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Dr Eliott Cooper hat alles, was er sich wünschen kann: den Respekt von Patienten und Kollegen, die Liebe seiner Tochter. Doch seit dem Tag, als er vor dreißig Jahren seine Frau Ilena verloren hat, quälen ihn Sehnsucht und Schuldgefühle. Was aber, wenn das Schicksal ihm eine zweite Chance geben gäbe? Wenn er in der Zeit zurückreisen könnte, um einen tragischen Fehler zu korrigieren?
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Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Puls
ISBN 978-3-492-97006-8
September 2015 ©
2006 der Originalausgabe by XO Éditions Titel der französischen Originalausgabe: »Seras-tu là?«, XO Éditions, Paris Deutschsprachige Ausgabe: ©
Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Claudia Puls liegen beim Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München Covermotiv: Skip Brown/Getty Images, Maggie McCall/Trevillion Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Wir alle haben uns wenigstens einmal die Frage gestellt: Wenn wir die Möglichkeit hätten, das Rad der Zeit zurückzudrehen, würden wir unser Leben anders leben?
Und wenn wir unser Leben noch einmal leben dürften, welche Fehler würden wir korrigieren? Welchen Schmerz, welches Schuldgefühl und welches Bedauern würden wir uns ersparen?
Würden wir es wagen, unserem Leben einen neuen Sinn zu geben?
Um was zu werden?
Um wohin zu gehen?
Und mit wem?
Prolog
Nordosten Kambodschas Regenzeit, September 2006
Der Helikopter des Roten Kreuzes landete pünktlich. Auf dem bewaldeten Hochplateau lag ein Dorf, das etwa hundert armselige Holzhütten zählte. Ein vergessener Ort, zeitlos, weit ab von den touristischen Regionen um Angkor oder Phnom Penh. Die Luft war feucht, der Boden von Schlamm bedeckt.
Der Pilot schaltete die Turbinen gar nicht erst ab. Sein Auftrag war, die Mediziner, die hier humanitäre Hilfe leisteten, wieder in die Stadt zu bringen. Bei normalem Wetter ein Kinderspiel, doch es war September, und die sintflutartigen Regengüsse schränkten die Manövrierfähigkeit des Hubschraubers enorm ein. Außerdem waren die Treibstoffreserven begrenzt, sie mochten gerade ausreichen, um das Team heil zurückzufliegen– vorausgesetzt, man vergeudete nicht unnötig Zeit.
Zwei Chirurgen, ein Anästhesist und zwei Krankenschwestern verließen im Laufschritt das Lazarett, wo sie seit dem Vortag beschäftigt gewesen waren. In den vergangenen Wochen hatten sie Dorf für Dorf in der Umgebung aufgesucht, um nach Kräften die verheerenden Auswirkungen von Malaria, Aids oder Tuberkulose zu behandeln und Amputierte mit Prothesen zu versorgen– noch immer war diese Gegend übersät mit Tretminen.
Auf ein Zeichen des Piloten stürzten sich vier der fünf Helfer in den alten Transport-Helikopter. Der fünfte, ein Mann um die Sechzig, hielt sich ein wenig abseits und schaute gedankenverloren auf die Gruppe Kambodschaner, die sich neugierig um die Flugmaschine versammelt hatten.
»Wir müssen los, Doktor!« brüllte der Pilot. »Wenn wir nicht sofort starten, werden Sie Ihren Anschlußflug verpassen.«
Der Arzt nickte abwesend. Doch als er einsteigen wollte, begegnete er dem Blick eines kleinen Jungen, den ein alter Mann an der Hand hielt. Wie alt das Kind wohl sein mochte? Zwei, drei Jahre? Höchstens. Sein Gesicht war furchtbar entstellt durch eine Lippen-Gaumenspalte. Eine angeborene Mißbildung, die den Kleinen dazu verurteilte, sich sein Leben lang von Suppen und Brei zu ernähren, und ihn daran hinderte, auch nur ein Wort zu artikulieren.
»Beeilen Sie sich!« drängte eine der Krankenschwestern.
»Dieses Kind muß operiert werden«, schrie der Arzt gegen den Lärm des Rotors an.
