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Als die tierliche Arbeitskraft im Zuge der Motorisierung nach 1945 weitgehend obsolet geworden war, verloren Pferde unwillkürlich an Relevanz. Doch statt ihres mitunter befürchteten Verschwindens lassen sich für das Verhältnis zu Pferden Prozesse kultureller Sinnstiftung, Umwidmung, Neubesetzung und des Wiederauflebens beobachten. Nicht nur der Leistungsreitsport erlebte nach 1945 eine Blütezeit, auch das Pferd selbst erfuhr als Freizeitpartner, Fürsorgeobjekt und Freiheitssymbol neuerliche Signifikanz. Diese vielfältigen Ausprägungen von Mensch-Pferd-Beziehungen zeichneten sich zum einen durch Postulate der Erneuerung und Symbiose, zum anderen durch Traditionalität und die persistente Ausnutzung equiner Fähigkeiten aus. David de Kleijns Studie der heterogenen, stets emotional besetzten Diskurse um die Rolle des Pferdes im "Nachpferdezeitalter" (Koselleck) ermöglicht tiefe Einblicke in ein bislang wenig beachtetes Feld deutsch-deutscher Gesellschaftsgeschichte.
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Seitenzahl: 931
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Dr. David M. de Kleijn, geb. 1984 in Oldenburg in Holstein, studierte bis 2013 Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft, Europäische Ethnologie/Volkskunde sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Anschließend besuchte er die Doktorandenschule des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und wurde 2019 mit der hier veröffentlichten Dissertation Das Pferd im Nachpferdezeitalter am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Seit 2019 arbeitet er ferner als Lehrkraft an einer Integrierten Gesamtschule in Ostfriesland.
David M. de Kleijn
Zur kulturellen Neusemantisierungeiner Mensch-Tier-Beziehung nach 1945
Beiträge zur TiergeschichteHerausgegeben von Frank JacobBand 3
ISSN (Print)2626-8256
ISSN (Online) 2698-3214
David M. de Kleijn
Das Pferd im »Nachpferdezeitalter«
Zur kulturellen Neusemantisierung einer Mensch-Tier-Beziehung nach 1945
Zugl.: Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2019
ISBN (Print)978-3-96317-161-1
ISBN (ePDF)978-3-96317-699-9
ISBN (ePUB)978-3-96317-705-7
Copyright © 2019 Büchner-Verlag eG, Marburg
Bildnachweis Umschlag: Bundesarchiv, Bild 183-B1202-0010-001, CC-BY-SA 3.0
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IDas »Nachpferdezeitalter« – Ende oder Beginn einer Symbiose?
I.1Obsoleszenz und Verdrängung – Pferdegeschichte als Nekrolog?
I.2Rahmen, Symptome und Figurationen einer equinen Zeitenwende
I.3Alte und neue Semantisierungen im »Nachpferdezeitalter«
I.4Pferde und ›Animal Agency‹
II1945 als Ende des Pferdezeitalters? Persistente und neue Semantisierungen als diskursive Strategien in der Bundesrepublik, »dem Pferde einen Platz im Menschenherzen zu erhalten«
II.1Das Pferd im bundesdeutschen Kriegsgedenken
II.1.1Pferde in der Erinnerung an ›Flucht und Vertreibung‹
II.1.2Tierethik, Kameradschaft und Weltkrieg
II.1.3Die Semantisierung des Trakehnerpferds als ›Erinnerungsfetisch‹
II.1.4Entlastungsrhetoriken des Reitsports
II.1.5Reitsportler als nationale Symbolfiguren und Surrogate eines Heldengedenkens
II.1.6Zwischenfazit: Das Mensch-Pferd-Verhältnis und der Zweite Weltkrieg
II.2Gustav Rau – »der große Trommler für die Sache des Pferdes«
II.2.1Aufstieg und ›Fall‹ bis 1945
II.2.2Die Kavallerie als Garant der Erhaltung des Pferdes
II.2.3Zur Zukunftsfähigkeit des Pferdes in Militär und Landwirtschaft nach 1945
II.2.4»Propaganda der Tat«
II.2.5Nachwirken
II.2.6›Lehrmeister Pferd‹
II.3Tendenzen des Reitsports und der Pferdezucht im nachkriegsdeutschen Kontext
II.3.1Das Pferd als Seelenpartner, Naturwesen und Erzieher – Idyllisierungen, Sakralisierungen und Pädagogisierungen der Mensch-Pferd-Beziehung
II.3.2Erinnerungskultur und Geschlechtersemantik der Pferdezucht
II.3.3Exkurs: Umgang mit Sexualität, Geschlecht und Reproduktion in Pferdezucht und -haltung
II.3.4Der Leistungssport als Zugpferd einer neuen Reitbegeisterung
IIIEin »zweiter Weg des Reitens« – Inhalte und Semantiken einer Neuverhandlung der Mensch-Pferd-Beziehung in der Bundesrepublik
III.1Genese und Verortung des Freizeitreitens im Zusammenhang mit dem Wettkampfreitsport
III.2Der ›Immenhof‹ als Ausgangspunkt der Freizeitreiter-Bewegung
III.2.1Die Ankunft des Islandpferds in der Bundesrepublik
III.2.2Idyllisierende und karikative Ponydarstellungen in den ›Immenhof‹-Filmen
III.2.3Beziehungs- und Funktionssemantiken von Ponys und Freizeitpferden
III.2.4Der ›Immenhof‹ und die Auspizien einer Entwicklung des Reitens zum »Mädchenhobby« – Geschlechtersemantik und Gegenentwürfe zum Reitsport
III.3Positionierungen des Wettkampfreitsports und der Pferdezucht gegenüber dem Freizeitreiten
III.4Zwischenfazit: Freizeitreiten im Kontext einer Neusemantisierung des Mensch-Pferd-Verhältnisses
IVSemantisierungen des Pferdes in der DDR
IV.1Pferdemangel in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR
IV.2Pferdesport und Landwirtschaft
IV.3Reitsport als vormilitärisches Training
IV.4Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung der Reitlehre und der Mensch-Pferd-Beziehung
IV.5Der deutsch-deutsche Reitsport zwischen Annäherung, Systemkonkurrenz und Agitation
IV.5.1Gegenseitige Anerkennung, Abgrenzung und erzwungene Zusammenarbeit
IV.5.2Pferde und Reitsport als Objekte von Agitation und Propaganda
IV.6Die Neuausrichtung des Pferdesports nach der Herauslösung aus der GST
IV.7Mediale Repräsentationen des Pferdes in der DDR
IV.7.1Literarische Semantisierungen
IV.7.2Das Pferdebild in den DEFA-Indianerfilmen
IV.7.3Mediale Repräsentationen des Reitsports
VFazit und Ausblick: Semantisierungen der Mensch-Pferd-Beziehung im geteilten und wiedervereinigten Deutschland – Transformationen und Persistenzen
VIAnhang
VI.1Tabellen
VI.1.1Gesamtzahl der Pferde im Land Thüringen, 1933–1951
VI.1.2Pferdebestandszahlen SBZ/DDR
VI.1.3Mitgliederzahlen der Sektion Pferdesport/des DPV
VI.1.4Pferdebestand, Mitglieder in Pferdesportvereinen und geschätzte Anzahl der Reiterinnen und Reiter in alten und neuen Bundesländern
VI.2Abkürzungsverzeichnis
VI.3Personen- und Pferderegister
VI.4Quellen- und Literaturverzeichnis
VI.5Danksagung
Für Momo, Nero, Vinnie und Magdalena
They bang their heads from the psychological distress
Hellish conditions, that’s not what I would call respect
Would you do that to your dog or your cat?
Do you really see the difference in a frog or a rat?
What’s sacred to you here might not be sacred in Tibet
So who are you to say what should be eaten or a pet?
– Jedi Mind Tricks, »Making a Killing«
Als der Historiker Reinhart Koselleck 2003 vorschlug, »die Weltgeschichte versuchsweise einmal nach den drei Zeitaltern einzuteilen: Vorpferde-, Pferde- und Nachpferdezeitalter«1, veranschaulichte er damit den mit der Moderne einsetzenden Prozess eines allmählichen Obsoleszierens der menschlichen (Aus-)Nutzung equiner Trag- und Zugkraft:
Durch technische Erfindungen und deren industrielle Reproduktion samt ihrer Anwendung wird das Pferd überholt, überboten oder ins Abseits gedrängt. Zurück bleiben Spring-, Renn-, Dressurpferde, Pferde für Spiel und Sport, übrigens zunehmend ein Reservat für Frauen.2
In der Tat verlor die in vormodernen Gesellschaften festgeschriebene Rolle des Pferds als »elementarer Helfer des Menschen«3 sowie als »kultisch, militärisch oder agrarisch und merkantil unaustauschbares Tier«4 im technischen Zeitalter fundamental an Bedeutung. Eine konkrete, existenzielle Krise der Pferdezucht im Nachkriegsdeutschland belegt etwa die massive quantitative Abnahme des Bestands nach dem Zweiten Weltkrieg. Waren um 1950 allein noch 1,6 Millionen Pferde als Zugtiere in der Landwirtschaft der Bundesrepublik tätig5, belief sich zwanzig Jahre später der Gesamtpferdebestand lediglich noch auf 252 000 Tiere6. Im selben Zeitraum sank auch die Bestandszahl der DDR von 727 000 auf 126 533.7 Mit dem Postulat eines ›Nachpferdezeitalters‹ ist Kosellecks Periodisierung aber auch die Behauptung einer graduellen, aber verabsolutierten Marginalisierung und folglich eine implizite Negation jedweder Persistenz einer geschichtlichen Relevanz des Pferdes inhärent. Das nachgerade eschatologisch anmutende »Niedergangsnarrativ«8 vom ›Ende des Pferdezeitalters‹ versetzt das vormals »unverzichtbar[e]«9 Tier auf ein historisches Abstellgleis und deklariert es ex negativo zum entbehrlichen Relikt.
Dass Kosellecks Anregung einer Ordnung der Weltgeschichte nach Kriterien der Ausgestaltung des Mensch-Pferd-Verhältnisses auf einer triadischen Struktur basiert, verdeutlicht bereits die historische Singularität der Prozesse der domestikatorischen Annäherung und nachfolgenden Nutzbarmachung des Pferdes sowie der Distanzierung und der Substitution im Rahmen technologischer Evolution. So inhärierte dem Obsoleszieren der wirtschaftlichen Verwendung von Pferden auch die Beendigung einer epochenübergreifenden Ära der menschlichen Abhängigkeit von ihren Fähigkeiten. Auf lange Sicht ist der Übergang von der Ausnutzung physischer Leistungskraft von Tieren zum maschinellen Antrieb mithin als hochgradig symbolträchtige Wegmarke der sukzessiven Technisierung der Lebenswelt und damit als ein essenzielles Symptom des Prozesses der Moderne einzuschätzen.
