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Als die Gießener Ärztin Kristina Hänel am 3. August 2017 nach Hause kommt, erwartet sie ein Brief vom Amtsgericht. Nichtsahnend öffnet sie den Umschlag. »Strafverfahren gegen Sie wegen Werbens für den Abbruch einer Schwangerschaft …« Laut §219a StGB gilt die Sachinformation auf ihrer Homepage als Werbung und ist verboten, ein Umstand, den Abtreibungsgegner nutzen, um Mediziner*innen bundesweit anzuzeigen. Bislang unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit. Dies ändert sich mit der »Causa Hänel«, als die Ärztin ihren Fall mit einer Petition öffentlich macht und mit Haut und Haar für die Aufklärung über §219a und seine Abschaffung eintritt. Als Galionsfigur der Kampagne für das Recht auf Information zum Schwangerschaftsabbruch wird Kristina Hänel große mediale Aufmerksamkeit zuteil, doch die Reduzierung auf den Begriff »Abtreibungsärztin« akzeptiert sie nicht. In einem persönlichen Tagebuch hält sie mit ungefilterter Offenheit fest, welche inneren und äußeren Kämpfe sie vor, während und nach dem Prozess begleiten und sie zu der öffentlichen Person werden lassen, die sie heute ist. Dabei ordnet sie ihr Engagement gegen den §219a ebenso in die Geschichte des Kampfes für Frauengesundheit ein wie in den umfassenden Kontext ihres Wirkens als Ärztin und Mensch.
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Seitenzahl: 334
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Kristina Hänel
Das Politische ist persönlich
Mit einem Vorwort von Luc Jochimsen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg
Umschlaggrafik: © Sabrina Gröschke, www.formgefuege.de
© Federzeichnung S. 136, Das einfühlsame Rechtsgespräch, Philipp Heinisch
EPUB: ISBN 978-3-86754-844-1
MOBI: ISBN 978-3-86754-845-8
Ich widme mein Buch einem Mädchen. Sie wächst in einer mittleren Kleinstadt Deutschlands auf. Das Mädchen ist behindert. Ihr Bruder hat während der Schwangerschaft der Mutter einen Virusinfekt gehabt, der das Mädchen noch im Mutterleib erreichte. Eines Tages kommt der Junge mit dem Fahrrad nach Hause. Er findet seine Schwester vor der Garage im Garten liegend. Beschmutzt, befleckt. Er sieht die Spuren der Vergewaltigung. Die drei Jungen oder Männer, die es waren, werden nie gefasst werden. Es dauert eine Ewigkeit, bis Hilfe eintrifft. Dann kommt die Mutter. Sie bringt das Mädchen ins Krankenhaus. Wir wissen nicht, ob das Mädchen schwanger ist oder nicht. Wir wollen nur, dass sie gerettet wird. Sie soll weiterleben können, gesund. So gut es eben geht.
Ich will nicht, dass über Menschen wie sie bestimmt wird, ohne dass man sich für ihre Geschichten interessiert. Ich kann es nicht ertragen, dass es Menschen gibt, die behaupten, Frauen würden leichtfertig abtreiben.
Ihr gebe ich meine Stimme. Für ihre Rechte kämpfe ich. Ihr widme ich dieses Buch.
Ehrlich gesagt: den Paragrafen 219a Strafgesetzbuch kannte ich gar nicht, wusste nichts von ihm und über ihn bis zur »Causa« Kristina Hänel im Jahr 2017/2018. Ich kannte immer nur den §218. In den dunklen 60er Jahren, als ich in Hamburg als junge Frau auf der Suche nach einer ADRESSE war, wie das damals hieß:
»Hast du eine Adresse?«
»Kennen Sie jemand?«
»Wo?«
»Wie viel?«
Den Paragrafen 218 Strafgesetzbuch kannte ich also und sollte ihn noch genauer kennen- und verstehen lernen, als ich mich 1971 zusammen mit hunderten, dann tausenden und schließlich Millionen Frauen (und Männern auch) gegen ihn zur Wehr setzte und öffentlich machte »ICH HABE ABGETRIEBEN« und den politischen Kampf aufnahm. Und wenn ich diesen Kampf gegen den §218 seit 1971 nicht selbst erlebt und mitgemacht hätte – mit den Selbstbezichtigungen, Demonstrationen, Petitionen, Kundgebungen, Buchveröffentlichungen, Debatten, Fernsehfilmen, Reisen nach Holland … – ich würde es einfach nicht glauben, dass jetzt, nach fast 50 Jahren, die ganze Geschichte wieder von vorne anfängt. Mit dem §219a, den wir damals in unserem Kampf wohl übersehen haben.
Ja, es geht wieder los mit der Hatz auf Ärztinnen und Ärzte, der Verlogenheit ihrer Standesvertretung, der Justiz-Schizophrenie samt Willkür, den Märchen vom Dammbruch der Moral und der drohenden Gefahr für den Schutz des Lebens, mit der Unmenschlichkeit gegenüber Frauen und dem Verrat einer sozialdemokratischen Regierungspolitik, die angeblich »anders handeln möchte, aber nicht kann«, aus Rücksicht auf die CDU/CSU. Im Jahr 2018 sind wir wieder da, wo wir längst glaubten nie wieder hinzumüssen. Und weil das so ist, muss auf die nun fast 50 Jahre währende »Reform-Geschichte« des §218 in diesem Land noch einmal eingegangen werden.
1971, 1974, 1976, 1992, 1995 … sind die Daten und Stationen eines zivilen Kampfes gegen ein uraltes Strafrecht, das Frauen in ihrer Existenz trifft wie kein anderes – und mit ihnen helfende Ärzte.
