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John Erskine war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Pianist. Bekanntheit erlangte er durch seine Lehrtätigkeit an der Columbia University und mit satirischen Romanen. In dem ebook geht es um die Darstellung des Trojanischen Krieges mit seinen Verbindungen zur griechischen Mythologie.
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Seitenzahl: 368
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Das Privatleben der schönen Helena
John Erskine
Das Entscheidende bei der Geschichte ist, daß Paris der Aphrodite den Preis zuerkannte, nicht, weil sie ihn bestach, sondern weil sie schön war. Um die Schönheit handelte es sich in diesem Wettstreit, und wenn Athene und Hera geistreich zu disputieren begannen über Weisheit und Macht, so waren sie es, die ihn zu bestechen versuchten. Was sie auch ins Spiel zu bringen hatten, Aphrodite war die Sache selbst, um die es ging.
Ihre unwahrscheinliche Behauptung, daß er eines Tages die schöne Helena heiraten würde, interessierte ihn daher nur als prophetisches Experiment einer Göttin. Vielleicht traf es ein, vielleicht auch nicht. Höchst wahrscheinlich hatte sie es irgendwie anders gemeint; ein weiser Mann verhält sich abwartend, selbst wenn er auch an das Orakel glaubt.
Inzwischen war er doch neugierig, wie Helena wohl aussehen mochte. Er fühlte das Bedürfnis zu reisen. Warum sollte er nicht einmal Sparta aufsuchen? Kassandra warnte ihn, aber das tat sie immer. Oenone riet ab, aber sie war seine Frau.
Als er zum Hause des Menelaos kam, ließ der Torwächter ihn ein, und da er ein Fremder war, so fragte man ihn nicht, wie er hieß und was ihn herführte, bis er gegessen und sich ausgeruht hatte. Menelaos schob eine Reise, die er vorgehabt, auf, und übte die heilige Pflicht der Gastfreundschaft. Aber als er herausbekommen hatte, wer sein Gast war, sagte er zu Paris, er solle ganz so tun, als ob er zu Hause wäre, entschuldigte sich dann höflich und reiste seinem ursprünglichen Plan gemäß nach Kreta ab.
So hatte niemand Arges im Sinne. Aber Paris sah Helena von Angesicht zu Angesicht.
Als der trojanische Krieg mit der Einnahme der Stadt endete, ging Menelaos mit dem Schwert in der Hand auf die Suche nach Helena. Er schwankte, ob er ihr das Schwert in den verführerischen Busen stoßen oder ihr damit den schneeweißen Hals durchhauen sollte. Er hatte sie lange nicht gesehen. Sie erwartete ihn, wie auf Verabredung. Mit einer schlichten Gebärde entblößte sie ihr Herz für seine Rache und sah ihn an. Er sah sie an. Das Schwert machte ihn verlegen.
»Helena,« sagte er, »es ist Zeit, daß wir nach Hause reisen.«
Die Geschichte wird auch anders erzählt. Menelaos, sagt man, war nicht allein, als er Helena in ihrem Gemach fand, Agamemnon war da und noch andere, um dem Akt der Gerechtigkeit, der unter den langen Krieg den Schlußpunkt setzen sollte, beizuwohnen. Einige, die Helena nie vorher gesehen, drängten sich hinein, um einen ersten und letzten Blick auf die Schönheit zu werfen, um die sie gekämpft hatten. Als Menelaos Helena vor sich sah, dachte er an sein Gefolge. Zorn und Kraft schwanden ihm dahin, aber die teilnehmenden Freunde warteten, daß er als Ehemann seine Pflicht tue. Er erhob das Schwert – langsam – es ging immer noch zu schnell. Da hörte er Agamemnons Stimme.
»Du tätest besser, mit deinem Zorn hier halt zu machen, Menelaos. Du hast deine Frau wieder – wozu willst du sie töten? Priams Stadt ist gefallen, Paris ist tot, du bist gerächt. Wenn du Helena tötest, so würdest du die Frage nach dem Anlaß des Krieges total verwirren. Sparta hatte keinen Teil an der Schuld; Paris, der das Gastrecht verletzte, war der einzig Schuldige.«
Menelaos fühlte in diesem Augenblick, daß man seinen Bruder mit Recht den Fürsten der Männer nannte. Später am Abend hörte man ihn jedoch sagen, wenn Agamemnon nicht dazwischengetreten wäre, hätte er Helena getötet.