Einerseits mögen Aspekte der durch die Ersetzung hinzugewonnenen Möglichkeiten oder der Technikgewöhnung, etwa im Rahmen eines linear verlaufenden Modells der Fortschrittsgeschichte, weitaus vordringlicher erscheinen als die Konsequenzen des leichthin und Endgültigkeit suggerierend als »Abschied«10 bezeichneten Verzichts auf die Leistungskraft des Tiers für die menschliche Beziehung zu ihm. Andererseits erreichte die Mensch-Umwelt-Beziehung im Kontext der Motorisierung ab den fünfziger Jahren eine »Epochenschwelle […], deren Bedeutung größer ist als die der industriellen Revolution«11, als deren Schlüsselkonflikt sich eine als noch immer virulent zu bezeichnende »strukturelle Ambivalenz«12 zwischen rationalisierter Nutzung und romantisierter Überhöhung der Natur manifestierte. In Anbetracht dessen, dass Aushandlungsprozesse dieser Dialektik stets auf Eindeutigkeit und Auflösung vermittels »eine[r] Radikalisierung der Alternativen Nutzung oder Bewahrung«13 abzielen14, lassen sich jene Diskurse, die zukünftige Prämissen und Maßstäbe des Mensch-Pferd-Verhältnisses aushandelten, damit als richtungsweisende, gleichsam paradigmatische Tendenzen des Tierverständnisses – und damit auch des kulturellen Naturverständnisses westlicher Gesellschaften insgesamt – lesen.
Überdies brachte die weitreichende Verdrängung und Reduzierung der Pferdehaltung in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts unverkennbare Veränderungen der menschlichen Alltagswelt mit sich. Die zunehmende Abwesenheit der Pferde machte sich in Straßenbild, Flurnutzungen und Grundstücksgestaltungen15, in Arbeitsprozessen, Berufsbildern, Alltagsabläufen und Lebensentwürfen bemerkbar. Ihre motorisierten Erbfolger eröffneten neue Möglichkeiten und ungekannte Ausmaße an Mobilität und Produktivität. Zugleich aber evozierte sie als zäsurhafter Bruch mit altbewährten Traditionsbeständen vielfach ein mit Technik- und Zunkunftsskepsis gepaartes Unbehagen, aus dem sich eine dezidiert nostalgische Prägung der Pferdekultur und ein vermehrt sentimentalisiertes Pferdeverständnis im ›Nachpferdezeitalter‹ speisten. Mit dem schleichenden Abgesang auf die Pferdenutzung in Landwirtschaft, Verkehrswesen und Militär eröffneten sich also auch Potenziale kultureller Neusemantisierungen, die eine neuerliche Aufmerksamkeit für das Tier zu nähren vermochten.
Bei aller Sichtbarmachung der herausragenden Rolle der Pferdenutzung während der als ›Pferdezeitalter‹ bezeichneten Periode bleibt Kosellecks Perspektivierung des Pferds auf eine anthropozentrisch-funktionalistische Ebene beschränkt. Wenngleich sein Wirken ab den 1980er Jahren durchaus als Triebfeder für einen Paradigmenwandel innerhalb der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften gelten kann16, mit dem eine »Hinwendung zu ›Diskussionsfeldern‹ wie Alltags- und Populärkultur«17 einherging, ignoriert dieser Ansatz zur Einteilung der Pferdegeschichte doch entsprechende Perspektiven weitestgehend. Seine Ausführungen zur Nachgeschichte jenes huldvollen ›Pferdezeitalters‹ bleiben auf den Umfang einer Randnotiz beschränkt. Die Pferden nunmehr verbliebene Bedeutung bemisst er gegenüber dem Zeitraum, in dem sie »in der Symbiose mit dem Menschen diesem am nächsten«18 gestanden seien, als geradezu nichtig.
Ulrich Raulff widmete, Kosellecks Thesen aufgreifend19, dem Auslaufen der militärisch und ökonomisch relevanten Pferdenutzung unter dem vielsagenden Titel Das letzte Jahrhundert der Pferde eine umfangreiche, essayistisch20 gehaltene Monographie. Sie lässt sich als »Pionierstudie«21 einschätzen, die »das Mensch-Pferd-Verhältnis […] ausführlich und anschaulich in all seinen Dimensionen«22 umreißt, weshalb sie als basale Sekundärliteratur dieser Arbeit fungierte. Jedoch bedient Raulffs Schrift vorzugsweise einen Blickwinkel, der an den Symptomen des Bedeutungsverlusts orientiert ist und damit ebenjenes ›Niedergangsnarrativ‹ bedient, das Simone Derix bereits den Chronologisierungsthesen Kosellecks attestierte. Deutlich wird dies etwa, wenn der Verfasser diagnostiziert, das Pferd sei »zum Indianer der westlichen Welt […], einer Spezies, die in Reservaten überlebt«23, marginalisiert worden.
Tatsächlich aber lässt sich die um 1970 erreichte historische Talsohle der Pferdehaltung als ein Wendepunkt begreifen. In den folgenden dreißig Jahren regenerierte sich die Bestandszahl in der Bundesrepublik beinahe wieder und belief sich bis 2000 auf über eine Million Pferde, die, im Unterschied zu ihren Vorfahren und Vorläufern, nun mehrheitlich zur Freizeitgestaltung gehalten wurden.24 Obwohl der Wiederanstieg im Osten wesentlich geringer ausfiel und erst gut zehn Jahre später begann25, ist aber auch für die Endphase der DDR ein neuerliches Interesse am Pferd festzustellen. Da es seine wirtschaftlichen Funktionen zu dieser Zeit längst eingebüßt hatte, lässt sich in Anbetracht dieser Entwicklungen die These aufstellen, dass das Pferd seitdem andere, neue Aufgaben erfüllt. Die Zweckdienlichkeit des Einsatzes von Pferden in einem Arbeitskontext konnte nun schließlich nicht mehr im Vordergrund stehen. Dazu muss aber auch angenommen werden, dass sich nicht nur die Formen ihrer Verwendung geändert haben, sondern auch die ihnen vom Menschen zugedachten Rollen und zugemessenen Bedeutungen.
Dieser »weniger als gänzliche Exilierung, sondern vielleicht eher als eine ›Emigration‹ in andere gesellschaftliche Lebensbereiche (z. B. die Freizeitwelt)«26 zu verstehende Übergang, den die Mensch-Pferd-Beziehung ab dem ausgehenden ›Pferdezeitalter‹ zusehends unternahm und dessen historischen Stellenwert Koselleck implizit verkennt, bildet den zentralen Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Ihre Diagnose begleitet der Leitgedanke, dass sich mit dem Fortfall altbewährter Einsatzgebiete von Pferden nicht unwillkürlich andere Verwendungszwecke ergaben, sondern das Spektrum der möglichen Verhältnisse von Menschen zu ihnen insgesamt einem Bedeutungswandel unterlag. Bei den auch von Koselleck benannten ›neuen‹ Funktionen und Sinngebungen des Pferds im ›Nachpferdezeitalter‹ handelt es sich um kulturelle Umwidmungen, deren konkreten lebensweltlichen Realisierungen zunächst langwierige Orientierungs- und Aushandlungsprozesse vorgelagert waren.
Darauf bezugnehmend soll gezeigt werden, dass sich die entsprechenden Suchbewegungen nicht mehr notwendigerweise vorrangig an utilitären Rollenmustern ausrichteten. Stattdessen ist eine starke Schwerpunktverlagerung auf eine sekundärsoziale Ebene27 zu konstatieren. Zu den handfesten Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Pferden – die trotz der sich aus der schwindenden Abhängigkeit des Menschen resultierenden abnehmenden Unbedingtheit freilich erhalten blieb – traten zunehmend Einschreibungen, die Aspekte der interspezifischen Beziehung betrafen. Damit lässt sich zunächst eine These Heinz Meyers in Verbindung bringen, nach der eine Abnahme der Nutzung »zum Zweck der basalen Lebensfristung«28 respektive des wirtschaftlichen Auskommens einer »zunehmende[n] Rücksicht auf andere leidensfähige Lebewesen«29 den Weg ebnete. Über eine verstärkte Anlehnung an das Tierwohl hinausgehend ist zugleich eine Ausweitung von Zuschreibungen spezifizierter Sozialfunktionen an das Pferd feststellbar. Das Prosperieren der Semantisierungen von Pferden als ›Freunde‹ oder ›Familienmitglieder‹ illustriert die Dimensionen des Bedürfnisses einer relationalen Nähe und einer einvernehmlichen Beziehung zu ihnen. Trotz der Vorgeschichte intensiver Inanspruchnahme und der im Vergleich zur Heimtierhaltung relativen Distanz der Pferdehaltung zur menschlichen Nahwelt etablierte sich in diesem Zusammenhang eine zunehmende Wahrnehmung als companion animals, zu denen nach Donna Haraway als Liebe umschriebene Empfindungen gehegt30 und mit denen ein auf Empathie beruhendes, als significant otherness bezeichnetes Zusammenleben31 angestrebt werden.
In diesem Licht besehen erscheint es geradezu kurios, dass Koselleck das von ihm ausgemachte ›Pferdezeitalter‹ als Phase umschreibt, in der »Pferd und Mensch in ihrer Symbiose einander entsprechende Charakterzüge aufweisen konnten«32. Es lässt sich im Gegenteil fragen, inwiefern die angesprochene vermeintliche Symbiose in Anbetracht eines Nutzungsprimats der Mensch-Pferd-Beziehung im ›Pferdezeitalter‹ nicht nur einem unilateral-anthropozentrischem Blickwinkel verpflichtet und damit als verklärtes Oxymoron zu erachten ist. Folglich steht zur Diskussion, inwiefern die Leitsemantiken des Mensch-Pferd-Verhältnisses im ›Nachpferdezeitalter‹ dem Ideal einer Symbiose gar näherstehen und ob die von Koselleck insinuierten »Rückzugspositionen«33 des Pferds sich nicht, im Sinne der tierlichen Lebensbedingungen und im Hinblick auf den menschlichen Umgang mit ihm, vielmehr als verbesserte Ausgangslagen auffassen lassen. In diesem Zusammenhang ist besonders der Einfluss gesellschaftlich vorstrukturierter Beziehungsmuster und soziokultureller Semantisierungen auf konkrete Ausgestaltungen der lebensweltlichen Begegnung mit Pferden zu beachten.
Überdies ist das Zustandekommen eines veränderten Pferdebilds stets im Kontext zeitgeschichtlicher Dispositive zu betrachten. Frappant erscheint etwa die Parallelität der Entwicklung hin zur Verwendung des Pferds als ›Freizeittier‹ nicht nur mit einer sie bedingenden Technisierung, sondern auch mit einer soziohistorischen Tertiarisierung. Verbunden mit sinkenden Arbeitszeiten stieg das Freizeitvolumen und damit auch der Bedarf nach entsprechenden Angeboten. Hinzu kam eine seit dem 19. Jahrhundert stetig kultivierte »Sehnsucht nach Natur«34, die als Reaktion gedeutet werden kann, um »die objektiven Antagonismen gesellschaftlicher Naturaneignung in der Moderne – die wachsende Dominanz von Naturbeherrschung und Nutzungsideologien – kulturell aushaltbar«35 werden zu lassen. Da Pferde diesen virulenten Bedürfnissen offenkundig gerecht zu werden vermochten, können ihre Verwendungen, Semantisierungen und Aneignungen im ›Nachpferdezeitalter‹ nicht allein als Ersatzfunktionen einer historisch pensionierten, marginalisierten Spezies gelten. Vielmehr übernehmen sie im ›Nachpferdezeitalter‹ vorwiegend Dienstleistungsfunktionen – ihre Nutzung ist nunmehr, gleichsam koevolutionär, den Umständen, Erfordernissen und Möglichkeiten einer technisierten Welt angepasst worden.
