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Jeder Topf findet seinen Deckel. Angeblich. Was aber ist, wenn man kein gewöhnlicher Topf, sondern eher eine Bratpfanne ist? Tobias ist mit seinem Comedy-Podcast Tobis Kämmerlein mehr als erfolgreich, doch zur Überraschung seines Managements sträubt er sich vehement gegen ein Bühnenprogramm, obwohl dies ein Sprungbrett für seine Karriere sein könnte. Aus diesem Grund setzt seine Agentur ihren neuen Mitarbeiter Luíz auf Tobias an, um ihn umzustimmen. Während Luíz alle Register zieht und sich auf Anhieb gut mit Tobias versteht, findet er schon bald heraus, warum dieser einen Live-Auftritt ablehnt: Tobias hat das Asperger-Syndrom. Auch wenn ein Bühnenprogramm in weite Ferne gerückt ist, arbeiten die beiden weiter zusammen – und schon bald fliegen die Funken. Aber hat ihre Liebe trotz all ihrer Unterschiede eine Zukunft?
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Seitenzahl: 401
Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2020
© 2020 by Bianca Nias
Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
Druckerei: CPI Deutschland
Lektorat: Jannika Waitl
ISBN-13: 978-3-95823-847-3
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Klappentext:
Jeder Topf findet seinen Deckel. Angeblich. Was aber ist, wenn man kein gewöhnlicher Topf, sondern eher eine Bratpfanne ist?
Tobias ist mit seinem Comedy-Podcast Tobis Kämmerlein mehr als erfolgreich, doch zur Überraschung seines Managements sträubt er sich vehement gegen ein Bühnenprogramm, obwohl dies ein Sprungbrett für seine Karriere sein könnte. Aus diesem Grund setzt seine Agentur ihren neuen Mitarbeiter Luíz auf Tobias an, um ihn umzustimmen.
Während Luíz alle Register zieht und sich auf Anhieb gut mit Tobias versteht, findet er schon bald heraus, warum dieser einen Live-Auftritt ablehnt: Tobias hat das Asperger-Syndrom.
Auch wenn ein Bühnenprogramm in weite Ferne gerückt ist, arbeiten die beiden weiter zusammen – und schon bald fliegen die Funken. Aber hat ihre Liebe trotz all ihrer Unterschiede eine Zukunft?
Tobias
»Nein, nein, nein und nochmals nein.«
Ich schüttele den Kopf, obwohl Irina das am anderen Ende der Leitung nicht mitbekommen kann.
»Mensch, Tobias, jetzt stell dich doch nicht so an! Das ist deine große Chance!« Meine Agentin hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen und aus ihren Worten schließe ich, dass sie total genervt ist. Unvermittelt sehe ich sie vor mir, wie sie ungeduldig mit dem Handy am Ohr im Raum umherwandert und die Augen verdreht.
»Vergiss es. Ich brauche keine große Bühne«, halte ich erneut dagegen und versuche, mich entschlossen und unerbittlich zu geben. »Meine Fans lieben den Podcast. Ich habe jede Woche einen festen Stamm an Zuhörern, ständig kommen welche dazu. Warum soll ich also plötzlich irgendwo live auftreten?«
»Weil das der vollkommen logische, nächste Schritt ist!«, platzt Irina heraus.
»Ach.« Ich schnaube abwehrend. Dieselbe Diskussion haben wir in den vergangenen Wochen oft geführt, daher ahne ich, welche Argumente sie gleich vorbringen wird.
»Der Podcast ist ein einseitiges Medium, ohne direkte Interaktion mit den Zuhörern. Auf der Bühne hast du ganz andere Möglichkeiten«, mahnt sie auch sogleich. »Das kann dich ganz weit nach vorne bringen!«
»Brauch ich nicht. Will ich nicht.« Ich erwische mich dabei, wie ich mit dem Zeigefinger unsichtbare Kreise auf der Fensterbank male. Oh Mann, dabei hinterlasse ich Fingerabdrücke auf dem blankpolierten Marmor. Schnell greife ich zu dem nebelfeuchten Mikrofasertuch, mit dem ich gerade Staub gewischt habe, bis mich Irinas Anruf jäh unterbrochen hatte. Mein Blick fällt aus dem Fenster auf die regennasse Straße. Verdammt, bei dem Mistwetter brauche ich keine Fenster putzen, wie ich es eigentlich vorgehabt habe. Dabei ist heute Samstag! Den Tag reserviere ich mir immer zum Einkaufen und Putzen, damit ich sonntags für den Podcast den Kopf frei habe.
»Dein Bekanntheitsgrad steigt ständig und die Stadthalle wäre ruckzuck ausverkauft, wenn wir dich mit einem Bühnenprogramm ankündigen würden.« Mit einem Mal schlägt Irina einen völlig anderen Tonfall an, den ich zwar bemerke, aber nicht deuten kann. »Tobi, du bist der neue Stern am Comedyhimmel! Du könntest ganz groß rauskommen, verschwendest aber dein Talent, indem du bloß einen Podcast in deinem stillen Kämmerlein produzierst.«
Ich massiere mir mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel, weil sich schlagartig ein stechender Schmerz hinter meiner Stirn ausbreitet. Der Gedanke, auf einer Bühne zu stehen, behagt mir ganz und gar nicht.
»Ich denke nicht, dass ich mein Talent verschwende, indem ich das mache, worin ich gut bin«, erwidere ich lahm.
»Quatsch nicht!« Meine Agentin schnaubt. »Du hast mehr als zwanzigtausend Follower auf allen Kanälen! Wenn du mich meinen Job richtig machen lassen und mich nicht immer bremsen würdest, hätten wir die Hunderttausend schon längst geknackt.«
Oh Mann, sie versteht mich einfach nicht! Manchmal weiß ich nicht, warum ich überhaupt ihre Agentur mit meinem Management beauftragt habe. Eigentlich habe ich gedacht, dass sie mir dann alles Unangenehme vom Hals hält, nicht, dass sie mich fortlaufend zu etwas drängt, das ich auf keinen Fall will.
»Keine Bühne«, wiederhole ich trotzig. »Ich trete nicht vor Zuschauern auf, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Und dabei bleibt es.«
Sie seufzt lediglich in den Telefonhörer, erwidert aber nichts darauf. Sekundenlang schweigen wir uns an, was mit der Zeit richtig unangenehm wird. Mehrmals bin ich versucht, mich für meine ablehnende Haltung zu entschuldigen, doch ich fürchte, dass ich Irina damit ein falsches Signal sende und sie dann noch drängender wird.
»Treffen wir uns morgen auf eine Tasse Kaffee?«, fragt sie mich plötzlich und wechselt aus heiterem Himmel das Thema. »Ich kenne ein total gemütliches Café, das direkt bei dir um die Ecke aufgemacht hat.«
»Äh…« Blitzschnell gehe ich in Gedanken die Top Five meiner Standardausreden durch, doch keine will so recht passen. »Ich trinke weder Kaffee noch Tee.«
»Die haben dort auch ein Glas Wasser für dich«, kontert sie. »Morgen Nachmittag um fünfzehn Uhr? Also nachdem du die neue Folge aufgenommen hast.«
»Da habe ich schon etwas vor.« Ich winde mich wie ein Aal in einer heißen Bratpfanne.
»So? Was denn?«, hakt Irina unerbittlich nach.