»Wir haben keine Zeit mehr! Die Straßen sind durch die Überschwemmungen unpassierbar geworden, und ich könnte Sie erst in ein paar Tagen wieder mit dem Helikopter holen kommen.«
Doch Elliott Cooper konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen. Der Blick des kleinen Jungen ließ ihn nicht los. Cooper wußte, daß Babys mit einer Hasenscharte in diesem Teil der Welt, gemäß uralten Bräuchen, oft von ihren Eltern verlassen wurden. Bestenfalls kamen sie in ein Waisenhaus, auf eine Adoption konnten sie mit ihrer Entstellung nur selten hoffen.
Die Krankenschwester versuchte erneut auf ihren Kollegen einzuwirken. »Sie werden übermorgen in San Francisco erwartet, Doktor Cooper. Ihr OP-Plan ist voll, und Sie haben dringende Konferenztermine…«
»Fliegen Sie ohne mich, Emily«, unterbrach sie der Arzt.
Kurz entschlossen kletterte die Krankenschwester wieder aus dem Hubschrauber. »Wenn das so ist, bleibe ich bei Ihnen. Wie wollen Sie sonst mit der Narkose zurechtkommen?«
Der Pilot schüttelte seufzend den Kopf, bevor er senkrecht mit dem Helikopter abhob und sich nach kurzem Schwebeflug Richtung Westen entfernte.
Doktor Cooper trug den Jungen auf dem Arm zum Lazarett, Emily begleitete die beiden. Mit beruhigend klingenden Worten versuchte der Arzt, dem bleichen und verschlossenen Kind die Angst vor dem bevorstehenden Eingriff zu nehmen. Als es schließlich unter Emilys Narkose eingeschlafen war, löste Cooper mit dem Skalpell behutsam die Gaumensegel und dehnte sie vorsichtig, um die Spalte zu schließen. Danach nahm er mit aller Sorgfalt den Lippenverschluß vor, damit der Kleine schon bald wie ein Kind würde lächeln können.
Cooper trat hinaus auf die mit Wellblech gedeckte Veranda, um einen Augenblick auszuruhen. Die Operation hatte lange gedauert. Seit fast zwei Tagen war er ununterbrochen auf den Beinen, und mit einemmal überkam ihn eine große Müdigkeit. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute sich um. Der Regen hatte nachgelassen. Die Wolkendecke war aufgerissen, ein orangeroter Lichtstrahl fiel genau auf das Dorf.
Er bereute es nicht, hiergeblieben zu sein. Jedes Jahr reiste er in seinen Ferien einige Wochen für das Rote Kreuz nach Afrika oder Asien; und wie jedes Jahr ging der Aufenthalt auch diesmal nicht spurlos an ihm vorüber. Andererseits waren diese humanitären Missionen zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er brauchte sie, um wenigstens eine Zeitlang seiner glatten, heilen Chefarztwelt in Kalifornien zu entkommen.
Als er seine Zigarette ausdrückte, spürte Cooper, daß jemand hinter ihm stand. Er drehte sich um und erkannte den alten Mann vom Hubschrauberlandeplatz, der die Hand des kleinen Jungen gehalten hatte. Wahrscheinlich war es der Dorfchef. Er trug die traditionelle Tracht der Khmer, hatte einen gebeugten Rücken und ein runzliges, ehrfurchtgebietendes Gesicht. Statt einer Begrüßung führte er seine Hände in Gebetshaltung vor der Brust zusammen und sah Cooper einen langen Moment direkt in die Augen. Ohne den Blick abzuwenden, lud er ihn schließlich mit einer Geste ein, ihm in seine Hütte zu folgen, und bot ihm dort aus einer kleinen Porzellanflasche einen Reisschnaps an. Erst dann richtete er das Wort an den Fremden.
»Er heißt Lou-Nan«, sagte der alte Kambodschaner in überraschend gutem Französisch. Cooper nickte. »Ich danke Ihnen, daß Sie ihm ein Gesicht geschenkt haben.«
Der Chirurg dankte dem Alten für seine Freundlichkeit und schaute ein wenig verlegen aus der Fensteröffnung. Dicht und grün erstreckte sich vor seinen Augen der tropische Regenwald, die verdampfende Feuchtigkeit stand als warmer Nebel über den Wipfeln. Es war faszinierend zu wissen, daß ganz in der Nähe, in den Bergen von Ratanakiri, Tiger, Schlangen und Elefanten zu Hause waren…
Über seinen Träumereien hatte er gar nicht darauf geachtet, daß der alte Mann weiterredete. Cooper versuchte sich wieder auf das Französisch seines Gastgebers zu konzentrieren.