Es ist eine »zweigeteilte« Geschichte, denn der Massenaufstand der Frauen ab 1971 und die 1974 per Gesetz kurzfristig erkämpfte Straffreiheit in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft, die 1976 vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde und zu einer Indikationsregelung führte, war eine Sache der alten Bundesrepublik. Der Kampf endete in einem faulen Kompromiss, der allerdings praktisch jedes Jahr tausenden Frauen außerhalb der Illegalität die Möglichkeit gab, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Im Grundsatz allerdings war der Kampf verloren. Von ersatzloser Streichung des Strafparagrafen keine Spur, es gibt nicht mal Straffreiheit zumindest innerhalb einer Frist.
14 Jahre lief das so in der BRD. Dann kam die Wende und siehe da: In der DDR galt anderes Recht. Frauen konnten während der ersten drei Monate der Schwangerschaft abtreiben – ohne Rechtfertigung, ohne Begründung. Diese Justiz-Schizophrenie musste nun, laut Einigungsvertrag, aufgelöst werden. Ein schöner Schock für den Westen und den Osten und ein unerwartetes Geschenk für die bundesrepublikanischen Frauen, die des Kampfes längst müde geworden waren und aufgegeben hatten.
Und so kam es 1992, 18 Jahre nach der ersten erbitterten Bundestagsdebatte zum §218, im neuen Bundestag in Bonn wieder zu einer Parlamentsauseinandersetzung, die ihresgleichen suchte! 109 Reden in 16 Stunden. Schon damals fing wieder alles von vorn an.
Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im März 2018: »Es waren vor allem männliche Unionsabgeordnete, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Menschenrechte der ungeborenen Kinder zu verteidigen. In manchen dieser Reden erschien die Frau als Gewalttäterin, die sich zur ›Herrin über Tod und Leben‹ macht. Abtreibungszahlen in Deutschland seien ›Holocaustzahlen, die angesichts der deutschen Geschichte bleischwer auf dem Gewissen der Politiker lasten, wenn wir diese Todeslawine nicht stoppen‹.« Original-Ton 1992!
Am Ende der Debatte setzte sich der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf durch, der die Fristen wie in der DDR gelten ließ – nach einer vorherigen Beratung. Aber 284 Unionsabgeordnete und die bayerische Landesregierung riefen das Verfassungsgericht an – und dieses kassierte nun auch das Wiedervereinigungsgesetz. 1995 wurde eine neue Justiz-Schizophrenie geschaffen. Wenn keine Indikation vorliegt, kann die Frau in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft abtreiben – nach einer Beratung. Sie handelt dann rechtswidrig, bleibt aber straffrei. Bedingung: Die Abtreibung muss von einem Arzt vorgenommen werden. Es gibt also einen staatlichen Auftrag an die Ärzte.
So, und jetzt kommt der §219a ins Spiel, dessen Existenz innerhalb dieser Reform-Geschichte des §218 irgendwie unbeachtet geblieben war. Denn wie das Bundesverfassungsgericht im Mai 2006 – also 11 Jahre nach der letzten Reform des §218 und 11 Jahre vor der »Causa« Hänel – feststellte: »Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.«
Wie kann dann aber die sachliche und fachliche (nicht werbende) öffentliche Information über legale Schwangerschaftsabbrüche durch Ärzte unter Strafe gestellt werden, wie es der §219a StGB fordert? Die »Causa Hänel« hat uns gezeigt, dass das geht – und zwar nicht nur in diesem einen Fall. Als DIE LINKE als erste Bundestagsfraktion im November 2017 einen Gesetzentwurf zur Abschaffung bzw. Änderung des §219a vorlegte, verwies sie auf die zunehmende Zahl der Anzeigen in letzter Zeit. »Schwankte die Zahl der Anzeigen über Jahre hinweg noch zwischen zwei und 14 pro Jahr, so weisen die polizeilichen Kriminalstatistiken für 2015 schon 27 und für 2016 sogar 35 erfasste Fälle aus.«
Der Gesetzentwurf der LINKEN zur Aufhebung bzw. Änderung des §219a steht immer noch zur Debatte, wie ein ähnlicher in der Fraktion der GRÜNEN und ein nicht ganz so ähnlicher der Fraktion der FDP und dann noch ein zurückgezogener der SPD … Das Parlament verschiebt und verschiebt die Befassung. Die alte, frauenfeindliche Justiz-Schizophrenie dauert an.
Der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, sagte »unter Verweis auf den Schutz des ungeborenen Lebens«, dass es mit seiner Partei keine Änderung des §219a geben werde. Die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte: »Sollte es Informationslücken für schwangere Frauen geben, wird man sicher eine Lösung für einen besseren Zugang finden.« Irgendwann, irgendwie …
Der Ärztetag hat sich im Mai 2018 auf eine ebenfalls schizophrene Entschließung verständigt. Zitat aus dem Ärzteblatt: »Für eine Stärkung der neutralen Information, der individuellen Beratung und der Hilfeleistung für Frauen, gegen die Kriminalisierung und strafrechtliche Verurteilung von Ärzten wie in der Vergangenheit geschehen und auch gegen eine Streichung oder Einschränkung des Paragrafen 219a Strafgesetzbuch.«
Alles wie gehabt.
Alles, wie es war.
Am 24. Oktober 2018 stellte die Linksfraktion im Weimarer Stadtrat eine Anfrage an die Stadtverwaltung: »Welche Frauenarztpraxen in Weimar führen Interruptionen durch und wie erfolgen die im Vorfeld notwendigen Beratungen?«
Antwort: »In Weimar findet die Beratung in der Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle des Pro-Familia-Landesverbandes Thüringen statt. Eine gynäkologische Praxis führt Unterbrechungen durch.«
Eine Praxis. Weimar hat 64.000 Einwohner.
Wie hat der Richter im zweiten Verfahren gegen Kristina Hänel in seiner Begründung der erneuten Verurteilung gesagt? »Nehmen Sie das Urteil nicht als Strafe, sondern als Ehrentitel im Kampf für ein besseres Gesetz.«
Also: Der Kampf geht weiter.
