Stunden, und im Gegenzug können Sie von mir verlangen, was Sie wollen.«
In den Augen des Mädchens schimmerte ein intelligentes Leuchten auf. Ein heller und beunruhigter Glanz.
»Wirklich alles?«
Plötzlich fiel ihm etwas ein, das die Unruhe besänftigen könnte, die ihn quälte, seit er ins Krankenhaus eingewiesen worden war.
»Würdest du auch meinen Hund füttern, der allein bei mir zu Hause geblieben ist?«
»Und im Gegenzug kümmern Sie sich um die Ermittlungen zum Tod meiner Mutter?«
»Nein, nein. Im Gegenzug verbringe ich zwei Stunden damit, die Zeitungsartikel über den Tod deiner Mutter zu lesen. Das ist etwas ganz anderes.«
»Einverstanden. Was ist es für ein Hund?«
»Ein Schäferhund. Er heißt Titus.«
»Ist er nett?«
»Ganz und gar nicht. Und er mag keine Nervensägen, also nimm dich in Acht.«
Taillefer gab Louise den Schlüssel, den Code für die Alarmanlage und seine Adresse am Square Montsouris.
»Und damit das klar ist: Du gehst hinein, fütterst Titus und verschwindest sofort wieder, ohne im Haus irgendetwas anzurühren.«
»Alles klar«, pflichtete sie ihm bei. »Und wie tauschen wir uns aus?«
»Lass mir deine Nummer hier, ich melde mich bei dir. Wie hieß deine Mutter?«
»Petrenko. Sie war die Primaballerina Stella Petrenko.«
Je dringender man etwas sucht,
desto weniger findet man es. Aber
wenn man einer Sache entkommen will,
stößt man wie von selbst auf sie.
Haruki Murakami,Kafka am Strand[4]
Neunzehn Uhr
In seinem Krankenhausbett verband Taillefer seinen Laptop mit dem Handy. Das Netz war nicht gerade großartig. Aus seinen Kopfhörern erklang die vertraute Gitarre von Pat Metheny. Hinter dem Fenster die Pariser Nacht – schwarz, regnerisch, hoffnungslos. Taillefer klimperte auf der Tastatur und suchte nach Informationen über Louises Mutter. Der Name Stella Petrenko war ihm zwar nicht unbekannt, aber er vermochte sich kein Gesicht dazu vorzustellen. Und die Meldungen über ihren Tod waren völlig an ihm vorbeigegangen.
Er lud sich rund ein Dutzend Artikel aus großen nationalen Tageszeitungen herunter, überflog sie in chronologischer Reihenfolge und erhielt so ein recht umfassendes Porträt der Primaballerina.
Stella Petrenko, ein Meter zweiundsiebzig groß, Beine wie eine Heuschrecke und ein langer Schwanenhals, war in den 1990er- und 2000er-Jahren in Frankreich der Star am Balletthimmel gewesen. 1969 in einer bescheidenen, aus dem ukrainischen Lwiw stammenden Familie in Marseille geboren, kommt Stella im Alter von zwölf Jahren in die Hauptstadt, um die Ballettschule der Pariser Oper im Palais Garnier zu besuchen. Petrenko, ein typisches Produkt dieser Kaderschmiede, erklimmt zielstrebig die Karriereleiter. Mit siebzehn Jahren wird sie ins Ballettensemble aufgenommen, wo sie in den folgenden Jahren ihren Aufstieg fortsetzt – zunächst als »Quadrille«, dann als »Coryphée« und schließlich als »Sujet«. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren gehört sie zur Garde der »ersten Tänzer« und übernimmt die Doppelrolle der Odette und Odile in Schwanensee. Doch im selben Jahr wird sie mitten in Paris von einem Motorradfahrer angefahren. Der Unfall erfordert eine Operation und eine lange Reha, die ihre Karriere unterbricht. Ihr ganzes Leben lang hat Stella Probleme mit dem Rücken und den Knien. Trotz dieses Schicksalsschlages kämpft sie darum, wieder eine Spitzenposition einzunehmen, und schafft es dank ihrer Kraft und Hartnäckigkeit zurück auf die Bühne. Deshalb wird sie erst recht spät, nämlich im Alter von dreißig Jahren, zur Primaballerina ernannt.