Verdammt! Verzweifelt drehe ich dem Fenster den Rücken zu und sehe mich auf der Suche nach einer spontanen Eingebung in meinem Wohnzimmer um. Auf dem höchsten Brett ihres Kratzbaumes sitzt Duchesse und schaut mich aus ihren grünen Augen durchdringend an, ohne sich zu bewegen. Mit ihrem schwarzen Fell ähnelt sie einem Panther, der auf seine Beute lauert. Manchmal ist sie mir echt unheimlich, vor allem, wenn sie mich so anstarrt wie jetzt. Sie sieht nicht nur aus, als würde sie jedes Wort verstehen, in ihrem Blick glaube ich auch, pure Verachtung zu erkennen. Entweder ist sie sauer auf mich, weil ich es gewagt habe, ihrer Durchlaucht heute Mittag Lachsterrine anstelle von Hühnchen in Gelee zu servieren – oder auch, weil ich mich total dilettantisch verhalte und nicht einmal eine simple Notlüge zustande bekomme, um mich vor einem Treffen mit meiner Agentin zu drücken.
»Ich muss mit meiner Katze zum Tierarzt«, platzt es spontan aus mir heraus.
»Zum Tierarzt. Mit der Katze. An einem Sonntag?«, fragt Irina nach.
Schlagartig steigt Hitze in mir hoch und ich spüre, wie sich Schweißtropfen auf meiner Stirn bilden. Oh Mann, ist das anstrengend, zu lügen. Los, mach schon Tobi, du kannst das!
»Äh… das ist eine Privatsprechstunde. In der Tierklinik. Schweineteuer, aber man muss nicht so lange warten.« Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Notfälle natürlich auch sonntags dort behandelt werden. Also stimmt das zumindest halbwegs.
»Nun gut. Echt schade, aber dann verschieben wir das mit dem Kaffee«, gibt meine Agentin endlich nach.
»Ja, das wäre besser.«
»Tschüss, Tobias. Ich rufe dich nächste Woche noch mal an«, verabschiedet sie sich.
»Ja, tschüss.«
Hastig drücke ich das Gespräch weg, bringe das Mobilteil zurück auf die Ladestation im Flur und atme erleichtert auf. Puh, das ist gerade noch glimpflich ausgegangen. Trotzdem nagt das schlechte Gewissen an mir, weil ich Irina dermaßen plump angelogen habe. Ich mache mir nichts vor, natürlich hat sie das bemerkt.
Während ich die restlichen Möbel im Wohnzimmer abstaube, lasse ich das Telefongespräch mit meiner Agentin nochmals Revue passieren. Es ist ja nicht das erste Mal gewesen, dass sie mir den Vorschlag unterbreitet hat, ein Bühnenprogramm zu entwerfen und mich dadurch bekannter zu machen. Gegen Letzteres habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil. Es ist faszinierend, nach jeder Podcastfolge die Reaktionen der Zuhörer auf meinem Instagram-Account zu lesen und herauszufinden, welche Gags besonders gut angekommen sind und welche überhaupt nicht verstanden wurden. Daraus ziehe ich immer wieder Ideen, was ich besser machen kann, und bekomme Inspiration für die nächste Folge.
Aber vor echten, lebenden und atmenden Menschen zu stehen? Die mich dabei auch noch ansehen? Du liebe Güte, das bekomme ich einfach nicht hin.
Ich bringe das Staubtuch ins Badezimmer, wo es zusammen mit anderen Putzlappen in die Waschmaschine wandert. Die Maschine werde ich jedoch erst dann anstellen, wenn ich vom Einkaufen zurück bin. Nicht auszudenken, wenn sie auslaufen würde, wenn ich nicht zu Hause bin. Aus Gewohnheit überprüfe ich, ob der Wasserzulauf der Waschmaschine zugedreht ist, damit auch wirklich nichts passieren kann, solange ich weg bin.
Wie spät ist es eigentlich? Das Gespräch mit Irina hat etwa fünfzehn Minuten gedauert, also muss es gegen sechzehn Uhr sein.
Ich stöhne unterdrückt. Dieses blöde Telefonat bringt meinen ganzen Tagesablauf durcheinander!
Normalerweise bin ich jetzt schon beim Supermarkt in der Dachsteinstraße angekommen. Für den Einkauf brauche ich zehn Minuten, dann wieder fünfzehn Minuten für den Rückweg. Es sei denn, ich würde den Bus nehmen und mir einen Teil des Fußweges, also etwa zehn Minuten Zeit sparen. Damit wäre ich zwar schneller, aber… nein, auf gar keinen Fall.
Busfahren bedeutet, auf engstem Raum mit jeder Menge wildfremder Leute zusammengepfercht zu sein, die alle unterschiedlich riechen. Die wenigsten davon duften angenehm. Meine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel stammt noch aus meiner Schulzeit, in der mir nichts anderes übrig geblieben war, als den Schulbus zu nehmen. Damals habe ich das schon kaum ertragen und mir ist regelmäßig auf der kurzen Fahrt schlecht geworden. Den absoluten Supergau habe ich immer dann erlebt, wenn die anderen Kinder ihr Frühstück im Bus ausgepackt haben und sich zu ihrem Geruch auch noch der von Schinkenbroten und Bananen gesellt hatte. Seit dieser Zeit hasse ich vor allem Bananen wie die Pest.
Ich grummele ungehalten und gehe in den Flur, um mir Jacke und Schuhe anzuziehen. Nein, ich laufe lieber. Automatisch tasten meine Hände nacheinander sämtliche Jackentaschen ab und ich vergewissere mich, dass ich alles einstecken habe, bevor ich die Wohnung verlasse.
Handy, Brieftasche, Schlüssel, Tragetasche. Ich habe alles, was ich brauche, dennoch fühlt es sich an, als hätte ich etwas vergessen. Ungehalten runzele ich die Stirn. Seitdem ich anstelle eines handgeschriebenen Zettels eine App nutze, hat sich mein Ritual geändert, das ich sonst immer vorm Einkaufen durchgegangen bin. Die Einkaufsliste aus der Küche zu holen und einzustecken, ist weggefallen. In den ersten beiden Wochen hat mich das dermaßen irritiert, dass ich schon überlegt habe, die App wieder zu deinstallieren und die benötigten Sachen wie zuvor auf ein Blatt Papier zu schreiben. Letztendlich habe ich mich dagegen entschieden, nachdem ich das Pro und Contra gegeneinander abgewogen habe. Ich mag die App. Sie ist an meine liebste Rezepte-Webseite gekoppelt, bei der ich freitags aussuche, was ich die Woche über kochen will, und anschließend die Zutaten bedarfsgerecht einkaufe.
Handy, Brieftasche, Schlüssel, Tragetasche. Ich gehe erneut die vier benötigten Dinge durch, um mich wieder auf mein eigentliches Vorhaben zu fokussieren, dann verlasse ich schnell die Wohnung. Manchmal lässt sich das ungute Gefühl, etwas vergessen zu haben, einfach übergehen, indem man sich auf den nächsten Schritt konzentriert.
Der Regen hat zum Glück etwas nachgelassen, obwohl der Himmel noch recht bedrohlich aussieht. Ich beschleunige meine Schritte, bis ich nahezu renne. An der Straßenecke kann ich einen Zusammenstoß mit einer alten, etwas gebückt gehenden Frau und ihrem Hund gerade noch vermeiden, indem ich schnell nach links ausweiche und dabei ein höfliches »Tschuldigung« murmele.
Es ist Frau Schultz, die unter mir im Erdgeschoss wohnt und ihre asthmatische Bulldogge Bruno ausführt. Der kugelrunde Hund hebt den Kopf und will mich wohl brüskiert anknurren, doch für mich hört sich das eher an, als hätte sich ein Erdferkel verschluckt und müsse sich räuspern.
Frau Schultz zieht das keuchende Minimonster mit der Leine zu sich und beugt sich zu ihm hinunter. »Brunilein, sei lieb. Das ist doch der Tobias, den kennst du doch!«, ermahnt sie den Hund in einem säuselnden Singsang.