Korrelierend mit dem Pferdebestand stieg auch die Zahl der Mitglieder in Reitvereinen in der Bundesrepublik enorm: Betrug sie 1969 noch 177 16836, zählte der Deutsche Sportbund (DSB) 1978 bereits 415 139 Vereinsreiter37. Bis 2000 belief sich diese Zahl schließlich auf 746 259 Mitglieder.38 Auch in der DDR erhöhte sich die Mitgliederzahl des Deutschen Pferdesportverbands (DPV) zwischen 1970 und 1988 immerhin von 20 011 auf 53 818.39 Insofern lässt sich feststellen, dass die Begeisterung für das Pferd recht rasch wieder neu entfacht wurde, sodass der Beginn des ›Nachpferdezeitalters‹ nicht ausschließlich als eine »Trennung von Mensch und Pferd«40 erscheint. Ebenso lässt er sich als Auftakt einer Transitionsphase erachten, in der die Bedingungen, Inhalte und Bedeutungen dieser Mensch-Tier-Beziehung neu verhandelt, semantisiert und weiterentwickelt wurden.
Mit dem rasanten Wiedererstarken des Pferdebestands und dem Anstieg der Zahl sportlicher Reiter_innen liegen starke Indikatoren dafür vor, dass es sich bei der Geschichte des Pferds eben mitnichten um eine abgeschlossene Erzählung handelt. Obwohl die Ersetzung der tierischen durch motorische Kraft das Reiten und Fahren von Pferden als Kulturtechniken funktionell obsolet werden ließ, praktizierte eine steigende Anzahl an Menschen auch im ›Nachpferdezeitalter‹ insbesondere ersteres. Das daran offenbar werdende neuerliche Interesse an Pferden weist einen Rück- respektive Neugewinn gesellschaftlicher und kultureller Relevanz aus, der die These von einer Ausbootung einseitig, die epilogische Darstellung der Geschichte des Pferds unvollständig erscheinen lässt. Gerade unter dem Eindruck des zäsurhaften Charakters eines prozessualen Verlusts der Funktionen als Katalysator wirtschaftlicher, militärischer und politischer Machtentfaltung des Menschen geht von dieser Renaissance der Pferde eine besondere Signifikanz aus. Daran, dass nunmehr »die Bedeutung des Pferdes neben dem züchterischen eindeutig auf medialem, sportlichem und freizeitlichem Gebiet«41 zu verorten ist, wird also ebenfalls erkennbar, dass unterdessen ein Prozess der funktionellen Umorientierung stattgefunden haben muss, der zu einer kulturellen Neusemantisierung der Mensch-Pferd-Beziehung führte.
Zeitgenössisch ließ sich die sukzessive Ablösung der Pferde durchaus als akute Bedrohungslage für den Fortbestand der Pferdezucht und -haltung interpretieren.42 Die von zunehmenden Verlustbefürchtungen genährte Bewahrenswürdigkeit des Mensch-Pferd-Verhältnisses und damit auch der mit ihm verbundenen bewährten kulturellen Praktiken43 stellten also einen ausgeprägten Impetus dafür dar, eine Revitalisierung des abnehmenden menschlichen Kontakts zum Pferd anzuschieben. So bildeten sie eine Grundlage einer Intensivierung der sich um das Pferd spannenden Kontroversen, in denen zunächst vor allem seine zukünftigen Verwendungsmöglichkeiten und utilitären Sinnstiftungen eruiert und hervorgehoben wurden. Jedoch verblassten späte Huldigungen der equinen Zugkraft im Angesicht der Durchsetzung ihrer motorisierten Konkurrenz zusehends. Die einstige, in der Pferdeverwendung vermeintlich realisierte Synthese aus dem ansonsten unauflöslich erscheinenden »Konflikt moderner Gesellschaften […] zwischen dem Primat möglicher Nutzung der Natur und dem Primat ihres Schutzes«44 lief Gefahr, sich unter dem Eindruck technologischen Fortschritts unausweichlich aufzukündigen. Daraus ergab sich insbesondere für Akteur_innen innerhalb des Spektrums der Mensch-Pferd-Beziehung – vorwiegend also für Züchter_innen, Halter_innen, Reitsportler_innen und Sportfunktionär_innen – die historische Notwendigkeit, Relevanzen ausfindig zu machen und aufzuzeigen, die über die bisherigen Nutzungskontexte hinauswiesen.
Ab den fünfziger Jahren lassen sich mithin verstärkt fundamentale Aushandlungsprozesse des Verhältnisses des Menschen zum Pferd konstatieren, aus deren Verläufen und Inhalten jene Semantiken dieser Relation emergierten, auf denen das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit liegt. Den Schauplatz dieser Diskurse bildeten nicht allein von Haus aus mit Pferdesport und -zucht befasste Gebrauchsmedien, die in erster Linie den angesprochenen Akteur_innen als Sprachrohr und Austauschmittel dienten, sodass Konzepte des Pferdekontakts mitnichten allein innerhalb eines selbstbezogenen Resonanzraums zirkulierten. Archetypische Verwendungs- und Beziehungsmodelle wurden einer breiteren Öffentlichkeit im Rahmen einer signifikanten »Mediatisierung«45 und »Versportung«46 des Reitens und der Begegnungen zwischen Mensch und Pferd vor allem in Film und Unterhaltungsliteratur zugänglich gemacht und popularisiert.
Im Zuge der mannigfachen medialen Repräsentationen des Pferds erscheint von besonderem Interesse, inwieweit Rückgriffe auf die reichhaltigen Traditionsbestände des Mensch-Pferd-Kontakts eine Rolle spielten und mit etwaigen neuen Sinngebungen verflochten wurden. Ferner stellt sich die Frage nach veränderten beziehungsweise persistenten Rollenverständnissen und Beimessungen; nicht nur in Bezug auf die instrumentelle Inanspruchnahme als Zug- und Reittier, sondern auch im Hinblick auf allfällige emotionale, ideelle oder das tierliche Gegenüber subjektivierende Lesarten der interspezifischen Begegnung.
Mit der Entwicklung des Pferdeverständnisses vom Kriegs- und Arbeitstier hin zum Sport- und Freizeittier korrelierte zugleich eine zunehmende Aufladung des Verhältnisses zu ihm mit sympathetischen und romantisierenden Semantiken, die einer Einordnung in die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge beider nachkriegsdeutscher Staaten bedürfen. In dieser Hinsicht drängt sich überdies die Frage auf, welche Parallelen und Unterschiede sich unter der Prägung der divergierenden politischen und wirtschaftlichen Ordnungen der Bundesrepublik und der DDR hinsichtlich der Auffassungen und Ausgestaltungen der menschlichen Beziehung zu Pferden ergaben. Während staatliche Eingriffe und Bestimmungen im Osten nämlich eine Konjunktur des Reitsports und der Pferdehaltung unterbanden, erwuchs im Westen rund um die Belange und Bedürfnisse der Pferde und ihrer Halter_innen ein eigenständiges, hochspezialisiertes Marktsegment, das, abzüglich der bei Pferdeverkäufen erzielten Summen, bereits 1978 einen Jahresumsatz von circa drei Milliarden DM verzeichnete47. Zahllose Rekurse auf Pferde und Reiten innerhalb der verschiedensten Erzeugnisse der Kultur- und Freizeitindustrie48 zeugen ebenfalls davon, dass das Pferd eben nicht nur als »lebendige Metapher«49 »zum ›Bild‹ geworden«50 ist, sondern verdeutlichen auch, dass das Interesse an und die Auseinandersetzung mit ihm im ›Nachpferdezeitalter‹ nicht an Aktualität eingebüßt haben.
Trotz oder gerade wegen der vermeintlichen Verringerung seiner Präsenz und Bedeutung im menschlichen Alltag ist das Pferd, insbesondere im Hinblick auf die von Koselleck hervorgehobenen und für beendet erklärten, »alle Epochen und Perioden überdauernde[n] Erfahrungen gegenseitiger menschlich-tierischer Abhängigkeit«51 doch mittlerweile wieder »unübersehbar auf die Forschungsagenda von Historiker/inne/n«52 gerückt. Auch die Volkskundlerinnen Regina Bendix und Michaele Fenske bescheinigen dem sich aus der Mensch-Pferd-Beziehung speisenden Themengeflecht »unendlich viele kulturwissenschaftliche Forschungsoptionen«53. Diesen Herausforderungen nahm sich der Soziologe Heinz Meyer bereits in den siebziger und achtziger Jahren an. In seinen Veröffentlichungen Mensch und Pferd54, Das Erlebnis Reiten55 und Geschichte der Reiterkrieger56 entwirft er einen gesamthistorischen Überblick der sozial-psychologischen Dimensionen der Beziehung des Menschen zum Pferd und der verschiedenen Implikationen der Nutzbarmachung des letzteren. In der Eigenschaft als Versuche vollständiger geschichtlicher und kultursoziologischer Abrisse, werden darin zwar eine Vielzahl bedeutender Entwicklungen für die Mensch-Pferd-Beziehung, wie auch der historisch noch sehr naheliegende Übergang zum ›Nachpferdezeitalter‹, berührt, aber nicht ausführlich beleuchtet.
Im Rahmen eines sogenannten animal turn, mit dem zunächst im angloamerikanischen Raum die signifikante Zunahme an etwa seit der Jahrtausendwende erschienenen Studien, die sich gezielt mit Mensch-Tier-Verhältnissen auseinandersetzen, pointiert wird57, geriet auch in deutschsprachigen Arbeiten die Mensch-Pferd-Beziehung in den letzten Jahren mehrfach zum Objekt der Analyse. Dabei lässt sich feststellen, dass Untersuchungen überwiegen, die entweder den aktuellen Status quo des Verhältnisses fokussieren oder zeitlich noch eindeutig innerhalb des ›Pferdezeitalters‹ verortet sind. Ein treffendes Beispiel dafür ist der 2016 erschienene, von Frank Jacob herausgegebene Sammelband Pferde in der Geschichte58, der – im Einklang mit Kosellecks These, das Pferd spiele in der Geschichte seit 1945 keine Rolle mehr – eine Gesamtschau von der antiken Kavallerie, über die Relevanz des Pferdes für die Landwirtschaft des Mittelalters, bis zu seiner Verwendung im Zweiten Weltkrieg skizziert, das ›Nachpferdezeitalter‹ aber vollständig ausspart.