Er mußte sie für die Nacht mit den andern Gefangenen aufs Schiff bringen, aber er konnte sich nicht entschließen, in welcher Reihenfolge er mit ihr gehen wollte. Natürlich nicht nebeneinander. Vielleicht er voran. Diesen Gedanken gab er auf, bevor sie noch die Straße erreichten. Es schien nicht angebracht, die Feierlichkeit der Prozession besonders zu betonen. Er ließ sie vorangehen, mochte sie seinetwegen schutzlos den etwaigen Beleidigungen des neugierigen Heeres ausgesetzt sein. Allein die Männer starrten sie stumm an, oder fast stumm. Ihn beachteten sie nicht. Er hörte einen sagen, sie sähe aus wie Aphrodite, als Hephaistos, ihr lächerlicher Gatte, sie nackt in Ares Armen überrascht und ein Netz über das Liebespaar geworfen hatte, um den andern Göttern ihre Schmach zu zeigen. Ein anderer meinte dazu, er empfände wie die andern Götter bei jener Gelegenheit, die sich bereit erklärten, jeden Augenblick mit Ares zu tauschen, und das Netz und alles in den Kauf zu nehmen.
Andere Männer, die weniger Grund zu Gewalttaten hatten als Menelaos, zeigten in der Nacht, als Troja zerstört wurde, weniger Zurückhaltung. Ajax fand Kassandra im Tempel der Athene, wo sie als Priesterin diente – lieblich genug, um Apoll zu reizen, doch nicht mit der Schönheit ausgestattet, die Helena schützte. Dort, gleichsam in Gegenwart der Göttin, büßte er an ihr seine Lust und ging dann zu andern Eroberungstaten über. Als darauf Athenes Zorn sich deutlich kundgab, gab er zwar zu, das Mädchen beleidigt zu haben, behauptete jedoch, daß er den Tempel nicht entweiht hätte, denn Odysseus hätte das heilige Bildnis bereits geraubt gehabt, und der Ort sei daher, wenn überhaupt ein Heiligtum, so doch ein verlassenes gewesen. Aber es war nicht wahrscheinlich, daß die Göttin diese Unterscheidung gelten lassen würde, und Agamemnon gab sofort Befehl, die Heimkehr der Flotte zu verschieben, bis ausgiebige Opfer dargebracht seien, als pflichtschuldige Beweise ihrer Reue und Selbsteinkehr, damit die Göttin sich nicht veranlaßt sähe, ihnen ihre Sünden in kaltem Wasser abzuwaschen. Agamemnon ließ sich die Sache sehr angelegen sein, sobald es an die Verteilung der Beute ging. Kassandra fiel ihm zu.
Den ganzen Tag stand er neben dem Priester, während die Altarflammen gespeist wurden, inmitten des respektvoll harrenden Heeres, und Menelaos stand neben ihm – zwei Könige, die nicht ihresgleichen hatten, nun Achill nicht mehr da war. Als es zu dämmern begann, ließen sie die Opferfeuer niederbrennen, die Soldaten zündeten die Kochfeuer an, und der Priester sagte, die Zeichen seien soweit günstig.
»Ein guter Anfang der Opfer«, sagte Agamemnon.