»Hallo, Frau Schultz!«, stoße ich hastig hervor und mache einen Bogen um die alte Dame.
»Die jungen Männer haben es heutzutage immer so eilig«, erklärt Frau Schultz ihrem kleinen Liebling und erwidert meinen Gruß nebenbei mit einem hoheitsvollen Nicken.
Ich belasse es bei einem belustigten Schnauben und gehe einfach weiter. Junger Mann? Ich gehe schnurstracks auf die dreißig zu, ganz so jung bin ich also nicht mehr. Aus der Sicht meiner Nachbarin wird jedoch jeder als junger Mann betitelt, der noch keine siebzig ist.
Das Zeitgefühl scheint sich mit jedem dazukommenden Lebensjahr zu verändern und nach ganz eigenen Regeln abzulaufen. Wie sonst schaffen es die Rentner mit absolut zuverlässiger Genauigkeit, immer dann einkaufen zu gehen und an der Kasse vor einem zu stehen, wenn man es eilig hat?
Diese weltbewegende Frage muss ich irgendwann mal in meinen Podcast einfließen lassen.
Luíz
Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl herum, dessen Sitzfläche ziemlich hart, zudem viel zu kurz geraten und damit total unbequem ist. In Gedanken verfluche ich mich dafür, heute Morgen ausgerechnet den blauen Einreiher angezogen zu haben. Der sieht zwar toll aus, aber der Stoff meiner Anzughose ist so glatt, dass ich ständig befürchte, gleich von diesem blöden Sitzmöbel zu flutschen wie ein Stück Butter von einer heißen Pellkartoffel.
Das Teil aus glänzend rotem Plastik hat eine merkwürdige Form, die mich an ein umgekipptes P erinnert. Ich habe keine Ahnung von solchen Designerstücken, aber es stammt bestimmt nicht aus einem normalen Möbelhaus, sondern eher aus einer Kunstgalerie. Wie alles in diesem Büro. Die Einrichtung ist hypermodern, war garantiert teuer und soll wohl jedem Besucher vermitteln, dass er es hier mit einem finanzstarken Unternehmen zu tun hat, bei dem man froh sein muss, überhaupt als Kunde angenommen zu werden. Irina Rahlbach legt als Leiterin von Irkko, der Agentur für Künstler- und Konzertmanagement, anscheinend mehr Wert auf einen solchen suggestiven Eindruck denn auf Gemütlichkeit.
Ich sitze erst zum zweiten Mal hier auf diesem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, doch ich fühle mich genauso unwohl wie bei meinem Einstellungsgespräch in der letzten Woche. Hoffentlich gewöhne ich mich noch an das Ambiente, schließlich war es mein absoluter Wunschtraum, hier zu arbeiten. Nicht nur das Gehalt ist fantastisch, sondern auch der Ruf, den die Agentur genießt, weil sie jede Menge namhafter Künstler betreut. Gefragte Models und Filmstars, die teilweise den Sprung über den Teich geschafft haben, oder auch bekannte Bands, deren Konzerte regelmäßig ausverkauft sind. Hier werde ich es mit vielen Stars und Sternchen zu tun bekommen und ich kann es kaum erwarten, mit der Arbeit endlich richtig loszulegen.
Frau Rahlbach hat allerdings schon seit mehreren Minuten einen Kunden am Apparat, den sie regelrecht umgarnt, einem Bühnenprogramm zuzustimmen. Da sie ihn mit Tobias anredet und die Rede von einem Podcast ist, weiß ich sofort, mit wem sie gerade spricht. Schließlich bin ich ein Profi. Es kann sich bei ihrem Gesprächspartner nur um Tobias Kämmerer handeln, der den Podcast Tobis Kämmerlein produziert. Warum sie mich vorhin zu sich gerufen hatte, noch bevor sie das Telefonat begonnen hat, weiß ich nicht, aber ich werde es bestimmt bald erfahren.
Kämmerer ist ein absolut begnadeter Comedian, der mit viel Witz und einer guten Portion Ironie das Weltgeschehen auseinandernimmt und der Gesellschaft dabei einen Spiegel vorhält. Beim Zuhören wird man nicht nur von seiner warmen, unwahrscheinlich sexy klingenden Stimme eingenommen, sondern muss auch ihm und seinen geistreichen Gedankengängen überwiegend zustimmen. Ich würde nicht so weit gehen, mich als Fan von Tobis Kämmerlein zu bezeichnen, aber die Art, wie sein Macher dieses Medium nutzt und ihm seinen eigenen Stempel aufgedrückt hat, ist wirklich außergewöhnlich.
Meine Chefin beendet nun das Gespräch und wirft ihr Handy anschließend mit einem wütenden Schnauben auf den Schreibtisch. »Gottverdammte Scheiße!«, flucht sie wenig damenhaft. »Der Kerl raubt mir noch den letzten Nerv!«
Sie steht von ihrem Chefsessel auf und wandert zum großen Panoramafenster hinüber, aus dem man einen beeindruckenden Blick über die Skyline der Innenstadt hat. Dabei wendet sie mir den Rücken zu und beachtet mich überhaupt nicht mehr, als hätte sie meine Anwesenheit völlig ausgeblendet.
»Was halten Sie von ihm?«, fragt sie jedoch so plötzlich, dass ich mich unwillkürlich im Raum umsehe, um festzustellen, ob sie tatsächlich mich meint oder mit jemand anderem spricht.
»Äh… von Tobias Kämmerer?« Verblüfft drehe ich mich in ihre Richtung und muss sofort wieder mit dem Gleichgewicht kämpfen, um nicht von diesem verflixten Stuhl zu fallen.
»Ja.« Sie seufzt vernehmlich und verschränkt die Arme vor der Brust, während sie weiterhin aus dem Fenster schaut.
Ich räuspere mich verhalten. »Nun ja, er ist…«
»… als Kunde eine absolute Vollkatastrophe«, fällt mir Frau Rahlbach ins Wort. Ihre Stimme klingt dabei reichlich frustriert. Nun aber dreht sie sich wieder zu mir um und winkt energisch ab. »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee? Espresso?«
Ihrem plötzlichen Themenwechsel kann ich nicht ganz folgen, schüttele aber abwehrend den Kopf.
»Nein, danke.«
»Ich brauche jetzt aber was.« Sie setzt sich wieder hinter ihren Schreibtisch, greift zum Telefonhörer und drückt eine Taste. »Merle, bringen Sie mir bitte einen doppelten Espresso und einen Cognac. Oder… ach, nein, eher andersherum. Einen Espresso und einen doppelten Cognac.«
Ich kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Meine neue Chefin, die ich als äußerst kompetent und energisch kennengelernt habe, ist anscheinend vollkommen durch den Wind.
Die Tür zum Büro öffnet sich und Frau Rahlbachs Vorzimmerdame, Merle Zimmermann, kommt herein. Ihre mörderisch hohen Absätze versinken im dicken Teppich, mit dem das Büro ausgelegt ist. Zudem trägt sie einen knallengen Bleistiftrock, mit dem sie kaum einen Schritt vernünftig laufen kann. Sorgenvoll beobachte ich sie aus den Augenwinkeln, während sie uns entgegentippelt und das Tablett mit dem gewünschten Cognacschwenker und dem Kaffeetässchen zum Schreibtisch balanciert. Da der cremefarbene Teppichboden keinerlei Flecken aufweist, scheint sie diesen Balanceakt zu beherrschen, sonst sähe es hier ganz anders aus.
Ehrlich, ich werde nie verstehen, warum sich manche Frauen so ein Outfit überhaupt antun. Merle ist eine sehr hübsche Frau, sie hätte es nicht nötig, sich derart aufzudonnern und auch noch pfundweise Make-up aufzutragen.