»Wenn Sie die Möglichkeit hätten, sich einen Wunsch zu erfüllen, wofür würden Sie sich entscheiden?« fragte er gerade.
»Wie bitte?«
»Was ist Ihr größter Wunsch, Doktor?«
Cooper suchte krampfhaft nach einer geistreichen Antwort, doch überwältigt von seiner Erschöpfung und einer unerwarteten Gefühlswallung, brachte er schließlich nur leise hervor: »Ich würde mir wünschen, eine Frau wiederzusehen.«
»Eine Frau?«
»Ja… Die einzige, die mir wirklich etwas bedeutete.«
»Und Sie wissen nicht, wo sich diese Frau gerade aufhält?« fragte der alte Khmer, offensichtlich überrascht von einem so bescheidenen Traum.
»Sie ist vor dreißig Jahren gestorben.«
Der Alte legte die Stirn in Falten und versank in tiefe Meditation. Nach einer Weile erhob er sich, schritt ans andere Ende der Hütte, wo sich auf einem wackligen Regal seine Schätze türmten: getrocknete Seepferdchen, Ginsengwurzeln, in Formalin eingelegte, ineinander verschlungene Giftschlangen
1
Die erste Begegnung
Eines schönen Abends wird die Zukunft Vergangenheit sein. Dann schaut man zurück und blickt auf seine Jugend.
Louis Aragon
Flughafen Miami, September 1976
Die junge Frau am Steuer des Thunderbird-Cabrio näherte sich dem Terminal in sportlichem Tempo. Ihr Haar flatterte im Wind, während sie mehrere Autos überholte und den Wagen schließlich vor der Abflughalle bremste, um ihren Begleiter aussteigen zu lassen. Der schlanke, gutangezogene junge Mann griff nach seiner Reisetasche im Kofferraum, hauchte seiner Chauffeurin noch einen Abschiedskuß zu und verschwand in dem Gebäude aus Stahl und Glas.
Zerstreut machte sich Doktor Elliott Cooper auf den Weg zum Check-in-Schalter. Seit einiger Zeit schon arbeitete er als Chirurg an einem renommierten Krankenhaus in San Francisco– auch wenn er in seiner Lederjacke und mit seinem vom Wind zerzausten Haar jugendlich und verwegen wirkte.
»Wetten, daß ich dir schon jetzt fehle?«
Erstaunt drehte sich Elliott um und begegnete einem smaragdgrünen Blick, aus dem Provokation und zugleich Verletzlichkeit sprachen. Die Besitzerin der katzenhaften Augen trug eine Hüftjeans, darüber eine knappe Wildlederweste mit einem Love-and-Peace-Sticker und ein gelbgrünes T-Shirt– die Farben ihrer Heimat Brasilien.
»Wann habe ich dich bloß zum letzten Mal geküßt?« fragte er und legte ihr zärtlich die Hand in den Nacken. Für einen Augenblick verschwand der Lärm um sie herum. Ihm war, als fiele er aus der Zeit heraus.
»Das ist mindestens eine Minute her«, sagte sie mit ihrer seidigen Stimme.
»Eine Ewigkeit also…« Er lächelte und drückte sie an sich. Ilena, die Frau seines Lebens… Immer noch konnte er sein Glück nicht fassen, sie gefunden zu haben, dabei kannten sie sich mittlerweile bald zehn Jahre. Elliott verdankte ihr so vieles: daß er seinen Weg als Arzt gefunden hatte, daß er gelernt hatte, sich anderen Menschen zu öffnen, daß er hohe Ansprüche an sich selbst stellte.