»Und Ende,« sagte Menelaos, »wenigstens was mich betrifft. Nicht unsre eigenen Sünden führten uns nach Troja, sondern, wie du gestern abend sehr richtig bemerktest, die Sünden anderer. Was wir seitdem hier an Verstößen begangen haben, haben wir bereits gebüßt, und wenn Stolz oder Unwissenheit uns noch etwas übersehen ließ, so muß dieser Opfertag es reichlich gutgemacht haben. Ich segle morgen nach Sparta ab.«
»Wenn ich an Absegeln denke,« sagte Agamemnon, »so kommt mir Aulis in den Sinn. Unsre Abfahrt aus jenem Hafen kostete mich das Leben meines Kindes, das ich opfern mußte, um die Götter zu versöhnen. Damals hattest du gegen übermäßige Opfer nichts einzuwenden. Für dich geschah das alles, mein Bruder. Meinen Streit mit Achill habe ich längst gebüßt, da ich im Unrecht war. Aber da ich vielleicht auch bei andern Gelegenheiten Unrecht hatte, wo ich glaubte recht zu haben, muß ich jetzt den etwaigen Zorn des Zeus und der Athene besänftigen, bevor ich mein Heer Wind und Wogen und allen Gefahren, die zwischen uns und unsrer Heimat liegen, aussetze.«
»Was du in Wirklichkeit fürchtest,« sagte Menelaos, »ist deine Frau.«
»Du hast deine Frau bei dir,« erwiderte Agamemnon, »und deine Tochter sitzt wohlbehalten in Sparta und kümmert sich zweifellos um deine Angelegenheiten. Das haben wir bisher alle getan. Nun muß ich mich um mein eigenes Volk kümmern. Was ich in Wirklichkeit fürchte, ist, daß Athene den Diebstahl ihres Bildes und die Vergewaltigung ihrer Priesterin an jedem einzelnen, an dir und mir bis hinab zum geringsten Schiffsruderer rächt.«
»Odysseus hat das Götterbild gestohlen,« sagte Menelaos, »aber doch nur, weil die Stadt sonst nicht einzunehmen war. Wegen dieser und anderer Maßnahmen, durch die er sich nützlich erwies, sollte er vielleicht viele Opfer bringen. Was Kassandra widerfuhr, finde ich nur gerecht, wenn auch ein bißchen roh. Paris war ihr Bruder. Ajax beging nur den Fehler, zu hastig vorzugehen. Er hätte sie sonst bei der Beuteverteilung haben und nach Hause nehmen und mit ihr tun können, was ihm beliebte, sicher vor der Kritik der Götter oder dem Grimm von Menschen, denn er hat kein Weib, das zu Hause auf ihn wartet.«
»Mein Weib«, sagte Agamemnon, »hat bis jetzt noch keinen Anlaß zu Skandal in der Familie gegeben. Darin unterscheidet sie sich von ihrer Schwester. Wieviel Männer haben Helena schon umgarnt oder sich von ihr umgarnen lassen? Theseus vor deiner Zeit, und du natürlich, und Paris und Deiphobos – und war da nicht auch etwas zwischen Achill und ihr? War Hektor eigentlich ihr Anbeter, oder war es nur sie, die es auf ihn abgesehen hatte? Wir machen uns jeder seine eigene Philosophie zurecht, mein Bruder, um uns mit unsrer Vergangenheit friedlich abzufinden. Du hast, soviel ich sehe, gar keine Veranlassung, Ajax' Tat zu verdammen. Halte dich an deine Philosophie, du wirst sie nötig haben.«
»Es bleibt dabei,« sagte Menelaos, »ich segle morgen heimwärts. Es tut mir leid, daß wir uns in dieser Verstimmung trennen. Wenn mein Bleiben dir irgendwie von Nutzen sein könnte, so würde ich es aus Dankbarkeit tun. Doch ich denke, die Götter wollen das, was vernünftig ist, – im großen ganzen wenigstens; und wenn deine Laune, die Opfer noch länger ausdehnen zu wollen, wirklich etwas mit Religion zu tun hätte, so würde ich dir entgegenhalten, daß die Götter, die uns in den Stand setzten, Troja zu verbrennen, nicht die Absicht hatten, daß wir hier wohnen sollten.«
»Du gehst in dein Verderben,« sagte Agamemnon, »ich werde dich nicht wiedersehen.«
»Das,« sagte Menelaos, »möchte ich wiederum für einen Irrtum deinerseits halten, den du hoffentlich nicht auch noch durch Opfer abzubüßen hast.«
Helena saß im Zelt, regungslos, beim flackernden Licht der Lampe. Die Weihrauchdämpfe stiegen vom Dreifuß vor ihrem Antlitz auf; er mußte an Göttinnen und an Altarfeuer denken. Warum war sie dort? War sie den ganzen Tag dort gewesen? Während er beim Opfer war, hatte er sie unter den andern Gefangenen geglaubt, gedemütigt und endlich die Schärfe der Vergeltung fühlend. Sie hätte eigentlich aufstehen können, als er eintrat.