Trotz der schwierigen Aufgabe, das Tablett unfallfrei über den Teppich zu jonglieren, lächelt mir Merle zu und schenkt mir einen koketten Augenaufschlag. Ich presse die Lippen aufeinander, schaue runter auf mich und wische nebenbei einen Fussel von meinem Knie.
Herrgott, vom ersten Tag an hat Merle mir schöne Augen gemacht, wie man so schön sagt. Dass ich dagegen immun bin, ist ihr sicherlich nicht aufgefallen, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, das klarzustellen. Als schwuler Mann hat man es in der Arbeitswelt nun mal nicht leicht, egal, in welchem Job man arbeitet. Zunächst muss man beweisen, was man draufhat, bevor an ein Outing überhaupt zu denken ist. Die Erfahrung habe ich zumindest beim ersten meiner bisherigen Arbeitgeber machen dürfen, danach bin ich vorsichtiger geworden.
»Danke, Merle«, sagt Frau Rahlbach.
Ich schaue wieder auf – und meiner Chefin genau in die Augen. Erst jetzt merke ich, dass sie mich die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet haben muss. Ihr Gesichtsausdruck wirkt seltsamerweise triumphierend, was ich gerade nicht richtig einordnen kann. Trotzdem wartet sie, bis Merle das Tablett abgestellt und den Raum wieder verlassen hat.
Frau Rahlbach greift nach der Espressotasse und nippt genüsslich daran. »Nun, Herr da Silva«, beginnt sie dann sachlich. »Ich denke, Sie haben meine Agentur, das Team und unsere Arbeitsweise in der letzten Woche bereits ein wenig kennenlernen dürfen.«
Ich nicke knapp, obwohl es keine Frage war.
»Bestimmt haben Sie dabei festgestellt, dass wir um einen sehr engen, freundschaftlichen und auch vertrauten Kontakt zu den Künstlern bemüht sind«, fährt sie fort.
»Ja, das habe ich tatsächlich gleich zu Beginn gemerkt«, räume ich ein.
Neben mir sind vierzehn weitere Mitarbeiter dafür zuständig, nicht nur die Verträge auszuhandeln, Termine zu organisieren und alles rund um die Events zu planen, sondern auch deren Durchführung zu begleiten und sicherzustellen, dass es den Künstlern und Schauspielern auf Konzerten, Tourneen, Modenschauen oder bei Dreharbeiten an nichts fehlt. Genau so, wie ich mir die Arbeit bei einer solch großen und bedeutenden Künstleragentur immer schon vorgestellt habe.
»Normalerweise sind meine Klienten dankbar, dass wir nicht nur die Verhandlungen mit den Auftraggebern und Vertragspartnern führen und damit ihre Karriere in Schwung bringen, sondern sie auch bei ihren Auftritten begleiten und uns um alles kümmern«, fährt sie ernst fort. »Alle – bis auf Tobias Kämmerer.«
Ich hebe fragend eine Augenbraue. Frau Rahlbach scheint langsam auf den Punkt zu kommen und ich ahne, dass mir nicht unbedingt gefallen wird, was als Nächstes kommt.
»Was wissen Sie von Kämmerer?«, fragt sie nun.
Verhalten zucke ich mit den Schultern. »Ich kenne seinen Podcast, weiß allerdings nicht, was er davor schon alles getan oder veröffentlicht hat. Seine wöchentlichen Beiträge haben zu recht viele Fans, sie sind echt klasse. Außergewöhnlich scharfsinnig, witzig und unterhaltsam.«
Meine Chefin nickt bei jedem meiner Worte, macht dann aber eine abwehrende Handbewegung, die mich zum Verstummen bringt.
»Ja, ja, das ist genau das, was jeder Podcasthörer sagen würde. Was ich aber meinte, ist: Was können Sie mir über die Person Tobias Kämmerer erzählen?«
Ich runzele perplex die Stirn. Ist das eine Fangfrage? Oder testet Sie mein Wissen? Verdammter Mist, ich muss zugeben, dass ich über den Comedian rein gar nichts weiß. Ich habe nicht einmal ein Bild von ihm im Kopf.
»Genau das ist das Problem.« Frau Rahlbach hat mir leider sofort angesehen, dass ich keinen Plan habe. Sie lächelt jedoch entspannt, legt die Fingerspitzen aneinander und lehnt sich mir ein Stück entgegen. »Keine Sorge, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie diese Frage nicht beantworten können. Niemand weiß etwas über ihn. Weder wie er aussieht noch wie alt er ist, wo er zur Schule gegangen ist oder welches Auto er fährt. Nicht einmal, dass er hier in der Stadt wohnt.«
»Er hält sein Privatleben geheim?«, frage ich, obwohl die Antwort auf der Hand liegt. »Nun gut, das machen einige Promis. Die meisten wollen damit ihre Familie und ihre Kinder aus der Öffentlichkeit heraushalten, um sie zu schützen.«
»Richtig, das wäre ein Grund«, stimmt meine Chefin mir zu. »Doch keiner dieser Promis wehrt sich darüber hinaus so vehement gegen die Vorschläge seines Managements wie Tobi Kämmerer, wenn es um die Weiterentwicklung seiner Karriere geht. Und ich habe nicht einmal ansatzweise eine Ahnung, warum er das macht.«
Ich richte mich unwillkürlich auf dem unbequemen Designerstuhl auf und setze mich gerade hin. »Sie meinen, selbst Sie wissen nichts über ihn als Privatperson und seinen persönlichen Hintergrund?«
Frau Rahlbach nickt energisch.
»Gar nichts«, bestätigt sie und seufzt erneut. »Das macht es schwer, ihn einzuschätzen und herauszufinden, womit ich ihn locken kann. Er blockt rigoros alles ab, gleichgültig welche Ideen wir bisher für ihn ausgearbeitet haben. Zwar steigt sein Bekanntheitsgrad unaufhörlich, aber wenn wir ihn nicht bald mit einem Bühnenprogramm ankündigen, wird er irgendwann wieder in die Bedeutungslosigkeit abtauchen. Dabei kann ich mich vor lukrativen Anfragen für Interviews, Talkshows und sogar vor einigen TV-Produktionen kaum noch retten!« Sie ringt fassungslos die Hände.
Ich schlucke trocken und mir entfährt ein missmutiges Brummen. Dieser Tobi Kämmerer scheint ein komischer Vogel zu sein. Viele Künstler sind seltsame Typen und haben jede Menge merkwürdiger Macken. Vielleicht ist das so, wenn man eine kreative Ader hat. Normal und durchschnittlich sind jedenfalls die wenigsten von ihnen, das habe ich zu Beginn meiner Berufstätigkeit, also vor etwas mehr als acht Jahren, relativ schnell herausgefunden.
»Und genau dafür habe ich Sie eingestellt«, unterbricht Frau Rahlbach meine Gedankengänge.
»Äh… wofür genau?«, hake ich verblüfft nach.
»Für die Betreuung von Tobi Kämmerer.« Sie nickt selbstgefällig. »Ich wusste sofort, Sie sind der richtige Mann dafür, ihn aus seinem Kämmerlein heraus und auf eine große Bühne zu bringen.«
Ich kann gerade noch verhindern, ein frustriertes Stöhnen auszustoßen.
Oh Mann! Ich dachte, meine Qualifikationen wären gut genug, um endlich mit den Größen des Showbiz zusammenarbeiten zu können! Dabei spreche ich fünf Sprachen fließend, habe einen hervorragenden Abschluss an der Uni hingelegt und kann auf eine mehrjährige Erfahrung in einer mittelständigen Konzertagentur zurückgreifen. Jetzt gleich als Erstes mit einem Comedian arbeiten zu müssen, an den nicht einmal Irina Rahlbach mit ihrer jahrelangen Berufserfahrung herankommt, fühlt sich eher wie eine Bestrafung an.