Daneben sind solche Arbeiten zu nennen, die sich auf einen bestimmten Zeitraum der Ausgestaltung des Mensch-Pferd-Verhältnisses konzentrieren, unter denen Jutta Buchners Dissertationsschrift Kultur mit Tieren59 besonders hervorzuheben ist, wenn sie mittlerweile auch bereits über zwanzig Jahre alt ist. Die Untersuchung widmet sich Mensch-Tier-Verhältnissen im wilhelminischen Kaiserreich und hebt die Beziehung des Menschen zum Pferd dabei prominent hervor. Neben der Verwendung im Straßenverkehr werden sowohl die Rolle des Pferds als Kriegstier und die militärischen Einschreibungen und Ideale der Kavallerie, als auch die Genese des Pferdesports und des ›Damenreitens‹ in Deutschland beleuchtet. Insofern, als dass die Studie ein Zeitfenster fokussiert, das nur wenige Jahrzehnte vor dem Untersuchungszeitraum dieser Arbeit liegt und daher wichtige Aspekte einer Vorgeschichte des ›Nachpferdezeitalters‹ erschließt, ließ sie sich als fundamentale Vorarbeit verwenden. Nele Maya Fahnenbrucks Dissertationsschrift »… reitet für Deutschland«60 ist zwar thematisch und – aufgrund ihrer Fokussierung auf den Nationalsozialismus – auch zeitlich exakt am Ende des ›Pferdezeitalters‹ angesiedelt, konzentriert sich aber vor allem auf die politischen, sport- und sozialgeschichtlichen Verflechtungen des deutschen Reitsports. Wenn sie auch als zentraler Gegenstand des Reitsports gelten können, geraten Pferde daher innerhalb dieser Arbeit unweigerlich in den Hintergrund. Gleichwohl ist dieser anthropozentrische Ansatz für eine Rekonstruktion des Mensch-Pferd-Verhältnisses durchaus fruchtbar, liefert er doch vor allem wichtige Hinweise auf soziostruktureller Ebene.
Andreas C. Bimmer konstatierte bereits vor fünfzehn Jahren, dass »[d]em Wandel vom Nutz-, Trag- und Zugtier von einst zum fast ausschließlichen Freizeittier […] die volkskundliche Forschung und Publizistik bisher nur wenig Rechnung getragen«61 habe – und Ähnliches lässt sich auch für die übrigen Geisteswissenschaften feststellen. Dennoch gab es seitdem einige Publikationen, die Wegmarken dieses Veränderungsprozesses streifen. Simone Derix etwa erwähnt in einem 2014 veröffentlichten Aufsatz zur Geschichte der Zucht und Führung von Rennpferden im Hinblick auf die Zwiesprache zwischen Menschen und Pferden, dass »die Einschätzung, wie genau diese Kommunikation gestaltet sein sollte, im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte einem starken Wandel, der eine intensivere Untersuchung lohnen würde, die hier nicht geleistet werden kann«62, unterlegen habe. Diesen erkennt sie, in Referenz auf Haraways Companion Species Manifesto63, in der Tendenz zu dem Wunsch nach einem »partnerschaftliche[n] Umgang«64 mit Pferden und zu Versuchen, »Modelle zu entwickeln, die Pferd und Mensch ermöglichen, sich auf Augenhöhe zu begegnen«65.
Die mediale Präsenz des Pferds mag mittlerweile überaus dominant erscheinen – sodass Raulff gar konstatiert, es sei spätestens ab den sechziger Jahren »in die sekundäre Realität der Medien entrückt«66 – doch sollte sie nicht isoliert betrachtet, sondern stattdessen stets in ihren korrelativen Zusammenhang mit dem primärsozialen67, lebensweltlichen Tierkontakt gestellt werden. Ebenfalls erscheint die These einer generellen Separierung des Pferds von der alltäglichen Lebenswelt vor dem Hintergrund der Vielzahl seiner medialen Repräsentationen, die auf konkrete Begegnungen zwischen Mensch und Pferd rückwirken und feste Vorstellungen des Umgangs mit Pferden im Bewusstsein der Rezipienten verankern, fraglich. Ferner, so Raulff, sei das Pferd indessen »als Sport- und Therapiegerät, Prestigesymbol und Assistenzfigur der weiblichen Pubertät in den historischen Ruhestand«68 versetzt worden. Und in der Tat sind Pferde für die zeithistorisch orientierten Zweige der Militär-, Verkehrs- und weitestgehend auch der Landwirtschaftsgeschichte kaum von Interesse, doch bedeutet dies nicht, dass sie ihre kultur- und sozialgeschichtliche Relevanz eingebüßt hätten, bloß weil für sie inzwischen andere Funktionen vorgesehen werden.
Letztlich knüpft die von Koselleck wie Raulff vertretene Marginalisierungsthese an eine Tradition jener Verdrängungs- oder gar Extinktionsängste in Bezug auf Zukunft und Verbleib des Pferdes an, die in Anbetracht des rasanten Fortschritts der Motorentechnik ab Ende des 19. Jahrhunderts für Pferdezüchter_innen und -halter_innen immer stärkeren Nachdruck gewannen. In Anbetracht ihrer zeitgenössischen Virulenz erscheint es angebracht, zunächst die Rahmenbedingungen und Indikatoren für das Heraufdämmern eines ›Nachpferdezeitalters‹ zu beleuchten, bevor, darauf aufbauend, erste Indizien für eine kulturelle Neusemantisierung des Mensch-Pferd-Verhältnisses gesammelt werden können.
Der sehr allmähliche »Prozeß der Entlassung der Zugtiere«69 und des funktionellen Obsoleszierens des Reitens, durch den Pferde letztlich »in Rückzugspositionen abgedrängt worden sind«70, lässt sich als ein Phänomen der longue durée71 einschätzen. Seine Rahmendaten sind weder exakt zu terminieren, noch werden sie, aufgrund unterschiedlicher Perspektivierungen, innerhalb der Forschungslandschaft einheitlich benannt. Koselleck schätzt ihn etwa als »Vorgang, der sich über zwei Jahrhunderte erstreckt, von rund 1800 bis heute«72, ein und bemisst bereits die Erfindung der Dampfmaschine als initialen Faktor der technischen Ablösung73. Martin Scharfe hingegen bezeichnet erst die ersten Tests von Prototypen des Automobils 1886 als Auftakt und die letzten Einsätze von Pferdepostkutschen in Deutschland um 1937 als Abschluss.74 Raulff identifiziert den Zeitraum des »lange[n] Abschied[s]«75 »ziemlich genau mit dem, was man als das lange 19. Jahrhundert zu nennen sich angewöhnt hat«76 und zwischen »Napoleon und […] dem Ersten Weltkrieg«77 taxiert wird, räumt jedoch ein, dass der Umstellungsprozess von der tierlichen auf die motorisierte Arbeitskraft anschließend noch erheblich prolongierte78. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt er, »[e]rst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete definitiv die Epoche gemeinsamer historischer Arbeit«79 von Mensch und Pferd.
Ein Blick auf die Nutzungsdauer von Pferden in der Landwirtschaft offenbart in der Tat eine erhebliche zeitliche Ausdehnung der Ausläufer des sogenannten ›Pferdezeitalters‹. Frank Uekötter zufolge sei die Motorisierung des Agrarwesens zunächst als ein »stotternder, ungleichmäßiger Prozess mit zahlreichen Fehlzündungen«80 verlaufen. Noch Ende der 1950er Jahre regelmäßig zu verzeichnende Unvollständigkeiten bei der Reduzierung des Pferdebestandes landwirtschaftlicher Betriebe nach der Anschaffung eines Schleppers seien etwa ein Indiz für eine verbreitete Technikskepsis, die davon zeuge, dass das Vertrauen in die bewährte Arbeitskraft von Pferden noch immer überwog.81 Demgemäß relativiert Uekötter auch eine Aussage Ulrich Kluges, nach der das Jahr 1927 als der »Umkehrpunkt der Pferdehaltung« gelte.82 Kluge macht diese Ansetzung an der sich zwischen 1925 und 1929 von 7 000 auf 15 000 erhöhenden Anzahl der Traktoren fest83, vernachlässigt dabei jedoch, dass »der Pferdebestand in der Zwischenkriegszeit trotz Motorisierung mehr oder weniger stabil«84 blieb.85 Valider erscheint es daher, einen solchen Einschnitt nach Jutta Buchner-Fuhs erst zwischen 1950 und 1960 zu datieren, erhöhte sich die Zahl der Traktoren in der Bundesrepublik während dieses Zeitraums doch um 600 %, wohingegen sich der Zugpferdebestand unterdessen von 1,2 Millionen auf 660 000 Tiere nahezu halbierte86. Heinz Meyer gelangt zu einem ähnlichen Befund, indem er die nachgerade vernichtende Reduktion des Bestandes der vorwiegend als landwirtschaftliche Zugpferde verwendeten Rheinischen Kaltblutzucht zwischen 1947 und 1967 von 27 000 auf 48 Pferde anführt.87
Prägend für das sogenannte ›Ende des Pferdezeitalters‹ ist mithin die »›Gleichzeitigkeit‹ von ›Ungleichzeitigkeiten‹«88 – eine parallel stattfindende Verwendung der sich sukzessive bahnbrechenden technischen Innovationen des Fahrzeugwesens und der Pferdezugkraft, deren baldige Marginalisierung jedoch, nachdem sich in westlichen Gesellschaften »[d]ie Autoindustrie […] in den 1930er Jahren zur Schlüsselindustrie«89 entwickelt hatte, fraglos absehbar geworden war. Die Loslösung der Fahrzeugfertigung von den Obliegenheiten der im Zweiten Weltkrieg maßgeblichen Rüstungsindustrie ebnete schließlich den Weg zu einer Massenmotorisierung, die als ›Volksmotorisierung‹ bereits in der nationalsozialistischen Propaganda figuriert hatte90, im Verlauf des Krieges aber in den Hintergrund gerückt war91. Allerdings bedeuteten die unmittelbaren Nachkriegsjahre aufgrund von Kriegszerstörungen, der unter anderem in Form von Demontagen zu erbringenden Reparationsleistungen und Beschränkungen der Automobilindustrie92 zunächst ein Hemmnis für das Fortschreiten der Motorisierung, sodass Pferdefuhrwerke auch für die Versorgung im städtischen Raum kurzfristig wieder eine hohe Relevanz erhielten93.
Im Zuge der in den fünfziger Jahren einsetzenden wirtschaftlichen Konjunktur und der damit evozierten »Konsumwellen«94 verlor das Automobil zunehmend seinen exklusiven Status als Luxus- oder Gewerbegut95. Im Hinblick auf die Ausweitung des Individualverkehrs lassen sich schließlich »die 60er Jahre als das Jahrzehnt der Massenmotorisierung«96 bezeichnen. Der damit verbundenen »Veralltäglichung des motorisierten Straßenverkehrs«97 stand jedoch das allmähliche Verschwinden von Pferden aus dem Straßenbild und damit aus dem lebensweltlichen Nahraum des Menschen98 gegenüber. Die Gewöhnung an das millionenfach angeschaffte Kraftfahrzeug99 war an eine Entwöhnung von der bisher alltäglichen Begegnung mit Pferden geknüpft. Charakteristisch für diese noch von Simultaneität geprägte Ersetzungsphase war das noch bis Ende der fünfziger Jahre in deutschen Großstädten vereinzelt zu beobachtende100 Aufeinandertreffen von Automobilen und Pferdegespannen im Straßenverkehr, das bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wegen scheuender Pferde häufig zu virulenten Konflikten geführt hatte101. Die zunehmende Ausdünnung des im Verkehrswesen tätigen Pferdebestands hatte jedoch zur Folge, dass Gespanne von anderen Verkehrsteilnehmern mit der Zeit weniger als Gefahr, sondern allenfalls noch als Hindernis102 oder anachronistisch anmutendes Kuriosum wahrgenommen und also historisiert wurden. Innerhalb weniger Jahrzehnte veränderte sich die Rolle des Pferdes vom unabdingbaren, alltäglichen Beweger zum antiquierten Störfaktor.