»Kennen Sie eine Adresse?«
Hamburg, Ende 2018
Nachtrag:
2019 geht die Geschichte weiter. Ein veränderter §219a steht auf der politischen Agenda. Tritt er in Kraft, ändert sich an der »Causa Hänel« allerdings nichts. Die Ärztin kann weiterhin angezeigt, angeklagt, verurteilt werden.
Wie immer fahre ich nach der Praxis mit dem Rad nach Hause. Heute Abend kommt der Klarinettenfreund aus Frankfurt zur Probe. Ich freue mich. Der Termin für die Musik ist nicht ganz glücklich gewählt so kurz vor meinem Geburtstag, aber es ist ja immer so schwer, überhaupt Termine zu finden. Mein Partner ist da. Auf dem Küchentisch ein gelber Brief, mit Stempel drauf. Er guckt mich an. Ich wollte es dir nicht sagen, wollte dir den Tag nicht versauen. Was er wieder hat, der Pessimist, denke ich. Aber ein bisschen erschrocken bin ich doch. Na ja, mal schnell aufmachen, wird schon irgendwas Offizielles sein, sonst wäre er nicht so gelb. Der Prozess gegen unseren ehemaligen Vereinsvorsitzenden vom therapeutischen Reiten, dessen jahrelange Veruntreuung der Gelder ich aufgedeckt hatte und der dann letztlich zu einer Geldstrafe von 3500 € auf Bewährung verurteilt wurde, liegt noch nicht lange zurück. Das war hart damals. Die Entscheidung, einen früheren Weggefährten anzuzeigen, hat uns Vereinsmitglieder einige schlaflose Nächte und viele Diskussionen gekostet. Aber schließlich hatte er uns und auch andere Vereine jahrelang reingelegt, und was mich am meisten verletzt hat: Das Geld, das er sich genommen hat, hätte den Kindern der Reittherapie gehört. Sie hätten es gebraucht und verdient. Ihnen hat er es gestohlen. Tja, daran denke ich, aber das kann es nicht sein. Das ist ja abgeschlossen. An die Anzeige von 2015 denke ich gar nicht. Ich mache den Brief auf …
Und fass es nicht. Da steht das Wort Hauptverfahren (was ist das?). Strafverfahren gegen Sie wegen Werbens für den Abbruch einer Schwangerschaft. Na, den Satz kenn ich, der taucht immer wieder auf, wenn die Anzeigen kommen, und wenn die Verfahren dann eingestellt werden, steht das auch drauf. Sinnvoll finde ich den Satz nicht. Wegen »Werbens für den Abbruch der Schwangerschaft«! Wie soll man denn für einen Schwangerschaftsabbruch werben? Und warum? Aber wie sinnvoll ich den Satz finde, spielt keine Rolle. Ich habe da eine Ladung mit Datum der Zustellung drauf. Weiter unten lese ich: »Wenn Sie ohne genügende Entschuldigung ausbleiben, müssten Sie vorgeführt oder verhaftet werden.« Das hört sich nicht gut an. Ich kann auch einen unentgeltlichen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin hinzuziehen, steht da noch. Das bezieht sich wahrscheinlich nicht auf mich persönlich, denke ich. Das ist sicher was Deutsches, Obligatorisches. Ich lese es noch mal und noch mal. Was steht da jetzt eigentlich? Kein Zweifel, ich muss da hin. Ich bin nicht als Zeugin geladen wie bisher, in den paar Fällen, in denen ich wegen meiner Arbeit die Polizei einschalten musste.
Einmal, da hatte jemand seine Freundin unter Druck gesetzt, den Abbruch zu machen, und sie sagte mir, wenn sie den Abbruch macht, bringt sie sich hinterher um. Wenn sie ihn nicht macht, bringt er sie um. Prima. Und ich? Bin Ärztin. Ich kann beides nicht zulassen. Meinen Beruf, Leben zu erhalten, nehme ich ernst. Ich wusste mir nicht zu helfen, habe beim Amtsgericht in Gießen angerufen und danach die Polizei eingeschaltet. Nur bei einem geplanten Verbrechen darf ich ja meine Schweigepflicht brechen. Die Frau war sehr erstaunt, dass ich mich so für ihr Leben einsetze. Viel später gab es einen Prozess und der Mann wurde auf Bewährung verurteilt. Er hatte, nachdem sie bei mir ohne Abbruch gegangen waren, am nächsten Tag gedroht, ihrem Kind etwas anzutun, und da hatte sie den Abbruch in Frankfurt machen lassen.
Im nächsten Fall hatte ich eine junge Kurdin, die befürchtete, einem Ehrenmord zum Opfer zu fallen. Sie war schon seit einer Woche untergetaucht, aber ihre Schwester wollte sie nicht länger beherbergen. Die Beziehung, in der sie einen Abbruch gehabt hatte, weil sie unverheiratet nicht hätte schwanger werden dürfen, war auseinandergegangen und der frühere Partner hatte es in der Familie öffentlich gemacht. Sie wollte auch nicht ins Frauenhaus, um ihr Leben zu retten. Sie war gewillt, ihr Schicksal anzunehmen, bzw. wollte sich vorher selbst das Leben nehmen. Hinter ihrem Rücken informierte ich die Polizei und wies sie nach §10 des Hessischen Freiheitsentzugsgesetzes wegen Suizidgefahr in die Psychiatrie ein. Ich weiß noch, wie schwer mir das fiel. Aber ich versuchte, ihr zu erklären, dass ich als Ärztin in Deutschland verpflichtet sei, sie zu schützen. Dass nach unseren Gesetzen sie nicht umgebracht werden dürfe und ich sie auch davor bewahren müsse, sich selbst umzubringen. Die Sache ist letztlich gut ausgegangen, die Klinik hat gute Arbeit geleistet, die Familie einbezogen. Sie konnte ohne Gefahr zurück.