»Morgen segeln wir nach Sparta ab.«
»So schnell schon?«
»Ist es zu schnell? Du hängst wohl noch an Troja?«
»Jetzt nicht mehr,« sagte Helena, »und überdies habe ich, wie du weißt, nie große Anhänglichkeit an Orte gehabt. Aber wie sollen alle die Schiffe und Mannschaften an einem Tage fertig werden! Bei deiner Herfahrt brauchtest du mehr Zeit zum Aufbruch – obwohl du damals meiner Meinung nach mehr Grund zur Eile hattest. Es müssen doch erst Opfer gebracht werden, Götter sind zu bedenken, der weite, dunkle Ozean, die Geister so vieler Toten, die beschwichtigt werden müssen, bevor wir reisen.«
»Die Toten sind in Frieden und die Götter haben ihr Teil bekommen«, erwiderte Menelaos; »wir haben den ganzen Tag mit Opfern zugebracht. Der Ozean bleibt weit und dunkel. Agamemnon will die Opfer dennoch fortsetzen, als ob er dies und andre Dinge damit ändern könnte. Wir haben deswegen eine Auseinandersetzung gehabt und uns getrennt. Er wird mit dem Heere noch eine Zeitlang hierbleiben, ich fahre morgen mit meinen Mannen und meinen Gefangenen heimwärts.«
Er meinte, mit ihr. Er wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. Er wollte nicht sagen: »mit meinem Weib und mit meinen Gefangenen«. Er hatte nicht den Mut zu sagen: »mit dir und den andern Gefangenen«.
»Menelaos«, sagte sie, »ich reise natürlich mit dir, wie unklug dieser Aufbruch auch ist. Denn dein Bruder hat recht und du hast unrecht. Die sich irgendeiner Schuld bewußt sind, brauchen Zeit zu Reue und Buße, und wir, die wir uns rein von Schuld fühlen, wir erst recht sollten Opfer bringen, um uns vor Stolz zu bewahren. Du hast zwar noch deinen alten gesunden Menschenverstand, Menelaos, aber es fehlt dir immer noch die tiefere Einsicht. Wenn du die hättest, so würdest du das Herkömmliche respektieren«.
»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte Menelaos, »so gibst du mir den Rat, bei dem, was ich tue, nicht von den Gesetzen des Herkommens abzuweichen?«
»Ja, das ist mein Rat«, sagte Helena.
»Ich bin übermüdet, mein Gehirn versagt den Dienst«, sagte Menelaos. »Willst du wieder – dahin, wo du eben herkamst, oder soll ich dir dies Zelt überlassen? Wir brechen morgen in aller Frühe auf.«
Sie hatten den Wind gegen sich, und die Leute mußten an die Ruder. Menelaos saß dicht am Steuer und Helena vor ihm, das Gesicht dem Winde zugewandt. Die Ruderer sahen zu ihr auf, nicht zornig, wie zu einer, die Krieg und Beschwerde über sie gebracht, sondern zuerst neugierig, dann voll Teilnahme und Ehrfurcht, als ob sie dem Schiffe Segen brächte. Menelaos beobachtete die Veränderung in ihrem Blick und fragte sich, warum er überhaupt nach Troja gekommen war – und dann erinnerte er sich.
Nun regte Helena sich, zum erstenmal seit Stunden. Sie wandte sich um und sah ihm in die Augen. Auch die Ruderer blickten zu ihm auf; sie vergaßen zu rudern.