»Sehen Sie es als Bewährungsprobe«, mahnt meine Chefin nun auch, die meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt haben muss. »Überzeugen Sie Kämmerer, ein Bühnenprogramm zu schreiben und es spätestens im Sommer in der Stadthalle aufzuführen. Wenn Sie das schaffen, verkürze ich nicht nur Ihre Probezeit, sondern lasse Sie danach an die richtig dicken Fische ran. Wie zum Beispiel an die Konzerttournee der Unborn Killers in den Staaten im kommenden Jahr.«
Sie zwinkert mir aufmunternd zu, währenddessen entwischt mir ein überraschtes Schnaufen. Die Unborn Killers? Oh fuck, die weltweit bekannte Metalband ist der Oberhammer! Die ist tatsächlich ein dicker Fisch. Ach, was! Die ist eher ein Walfisch!
»In Ordnung, abgemacht. Ein Bühnenprogramm in der Stadthalle von und mit Tobias Kämmerer.« Ich straffe mich, stehe auf und strecke Frau Rahlbach meine Hand entgegen. Sie erwidert meinen Handschlag fest.
Nun denn, die Herausforderung nehme ich an. Irgendetwas wird mir schon einfallen, wie ich an Kämmerer herankomme und ihn umstimme. Bisher habe ich noch jedes Problem mit viel Ruhe, guten Einfällen und dank meiner Überzeugungskraft lösen können.
Das wäre doch gelacht, wenn ich den Mann nicht dazu bringen könnte, seiner Karriere den richtigen Kick zu geben!
Tobias
Ich habe gerade die Einkäufe weggeräumt und die Waschmaschine angeworfen, als es an der Tür klingelt. Wohlgemerkt direkt an der Wohnungstür, nicht unten am Hauseingang. Irritiert schaue ich auf meine Armbanduhr. Es ist kurz vor siebzehn Uhr. Wer will denn an einem Samstagnachmittag um diese Uhrzeit noch etwas von mir? Das kann eigentlich nur Frau Schmittmann von gegenüber sein, die sich ein Ei oder eine Tasse Zucker borgen will. Die Frau ist schon weit über achtzig, backt aber noch jeden Samstag einen Kuchen, weil sonntagnachmittags ihre Familie zu Besuch kommt. Nur vergisst sie oft etwas beim Einkaufen, das sie sich dann bei mir borgt. Im Austausch dafür bringt sie mir immer ein Stück von ihrem leckeren Backwerk vorbei.
Natürlich schaue ich trotzdem durch den Türspion, die Klinke schon in der Hand, um zu öffnen – und halte abrupt inne. Es ist nicht Frau Schmittmann, sondern ein fremder Mann. Aufgrund der Fischaugenperspektive, die man beim Blick durch den kleinen Türspion hat, wirkt sein Kopf mit den dunklen Haaren total verzerrt, als wäre er so groß und rund wie ein Wasserball. Er ist allein, also kann das keiner der Zeugen Jehovas oder ein ähnlicher Klinkenputzer sein. Die kommen eher zu zweit.
»Ja, bitte?«, frage ich durch die geschlossene Tür hindurch.
»Hallo, mein Name ist Luíz da Silva von der Agentur Irkko«, antwortet der Mann höflich. »Herr Kämmerer, haben Sie einen Augenblick Zeit für ein Gespräch?«
Aha. Er kommt also von meiner Agentur. Von der kann kein irrer Fremder oder potenzieller Axtmörder etwas wissen, weil diese Information nicht auf meiner Webseite oder sonst irgendwo im Internet auftaucht. Trotzdem zögere ich. Bisher habe ich immer nur direkt mit Irina Rahlbach Kontakt gehabt. Obwohl, hatte sie nicht in einem unserer letzten Gespräche erwähnt, dass sie mir demnächst einen ihrer Mitarbeiter an die Seite stellen will? Das hätte ich zwar gerne abgelehnt, aber ich kann von Irina nicht verlangen, dass sie sich persönlich um mich kümmert. Als Chefin der Agentur hat sie bestimmt jede Menge anderer Dinge zu tun. Was will aber nun dieser Mitarbeiter von mir? Bestimmt dasselbe, was ich vorhin Irina auszureden versucht habe. Irgendwie muss ich den Kerl schnellstmöglich wieder loswerden.
Kurzentschlossen öffne ich die Tür – und schaue in die bemerkenswertesten Augen, die ich je gesehen habe. Wie erstarrt halte ich inne und kann den Blick nicht von ihnen abwenden.
Gütiger Himmel!
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, gleichzeitig bin ich wie gelähmt. Die eine Hälfte von mir analysiert sofort, ob es eher an ihrer schokoladenbraunen Farbe liegt, dass ich die Augen dieses Mannes so faszinierend finde, oder ob es die Form ist. Perfekt unperfekt, einzigartig und außergewöhnlich, weil sein rechtes Augenlid eine winzige Nuance tiefer hängt als das andere. In den Augenwinkeln haben sich einige gut aussehende Lachfältchen in die gebräunte Haut gegraben, die den Eindruck vermittelt, dass er sich häufig im Freien aufhält. Dagegen will die andere Hälfte meines Selbst nur noch einen schmachtenden Seufzer loslassen, den ich mühevoll unterdrücke.
»Hallo«, bringe ich mit brüchiger Stimme heraus und räuspere mich verhalten.
»Auch hallo.« Mein Gegenüber scheint zum Glück von meinem inneren Aufruhr nichts mitzubekommen.
Grundgütiger, der Typ hat eine Ausstrahlung, die mich einfach aus den Socken haut. Wie aus dem Nichts heraus zaubert er plötzlich eine Visitenkarte hervor und hält sie mir unter die Nase.
»Meine Karte«, sagt er und nickt mir aufmunternd zu, weil ich noch immer wie vom Donner gerührt hier stehe und mich nicht bewegen kann.
Eher reflexartig greife ich zu und nehme das Kärtchen entgegen. Luíz da Silva, Künstleragent, steht dort in klarer, schnörkelloser Schrift, darunter seine Kontaktdaten bei Irkko und eine Handynummer. Ich schlucke hart und räuspere mich erneut, doch mehr bekomme ich neben Atmen gerade nicht zustande.
»Darf ich reinkommen?«, fragt er nun und hebt eine seiner wohlgeformten Augenbrauen.
Herrje, ich stehe hier wie angewachsen und mache mich gerade voll zum Deppen! Bewusst langsam atme ich aus und reiße mich zusammen, um endlich gegen den Totalausfall meiner Muttersprache anzukommen. Statt einer Antwort wedele ich lediglich mit der Hand, in der ich noch seine Karte halte, mache aber gleichzeitig die Tür weit auf und trete einen Schritt zurück, um ihn einzulassen.
Irinas Mitarbeiter geht an mir vorbei, hält aber nach zwei Schritten wieder an und wartet höflich, bis ich die Wohnungstür geschlossen habe.
»Bitte.«
Ich deute auf das linkerhand liegende Wohnzimmer und Herr da Silva schenkt mir ein weiteres Lächeln, bevor er meiner Aufforderung nachkommt. Während ich ihm folge, betrachte ich seine Gestalt, die in einem makellosen, dunkelblauen Anzug steckt. Er ist etwa Mitte dreißig, damit vielleicht ein paar Jahre älter und auch ein gutes Stück größer als ich. An Letzteres bin ich allerdings gewöhnt. Bei meinen knapp einen Meter siebzig bekomme ich es überwiegend mit Männern zu tun, die mich locker überragen. Seine dunklen, fast schwarzen Haare trägt er kurz und das Jackett betont seine breiten Schultern.