Der letzte Fall ist noch gar nicht lange her: Eine Familie wollte eine Frau zum Abbruch drängen, was strafrechtlich verboten ist. Die Frau wollte aber das Kind, deshalb haben wir keinen Abbruch gemacht. Sie tat allerdings so, als ob sie ihn gemacht hätte, und das ging natürlich schief. Die Familie lief dauernd in der Praxis rum und rief: Die blutet ja gar nicht! (Woher wussten die das? Haben sie nachgeguckt?) Nach allem, was sie uns erzählt hatte, gab es Drohungen von der Familie ihres Freundes gegenüber ihrer Familie, und nun war damit zu rechnen, dass es zu Gewalt zwischen den Familien oder ihr gegenüber kommen würde. Wir schalteten die Polizei ein. Nerven hat das gekostet und letztlich haben wir die Beratungsunterlagen, die die Frau extra bei uns gelassen hatte, bei der Polizei deponieren müssen, weil wir befürchteten, auch wir selbst in der Praxis könnten in Gefahr geraten. Deswegen haben wir dann später einen Türspion eingebaut.
Aber nein, um alle diese Fälle geht es nicht, diesmal bin ich nicht als Zeugin geladen. Es gibt eine Richterin, die hat die Anklage zum Hauptverfahren zugelassen. Ich selbst bin die Angeklagte. Unfassbar. Ich verstehe es nicht. Meines Wissens wird niemand angeklagt wegen des Paragrafen. Irgendwo in Bayern musste mal jemand was zahlen, erinnere ich mich. Aber da stimmte irgendwas mit der Homepage nicht. Die Richterin kenne ich. Ich erinnere mich dunkel, mit der habe ich vor Jahren mal bei Freunden Kaffee getrunken. Die ist doch ganz normal, denke ich. Wie kann die denn? Und was bedeutet das jetzt? Urteil? Approbation weg? Gefängnis? Frau Frommel ist die Erste, die mir in den Sinn kommt. Die Juristin, die mir immer hilft, wenn so eine Anzeige kommt. Sie hat doch gesagt, die stellen das Verfahren ein, die eröffnen nicht. Sie ist Strafrechtlerin an der Uni Kiel gewesen. Ob sie mich überhaupt als Anwältin vor Gericht vertreten darf?
Mein Klarinettenfreund kommt. Ich erzähle es ihm sofort. Mein Partner findet das unnötig, aber ich muss darüber sprechen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich muss es auch Christian erzählen, Christian Fiala in Österreich. Mein Kollege und Freund. Mein Helfer in allen Notlagen. Er ist immer so cool, er weiß so viel. Ich benutze ihn als Lexikon für medizinische Fragen (woher nimmt der bloß die Zeit, sämtliche Fachliteratur zu lesen?). Seit er das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch in Wien gegründet hat und dort u.a. sämtliche weltweite Literatur zum Thema Abtreibung sammelt, kann ich ihn auch nach diesem oder jenem Gesetz oder historischen Zusammenhang fragen. Und nicht zuletzt hilft er mir, wenn ich einen Moralischen zu kriegen drohe. Er hat auch Erklärungen dafür, warum ich Außenseiterin unter den Medizinern bin und die Gynäkologen mich als Bedrohung empfinden. Obwohl ich doch kaum was verdiene, also denen gar nichts wegnehmen kann. Ja, ich lege nicht einmal eine Spirale in »deren Frauen«, wie es mal ein Gynäkologe zu einem Freund von mir sagte, der auch Schwangerschaftsabbrüche macht. »Kristina, du bist nett zu den Frauen, du bist auf ihrer Seite. Wenn sie das bei dir erleben, dann fordern sie das von ihren Ärzten auch. Das ist die Bedrohung, die von dir ausgeht.« Das hat Christian mir einmal erklärt. Er scheint nie Angst zu haben. Liegt es auch daran, dass er als Mann die Sache ganz anders angeht? Rationaler? Ich schicke ihm eine SMS. Prompte Antwort: Das kann nicht wahr sein! Sollen wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einschalten? – Wie bitte?, denke ich. Was haben die mit mir zu tun? Ich bin hier in Linden auf meiner Hofreite, ich bin nicht in der großen Welt. Warte noch ab, antworte ich, ich muss erst mal sehen, wie es weitergeht.
Dann gehen mein Klarinettenfreund und ich laufen. Beim Laufen kann man wunderbar reden. Das tut gut. Dann machen wir Musik, singen jiddische Lieder. Einfach so tun, als wäre nichts Besonderes passiert.
Ich erinnere mich gut an die 70er Jahre. Sehr viele Gespräche, in denen ich hörte: »Du, haste schon gehört, die ist schwanger mit 14.« Aber wir hörten auch: »Er und seine Eltern werden das irgendwie regeln und lassen das Kind wegmachen.« Wir waren 14 Jahre, mitten in der Pubertät, was wussten wir vom ›Wegmachen‹? Nichts.
Welchem Druck waren diese jungen Frauen damals ausgesetzt, was haben sie in der Familie erlebt, in der Schule, in ihrem unmittelbaren Umfeld? Eine betroffene Mitschülerin galt später immer als ›leicht zu haben‹ und wurde übel beschimpft – eine 15-Jährige schwanger? Das hatte sich im ganzen Gymnasium schnell rumgesprochen – jeder wusste es, auch die Lehrer. Ich meine mich zu erinnern, dass sie irgendwann die Schule verließ. Eines Tages war sie einfach weg – was ist wohl aus ihr geworden?
Es wird zwei Jahre später gewesen sein, da kannten wir Schüler den §218, wir gingen zu Demonstrationen, wir gingen zu Demos gegen alles, für ein freies Leben. Aber wie erging es damals meinen Mitschülerinnen? Was haben sie erlebt? »Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause«, wurde den Mädchen gesagt, wir Jungs hörten so was nie.