Petrenko arbeitete mit den größten Choreografen ihrer Zeit – Maurice Béjart, William Forsythe, Pina Bausch – und hatte einige denkwürdige Auftritte in Le Sacre du printemps und Ravels Boléro. Man sah sie auch als Model in Werbekampagnen für Repetto, Hermès, AcquaAlta. Doch wiederholte Verletzungen hatten ihr in den letzten Jahren ihrer Karriere zugesetzt – immer wieder gab es Probleme mit dem Rücken und den Bändern. Der obligatorische Abschied der Solotänzerinnen von der Bühne im Alter von zweiundvierzig Jahren war ihr sehr schwergefallen.
Im Jahr 2004 hatte sie mit ihrem damaligen Lebensgefährten Laurent Collange, dem ersten Geiger beim Orchestre Philharmonique de Radio France, eine Tochter bekommen.
Taillefer nahm den Kopfhörer ab und öffnete eine Dose Cola Zero, die ihm ein Hilfspfleger gegen einen Zehn-Euro-Schein besorgt hatte. Auf YouTube rief er einen Ausschnitt aus dem Ballett Romeo und Julia von Prokofjew auf, in dem sie die weibliche Hauptrolle übernommen hatte. Der Auszug verstörte ihn.
Stella Petrenko hatte nichts mit der Klischeevorstellung von der gertenschlanken Ballerina mit Porzellangesicht gemein. Auf den ersten Blick mangelte es ihr an Anmut. Ein muskulöser Körper mit zu langen Beinen, geformt von dem täglichen achtstündigen Training, und knochigen Armen. Diese Besonderheit fand sich auch in ihrem kantigen Gesicht wieder. Eingefallene Wangen, übergroße Augen mit gequältem Blick, tiefschwarzes, zu einem Knoten gestecktes Haar, aus dem sich immer wieder eine Strähne löste.
Doch sobald sie sich zu bewegen begann, wirkte ihre Magie. Auf der Bühne strahlte Petrenko durch eine seltsame Alchemie nur noch Anmut und Weiblichkeit aus. Dieser besondere Charme und ihre betörende Aura irritierten Taillefer, obwohl er sie nur auf dem Bildschirm sah.
Der Polizist beendete seine Recherchen mit einer Diashow – eine auf Opern spezialisierte Website zeichnete die Laufbahn der Tänzerin in Bildern nach. Durch die Artikel hatte er viel erfahren, und er empfand Sympathie für Louises Mutter, obwohl er ihr nie begegnet war. Beim Betrachten der Bilder konnte er sich die Schwierigkeiten ihres Werdegangs gut vorstellen. Ein hochbegabtes und einsames kleines Mädchen, das sich mit Haut und Haaren dem Tanz verschrieben hatte. Ein Teenager in einem Milieu brutaler Konkurrenz, in dem nur die Stärksten überlebten. Ein Leben voller Kämpfe und Opfer, das durch einen Unfall unterbrochen wurde, gepaart mit dem ungebrochenen Willen, wieder ins Rampenlicht zu treten. Ein anspruchsvolles Leben, gepusht vom Adrenalin und dem Bühnenrausch. Ein holpriges Leben mit vielen Höhen und Tiefen, das sicher einen Nachgeschmack von Unvollkommenheit gehabt hatte. Stella Petrenko, die beim breiten Publikum nicht sonderlich bekannt war, war zwar zur Primaballerina ernannt worden, aber erst recht spät, und selbst an diesem Tag – dem schönsten ihres Lebens, dem Triumph unzähliger Arbeitsstunden – hatte ihr das Schicksal übel mitgespielt, denn aufgrund eines Streiks der Bühnenarbeiter hatte das Ensemble die Aufführung ohne Bühnenbild und Kostüme geben müssen.
In einem Interview anlässlich ihres Bühnenabschieds hatte Stella erklärt, sie habe jede Menge Pläne und Projekte für ihre weitere Laufbahn: Kino, Theater, Mode … Doch davon hatte sie zehn Jahre später nur wenig umgesetzt. Die Tänzerin war lange Zeit aus den Medien verschwunden und wurde erst wieder erwähnt, als ihr Tod bekannt geworden war.
Taillefer trank seine Cola aus und rieb sich die Augen, die vom Licht des Bildschirms brannten. Für die weiteren Recherchen setzte er seine Lesebrille auf.
Stella Petrenkos Tod hatte im letzten Spätsommer keine besonderen Schlagzeilen gemacht. Nur die Kulturministerin hatte sich einen Allerweltstweet abgerungen: Mit tiefer Trauer habe ich von Stella Petrenkos plötzlichem Ableben gehört. Sie war eine der größten Solotänzerinnen der letzten zwei Jahrzehnte. Diese freiheitsliebende Frau ist mit äußerst virtuosen und sensiblen Interpretationen leidenschaftlich für ihre Kunst eingetreten.