Mein Blick wandert automatisch hinunter zu seinen Tretern. Meine Eltern führen ein Schuhgeschäft in der Innenstadt, in dem ich quasi zwischen Turnschuhen, Pumps und edlen italienischen Herrenschuhen aufgewachsen bin.
Schau dir immer zuerst die Schuhe eines Menschen an, hat mir meine Mutter eingeschärft. Mit derselben Wertschätzung, wie jemand sie behandelt, behandelt er auch dich.
Hm, er trägt klassische und damit zeitlose, cognacfarbene Derby-Schuhe, die nicht nur sorgfältig gepflegt sind, sondern auch perfekt zu dem Einreiher passen. Geschmack scheint er jedenfalls zu haben – oder eine Frau, die ihm morgens die Klamotten aussucht.
»Oh, Sie haben eine Katze!«, bemerkt er in diesem Moment und geht schnurstracks auf den Kratzbaum in der Ecke zu, auf dem Duchesse sitzt und wie gewohnt aus dem Fenster schaut.
»Nein, nicht...«
Ich will ihn noch zurückhalten, doch da streckt er bereits eine Hand nach meiner Katzendame aus und mir bleibt die Warnung im Hals stecken. Stumm kann ich nur zuschauen, wie er Duchesse zunächst an seinen Fingern riechen lässt und sie gleich darauf vorsichtig im Nacken krault. Und was macht das sonst so unnahbare Katzenvieh? Es kneift die grünen Augen zusammen, blinzelt – und schmiegt den Kopf in die Handfläche des völlig fremden Kerls!
Mir entkommt ein fassungsloses Ächzen. Das hat sie noch nie gemacht! Duchesse ist normalerweise keine Schmusekatze, selbst ich kann sie höchstens dann gefahrlos anfassen und ihr kurz den Kopf tätscheln, wenn sie es ausdrücklich einfordert und mir um die Beine streicht. Meistens schlägt sie sofort mit ausgefahrenen Krallen zu, wenn man sich ihr nähern will, und verschwindet dann erbost in ein anderes Zimmer.
Nun aber erklingt ein raues Schnurren, während sie ihren Kopf an der Hand reibt und es sich sichtlich angetan gefallen lässt.
»Du bist aber eine hübsche Maus«, schmeichelt mein Besucher leise und mit sanfter Stimme, dann dreht er sich mit einem strahlenden Lächeln zu mir um. »Ein Mädchen, nicht wahr? Wie heißt sie denn?«
»Duchesse«, antworte ich, noch immer reichlich perplex.
Oh Mann, der Typ streichelt meine Katze und mir stellen sich spontan die Nackenhaare auf, weil ich gerade das Bedürfnis verspüre, von ihm genauso gekonnt und hingebungsvoll gekrault zu werden. Ich schüttele den Kopf, um endlich wieder zur Vernunft zu kommen.
»Was kann ich für Sie tun?«, beginne ich, um wenigstens ein sachliches Gespräch zustande zu bekommen.
»Die Frage ist eher, was ich für Sie tun kann«, erwidert da Silva jedoch. Ungeniert schaut er sich in meinem Wohnzimmer um. »Nett haben Sie es hier.« Er deutet auf das Bücherregal, das die gesamte Wand gegenüber der Couch einnimmt. »Haben Sie etwa keinen Fernseher?«
»Nein.« Ich runzele missbilligend die Stirn. Was soll das hier werden? Wozu die Frage?
»Okay.« Da Silva zuckt mit den Schultern. »Da Sie mit Ihrem Podcast immer topaktuell sind, vermute ich, Sie beziehen Ihre Informationen aus dem Internet?«
»Unter anderem«, weiche ich aus, nicke aber dabei. Gut, so langsam finde ich mein durcheinandergeratenes Gleichgewicht wieder. »Warum sind Sie hier, Herr... da Silva?«
Betont reserviert schaue ich dabei nochmals auf die Visitenkarte in meiner Hand, als hätte ich seinen Namen schon wieder vergessen. Was ich natürlich nicht habe. Irgendwo zwischen meinen Ohren rollt sein wohlklingender Name hin und her, dreht sich im Kreis und will unbedingt von einem entzückten Seufzer kommentiert werden, den ich mir allerdings mühsam verkneife und ihn stattdessen schnell in ein Hüsteln umwandele.
»Um Sie kennenzulernen.« Er sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich unmöglich deuten kann. »Bitte, nennen Sie mich Luíz. Ich finde, das macht die Sache immer wesentlich angenehmer.«
Bloß nicht!, wehrt mein normales Ich auf der Stelle panisch ab. Wenn du dich darauf einlässt, bist du innerhalb der nächsten halben Stunde zu allem Überfluss auch noch per Du mit ihm!
Luuuíííízzzzz, schnurrt dagegen eine andere, reichlich sehnsuchtsvolle Stimme in mir, die total hingerissen ist und mir gleich darauf völlig unangemessene Bilder in den Kopf pflanzt. Mir wird schlagartig heiß und ich hoffe, dass ich nicht puterrot anlaufe.
Verdammt, der Name ist aber auch wie dafür gemacht, um ihn beim Sex zwischen einem Stöhnen und einem Seufzen zu zelebrieren, als Liebkosung und Aufforderung zugleich.
»Okay, Luíz. Wie ich heiße, wissen Sie ja«, höre ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sagen. Verlegen fuchtele ich mit der Linken in der Luft herum. »Möchten Sie sich nicht setzen?«
Meine anerzogene Höflichkeit siegt zu meinem Leidwesen über den Wunsch, den ungebetenen Gast schnellstmöglich wieder aus meiner Wohnung hinaus zu komplementieren.
»Ja, danke.« Er nickt, dreht sich um und lässt sich elegant auf der bequemen, mit hellblauem Stoff bezogenen Couchgarnitur nieder. Überraschenderweise maunzt Duchesse, hüpft postwendend vom Kratzbaum und folgt ihm. Mit einem Satz springt sie auf die Couch, setzt sich neben ihn und blinzelt ihm hoheitsvoll zu.
Ich sinke auf den Sessel, der mir am nächsten steht, springe aber gleich darauf wie von der Tarantel gestochen wieder auf.
»Äh... kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee?«, platzt es aus mir heraus.
Im nächsten Moment will ich mir schon mit der flachen Hand vor die Stirn schlagen. Verdammt, es ist fast schon Abend und damit sicherlich viel zu spät für eine Koffeinspritze, doch mein Besuch nickt sofort und lächelt erneut.
»Gerne. Ein Kaffee wäre nett.«
Ich drehe auf dem Absatz herum und flüchte in die gegenüberliegende Küche. Dort angekommen bleibe ich wie angewurzelt stehen und atme tief durch.
Mensch, Tobi, jetzt krieg dich wieder ein!
Ich stelle mich ja an, als hätte ich noch nie einen fremden Kerl in meiner Wohnung empfangen. Habe ich zwar auch schon lange nicht mehr, aber das muss ja niemand wissen. Großer Gott, ich bin völlig durcheinander und total überfordert. Das Einzige, was mir dagegen immer hilft, ist es, den nächsten Schritt anzugehen und vorübergehend alles andere auszublenden.
Also wackele ich mit noch immer verflucht weichen Knien zum Kaffeeautomaten hinüber, schalte ihn an und hole zwei Tassen mit den dazu passenden Untersetzern aus dem Schrank, während die Maschine das Wasser vorheizt.