Nach einiger Zeit kamen die Mädchen zurück in den Unterricht, keine erzählte etwas von ihren Erfahrungen – sprecht sie nicht drauf an, sagten die Lehrer zu uns Jungs im Flüsterton.
§219a StGB
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise
1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder
2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Am Morgen muss ich in die Praxis. Wie immer. Frühstück, Zeitung, mit dem Fahrrad durch den Wald. Mein bisschen Freiheit, mein bisschen Sport. Egal wie das Wetter ist. Ich komme dann ganz anders auf der Arbeit an, als wenn ich mit dem Auto fahren würde. Und Hunger habe ich meist auch schon wieder. Da kann man gleich ein bisschen zusammen frühstücken. Gemeinsames Essen auf der Arbeit, das habe ich in den vielen Jahren und an vielen verschiedenen Arbeitsplätzen gelernt, ist der entscheidende Kontakt. Was soll ich mit einer Praxis anfangen, wo es nur saure Gurken gibt? (Hab ich wirklich erlebt, dort blieb ich nicht lange.) Bei uns ist das anders. Heute Morgen frage ich mich: Was werden die anderen sagen?
Sie reagieren wie immer. Betroffen, gelassen. Sie stehen hinter mir. Müssen sie ja, aber es ist mehr. Meine Praxis ist auch ein bisschen meine Familie. Ich teile da fast alles. Freuden, Sorgen, Privates, Nachdenken über Politik. Oft müssen die Kolleginnen mit mir die Videos von meinen Enkeln angucken: Guck mal, der Fünfjährige hat dies und jenes gemacht, der Zweijährige läuft hinterher. Ist das nicht lustig? Sind die nicht süß? Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, dass Bilder von anderen Kindern eher langweilig sind und nicht solche Gefühle auslösen wie die von den eigenen, aber oft kann ich mich eben nicht beherrschen … Heute keine Videos. Stattdessen der gelbe Brief vom Amtsgericht. Ich bin froh, dass ich jetzt in meinem Team bin. Die ruhige erfahrene Krankenschwester gibt mir Sicherheit. Das schaffen wir. Die beiden Jüngeren kennen das alles noch nicht so. Sie sind empört, ungläubig. Ich denke daran, dass meine sanfte, vorsichtige, gewissenhafte Krankenschwester, die erst letztes Jahr zu uns gewechselt hat, glücklich bei uns ist. Im Gegensatz zu ihrer Arbeit im Krankenhaus, wo Überbelastung das Hauptthema ist zurzeit. Ob sie jetzt Angst um ihre Stelle hat? Beide haben Kinder. Sie müssen eine Familie ernähren. Von dem bisschen Gehalt, das sie bei mir bekommen. Dann kommt unsere neue Anästhesistin. Eine Frau, die ich mir gewünscht habe. In den vielen Jahren im Krankenhaus habe ich zahlreiche Kolleg*innen getroffen und mir vorgestellt, mit wem könntest du in deiner Praxis arbeiten? Mit vielen wäre es nicht gegangen, die meisten hätten auch nicht gewollt, nicht in einer Abtreibungspraxis. Sie habe ich mir ausgesucht, weil sie alles hat, was wir brauchen. Sie ist freundlich, kompetent, lustig und schon nach kurzer Zeit eine Freundin geworden. Aber wir müssen zusammenfinden, Strukturen der Zusammenarbeit schaffen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung über das Geld. Wie ist es für uns beide gerecht? Letzte Woche hatten wir Streit deswegen. Jetzt nimmt sie mich in den Arm. »Kristina, ich stehe zu dir. Ich kann dir auch Geld leihen. Wir schaffen es.«
Dann endlich erreiche ich Monika Frommel. Sie ist fröhlich, wie meistens. Ihr erster Satz: »Jetzt muss er halt weg, der Paragraf.« Ich soll bloß kein Adrenalin verschwenden. Ah ja! Und klar kann sie mich vertreten, sie hat eine Gerichtszulassung. Ich soll ihr eine Vollmacht unterschreiben, auch für eine Verfassungsbeschwerde. Verfassung hört sich gut an, finde ich.
Ein paar Freunde kommen. Wir machen Musik. Das Wetter spielt mit. Wir sind draußen im Hof, der ja ohnehin der schönste Platz auf Erden ist. Im Sommer jedenfalls, wenn die Sonne scheint. Bei Dauerregen kann er schon eine Zumutung und Belastung sein. Dann wünschte ich mich manchmal weit weg. Dazu bin ich aber zu vernünftig und dafür habe ich auch kein Geld. Außerdem kann ich die Pferde und die ganze Arbeit ja nicht allein lassen. Immerhin machen meine Pferde und der Hof seit knapp 20 Jahren Kinder glücklich. Kinder mit und ohne Handicap, traumatisierte Kinder, Kinder, die es in der Gesellschaft schwer haben. Vergessene, Ungewollte, Benachteiligte. Dafür stelle ich meinen Hof zur Verfügung. Eigentum verpflichtet, finde ich. Mein Prozess ist heute das Hauptthema, auch wenn mein Partner findet, ich soll nicht so viel darüber reden. Warum eigentlich nicht? Er ist eher für Geheimhaltung, ich will immer alles ausplaudern. Warum soll ich auf meiner eigenen Geburtstagsfeier meinen Freunden nicht erzählen, dass ich Angeklagte bin, vor Gericht muss? Auch wenn ich mich eigentlich dafür schäme.