Ein eindringliches, für solche Ungleichzeitigkeiten exemplarisches Tableau der Begegnung der als Herren der Straße entthronten Pferdefuhrwerke mit den als Prätendenten aufstrebenden Kraftfahrzeugen, das noch einmal minimale Zweifel an der baldigen, »fast unbegrenzte[n] Herrschaft«103 des Motors evozieren mochte, bemüht sowohl Raulff104 als auch Scharfe105: Es ist das Bild des liegengebliebenen Kraftfahrzeugs, das von kräftigen Zugpferden geborgen werden muss – ein paradox wirkender letzter Erweis der Verlässlichkeit des tierlichen Leistungsvermögens, dem ob seiner Unzuverlässigkeit unlängst von der nun strauchelnden Technik der Rang abgelaufen worden war. Solche Szenen führen die Gemächlichkeit des Lösungsprozesses von der funktionellen Verwendung des Pferdes, die auf Technikskepsis, Gewohnheiten und nostalgischer Verbundenheit zum Tier beruhte, figurativ vor Augen. Ferner bringen sie im auslaufenden ›Pferdezeitalter‹ aufkommende Tendenzen einer unter dem Bewahrungsgedanken gedeihenden Relevanzrhetorik in Bezug auf Pferde emblematisch auf den Punkt. Entsprechende Argumentationsmuster blieben aber mitnichten auf die Semantik solcher Begegnungen, die auch im zeitgenössischen Kontext eher zur Satire anregten106 als an der Durchsetzung der Motorenkraft zweifeln ließen, beschränkt. Sie entfalteten vor allem dort Vordringlichkeit, wo sich Menschen äußerten, die direkt betroffen waren, die ihren Lebensweg und -unterhalt auf und an der Seite von Pferden bestritten, ja, die sich Pferden verschrieben hatten.
Die, in Anbetracht der völligen Umgestaltung des Arbeitsprozesses und -alltags insbesondere in der Landwirtschaft, »epochale Erfahrung«107 des Umbruchs erscheint in retrospektiven Erzählungen Betroffener aufgrund der Evidenz der Vorzüge der Motorentechnik108 häufig als »völlig unspektakulärer Prozess«109. Gerade hier entpuppte sich die Frage nach der Ersetzung der Pferdezugkraft jedoch häufig als generationeller Konflikt »zwischen den traditionsorientierten Vätern und den innovationsbereiteren Söhnen«110. Neben einer noch gering ausgeprägten Technikakzeptanz offenbart die mit der Bezeichnung »als respektloses Beiseiteschieben eines ›treuen Helfers‹«111 zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der Trennung vom Pferd trotz des Arbeitskontexts auch das Vorhandensein einer emotionalen Bindung, die in Anbetracht einer langen Phase gemeinsam vollbrachter Arbeit gegenüber wirtschaftlich-rationalen Überlegungen überwog. Die Dankbarkeit und das Mitgefühl gegenüber den Tieren, die bislang konstitutiv für das eigene Einkommen gewesen waren, ließen viele Landwirte mangels einer alternativen Verwendung für ihre Pferde vor der Ersetzung zunächst zurückschrecken.
Evidenter noch, doch auf einem ähnlichen Prinzip der Arbeitskameradschaft beruhend, erscheint die, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Bergleuten gängige, geradezu anthropomorphisierende Wertschätzung von im Bergbau eingesetzten Grubenponys als »Kumpel auf vier Beinen«112. Auf der einen Seite waren die Tiere in einen durchweg instrumentellen Nutzungskontext eingebunden, wurden regelrecht »als technisches Gerät«113 definiert und erreichten in der Regel aufgrund der widrigen Arbeitsbedingungen nur ein geringes Lebensalter114. Der Pferdeeinsatz unter Tage unterlag also ausschließlich anthropozentrischen Verwendungsorientierungen115: Die Mensch-Pferd-Beziehung wurde weitgehend »entemotionalisiert und im Kontext der Industrialisierung des Bergbaus konsequent auf ihre Funktion reduziert«116, sodass die Tiere »vor allem aus ökonomischen Gründen«117 pfleglich behandelt wurden. Dennoch, oder unter dem Eindruck der geteilten Erfahrung einer physisch wie psychisch anspruchsvollen Arbeitssituation gerade deshalb, lassen sich auf der anderen Seite Tendenzen einer Solidarisierung der Bergleute mit den Arbeitspferden feststellen. Diese nahmen im Zuge der intensivierten »Ablösung von Grubenpferden durch die Grubenlokomotive«118 seit den zwanziger Jahren deutlich zu: Leid und Leistungen der Tiere wurden etwa in Gedichten gewürdigt119. Insbesondere in retrospektiver Betrachtung nahm die Bewertung des gemeinsamen Arbeitsalltags mit den Pferden Formen einer nostalgischen Verklärung an.120
Solche, parallel zu einer Regression der primärsozialen Begegnung mit Pferden verstärkt auftretenden, ideellen Aufwertungen auf der sekundärsozialen121 Ebene der Mensch-Pferd-Beziehung beschrieb Raulff als einen »[i]m Hintergrund der Trennungsgeschichte«122 verlaufenden »Prozess der Sublimation«123. Analog dazu stellte Buchner-Fuhs in Bezug auf die schwindende Verwendung von Pferden in der Landwirtschaft die These auf, dass »[d]ie Entwertung der Tiere in der Kultur […] mit einer hohen Emotionalisierung«124 einhergehe. Aline Steinbrecher weist auf die historische Parallelität einer zunehmenden »Ferne der Pferde«125 und der Intensivierung einer »intime[n] Nähe zu einer Gruppe anderer Tiergattungen«126, die sie als Indiz für das Einsetzen eines »Heimtierzeitalter[s]«127 anführt, hin. Tatsächlich lässt sich allerdings feststellen, dass, ab dem ausgehenden ›Pferdezeitalter‹, in Bezug auf das Verhältnis zum Pferd, verstärkt ähnliche Mechanismen einer mit einer Freundschafts- oder Liebessemantik128 ornierten, »wohlwollende[n] Emotionalisierung«129 griffen wie bei im menschlichen Wohnbereich gehaltenen Tieren.
Es mag einerseits verwundern, dass auf die Laufbahn des Pferdes als Arbeitstier und »animalischer Vektor«130 eine durch »erhebliche Sentimentalisierung und Vermenschlichung«131 seiner Semantisierungen evozierte »zweite historische Karriere als Freizeitartikel und Seelsorger der weiblichen Pubertät«132 folgte, wie Raulff sie reduktionistisch bezeichnet. Schließlich scheinen die beiden damit verbundenen, basalen sozialen Beziehungsmuster – ein anthropozentrisch orientiertes, instrumentell motiviertes Dienstverhältnis auf der einen, eine von Empathie, Zuneigung und Freundschaftssemantik geprägte Relation auf der anderen Seite – regelrecht diametral gegenüber zu stehen. Andererseits ist das simultane Vorhandensein verschiedener, vermeintlich widersprüchlicher Leitsemantiken133 der Verwendung von und der Beziehung zu Pferden charakteristisch für das endende ›Pferdezeitalter‹ und indikativ für einen laufenden Veränderungsprozess. So lassen sich etwa Anzeichen gefühlsbetonter Aufwertungen von Pferden in ihrer Funktion als Reittiere und Begleiter lange zurückverfolgen. Schon für die Zeit um 1800 sind etwa Grabdenkmäler für die Reitpferde von Aristokraten134 oder für verdienstvolle Kriegspferde135 nachzuweisen. Aufgrund der impliziten Interpretation toter Pferde »als Leiche – und nicht als Kadaver«136 können sie als Indikatoren dafür betrachtet werden, dass »soziale Konstruktion[en] einer ›Tierperson‹«137 bereits zu dieser Zeit für wenige, besonders wertgeschätzte Pferde adäquat erschienen, wenn diese auch auf geringe Anteile gesellschaftlich privilegierter Gruppen beschränkt blieben mochten.
Insbesondere im militärischen Kontext erfuhren Pferde über ihren funktionellen Einsatz als Kriegstier hinausgehende Anerkennung, die parallel zu dem mit der technischen Verbesserung der Feuerwaffen seit den Napoleonischen Kriegen feststellbaren Schwinden der strategischen Relevanz der Reiterwaffe138 signifikant zunahm und zugleich vermehrt gefühlsbasierte Einschreibungen erhielt. Im Deutschen Krieg von 1866 verstärkte sich der »Eindruck der Machtlosigkeit der traditionellen Kavallerie gegen die neue Position der Infanterie und Artillerie«139. Der preußische Militärhistoriker140 Max Jähns stellte in seiner 1872 erschienenen, kulturgeschichtlichen Monographie zur Bedeutung von Ross und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen mithin fest, die wenigen noch zu verzeichnenden, zeitgenössischen Erfolge der Kriegsreiterei seien »isolirte Bruchstücke one bedeutende Folge für das Ganze der Operationen: ihre alte Rolle, die Schlachten zu entscheiden, hat die Kavallerie eingebüst«141.
Trotz dieses Bedeutungsverlusts spricht Scharfe von einer »hohe[n] affektive[n] Besetzung und Bedeutung des Pferdes in der deutschen Kavallerie der wilhelminischen Zeit«142. Auch Buchner-Fuhs attestiert den Soldaten der Reiterwaffe des Deutschen Heers »emotionale Bindungen zum Kavalleriepferd«143, zeigt aber zugleich deren Grenzen auf, indem sie etwa herausstellt, dass der physische Kontakt zu den Pferden Restriktionen unterlag, »so daß das Streicheln jede Art von individueller Zuneigung, von Liebkosung des Pferdes ausschloß«144. Dennoch scheint der Einhaltung dieses Reglements nicht immer genügt worden zu sein. So monierte Jähns, »dasz nicht mer das stolze Reiten, sondern die Pflege des Pferdes Hauptgegenstand der militärischen Aufmerksamkeit«145 geworden sei, »das Soldatenpferd überhaupt eine völlig gleichberechtigte, ja wol eine überlegene Stellung seinem Reiter gegenüber«146 erlangt habe und inzwischen »das Pferd gar menschlich behandelt«147 werde.
Insgesamt überwogen im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs der Eigenschaften und Rollenmuster des Militärpferdes jedoch Beimessungen überragenden Muts, einer regelrechten Nibelungentreue und einer Veranlagung zur klaglosen Pflichterfüllung148, die wiederum auf den Reiter zurückwirkten und somit einen disziplinierenden und pädagogischen Benefit implizierten, durch den ein elitärer Status der Kavallerie zementiert werden sollte149. Die emotionale Aufwertung des Pferdes in der wilhelminischen Reiterwaffe bezog sich also weniger auf die Ausweitung affektiv motivierter Handlungsweisen in der direkten Begegnung zwischen Mensch und Pferd. Vielmehr fand sie in erster Linie auf einer sekundärsozialen Ebene statt. Die weit über die Kaiserzeit hinaus gepflegte Apotheose des Kavalleriepferds zu einer »Ikone des Soldatischen«150 und die Propagierung eines Einflusses des militärischen Reitens auf die körperliche und charakterliche Entwicklung des Reiters151 besaßen vor allem ideologischen Mehrwert, der den »Mythos der Kavallerie«152 weit über den Zeitpunkt ihrer strategischen Obsoleszenz hinaus fortwirken ließ.