Er war überrascht, daß sie ihm nachgekommen war. Zwischen ihnen galt die Abmachung, sich lange Abschiedsszenen zu ersparen, die den Trennungsschmerz nur schlimmer machten. Es war für beide nicht einfach, eine Beziehung zwischen Florida und San Francisco zu leben. Ihre Liebe mußte die Distanz von viertausend Kilometern zwischen Ost- und Westküste überbrücken und dem Rhythmus einer Zeitverschiebung von vier Stunden folgen. Natürlich hätten sie sich in all den Jahren dazu entschließen können, gemeinsam irgendwo ihr Zelt aufzuschlagen. Aber das hatten sie nie getan. Zunächst aus Angst vor dem Alltag, der womöglich seinen Tribut gefordert und ihnen die Sehnsucht und das Herzklopfen vor jedem Wiedersehen genommen hätte. Mit der Zeit hatten sie sich dann beide in ihrem Beruf etabliert, der eine am Pazifik, die andere am Atlantik: Elliott hatte nach einem langwierigen Medizinstudium die Möglichkeit bekommen, als Chirurg in San Francisco anzufangen, und Ilena war als Tierärztin ihren Meeressäugern in der Ocean World von Orlando treu geblieben. Seit neuestem engagierte sie sich auch bei Greenpeace, einer Organisation aus ein paar militanten Pazifisten und Umweltschützern, die immer mehr von sich reden machte. Vor allem ihr vehementes Eintreten gegen Atomversuche hatte Aufsehen erregt, Ilena allerdings hatte sich den sogenannten Regenbogenkämpfern besonders wegen der Kampagne gegen das Abschlachten von Walen, Robben und Seehunden angeschlossen.
Beide führten auch in den Zeiten ohne den anderen ein ausgefülltes Leben, in dem Langeweile keinen Platz hatte. Und trotzdem war jeder neue Abschied unerträglicher als der vorherige.
»Die Passagiere des Fluges 711 nach San Francisco werden gebeten, sich umgehend zu Gate 18 zu begeben«, ertönte eine blecherne Lautsprecherstimme.
»Ist das nicht dein Flug?« fragte sie und befreite sich widerwillig aus seiner Umarmung.
Er nickte. »Wolltest du mir etwas sagen?«
»Ja. Aber ich begleite dich bis zum Gate.« Sie nahm seine Hand, und zusammen schlenderten sie Richtung Abflugschalter. Dann brach es aus ihr heraus. »Ich weiß, Elliott, daß die Welt geradewegs auf eine Katastrophe zusteuert: der Kalte Krieg, die Kommunisten, die Atomwaffen…« Er sah sie an. Sie war so schön, wenn das Temperament mit ihr durchging, schön wie das Feuer, und ihr immer noch hörbarer südamerikanischer Akzent ließ ihn jedesmal schwach werden. »…der Abbau der natürlichen Ressourcen, ganz zu schweigen von der Umweltverschmutzung, der Zerstörung der Regenwälder und…«
»Ilena?«
»Ja?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich möchte, daß wir ein Baby machen…«
»Jetzt gleich, hier am Flughafen? Vor allen Leuten?« Das war alles, was ihm spontan als Antwort einfiel: ein Scherz, mit dem er seine Verblüffung überspielen wollte. Doch Ilena war nicht zum Scherzen aufgelegt.
»Ich meine es ernst, Elliott. Denk darüber nach.« Sie ließ seine Hand los, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging.
»Warte!« rief er ihr hinterher.
»Dies ist der letzte Aufruf für Doktor Elliott Cooper, gebucht nach San Francisco…«
»Verdammt!« entfuhr es ihm. Auf der Rolltreppe, die zum Boardingbereich führte, blickte er sich noch einmal um. Die Septembersonne tauchte die Halle in ein leuchtendes Gelb. Er hob die Hand, um Ilena zuzuwinken. Doch sie war bereits fort.
Es war dunkel, als die Maschine nach sechs Stunden Flug, um einundzwanzig Uhr Ortszeit in San Francisco landete.
Elliott war schon auf dem Weg zum Taxistand, überlegte es sich dann jedoch anders. Ihm knurrte der Magen. Ilenas Worte hatten ihn so durcheinandergebracht, daß er während des gesamten Fluges keinen Bissen herunterbekommen hatte. Und in seinem Kühlschrank herrschte gähnende Leere, wenn er sich recht erinnerte. Also machte er kehrt und ging zielstrebig in den zweiten Stock des Hauptgebäudes zum Golden Gate Café, das er von Besuchen mit seinem besten Freund Matt kannte. Er setzte sich an den Tresen und bestellte einen Salat, zwei Bagels und ein Glas Chardonnay. Müde rieb er sich die Augen. Schließlich bat er den Kellner um ein paar Münzen für die Telefonkabine.