Mein Lauffreund und Nachbar ist der Erste, der sagt: »Kristina, sag Bescheid, wenn du Unterstützung brauchst.« Ich höre natürlich sofort das Wort Geld heraus, auch wenn er es nicht explizit formuliert. Er kennt meine Lage ein bisschen, immerhin laufen wir seit ein paar Jahren zusammen in meinem geliebten Lauftreff. In dem ich so nette Menschen getroffen habe. Wo endlich mal alle möglichen anderen Themen besprochen werden. Keine Pferde, keine Medizin. Nur viel über Ernährung, Trainingspläne, eigene Gesundheitszustände. Die überreizten Sehnen z.B. – eine Katastrophe für jeden Freizeitläufer. Mein Lauffreund also bietet mir Geld an. Wie mich das beruhigt. Immer wenn die Anzeigen kamen, war sofort die Angst da. Was wird aus meiner Familie? Was wird aus meinem Hof? Noch lange nicht abbezahlt, immer noch so viel Arbeit. Aber er ist meine Insel, der schönste Platz auf Erden eben. Was wird aus meiner Existenz? Von was soll ich leben? Und die anderen in der Praxis? Die Existenzsorgen kennen wir nun seit 16 Jahren. Seitdem wir uns als Team damals von Pro Familia getrennt und unter meinem Namen unsere eigene Praxis eröffnet haben. Wir wollten nicht mehr von ehrenamtlichen Vorständen abhängig sein, die bestimmen, wie viele Termine wir zu machen haben. Nicht mehr Teil eines Teams sein, in dem der medizinische Bereich immer etwas weniger wertgeschätzt zu werden schien als der Beratungsbereich. Wir waren die, die die weniger anerkannte Arbeit machten. Ich aber fand diese Arbeit schon lange wichtiger und vor allem anstrengender. Ich kannte beides. Früher hatte ich als Beraterin bei Pro Familia gearbeitet. Dann habe ich begonnen, Abbrüche zu lernen. Es wollte ja niemand anderes machen. Aber ich habe nie verstanden, dass eine Krankenschwester, die bei Abbrüchen assistiert, weniger Geld verdient als eine Sozialarbeiterin, die Beratungen macht. Wo doch die Arbeit der Krankenschwester so wichtig ist. Oder sahen die anderen es immer noch als »schmutzige« Arbeit an? Während ich das schreibe, fällt mir auf, dass ich meinen Leuten in der Praxis keinen Cent mehr zahle als den tariflich festgelegten Lohn. Und selbst das löst vor dem Zahltag manchmal Angstschweiß bei mir aus, wenn die AOK mal wieder noch nicht überwiesen hat, aber die Auszahlung der Gehälter ansteht. Das geht nun schon seit Jahren so, ich habe mich daran gewöhnt, so zu leben. Ich habe damals begriffen, dass ich von der Praxis nicht leben kann, und neben der Praxis meine Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin gemacht. Seit zehn Jahren lebe ich vom Rettungsdienst. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wie sich das angefühlt hat, über die Jahre immer mal wieder Geld leihen zu müssen, wenn es für die Gehälter nicht reichte. Nicht dass ich viel Geld bräuchte, ich habe Gemüse im Garten und mein Partner schießt ab und zu ein Wildschwein. Aber im Frühjahr brauchte ich einen Kredit für die Heizung im ehemaligen Schweinestall, den ich ausgebaut und vermietet habe. Es ging um 10.000 €. Meine Bank hätte sie nicht mal bezahlen müssen, nur als Zwischeninstanz für die KfW1 fungieren sollen. Nach vielen Gesprächen und vielen Unterlagen zum Haus, zu meinen Einkommensverhältnissen, meiner betriebswirtschaftlichen Auswertung usw. rief mich der Mann von der Sparda Bank an, dass sie das nicht machen können. Ich würde mit einem Minus von 400 € monatlich leben. Rein rechnerisch konnte ich mir nicht vorstellen, wie man von Minusgeld leben kann, aber ich bedankte mich und legte auf. Die ganze Arbeit für die Katz. Nicht mal einen KfW-Kredit über 10.000 € bewilligt die Bank mir! Das ist krass. Zum Glück hat dann die AOK rechtzeitig gezahlt und ich konnte die Heizung auch ohne Kredit finanzieren. Dabei fällt mir der Begriff Vermögensvorteil im Paragrafen 219a ein. »Wenn ein Arzt seines Vermögensvorteils wegen …« Wie absurd das alles ist. Wäre ich beruflich einen anderen Weg gegangen, hätte ich schön mein normales Gehalt gehabt oder in einer »normalen« Praxis ordentlich verdienen können. Zumindest fahren die anderen regelmäßig in Urlaub, wie ich sehe. Aber das war mir nie so wichtig. Entscheidend für mich war, eine Arbeit zu machen, die mich ausfüllt, eine Arbeit, zu der ich stehen kann. Eine Arbeit, wo ich gebraucht werde. Seit wir in eigener Praxis sind, gestalten wir alles selbst und können so den Frauen und Menschen, die zu uns kommen, wirklich gerecht werden.
Ab jetzt werden wir »eine Krise gestalten«, aber das weiß ich da zum Glück noch nicht. Hier hat mir jemand Unterstützung angeboten und ich weiß, ich bin nicht allein. Auch Marianne Weg, die Frau unseres Bassisten, nimmt mich beiseite. »Kristina, du musst das nicht allein machen. Da sind Frauen, die sich interessieren. Wir werden das besprechen. Gib mir Material dazu. Demnächst treffen sich die Deutschen Juristinnen. Dort geht es um reproduktive Rechte, da gehört das Thema hin.« Stimmt, daran hatte ich noch nicht gedacht. Es gibt noch mehr Frauen, das Thema betrifft nicht mich allein. Marianne arbeitet schon lange zu Frauenthemen, zuletzt zum Mutterschutz. Sie war bei Anhörungen zur Gesetzesänderung, sitzt in diversen Gremien. Sie ist Netzwerkerin. Manchmal denk ich da gar nicht dran.