Ferner lassen sie sich in den Kontext einer generellen Glorifizierung kriegerischer Opferbereitschaft im Wilhelminischen Kaiserreich, auf dem das spätere, fest im Kameradschaftsethos verankerte soldatische Idealbild eines martialischen »Härtekult[s]«153 im Nationalsozialismus fußte, einordnen. Durch den Opfertod war im 19. Jahrhundert nun auch rangniederen Soldaten der Erwerb eines sozialen Kapitals ermöglicht worden, welches »bis dahin allein dem Offizierskorps vorbehalten«154 geblieben war. Indem den Kavalleriepferden dieselbe Disziplin155 und dieselbe Hingabe des eigenen Lebens im Kriegseinsatz abverlangt respektive zugestanden wurden, an denen sich auch das soldatische Musterbild orientierte, wurden sie durch die somit erzeugte Vorstellung der Bildung einer »Leistungsgemeinschaft«156, aber auch einer Leidensgemeinschaft, mit ihren Kavalleristen in das militärische Kameradschaftsideal integriert.
Das notwendige verbindende Element für die vermehrte Auffassung des Verhältnisses von Pferd und Reiter als kameradschaftliche Unität bildete die Inanspruchnahme des auf »unbedingte[r] Unterordnung«157 basierenden Gehorsams beider. Diesem war zwar einerseits eine entindividualisierende Komponente inhärent, andererseits aber nivellierte er die interspezifische Alterität insofern, als dass er die Wahrnehmung einer wesensmäßigen Zusammengehörigkeit evozierte und damit eine emotionale Vergemeinschaftung der Kavalleristen mit ihren Pferden erreichte. Das darauf beruhende Selbstverständnis der Truppe, als ›Schicksalsgemeinschaft‹, die – inklusive der tierlichen ›Kameraden‹ – dem gemeinsamen Angesicht von Entbehrung und Todesgefahr durch ungebrochene Kohäsion begegnete und sich, dem höheren Siegeszweck verbunden, vollständig in den Dienst des ›vaterländischen‹ Staates stellte, erwies sich als hochgradig anschlussfähig an jene völkischen und nationalistischen Ideologeme, die seit Ende des 19. Jahrhunderts prosperierten. Die Inklusion der Kriegspferde in die Gefühlswelt dieses sprichwörtlichen Korpsgeists diente mithin als wichtige Grundlage für eine dem Pferd zugesprochene nationale Symbolkraft, die späterhin im Reitsport prolongierte.
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein blieb »[d]as Gros der Kavallerie und vor allem ihrer traditionsorientierten Führer […] weitgehend dem Leitbild der Attacke mit der blanken Waffe verhaftet«158, sodass sich behaupten lässt, dass »Anhänger der Kavallerie […] in einer ›Pferdewirklichkeit‹ lebten, in der sie die Zeichen der Moderne, das heißt den sich ankündigenden, zukünftigen Abschied vom Pferd, leugneten«159. Davon auszugehen, es handle sich dabei allein um einen »zynische[n] Atavismus«160, der mit einem »Starrsinn der Generalität«161 zusammenhänge, greift jedoch zu kurz. Vielmehr erscheint das Insistieren auf einer fortgesetzten Verwendbarkeit der Reiterwaffe und insbesondere der offensiven Attacke auch als Argumentationsmuster der Selbstbehauptung und damit als Erhaltungsstrategie162 im Angesicht des eigenen Relevanzverlusts. Dass die Realitäten der beiden Weltkriege letztlich stark von diesen Vorstellungen abwichen, die Kavallerie nun vornehmlich »bei der Aufklärung, Verschleierung und Verfolgung«163 zum Einsatz kam und Pferde in der großen Mehrzahl logistische Funktionen übernahmen164, schmälerte den etablierten Nimbus »einer elitären, wertorientierten Gesinnungstradition«165 nur geringfügig. Bei der Applikation charakteristischer ›preußischer‹ Sekundärtugenden auf das Pferd, in Kombination mit der Behauptung einer Korrelation mit der Ausbildung des Reiters, handelte es sich um eine Projektion eines idealisierten Selbstbilds der Kavalleristen166. Das Nachwirken eines solchen Leitbilds reicht weit über die Abschaffung der Kavallerie hinaus167 und ist noch immer als eine relevante Sinnrahmung für eine Mensch-Pferde-Beziehung einzuschätzen. Es lässt sich bereits erahnen, wenn man die militärischen Wurzeln des modernen Pferdesports168, die Tradition seiner »militärische[n] Prägung«169 und seine mediale Dominanz in Bezug auf mögliche Orientierungsmuster der Mensch-Pferd-Beziehung in Betracht zieht.
Insbesondere der organisierte Reitsport wies von Beginn an starke Verknüpfungen zur Kavallerie auf, stellten jene Pferderennen, die sich als Massenveranstaltungen im 19. Jahrhundert in Deutschland etablierten, doch bereits vormilitärische Wettkämpfe mit quasi-militärischer Symbolik und Attitüde dar, die als »für den berittenen Offizier von allergrößtem Nutzen in bezug [sic!] auf dessen militärischen Beruf wie auf seine und seines Pferdes Leistungsfähigkeit«170 galten und bei denen die Kombattanten »Mut, Geistesgegenwart, Geduld, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und in ihrer Folge Aufmerksamkeit und Ausdauer«171 beweisen und damit dem »Kriterium des alten Ritters«172 genügen sollten. Auf Rennsportveranstaltungen sollte ferner vornehmlich »die Leistungsfähigkeit der ›Zuchtprodukte‹ und zukünftigen Beschäler«173 präsentiert und somit auch ihre Tauglichkeit für den Kriegseinsatz demonstriert werden174. Die durch die Tradition militärischer Reitschulen geprägten Vorstellungen vom Reiten als Instrument der physischen und psychischen wechselseitigen Selbstoptimierung von Reiter und Pferd175 lassen sich im Foucault’schen Sinn als ein Instrument biopolitischer Gouvernmentalität176 auffassen, das originär explizit für die Erhöhung der Kriegstauglichkeit beider sorgen sollte. In Anbetracht der früheren Überschneidungen und genealogischen Bezüge zwischen kavalleristischem und sportlichem Reiten stellt sich die Frage, inwieweit solche Zuschreibungen der Eignung des Reitens zur Körper- und Persönlichkeitsschulung auch nach 1945 prolongierten und inwiefern sie nun etwaigen Veränderungen unterworfen waren.
Obschon anschließend durchaus noch Ansprüche an die Fortsetzung der Rolle des Pferdes beim Militär gestellt wurden177, wie noch auszuführen sein wird, erscheint es schlüssig »[v]on einem endgültigen Wandel im Verhältnis zum Pferd […] mit der Abschaffung der Kavallerie«178 und sonstiger militärischer Verwendungen des Pferdes, die sich für Deutschland auf das Ende des Zweiten Weltkriegs datieren lässt179, zu sprechen. Besonders spricht dafür der massive Pferdeeinsatz und -konsum der beiden Weltkriege, der nach 1945 freilich abrupt endete. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatte sich die Funktion von Pferden, dem horrenden Bedarf eines totalen Kriegs180 und der strategischen Entwertung des Kavallerieangriffs entsprechend, fast vollständig zugunsten ihrer Zugkraft »vor Gefechts- oder Troßfahrzeuge[n]«181 verschoben. Bereits zwischen 1933 und dem Kriegsbeginn 1939 war der Einhuferbestand der Wehrmacht jedoch von 42 000 auf 573 000 Tiere mehr als verzehnfacht worden.182 Die Zahl der auf deutscher Seite während des Kriegs eingesetzten Pferde wird in der Forschung schließlich weitestgehend gleichlautend auf 2,75 Millionen183 beziffert, während die Angaben zu den davon getöteten Tieren zwischen »mehr als die Hälfte«184, 1,8 Millionen185 und »75 Prozent«186, was in etwa zwei Millionen entspräche, variieren. Janusz Piekałkiewicz, der 1976 eine narrativ gehaltene, ereignisfokussierte, reich bebilderte Monographie zur Pferdeverwendung im Zweiten Weltkrieg vorlegte, gibt an, dass pro Kriegstag durchschnittlich 865 Pferde für das Deutsche Reich gefallen seien.187 Dabei war der Einsatz von Pferden als Zugtiere ab Ende 1941 noch einmal intensiviert worden. Fahrzeuge und Panzer hatten sich den widrigen winterlichen Wetterverhältnissen der ›Ostfront‹ nämlich als kaum gewachsen erwiesen, sodass die Aufrechterhaltung des deutschen Nachschubsystems weitestgehend durch Pferde gewährleistet werden musste. Defizite hinsichtlich der Wartung der Maschinen und ein zunehmender Mangel an Ersatzteilen machten sie schließlich für die Mobilität der Wehrmacht unabdingbar.188
Auch für die im Zweiten Weltkrieg endgültig erwiesene Obsoleszenz der Kavallerie figuriert ein emblematisches Aufeinandertreffen von Tier und Maschine als ikonenhafte Reminiszenz, die nachgerade zum historischen Mythos verklärt wurde189. Bereits am ersten Kriegstag, dem 1. September 1939, sah sich das 18. Pommersche Ulanenregiment der polnischen Armee bei einem Angriff auf ein Bataillon des deutschen motorisierten Infanterieregiments 76 in der Nähe des Dorfs Krojanty in der Tucheler Heide plötzlich herannahenden deutschen Panzern gegenüber.190 Da die einzige Möglichkeit, sich dieser aussichtslosen Konfrontation zu entziehen, offenbar in einer Flucht nach vorn bestand, versuchten die polnischen Reiter »in einem halsbrecherischen Manöver […], so schnell wie möglich an den Panzern vorbeizukommen«191 und erlitten dabei empfindliche Verluste192. Befördert durch die Erlebnisberichte von Wehrmachtssoldaten an den italienischen Kriegsberichterstatter Indro Montanelli verbreitete sich anschließend die Erzählung, die Ulanen hätten die Panzer mutwillig mit Säbeln und Lanzen attackiert, und wurde von der nationalsozialistischen Propaganda bereitwillig aufgenommen.
So zierte das Titelblatt der Oktoberausgabe 1939 der Zeitschrift Der Pimpf, die Jungen im Alter von 10-14 Jahren durch Abenteuergeschichten und Erlebnisberichte auf Krieg und Soldatenzeit vorzubereiten und einzuschwören suchte193, eine martialische Illustration des ›Gefechts bei Krojanty‹, auf dem ein deutscher Panzer eine Gruppe mit gezogenen Nahkampfwaffen attackierender Reiter mit ihren Pferden regelrecht überrollt.194 Der 1941 veröffentlichte Spielfilm Kampfgeschwader Lützow adaptiert das Zusammentreffen ebenfalls und stellt es so dar, als seien die polnischen Kavalleristen geradezu blindwütig in die deutschen Panzer hineingeritten.195 In der nationalsozialistischen Darstellung des Vorfalls wurde diese Interpretation der Begegnung vorwiegend benutzt, um die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Waffen zu zelebrieren und dem polnischen Gegner hoffnungslose Rückständigkeit, »Selbstüberschätzung und Fanatismus zu unterstellen«196.