Er wählte Ilenas Nummer, doch sie hob nicht ab. Es war bereits nach Mitternacht in Florida, Ilena mußte zu Hause sein, aber offenbar hatte sie keine Lust, mit ihm zu sprechen. Das war ja abzusehen, dachte Elliott. Dabei wußte sie doch: er wollte nun mal keine Kinder. Nicht, daß er sich seiner Gefühle für sie nicht sicher gewesen wäre, nein, er liebte Ilena von ganzem Herzen. Doch Liebe allein genügte nicht. Er war nicht bereit, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, schon gar nicht in einer Welt, die sich in eine völlig falsche Richtung entwickelte.
Zurück am Tresen, bestellte er einen Kaffee. Er war nervös, ließ seine Fingergelenke knacken und tastete nach seinen Zigaretten. Er konnte es einfach nicht lassen, er mußte sich eine anstecken. Seit Anfang der sechziger Jahre bereits war wissenschaftlich erwiesen, daß Nikotin süchtig machte, und als Arzt wußte Elliott natürlich nur zu gut, daß die Rate von Lungenkrebserkrankungen und Herzinfarkten bei Rauchern wesentlich höher lag als bei Nichtrauchern. Aber wie so viele Ärzte kümmerte er sich mehr um die Gesundheit anderer Menschen als um seine eigene. Außerdem bedeutete auch für ihn in seinem alltäglichen Streß das Rauchen ein wenig Glamour und Freiheit.
Bald höre ich auf, sagte er sich zum hundertsten Mal und blies Rauchkringel in die Luft, aber nicht heute abend. Zu einem solchen Kraftakt fühlte er sich im Augenblick nicht imstande.
Er ließ seinen Blick schweifen, und da sah er ihn: einen Mann in himmelblauem Pyjama, der neben dem Eingang des Cafés hinter der Glasfront stand und ihn zu beobachten schien. Elliott kniff die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können. Der Mann mußte um die Sechzig sein, sah für sein Alter ziemlich fit, fast drahtig aus und trug einen Drei-Tage-Bart, in den sich ein paar graue Stoppeln mischten. Sean Connery in dreißig Jahren, dachte Elliott und runzelte die Stirn. Was hatte dieser Typ, barfuß und im Pyjama, um diese Uhrzeit bloß am Flughafen verloren?
Es hätte Elliott egal sein können, doch wie ferngesteuert erhob er sich und durchquerte das Café Richtung Ausgang. Der Mann wirkte nicht nur wegen des Pyjamas vollkommen desorientiert, und mit jedem Schritt wurde Elliott unbehaglicher zumute. Wer war dieser Kerl? Ein Patient, der aus dem Krankenhaus oder einer Anstalt getürmt war? In dem Fall allerdings war es seine Pflicht als Arzt, einzugreifen. Nur noch drei Meter trennten ihn von dem Fremden, und mit einemmal begriff er, was ihn so verstörte: Dieser Mann sah seinem Vater, der vor fünf Jahren an Magenkrebs gestorben war, zum Verwechseln ähnlich. Bestürzt trat Elliott näher. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend: dieselbe Gesichtsform, dieselben Grübchen– beides hatte Elliott von ihm geerbt.
Und wenn er es tatsächlich wäre?
Unsinn! Am besten ging er wieder zurück an den Tresen. Sein Vater war tot, er war selbst dabeigewesen, als sie ihn in den Sarg gelegt und dann eingeäschert hatten.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte er widerstrebend.
Der Mann im Pyjama wich unwillkürlich zurück.
»Kann ich Ihnen helfen?« wiederholte Elliott.
»Elliott…«, stammelte der andere nur.
Woher kannte der Typ seinen Namen? Und diese Stimme…
Das Verhältnis zwischen Elliott und seinem Vater war nie besonders innig gewesen, und selbst diese Feststellung war noch übertrieben. Doch der Vater war tot, und manchmal bedauerte sein Sohn, sich nicht mehr Mühe gegeben zu haben, ihn zu verstehen.
»Papa?« fragte Elliott mit erstickter Stimme, wobei er sich der Absurdität seiner Frage bewußt war.