»Oh, das habe ich jetzt nicht erwartet«, erklingt jedoch plötzlich eine Stimme hinter mir, während ich gerade zwei Kaffeelöffel aus der Besteckschublade fische.
Erschreckt wirbele ich herum, dabei flutscht mir eines der Löffelchen aus der Hand, fliegt zu Boden und hüpft scheppernd über die Fliesen.
»Was denn?«
Herrgott, ist das peinlich! Mit nun sicherlich hochrotem Kopf bücke ich mich, um den Löffel aufzuheben, doch Luíz ist schneller. Hastig zucke ich zurück, bevor ich ihn zufällig berühre. Nahezu synchron und im Zeitlupentempo richten wir uns wieder auf und Luíz reicht mir mit einem Grinsen den heruntergefallenen Löffel.
»Sorry, ich wollte dich... äh, ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigt er sich und deutet dann auf meine Küchenzeile. »Ich meinte übrigens die Einrichtung. Sehr... außergewöhnlich.«
Ich runzele irritiert die Stirn und lasse den Teelöffel in der Spülmaschine verschwinden, bevor ich einen neuen aus der Schublade hole und ihn sicherheitshalber sofort auf dem Unterteller platziere. Wieso außergewöhnlich? Wie hat er das jetzt gemeint? Ist das positiv oder negativ?
»Ich hab den amerikanischen Retro-Kühlschrank bei einem Preisausschreiben gewonnen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Küchenschränke, Herd und Spüle diesem Stil anzupassen«, erkläre ich meine seltsame Einrichtung und deute auf das bonbonrosafarbene Monstrum.
Ja, das Teil ist nicht nur riesig und hat eine sehr gewöhnungsbedürftige Farbe, man meint auch, es stamme direkt aus der Hello Kitty-Kollektion oder einem Barbie-Puppenhaus. Vielleicht ist es wie im Film von einer Geheimwaffe bestrahlt und hundertfach vergrößert worden, wer weiß. Trotzdem liebe ich den Kühlschrank heiß und innig, ich würde ihn nie wieder hergeben wollen.
Dass meine Mama die dazu passende Tapete mit den winzigen, grünen und rosafarbenen Blümchen ausgesucht hat, verschweige ich besser mal. Die Küchenschränke mit den eierschalenfarbenen Fronten und der altertümlich aussehende Gasherd, die alle zum Stil der Fünfzigerjahre gehören, sind schon ungewöhnlich genug.
Luíz
Ich finde es immer wieder faszinierend, die Leute zu treffen, die man sonst nur aus Film, Fernsehen oder von den großen Bühnenshows her kennt. Dabei bin ich von deren wahren Persönlichkeiten schon oft überrascht worden, sowohl angenehm als auch weniger angenehm – aber Tobias Kämmerer ist mit Abstand die bislang größte Überraschung.
Vielleicht, weil ich mangels eines offiziellen Fotos ein ganz anderes Bild von ihm im Kopf hatte. Unbewusst habe ich mir den Mann, dessen Stimme ich im Podcast als sehr angenehm und äußerst männlich empfunden habe, als zwei Meter großen, bärtigen und muskulösen Schrank vorgestellt. Umso erstaunter war ich, als Kämmerer die Tür geöffnet hat.
Er ist so klein!
Also, nicht gerade winzig oder zu klein für einen Mann. Er ist fast einen Kopf kürzer als ich und hat eine drahtige Figur, einen hellblonden Wuschelkopf, blaue Augen und ein paar Sommersprossen auf der zierlichen Nase. Von einem Bartwuchs ist auf seiner Haut mit dem ebenmäßigen, sehr blassen Teint nichts zu sehen. Hätte ich ihn nicht an seiner Stimme erkannt, wäre ich davon ausgegangen, vor dem Falschen zu stehen.
Im Augenblick macht er einen sehr reservierten und zurückhaltenden Eindruck auf mich, daher muss ich zusehen, wie ich am besten sein Vertrauen gewinnen kann.
»Keine Sorge, ich finde die Küche wirklich toll. Echt stylisch, so etwas sieht man heute nicht mehr oft«, versichere ich ihm wahrheitsgemäß. »Wollen wir den Kaffee nicht hier trinken?«
Tobias Kämmerer antwortet nicht, sondern stellt beide Tassen unter den Ausguss des Vollautomaten, drückt auf eines der Knöpfchen und das Gerät rasselt sofort laut los, um die Bohnen zu mahlen. Gleich darauf rinnt dampfend heißer Kaffee in die beiden Tassen und das Aroma breitet sich in der Küche aus.
Erst als die Maschine fertig ist und die letzten Tröpfchen in die Tassen fallen, schaut er wieder auf. Sein Blick wandert unschlüssig zwischen mir und dem kleinen Tisch, der zusammen mit zwei Stühlen am Fenster steht, hin und her.
»Ja, das können wir machen«, stimmt er zurückhaltend zu, nimmt die beiden Kaffeetassen und geht zum Tisch hinüber.
Während ich ihm folge, lasse ich erneut meinen Blick durch den Raum schweifen. Hier sieht es aus wie in einem Möbelhaus. Nicht wegen der ungewöhnlichen Kücheneinrichtung, sondern eher, weil nichts herumsteht oder -liegt. Keine privaten Dinge. Rein gar nichts. Alles ist aufgeräumt und so sauber, dass ich mich in den Hochglanzfronten der Schränke spiegeln und sicherlich auch problemlos vom gefliesten Boden essen könnte. Jetzt erst wird mir bewusst, dass dies in Flur und Wohnzimmer genauso war, auch da ist alles tadellos in Ordnung. Die vielen Bücher in dem Regal im Wohnzimmer sind sogar nach Farben und innerhalb diesen nach der Größe sortiert. Ob er die alle gelesen hat? Bestimmt, denn seinem Podcast merkt man an, dass er sehr gebildet ist.
Bei mir zu Hause sieht es dagegen ganz anders aus. Da liegt eben die Fernsehzeitung auf dem Wohnzimmertisch oder auch die Schlüssel auf der Kommode im Flur. Neben dieser stehen jede Menge Schuhe, die nicht mehr in den Schrank gepasst haben oder die ich oft und gerne anziehe. Auch in der Küche ist es nie dermaßen aufgeräumt, meistens steht irgendetwas auf der Spüle und die unerledigte Post liegt auf dem Küchentresen. Man wohnt schließlich in den eigenen vier Wänden, dementsprechend sollte es auch danach aussehen.
»Äh... möchten Sie Milch oder Zucker?«, fragt mich Kämmerer nun und reißt mich aus meiner stummen Betrachtung.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, danke. Ich trinke ihn schwarz.«
Wir setzen uns und ich probiere einen Schluck von dem dampfenden Gebräu, das eine perfekte, dicke Schicht Crema hat. Kämmerer dagegen lehnt sich in seinem Stuhl zurück und starrt stumm auf die Tasse vor ihm.
»Der ist echt gut«, lobe ich betont ungezwungen, suche dabei jedoch krampfhaft nach einem unverfänglichen Gesprächsbeginn.
Der Mann mir gegenüber nickt, schaut kurz zu mir auf und senkt dann jedoch sofort wieder den Blick, ohne zu antworten oder seinen eigenen Kaffee anzurühren. Zwischen uns breitet sich eine unangenehme Stille aus, die lediglich vom Ticken der altmodischen Uhr an der Wand unterbrochen wird.
Madre de Dios, ist das mühselig! Ehrlich, das habe ich nicht erwartet. Immerhin habe ich es hier mit einem Stand-up-Comedian zu tun. Sind das nicht für gewöhnlich total extrovertierte Typen, die einen Gag nach dem anderen heraushauen?