Auch nach Kriegsende hielt sich der Mythos eines übermütigen polnischen Kavallerieangriffs auf deutsche Panzer – nicht zuletzt, weil der damals befehlshabende Panzergeneral Heinz Guderian ihn in seinen 1951 erschienenen Memoiren nochmals befeuerte, indem er behauptete, dass »[d]ie polnische Kavallerie-Brigade Pomorska […] in Unkenntnis der Bauart und Wirkung unserer Panzer mit der blanken Waffe attackiert und vernichtende Verluste erlitten«197 habe. Dass das daraus entwickelte Narrativ bis heute rudimentär nachwirkt, zeigt sich etwa daran, dass die Anthropologin Pita Kelekna in ihrer 2009 veröffentlichten, gesamtgeschichtlichen Darstellung des Mensch-Pferd-Verhältnisses schreibt:
But with the advent of tank warfare in World War II, cavalry maneuvers in battle were all but discontinued. Noble attempts by Polish cavalry forces to counter the German advance on the Eastern Front met only with disaster; horses were no match for Hitler’s panzer divisions and dive bombers.198
Obwohl spätestens 1976 durch Piekałkiewicz widerlegt199, wird die Legende auch in militärwissenschaftlichen Publikationen des 21. Jahrhunderts noch bemüht200. In der deutschsprachigen Presselandschaft erschienen in den letzten Jahren vermehrt Artikel, die sich des Themas annahmen201, wobei deren Fokus vorwiegend darauf lag, auf die propagandistische Verfälschung aufmerksam zu machen und Entstehung, Verbreitung und Überdauern nachzuzeichnen. Ferner ist das ›Gefecht bei Krojanty‹ Gegenstand einer jährlich am historischen Schauplatz stattfindenden Reenactmentveranstaltung.202 Eine Ursache für dieses neuerliche Entfachen der Faszination für die Schlachtfeldbegegnung zwischen Reitern und Panzern liegt darin, dass sie die »Mehrschichtigkeit historischer Zeiten«203 prägnant zu vergegenwärtigen vermag. Denn, auch wenn bei Krojanty keine Reiterattacke auf Panzer stattfand, hat es ein Aufeinandertreffen jener Kombattanten, die aus verschiedenen Epochen der Kriegsführung zu stammen scheinen, sehr wohl gegeben. Nicht erst der heutige, zur Historisierung beitragende Attraktionscharakter exemplifiziert die Semantisierung der Reiterwaffe als Symptom des Vergangenen, bereits die zeitgenössische Genese des historischen Narrativs kennzeichnete die Kavallerie als Relikt aus vormodernen Zeiten, die auf dem Schlachtfeld im Grunde nichts mehr verloren hatte, da sich seine Pointe allein aus der geringen Erwartbarkeit eines solchen Ereignisses speiste.
Dass Koselleck die equine Todesrate des Zweiten Weltkriegs letztlich »als Indiz für ein mörderisches Ende des Pferdezeitalters«204 bewertet, erscheint angesichts der endgültigen Zäsur in der militärischen Verwendung plausibel. Auch »[d]ie letzten großen Kavallerieeinheiten der Welt, die der Roten Armee«205 wurden bis »Mitte der fünfziger Jahre«206 aufgelöst. Zwar wurden »in verschiedenen Heeren weiterhin zu repräsentativen, pädagogischen und sportlichen Zwecken, aber nicht aus wehrtechnischen Gründen«207 Kavallerieabteilungen unterhalten, doch im Kriegsfall beschränkte sich die Rolle von Equiden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allenfalls noch auf ergänzende Transportfunktionen auf unwegsamem Terrain208. Dennoch erscheint der Zweite Weltkrieg angesichts des exzessiven Pferdegebrauchs als Kulminationspunkt der Intensität einer instrumentalistischen Nutzung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »durch die Intensivierung der Landwirtschaft und die Zunahme des Verkehrs«209 bereits enorm ausgeweitet worden war210.
Stehen zum Reitsport und zum Mensch-Pferd-Verhältnis in der Bundesrepublik bereits mehrerlei Untersuchungen zur Verfügung, blieben die parallelen Entwicklungen der Pferdenutzung in der DDR bislang weitestgehend ein blinder Fleck auf der wissenschaftlichen Landkarte. Als einziges nennenswertes Gegenbeispiel sticht ein Kapitel der 2005 erschienenen Dissertation Bürgerlicher Sport in der DDR und Polen 1945–1989 von Dorota Winiarska hervor211. Darin analysiert die Autorin den Bedeutungswandel des Reitsports in der DDR im Hinblick auf die These, dass er genuin zu den »Oberschicht-Sportarten«212, die »aufgrund hoher Mitgliedsbeiträge und Klassenvorurteile den sozial führenden Schichten vorbehalten«213 waren und »die Masse des Volkes«214 ausschlossen, zähle. Im Zuge der »Umstrukturierung des Sportapparats«215, die auch ein »Wiederaufflammen der traditionellen Formen der Arbeitersportbewegung«216 evozierte, sei solch »›bürgerliche[r] Sport durch eine […] sozialistische Körperkultur und Sportbewegung abgelöst«217 und marginalisiert worden. Winiarskas Untersuchung, die sich zu weiten Teilen auf Aussagen des DDR-Pferdesportfunktionärs Erich Oese218 stützt, konzentriert sich freilich auf die Bedingungen, die soziale Reichweite und das Ansehen des DDR-Pferdesports und fokussiert mithin vor allem den Leistungssport, weshalb die Rolle des Pferdes weitgehend auf die Funktion als Sportgerät beschränkt bleibt. Auch die 2005 zum hundertjährigen Jubiläum des deutschen Pferdesport-Dachverbands FN219 erschienene und von ihm herausgegebene Chronik 100 Jahre Pferdezucht und Pferdesport in Deutschland enthält lediglich ein zwölfseitiges Kapitel zum Reitsport in der DDR, das sich vor allem der Inkorporation des DDR-Pferdesportverbands DPV in die westdeutsche FN nach der politischen Wende widmet.220 Wenn der Sportjournalist und ehemalige DDR-Sportfunktionär Volker Kluge221 dem Reitsport auch attestiert, sich in der DDR »großer Beliebtheit«222 erfreut zu haben, nimmt sein Bericht darüber in dem 2004 veröffentlichten Überblickswerk zum Sport in der DDR nur etwas mehr als eine Viertelseite ein223. In der retrospektiven Wahrnehmung scheint seine Bedeutung innerhalb des DDR-Sportsystems also ebenfalls nur eine geringe Rolle gespielt zu haben.
Überhaupt zentrieren sich sowohl die sportgeschichtliche Perspektive als auch Analysen der Mensch-Pferd-Beziehung stark um das westdeutsche Geschehen. Angesichts der dem Gebiet der ehemaligen DDR im Reiten zugemessenen, weit zurückreichenden Traditionswerte224, wie sie etwa der preußischen Kavallerie angediehen werden225, erweckt der Existenzzeitraum der DDR daher einen zäsurhaften Eindruck. Wenn dem Pferd im Rückblick auf die DDR bislang überhaupt Beachtung geschenkt wurde, so konzentrierte sich der Blick fast ausschließlich auf den Leistungsreitsport. Andere Aspekte, wie das Freizeitreiten oder konkrete, lebensweltliche Inhalte und kultursemantische Dimensionen der Mensch-Pferd-Beziehung fanden hingegen kaum Berücksichtigung.
Dabei erscheint die Frage danach vor dem Hintergrund der staatlich verordneten sozialistischen Umgestaltung des Landes, dem weltanschaulichen »Gesellschaftsentwurf der SED […] und dem dadurch bedingten Wandel des Tierbildes und des Umgangs mit Tieren«226 besonders von Interesse. Denn innerhalb eines weitgehend rationalisierten, auf Fortschrittstreben fokussierten »Mensch-Natur-Verhältnisses […], das einen Raubbau der Natur bei gleichzeitiger intensivierter Nutzung von natürlichen Ressourcen verhieß«227, zeichnete sich der für das technische Zeitalter symptomatische Scheideweg einer »Polarisierung möglicher Mensch-Tier-Beziehungen zwischen Personalisierungen des tierischen Gegenübers einerseits und seiner Reduzierung auf sachliche Nutzung andererseits«228 besonders deutlich ab. Die bisherigen Funktionalisierungen und Semantisierungen von Pferden standen in Anbetracht ihrer wirtschaftlichen und militärischen Obsoleszenz fundamental in Frage. Im Lichte »einer exzessiven, rohstoffintensiven Produktionsweise«229 und eines nutzenorientierten, sozialistischen Erneuerungsethos erhielten die Fragestelllungen des ›Nachpferdezeitalter‹ nach zukünftigen Verwendungsmöglichkeiten und Aufgabenstellungen der Pferdehaltung und -zucht besondere Bedeutung. Die rationelle Ausrichtung auf Wirtschaftsleistung unter Nutzung aller verfügbaren Ressourcen machte es zwar notwendig, dass der Einsatz von Pferden insbesondere in der Landwirtschaft vergleichsweise lange prolongierte, doch lässt sich dadurch allenfalls von einer leichten Verschiebung des Ablösungsprozesses sprechen.
Mit dem Abbau »ideologische[r] Vorbehalte gegenüber der ›Heimtier‹-Haltung«230, die wegen ihres kleinbürgerlichen Rufes von Seiten des SED-Regimes als der sozialistischen Ideologie widerstrebend geächtet war231, eröffneten sich auch hinsichtlich der Semantisierung von Pferden neue Perspektiven. Im Rahmen der unter der Ägide Honeckers begonnenen Einleitung »sogenannter weicher Stabilisatoren«232 auf dem Weg in eine »Fürsorgediktatur«233
wurde angesichts des hohen Bedürfnisgrads in der Bevölkerung auch Tierhaltung, die nicht mehr nur wirtschaftlichen Primärzwecken unterlag, gutgeheißen. Als »Teil der Charakterbildung«234, als Möglichkeit zur Rekreation, zur Bildung und zur Wiederkontaktaufnahme mit der Natur erhielt die Heimtierhaltung nun Beimessungen eines sozialen Benefits, durch den sie dem bisherigen »Rechtfertigungsdruck«235 entzogen wurde.236 Dem mit der Pferdehaltung untrennbar verknüpften Reitsport wurden in seiner Eigenschaft als Leibesertüchtigung sowie aufgrund seiner in der Kriegsführung wurzelnden Nähe zum Militär ferner zusätzliche Relevanzfaktoren zugesprochen.