»Nein, Elliott, ich bin nicht dein Vater.«
Merkwürdigerweise beruhigte diese sehr klare und sachliche Auskunft Elliott keineswegs, er ahnte, daß ihn noch eine Überraschung erwartete. »Wer sind Sie dann?«
Der Mann zögerte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ein irgendwie vertrauter Glanz schimmerte in seinen Augen. »Ich… Elliott, ich bin du… in dreißig Jahren.«
»Ich in dreißig Jahren?« stammelte Elliott. »Was soll das heißen?«
Der Mann wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als ihm plötzlich Blut aus der Nase strömte.
»Legen Sie Ihren Kopf in den Nacken!« befahl Elliott und zog sein Taschentuch hervor, das er dem unheimlichen Fremden auf die Nase drückte. »Das hört gleich wieder auf«, beruhigte er den Mann. Einen Augenblick lang ärgerte er sich, daß er seinen Arztkoffer nicht bei sich hatte, aber die Blutung war glücklicherweise bald gestillt. »Kommen Sie, Sie sollten sich das Gesicht mit etwas kaltem Wasser abwaschen.«
Der Unbekannte folgte ihm ohne viel Aufhebens. Als sie jedoch bei den Toiletten ankamen, fing er an zu zittern wie in einem epileptischen Anfall. Elliott wollte ihm helfen, doch der Mann wies ihn heftig von sich.
»Laß mich in Ruhe!« sagte er und verschwand hinter der Tür.
Elliott beschloß zu warten. Wider Willen fühlte er sich für den Fremden verantwortlich, der entgegen dem ersten Eindruck in nicht allzu guter körperlicher Verfassung schien.
Nach einer Weile wurde ihm das Warten zu lang. Er gab sich einen Ruck und stieß die Tür zu den Toiletten auf.
»Hallo?« rief er laut in den Gang vor den Kabinen. Niemand antwortete, niemand war zu sehen. Der Raum hatte weder Fenster noch Notausgang. »Hallo, sind Sie hier irgendwo?« Wieder keine Antwort. Aus Angst, der Mann könnte bewußtlos geworden sein, sah Elliott in jede einzelne Kabine– keine Menschenseele weit und breit. Er blickte zur Decke hoch, nichts zu sehen.
2
Die Zukunft interessiert mich: Ich habe die Absicht, dort meine nächsten Jahre zu verbringen.
Woody Allen
San Francisco, September 2006
Elliott riß die Augen auf. Er lag quer in seinem Bett. Sein Herz pochte wild, er war schweißgebadet. So ein verdammter Alptraum! Normalerweise erinnerte er sich nie an seine Träume, und nun passierte ihm das ausgerechnet mit einem der vollkommen skurrilen Art: Im Flughafen von San Francisco war ihm plötzlich sein Doppelgänger über den Weg gelaufen– ein deutlich jüngerer Doppelgänger, der ebenso erstaunt gewirkt hatte wie er selbst. Die Begegnung erschien ihm auch jetzt, wo er wieder wach war, noch so real, als hätte er tatsächlich eine Zeitreise dreißig Jahre zurück in die Vergangenheit unternommen.
Er betätigte den Schalter, der dafür sorgte, daß sich surrend die Rollos hoben und den Tag ins Zimmer ließen. Im hereinflutenden Licht des ersten Morgens streifte sein Blick den Flakon mit den kleinen goldenen Pillen auf dem Nachttisch. Besorgt griff er danach, öffnete das Fläschchen, schüttete die schimmernden Kugeln auf seine Handfläche und zählte: neun Stück. Ja, am Abend zuvor hatte er aus Neugier ein Kügelchen geschluckt– konnte das wirklich die Ursache für seinen mysteriösen Traum gewesen sein? Der alte Kambodschaner hatte sich nur sehr vage zu dem Wirkstoff der Pillen geäußert, hatte ihm nur eindringlich und mit einer gewissen Feierlichkeit empfohlen, »sie niemals ihrem Zweck zu entfremden«. Reichlich mitgenommen stand Elliott auf und trat an die Glasfront vor der Terrasse. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Yachthafen, das Meer, die Insel Alcatraz und die Golden Gate Bridge. Die aufgehende Sonne warf ein tiefrotes Licht über die Stadt, das mit jeder Minute seinen Farbton um eine Nuance veränderte. Auf der offenen See kreuzten Segelboote und Fährschiffe, man hörte das Tuten der Nebelhörner, wo noch ein letzter Dunstschleier über dem Wasser lag, und trotz der frühen Stunde sah man schon einige Jogger an der Marina Green entlanglaufen.
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