Nachts, wir sitzen noch ums Feuer, die Feier ist bald rum, fragt jemand nach den Details. Was ist das für ein Paragraf? Was ist eigentlich verboten? Ich erkläre, dass »Werbung« für einen Schwangerschaftsabbruch nach dem Strafgesetzbuch verboten ist. Dass es dafür einen extra Paragrafen gibt. §219a. Er stammt noch aus dem Jahr 1933 und wurde seither nur geringfügig verändert. Dass die sogenannten »Abtreibungsgegner« aufgrund dieses Paragrafen seit Jahren Ärzt*innen anzeigen. Dass es strittig ist, wie sachliche Informationen auf Internetseiten von Ärztinnen und Ärzten zu bewerten sind. Ob das als »Werbung« gilt oder nicht. Dass ich schon öfter angezeigt worden bin und die Verfahren immer eingestellt wurden. Dass ich vor Jahren ein Rechtsgutachten bei Prof. Monika Frommel in Auftrag gegeben habe, die die juristisch klare Haltung vertritt, dass das alles nicht strafbar sei. Auch wenn ich das, was sie schreibt, nicht wirklich richtig erklären kann. Aber damals (also vor ca. zehn Jahren) hieß es, man darf die Infos halt nicht direkt für jeden sichtbar ins Netz stellen. Man solle es umgehen, indem die Frau ihre E-Mail-Adresse angeben muss, und dann bekommt sie die Infos zugeschickt. So hätte ich es gemacht und so sei noch nie jemand verurteilt worden.
Nachts dann kommt mir plötzlich ein Gedanke. Hast du das jemals geprüft, seit unser begnadeter Bratschist 2014 die Homepage neu gemacht hat, damals, bevor du den Unfall hattest? Ich kann mich nicht erinnern, zu viel war in dem Herbst passiert. Die Homepage war da wirklich nicht wichtig gewesen. Jetzt scheint sie es zu sein. Ein ganz mulmiges Gefühl beschleicht mich. Hatte nicht auch Frau Frommel am Telefon davon gesprochen, dass der Arzt in Bayreuth verurteilt wurde, weil er eine »beschissene Homepage« hatte? Was ist eine »beschissene« Homepage? Wie ist denn meine? Ich muss das überprüfen. Die zweite Nacht, in der ich nicht gut schlafe.
Am Morgen erst mal zum Lauftreff, bloß nicht an die Homepage denken. Danach setze ich mich hin und gehe endlich ins Internet. Auf meine eigene Homepage. Auf die Idee kommt man ja normalerweise nicht. Wir vergeben keine Termine über die Homepage. Wir vergeben Termine nur telefonisch. Meist sind noch viele Details zu klären. Die Frauen sind oft nicht gut informiert, wenn sie bei uns anrufen.
Dann finde ich den Fehler. Die Funktion, sich Informationen an eine E-Mail-Adresse schicken zu lassen, wurde durch eine herunterladbare PDF-Datei ersetzt. Mist. Das haben die »Abtreibungsgegner« also gemerkt und ich nicht. Und diese Heuchler haben mich dann angezeigt. Das ist alles so unlogisch. Wenn sie ihre eigenen Argumente wirklich ernst nehmen und glauben würden, dass man Menschenleben dadurch schützen kann, dass Informationen zum Schwangerschaftsabbruch nur per E-Mail verschickt werden und nicht als PDF-Datei herunterladbar sind, wenn sie diesen Schwachsinn wirklich glauben würden, dann hätten sie mal zum Hörer greifen und mich anrufen können. Damit wäre doch schon bewiesen, dass die nicht mal selbst an ihren Mist glauben! Aber sie setzen alle unter Druck. Und warum funktioniert das? Weil alle, wirklich ALLE Angst haben. Wegen des Paragrafen. Der macht die Angst. Es ist nicht der §218, der ist schon schlimm genug. Es ist der §219a, der verursacht die Angst – und das Schweigen. Das alles habe ich in dem Moment noch nicht so ganz begriffen, werde es aber in den nächsten Monaten zunehmend klarer erkennen.
Wie ist das damals mit meiner Homepage passiert? Der begnadete Bratschist aus unserer Klezmergruppe war aus Spanien nach Deutschland gekommen, weil es dort keine Arbeit für ihn gibt. Er hatte mir die Homepage neu gemacht. Die Daten vom Verein für therapeutisches Reiten mussten dringend geändert werden. Der Vorsitzende war ja kein Vorsitzender mehr, nachdem rausgekommen war, dass er das ganze Geld geklaut hatte. Ich selbst kann es technisch nicht. Ich kann an der Website nichts verändern. Ich hatte ihm erklärt, dass es in Deutschland ein Gesetz gibt und man die Infos nicht einfach so auf der Homepage lesen dürfe. Er hat dann die PDF eingerichtet, wo man extra eine Datei herunterladen muss. Das fand er logisch. Ein klassisches Missverständnis! Ist schon irgendwie absurd, dass ausgerechnet unser Bratschist, der Nette, der keiner Fliege was zuleide tun könnte, aus Versehen den Auslöser gezündet hat. Ich habe das Ganze nie kontrolliert, kam doch direkt danach im Herbst 2014 mein Reitunfall. Die Atlasfraktur. Drei Monate mit Halskrause Tag und Nacht. Der Atlas ist in der Mythologie der, der die Welt hält. Bei uns Menschen hält er den Kopf. Ich war um ein Haar dem Genickbruch entkommen. Wie glücklich war ich damals. Alles andere war unwichtig.
Die Zeit vergeht mit viel Arbeit in der Praxis, gelegentlichen Laufveranstaltungen, der Arbeit mit den Pferden und den Kindern, dem Leben in Garten und Hof. Dieses Jahr gibt es viele Kürbisse. Sie wachsen auf dem Misthaufen. Den brauchen wir im Sommer nicht, da sind die Pferde auf den Wiesen ringsum. Solange sie noch nicht bebaut sind, dürfen wir die Pferde da hinstellen. Bald bebauen sie hier alles, jeder Zentimeter Land geht weg.