»Irina Rahlbach hat mich beauftragt, Ihr Management zu übernehmen«, beginne ich wohlüberlegt. »Ich mag übrigens Ihren Podcast, daher hat es mich gefreut, Sie zukünftig betreuen zu dürfen.«
Kämmerer verzieht für einen winzigen Moment den Mund, presst dann aber seine Lippen aufeinander und nickt lediglich knapp.
»Wie sind Sie überhaupt auf die Idee mit Tobis Kämmerlein gekommen?«, frage ich, um überhaupt irgendeine Reaktion zu provozieren.
»So nebenbei.« Er zuckt verhalten die Schultern.
»Neben Ihrer anderen Arbeit?«, hake ich spontan nach. Schließlich kann man zumindest am Anfang, wenn man so etwas wie einen Podcast beginnt und er noch nicht bekannt ist, kaum davon leben. Er muss also noch einen anderen Job haben oder gehabt haben.
Endlich hebt er den Blick und schaut mir in die Augen. Dabei huscht ein Stirnrunzeln über sein Gesicht, das mir zeigt, dass er mir keineswegs vertraut und unschlüssig ist, welche Informationen er preisgeben soll.
»Hat sich so ergeben«, weicht er mir jedoch erneut aus.
Oh Mann, wenn das so weitergeht, beiße ich hier gleich in die blank polierte Tischplatte!
»Tobias, ich will Sie hier nicht aushorchen«, mahne ich, obwohl ich natürlich genau das vorhabe. »Ich denke bloß, wenn wir zukünftig zusammenarbeiten und ich Ihre weitere Karriere vernünftig begleiten soll, sollte ich vorab ein paar Dinge über Sie wissen.« Er reagiert nicht, daher setze ich meinen geübten Dackelblick auf und lege noch mal eine Schippe drauf. »Ich bin, wie gesagt, beauftragt worden, mich um Sie zu kümmern. Das bedeutet, dass ich mich ab sofort mit Ihren Anliegen beschäftigen und rund um die Uhr für Sie erreichbar sein werde. Egal, ob bei Tag oder in der Nacht. Ich bin für Ihre Ideen offen und hoffe, Ihnen dafür im Gegenzug meine Vorschläge unterbreiten zu dürfen. Das sind allerdings immer nur Empfehlungen. Was Sie daraus machen, überlasse ich ausschließlich Ihnen. Sie sind zu nichts verpflichtet, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich meine Ratschläge anhören und zu Herzen nehmen würden.«
Ich mache eine kleine Pause und lasse ihn in Ruhe nachdenken. Zwar kann ich sehen, wie es in ihm arbeitet, doch er lässt sich wirklich Zeit. Dann jedoch kräuseln sich seine Lippen und er verengt die Augen, als wäre ihm ein Gedanke gekommen.
»In Ordnung. Sie erzählen mir drei Funfacts zu Ihrer Person, die ich eventuell in einer Podcastfolge verwerten darf, dafür zeige ich Ihnen, womit ich hauptberuflich meine Brötchen verdiene«, schlägt er bierernst vor.
»Funfacts? Zu meiner Person?« Ich hebe erstaunt die Augenbrauen. Damit habe ich nicht gerechnet.
»Ja, Sie wissen schon.« Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein Lächeln über sein Gesicht, seine ernste Miene entspannt sich sichtlich. »Irgendwelche außergewöhnlichen Dinge, die Sie betreffen. Etwas, das Sie von anderen Leuten unterscheidet.«
»Ich trinke meinen Kaffee schwarz«, kontere ich trocken und deute auf die halb geleerte Tasse.
»Oh nein, das zählt nicht«, wehrt er sofort ab. »Das ist kein Funfact, das ist total banal.«
Ich grinse verwegen. Egal wie, endlich entwickelt sich so etwas wie ein Gespräch zwischen uns.
»Hm, lassen Sie mich kurz überlegen«, brumme ich und fange tatsächlich an zu grübeln. Irgendwie fühle ich mich in der Pflicht, jetzt etwas total Abgefahrenes über mich zu erzählen – dabei bin ich bloß ein ganz gewöhnlicher Typ.
»Ich spreche fünf Sprachen, die sechste lerne ich gerade«, beginne ich.
»Welche Sprachen?«, hakt er sofort nach.
»Natürlich deutsch, weil ich hier aufgewachsen bin. Portugiesisch ist meine eigentliche Muttersprache, das wird bei uns zu Hause gesprochen«, erkläre ich frei heraus. »Daneben noch Spanisch, Englisch und Französisch. An meinem Italienisch arbeite ich noch.«
»Okay, das lasse ich gerade so durchgehen, obwohl ich jetzt so etwas wie Chinesisch oder Japanisch erwartet habe«, unkt Kämmerer und grinst verwegen. Allmählich scheint er lockerer zu werden. »Was noch?«
»Ich hab mal Micky Krause ohne Perücke gesehen«, platzt es aus mir heraus – und bekomme ein ausgelassenes Lachen zur Antwort. Befreit falle ich darin ein.
»Das gehört allerdings wohl eher in die Rubrik der traumatischen Erlebnisse als zu den Funfacts«, kommentiert Kämmerer und wischt sich die Lachtränen aus den Augen.
Ich schmunzele unverhohlen. Es ist schön, ihn lachen zu hören. Ich bin noch immer total fasziniert von seiner angenehmen Stimme, doch sein Lachen ist noch viel netter. Es hat einen unwahrscheinlich melodischen Klang, bei dem man sich wünscht, es öfter zu hören.
»Der zählt jetzt aber trotzdem«, fordere ich gespielt beleidigt und verschränke die Arme vor der Brust. »Damit bin ich nur noch einen Funfact schuldig.«
»Okay, okay.« Er winkt lässig ab. »Und was ist Ihre Nummer drei?«
»Über die muss ich länger nachdenken«, gebe ich zu. Ich erhebe mich von meinem Stuhl und reiche ihm meine Hand. »Bis zu unserem nächsten Treffen ist mir etwas eingefallen. Wann haben Sie denn Zeit?«
»Morgen nach der Aufnahme.« Er steht ebenfalls auf und ergreift zögernd meine Hand. Seine Finger fühlen sich kühl an, seine Hand ist relativ schmal und zartgliedrig, trotzdem ist sein Händedruck angemessen fest. »Also nach sechzehn Uhr, bis dahin bin ich mit der Folge fertig.«
»Ist es recht, wenn ich so gegen siebzehn Uhr vorbeischaue?«, frage ich vorsichtig.
Kämmerer nickt zur Bestätigung. Seine blassen Wangen bekommen plötzlich einen Hauch mehr Farbe, dann entzieht er mir seine Hand und versteckt sie hinter seinem Rücken. Erst in dem Moment fällt mir auf, dass ich diese nicht nur ungebührlich lang festgehalten hatte, sondern auch unbewusst einen Schritt auf ihn zugegangen war und damit den allseits üblichen Höflichkeitsabstand nicht eingehalten hatte. Oh je, das war einfach ungehobelt von mir. Einer nahezu fremden Person rückt man nicht derart auf die Pelle. Ich wollte ihn damit ganz bestimmt nicht in Verlegenheit bringen.
»Sorry«, murmele ich und trete von ihm zurück. »Dann bis morgen«, verabschiede ich mich höflich. »Ich finde allein raus.«
»Bis morgen«, antwortet er leise.
Ich verlasse die Wohnung mit einem seltsamen Wirrwarr an Gefühlen. Einerseits freut es mich, dass Kämmerer ein wenig aufgetaut ist, doch ein paar seiner Reaktionen kann ich nicht genau einordnen und ich weiß noch nicht, wie es weitergehen wird.
Das wird mir hoffentlich unser nächstes Treffen zeigen.