Dazu muss man sagen, dass die Primaballerina nicht gerade den besten Zeitpunkt für ihren Abschied gewählt hatte. Denn der 6. September 2021 war auch der Todestag von Jean-Paul Belmondo. Das Pech blieb ihr treu bis zum Schluss, dachte Taillefer und verzog das Gesicht. Er erinnerte sich an eine Radiosendung, in der Jean d’Ormesson sich humorvoll darüber ausgelassen hatte, wie gefährlich es für einen Künstler sei, gleichzeitig mit einer Berühmtheit zu sterben, die in den Medien größere Beachtung findet als man selbst. Der Schriftsteller hatte das Beispiel von Jean Cocteau angeführt, dessen Tod von dem Edith Piafs überschattet wurde, oder den von Aldous Huxley, der an dem Tag starb, als JFK ermordet wurde. Was Farrah Fawcett betraf, jene »seltsame Dame«, in die Taillefer im Alter von zwölf Jahren verliebt gewesen war, so hatte sie diese Welt unglücklicherweise am selben Tag verlassen wie Michael Jackson.
Kurz, die Würdigungen zum Abtritt des Teufelskerls Belmondo hatten im Fernsehen und im Feuilleton den der Tänzerin verdrängt. Erst am nächsten Tag hatte die AFP schließlich spätnachmittags ihren Tod gemeldet, doch die Nachricht war von der Presse und in den sozialen Medien nur gelegentlich aufgegriffen worden.
Stella Petrenko stirbt bei einem Sturz aus dem 5. Stock
AFP
Die ehemalige Primaballerina ist bei einem Sturz vom Balkon ihrer Wohnung in der Rue de Bellechasse ums Leben gekommen. Sie wurde 52 Jahre alt.
Gestern Abend gegen 23.30 Uhr ist die frühere Solotänzerin von ihrem Balkon im vorletzten Stock des Hauses Nummer 31 in der Rue de Bellechasse im 7. Arrondissement gestürzt.
Die von den Nachbarn verständigte Feuerwehr war kurz darauf zur Stelle. Beim Eintreffen der Hilfskräfte lebte die Primaballerina noch, war aber sehr schwer verletzt. Trotz aller Wiederbelebungsversuche musste zwanzig Minuten später ihr Tod festgestellt werden.
Die Todesumstände bleiben mysteriös. Unfall oder Selbstmord? Das werden die Ermittlungen zeigen, verlautete aus Polizeikreisen, die darauf hinwiesen, dass ein Verbrechen ausgeschlossen werden könne. Der Staatsanwalt gab bekannt, dass man eine Autopsie vornehmen werde, um die genaue Todesursache festzustellen.
Taillefer nahm sich die Zeit, den Artikel ein zweites Mal zu lesen, um sicherzustellen, dass ihm nichts entgangen war. Der Bericht warf mehr Fragen auf, als dass er Antworten gab. Um mehr herauszufinden, würde er nicht darum herumkommen, Kontakt zu seinen alten Kollegen aufzunehmen.
Aber bei wem sollte er am Abend eines 27. Dezember vorstellig werden? Er rieb sich den Bart und dachte nach. Wer war für diesen Fall zuständig gewesen? Nach dem Artikel zu urteilen, sicher nicht die Mordkommission. Die Ermittlungen waren vermutlich der Kriminalpolizei des linken Seine-Ufers übertragen worden. Offenbar wurde diese Abteilung von Serge Cabrera geleitet. Das Bild des Capitaine der Dritten Kriminaldirektion zeichnete sich vor seinem geistigen Auge ab: stämmige Silhouette, Stiernacken, Hemden, die straff über dem Bauch spannten, und ein Achtzigerjahre-Topfschnitt. Cabrera, der den Spitznamen »der Nizzaer« trug, war auch für seine Grobheit, seinen Sexismus, seine vulgäre Sprache bekannt – Attribute, die nicht mehr zeitgemäß waren. Vielleicht war er auch gar nicht mehr im Amt, entlassen wegen einer #MeToo-Affäre oder wegen eines Übergriffs. Taillefer vergewisserte sich, dass er noch immer seine Telefonnummer hatte, und schickte ihm eine SMS, um das Terrain zu sondieren – allerdings, ohne sich allzu große Hoffnungen zu machen. Zwischen Weihnachten und Neujahr würde keiner einen Finger rühren, um ihm zu helfen.
Und jetzt?