Dieses Jahr wollen wir mal wieder auf ein Reitturnier gehen. Es kommen sieben Kinder mit. Gestern waren die großen Mädchen schon den halben Tag hier und haben die Pferde vorbereitet. Gewaschen, Mähne eingeflochten, Sattelzeug geputzt. Was für ein Aufwand! Schon allein deshalb reicht eine solche Aktion pro Jahr. Da lobe ich mir doch die Laufveranstaltungen. Kostet so gut wie nichts, jede*r kann mitmachen, der Aufwand ist minimal, das Klima kooperativ. Beim Reiten ist das anders. Ohne Geld kommt man da zu nichts. Trotzdem, einmal im Jahr gehen wir hin. Um dabei zu sein. Gewinnen können wir da sowieso nichts. Diesmal nehme ich auch ein Kind vom therapeutischen Reiten mit. Sie macht es mit dem Reiten ganz schön. Das Mädchen lebt in einem Kinderheim. Sie hat eine Sprechstörung, selektiver Mutismus wird es genannt. D. h. sie kann eigentlich sprechen, tut dies aber nur mit wenigen ausgesuchten Personen. Ansonsten spricht sie nicht. Mit den Pferden braucht niemand zu sprechen, da fällt das nicht auf. Die Kommunikation verläuft nonverbal. Andererseits ist es oft so, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen auf dem Pferd die Zunge lösen. Die Reittherapie hat neben vielen anderen auch hier meist einen positiven Effekt.
Unser Mädchen ist sehr zurückhaltend, lächelt aber ein wenig und ist meiner Reittherapeutin und mir spätestens seit der Weihnachtsfeier letztes Jahr ans Herz gewachsen, als sie alle zehn Minuten raus auf die Straße lief, um zu schauen, ob die Betreuer schon da waren. Ihr war gesagt worden, sie solle um 18 Uhr an der Straße stehen, und sie hatte Angst, die Zeit zu verpassen. Da der Fahrdienst zu spät kam, saß sie noch eine ganze Weile bei Plätzchen und Kinderpunsch mit uns, und wir warteten gemeinsam.
An diesem Sommermorgen steht sie um 6 Uhr auf dem Hof. In ihrer Strickjacke, frierend. Sie will dabei sein, wenn wir die Pferde fertig machen und verladen. Das hätte ich nicht gedacht, dass die Kleine so früh schon kommt. Ursprünglich hatte das Jugendamt die Maßnahme bezahlt. Sie war in Einzeltherapie zu mir gekommen und hatte es relativ schnell geschafft, mit mir zusammen auszureiten, obwohl sie sich beim Lenken gar nicht so gut koordinieren kann. Wir haben ihr angeboten, mit auf das Turnier zu kommen, weil sie beim Reiten keine Angst hat und eine Begabung, sich in die Bewegung des Pferdes hineinzubegeben. Wir nennen das Bewegungsdialog. Schönes Wort eigentlich. Wenn das mal zwischen Menschen immer so klappen würde …
Als sie damals Vertrauen gefasst hatte und in eine unserer integrativen Gruppen wechseln sollte (heute nennt man das »Inklusion«), wollte das Jugendamt plötzlich nicht mehr zahlen. Obwohl die Gruppen sogar preiswerter sind. Katastrophe für die Kleine. Die Bezugsbetreuerin im Heim hat alles versucht, aber die Frau vom Jugendamt blieb hart. Das Mädchen soll ab sofort nicht mehr reiten gehen, sondern eine Traumatherapie machen. Das kostet das Jugendamt nichts, das muss die Krankenkasse zahlen. Ich bin ja immer für Traumaarbeit. Das ist mein Schwerpunkt. Ich habe zum Thema sexuelle Traumatisierung jahrelang an der Uni gelehrt. Aufarbeitung eines Traumas ist unabdingbar, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Aber einem Kind das Reiten wegnehmen und es stattdessen in eine Gesprächstherapie schicken, nur weil das Amt dann aus der Zahlungsverpflichtung raus ist? Wie kann man Kindern, die es ohnehin schwer haben, so etwas antun? Wo sie doch nur das eine haben, an dem ihr Herz hängt. Deshalb nehme ich normalerweise Kinder nur an, wenn die Finanzierung geklärt ist. Aber wenn die auf dem Amt heute nicht mehr wissen, was sie gestern bewilligt haben, dann kann ich nichts machen. Es ist auch nicht der erste Fall. Es gab schon mal einen kleinen Jungen, der nach der Zusage und dem Start bei uns wieder aufhören musste. Das war bitter für das Kind und die Pflegeeltern. Aber sie sind dem machtlos ausgeliefert. Dabei nehmen wir extra verhältnismäßig niedrige Preise. Leute, die es sich leisten können, können ihre Kinder überall hinschicken. Aber zu mir sollen die anderen kommen dürfen, die es sich sonst eben nicht leisten könnten. Unser Mädchen mit der Strickjacke hatten wir einfach weiterhin kommen lassen und die Therapie dann aus dem Erlös eines Straßenfestes finanziert. Inzwischen trägt das Heim die Kosten.
Auf dem Turnier ist es stressig. Ich muss bei sieben Kindern ständig irgendwohin und entweder ein Pferd oder ein Kind beruhigen. Aber sie halten sich alle tapfer, machen ihre Sache gut in einem Umfeld, das für sie völlig neu ist. Auch unser einziger Junge mit dem Pony Pascha schlägt sich prima in seiner Abteilung, er reitet schon selbständig. Ich bin am Ende froh, dass Pascha seinem Namen diesmal keine Ehre gemacht hat. Das kann er nämlich auch, und dann fliegt schon mal ein Kind runter. Wenn das auf einem Reitturnier passiert, wo so viele zuschauen, ist die Kränkung besonders groß.