In Anbetracht dieser Verschiebungen des gesellschaftlichen Klimas hinsichtlich der Funktionen des Umgangs mit Tieren stellt sich die Frage, inwieweit es möglich war, trotz der rigiden SED-Doktrin und des bisweilen drakonischen staatlichen Zugriffs, Pferden außerhalb der starren Strukturen des DDR-Sportsystems zu begegnen. In diesem Zusammenhang ist überdies von Interesse, ob sich innerhalb von Mensch-Pferd-Verhältnissen in der DDR ähnliche Tendenzen abzeichneten, wie sie zeitgleich in der Bundesrepublik erkennbar wurden. Hierunter ist zum einen der schon ab den fünfziger Jahren in Westdeutschland zunehmende Trend des Freizeitreitens zu verstehen, dessen Entwicklungsmöglichkeiten und Freiräume innerhalb der streng organisierten realsozialistischen Gesellschaft zunächst limitiert erscheinen. Zum anderen stellt sich auch für die DDR die Frage nach einer Verortung des Pferdes innerhalb einer sich zunehmend konsolidierenden »klassifikatorische[n] Ordnung der Tierwelt«237 und inwieweit sich anhand ihrer Semantisierungen und des Umgangs mit ihnen von einer Distanzierung von einer Definition als »Wesen mit Objektcharakter«238, bei denen gesellschaftlich dominante Beziehungsmuster vorwiegend utilitären Rollenerwartungen folgen, sprechen lässt. Auf der Gegenseite dieses für moderne, industrialisierte Gesellschaften kennzeichnenden Gefüges stehen Tiere »mit Subjektcharakter, zu denen sympathetische Beziehungen aufgebaut werden«239 – eine ökologische Nische, die in erster Linie für solche Tierarten, die im menschlichen Nahraum gehalten werden können, also Heimtiere, reserviert zu sein scheint240. Die »zunehmend emotionale Bedeutung als Freund des Menschen«241, die Pferden in Deutschland bereits seit dem 19. Jahrhundert nachweislich beigemessen wurde und die in der Bundesrepublik großen Auftrieb erhielt, lässt sich durchaus ebenfalls in diese Kategorie einordnen. Ihr steht eine historisch lange Phase der wirtschaftlichen Nutzung des Pferdes gegenüber, in deren Tradition die Relevanz von Beziehungsformen, die sich nicht allein an Nutzenerwägungen orientieren, in Anbetracht des vorherrschenden Utilitätsethos des sozialistischen Gesellschaftssystems der DDR unwahrscheinlich anmutet.
Dennoch lohnt gerade der Blick auf eine etwaige Freundschaftssemantik des Mensch-Pferd-Verhältnisses, war der Freundschaftsbegriff im Alltagsleben der DDR doch sowohl durch die Propagandasprache der Partei242 als auch als »Instrument von Herrschaft, das per Diktat Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit verordnet«243, omnipräsent. In Anbetracht dieser weitreichenden, im Rahmen eines »proletarische[n] Internationalismus«244 politisch stark aufgeladenen politischen Besetzung von Freundschaftskategorien erscheinen die Möglichkeiten einer auf Vertrautheit und Nähe beruhenden Mensch-Tier-Beziehung »[i]n einer Gesellschaft, die auf Kontrolle und Unterordnung des Individuellen und Privaten zielte«245 wie ein eskapistisches Surrogat. In diesem Zusammenhang erhält neben der mit einer sentimentalisierten Subjektivierung verbundenen Freundschaftssemantik auch die mit Pferden und Reiten gemeinhin in Verbindung gebrachte Freiheitssymbolik Relevanz. Solche Konnotationen speisen sich zum einen aus der beim Reiten empfindbaren Kombination aus den Reizen der Geschwindigkeit, dem Gefühl des Getragenwerdens, dem direkten Körperkontakt mit dem Tier sowie dem Spüren und der Aneignung der tierlichen Kraft, Spontaneität und Lebendigkeit246. Zum anderen beruhen sie auch auf dem Erleben des Mensch-Pferd-Kontaktes als »eine intensive Naturbegegnung«247, bei der sowohl der Kontakt zum Pferd selbst in seiner Auffassung als Naturwesen, als auch der Ritt im Gelände als eine »Flucht vor den Zwängen der Industriegesellschaft«248 offerierendes Naturerleben interpretiert werden können. Über eine Distraktionsfunktion hinausgehend, ermöglichen harmonisierte Mensch-Pferd-Beziehungen also auch kompensatorische Orientierungsmuster zur Kanalisierung eines erhöhten Freiheitsbedürfnisses, die ferner der vor allem in der späten DDR signifikanten Tendenz eines »verstärkten Rückzug[s] ins Private«249 entsprechen.
Dass die Negation kriegerischer Implikationen des Reitens mit dem Verebben des ökonomisch relevanten Einsatzes von Pferden zusammenfiel, bot hinreichend Raum für Einforderungen eines ethischeren Umgangs mit ihnen. So bemerkte Meyer, dass »[v]or allem die im Laufe der Zeit ausgebildete Distanz zur handfesten Nutzung der Tiere […] die rigorosen moralischen Postulate zum Umgang mit den leidensfähigen Wesen ›anderer‹ Art«250 gestattet und gefördert hätten. Die Behandlung von Pferden hatte sich nicht mehr allein an der Erhaltung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit für den Arbeitseinsatz zu orientieren. Das Fehlen einer Notwendigkeit ihrer Beanspruchung ließ mehr Raum für empathische Zugänge. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Abkehr von den bisher dominanten Sinnrahmungen der Mensch-Pferd-Beziehung, die vorwiegend Verwendungskontexte als Kriegstier und als Arbeitstier vorsahen, in aller Regel prozesshaft verlief. Aufgrund des instrumentellen Charakters solcher Nutzungen scheint in dieser Übergangsphase zunächst wenig Raum für eine Ausweitung freundschaftlich semantisierter Faktoren in der Beziehung zum Pferd geboten.
Dennoch eröffnete vor allem der weitgehende Fortfall des militärischen Verwendungskontexts Gelegenheiten für eine Intensivierung anderer Nutzungsoptionen. Vor allem der Reitsport erwies sich als adäquate Alternative – ließen sich »der agonale Idealismus einer elitären Gesellschaftsschicht sowie ein ›Reitergeist‹, der die Kavalleristen der verschiedenen Nationen einte«251 doch einwandfrei vom Schlachtfeld auf den Parcours oder das Dressurviereck übertragen. Dabei trat zuweilen der Appell an eine national apostrophierte Konvention der »Pferdeliebe« hervor, die nicht als bloße sentimentale Anwandlung übergangen werden dürfe. Ein solches Insistieren auf weit zurückreichende Traditionswerte speiste sich freilich auch aus einer langen Phase der Pferdenutzung.
Wenngleich Vorformen des modernen Pferderennsports Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland durchaus bereits eine lange Tradition besaßen – etwa schon als »Volksfest des Mittelalters«252 oder in Form von Wettrennen als frühneuzeitliches Freizeitvergnügen253 – etablierte er sich doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts als ein von England ausgehender »personaler Kulturtransfer«254 und darf dabei als erste von zahlreichen von dort aus importierter Sportarten gelten. So lassen sich die Veranstaltungen erster Rennen in Bad Doberan 1822 und 1828 auf die Initiative des Londoner Pferdehändlers Richard Tattersall255 zurückführen, der im norddeutschen Raum englische Vollblutpferde an adlige Grundbesitzer veräußerte und die Wettkämpfe als Werbeplattform etablierte.256 Vorformen des modernen Turniersports, als eine Kombination aus verschiedenen Reitwettkämpfen, wie etwa Spring- oder Dressurprüfungen, kamen hingegen, in enger Anbindung »an die Militär-Reitinstitute und Kavallerieschulen«257, erst um die Jahrhundertwende auf258 und entwickelten sich bis Mitte der 1920er Jahre zu beliebten, weit verbreiteten Massenevents259. Insbesondere auf internationalen Wettkämpfen, wie etwa bei den Olympischen Reiterspielen, auf denen deutsche Reiter sehr bald reüssierten260, zählte auch der Aspekt einer »Demonstration des hohen Standards der kulturellen Entwicklung des deutschen Reichs«261 anhand einer überlegenen Reitkunst zum Aufgabenbereich der Sportler und Pferde.
Die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, insbesondere im ruralen Raum zahlreich gegründeten Reit- und Fahrvereine bildeten die breite Basis für künftige Erfolge262. Als mehrheitlich »großbürgerlich, nationalkonservativ, antidemokratisch und antimodern«263 geprägte, »geschlossene Clubs der oberen Gesellschaft […] boten sie sich zur politischen Funktionalisierung seitens der Nationalsozialisten besonders gut an«264. Bis 1945 zementierte der Reitsport in Deutschland seinen hohen Stellenwert als ein elitärer Agon »für das sich aus Selbsterhaltungstrieb immer noch Leistungsproben stellende Standesmitglied«265 des ländlichen Adels, das damit zugleich seine Verbundenheit zum Militär demonstrieren konnte. Ferner lässt er sich als Sport der ›Herrenreiter‹266, angesichts seiner Funktion als Zulieferer und Trainingsfeld des Pferdematerials der Kavallerie267 sowie der im Zusammenhang mit der Etablierung von Pferdewetten enormen Preisgelder268, in den Kontext »familiale[r] und gruppenspezifische[r] Strategien der intra- und intergenerationellen Positionsabsicherung bzw. -verbesserung«269 einordnen. Daher eignete er sich auch als ein Mittel der »Übernahme oder gar Kopierung von Lebensstil, Standesmentalität und -bewußtsein des traditionellen Adels durch aufsteigende Bürgerliche«270, Prestige und damit die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Führungsschicht ostentativ zur Schau zu stellen271. Sein ländlicher Charakter und die zunehmende Verfügbarkeit der wirtschaftlich sukzessive obsoleszierenden Pferde garantierten dennoch eine breite Anschlussfähigkeit und bargen damit das Potenzial einer Entwicklung zum Massensport.
Das Prosperieren des Reitsports im Augenblick des wirtschaftlichen Bedeutungsverlusts equiner Trag- und Zugkraft mutet retrospektiv zunächst wie eine Selbstverständlichkeit an. So haben »[d]ie Veränderungen in der Struktur der modernen Heere, die seit dem Zweiten Weltkriege teilweise oder auch ganz auf das Pferd verzichten […] ein gewisses Vakuum geschaffen, das vom zivilen Reitsport rasch ausgefüllt wurde«272, wie Wilhelm Hansen, der damalige Vorsitzende des Deutschen Olympiade-Komitees für Reiterei (DOKR) und der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) bereits 1957 konstatierte. Gleichwohl zeichnete sich angesichts der Ablösung der Pferde in militärischen und wirtschaftlichen Nutzungskontexten und der allmählich schwindenden Bestandszahlen ein »Kampf für die Erhaltung des Pferdes in Wirtschaft und Kultur in der europäischen Mitte«273 ab, dessen Kräfteverhältnis zuungunsten der Pferde erscheinen mochte. Denn aus ökonomisch-rationaler Perspektive konnten die horrenden Kosten der Pferdehaltung, die nunmehr endgültig als Form des Luxurierens erscheinen musste274, eine Intensivierung des Verhältnisses zum Pferd, das nun als »roadkill of history«275 lediglich noch dem Zeitvertreib zu dienen vermochte, kaum rechtfertigen.
Dass es dennoch gelingen konnte, Reitsport dauerhaft als gefragte Freizeitbeschäftigung und populäres Medienthema zu etablieren, ist eng an die sozioökonomische Entwicklung der Bundesrepublik und in anderen westlichen Industriestaaten seit 1945 geknüpft. Bei wirtschaftlichem Aufschwung und steigendem Freizeitvolumen traten »an die Stelle von Verzicht und Pflichterfüllung […] zunehmend Hedonismus und Selbstverwirklichung«276. Dabei ist zu beachten, »daß Sport zu den Handlungsbereichen zählt, in denen sich die aufkommende ›Freizeitgesellschaft‹ am frühesten artikulierte«277, womit er an Bedeutung und Präsenz gewann und zu einem »einflussreiche[n] Segment der Popularkultur«278