»Menelaos,« sagte sie, »du hättest Opfer darbringen sollen. Irgend etwas ist mit diesem Schiff nicht in Ordnung.«
»Im Gegenteil,« erwiderte er, »das Schiff ist vielleicht das einzige hier, was in Ordnung ist. Der Wind ist ungünstig, aber die Leute rudern gut, – wenn du sie nicht ablenkst.«
»In Troja,« sagte sie, »oder irgendwo an der Küste verrichtet Agamemnon in diesem Augenblick Bittgebete, die ihre Wirkung tun werden; ich zweifle nicht, daß er die Heimat erreicht. Unsre eigenen Aussichten scheinen mir sehr unsicher. Du kennst meinen Standpunkt – ich habe keine Vorliebe für Abenteuer, wenn ich nicht weiß, wohin es geht.«
»Wir fahren nach Sparta«, sagte er.
»Ich fürchte, das tun wir nicht«, sagte Helena.
»Wir werden die Richtung innehalten,« sagte ihr Gatte, »und wenn die Sterne nicht durcheinandergeraten sind in dieser arg verwirrten Welt, werden wir in einer Woche in Sparta ankommen. – Das ist reichlich Zeit genug, meinst du nicht auch?« fragte er den Steuermann.
»Für die Hinfahrt haben wir länger gebraucht«, sagte der Steuermann.
»Als ich nach Troja fuhr,« sagte Helena, »brauchten wir nur drei Tage, aber das war eine außergewöhnliche Reise.«
Worauf die Ruderer sich über die Ruder beugten und der Steuermann den Stand der Sonne fixierte.
In den ersten Tagen sah Helena Menelaos von Zeit zu Zeit an, durchaus ruhig und gelassen, aber als ob sie etwas sagen könnte, wenn es der Mühe wert wäre. Nachdem viele Tage vergangen, saß sie nur regungslos da, den Blick unverwandt übers Meer hinaus in die Weite gerichtet, und die Ruderer ließen den Blick nicht von ihr, als ob beide treu an etwas festhielten, was Menelaos nicht verstehen konnte. Er fühlte sich die ganze Zeit einsam und fragte sich, ob Wasser und Speisevorrat reichen würden.
»Ah, da ist endlich Sparta!« sagte er.
»Das bezweifle ich«, sagte Helena.
Tatsächlich war es Ägypten. Helena ging über die schmale Brücke, die die Männer für sie hielten, an Land, als ob eine Landung in Ägypten etwas Selbstverständliches wäre. Der Wind legte sich vollständig. Die ermüdeten Männer schlugen ein Zelt auf für den König und Schutzdächer für sich und legten sich schlafen. Menelaos konnte sich nicht erinnern, Befehl zum Landen gegeben zu haben, aber er war nicht sicher und mochte nicht fragen.
»Dies berühmte Land ist interessanter als ich gedacht hatte«, sagte Helena nach einigen Wochen. »Auf meinen Nachmittagsspaziergängen traf ich mehrfach Eingeborene; sie scheinen hier eine durchschnittliche Höhe der Kultur erreicht zu haben, die über das Maximum bei uns hinausgeht, meinst du nicht auch?«
»Helena, du treibst mich zum äußersten«, sagte Menelaos. »Ich bin nicht hier, um das Land zu durchstreifen oder Kulturvergleiche anzustellen.«
»Natürlich bist du das nicht, und ich auch nicht,« sagte Helena, »und wenn du bereit bist abzufahren, so brauchst du es mir nur zu sagen. Inzwischen bringt Polydamna, die Frau jenes umfangreichen Mannes, der dir den Proviant für unsre Weiterreise verkaufte, mir ihre Kräuter- und Arzneikunde bei – eine Wissenschaft, die man in jedem Hause gut brauchen kann und die hier jeder zu besitzen scheint. Wenn du in den nächsten Tagen noch keine Opfer bringst, werde ich eine Menge von ihr lernen.«
»Ich will keine weiteren Opferungen,« sagte Menelaos. »Der Wind wird schon von selbst kommen.«
»Dann werde ich alles lernen, bevor wir abfahren«, sagte Helena.
Etwa vierzehn Tage darauf sah sie ihn eines Tages mit einem jungen Lamm unterm Mantel aus dem Hause von Thonis, Polydamnas Gatten, treten. Während er die Männer auf einem stillen Platz versammelte und das Tier opferte, blieb sie diskret im Zelt. Dort suchte Menelaos sie auf.
»Halt dich morgen zur Abfahrt bereit,« sagte er, »für den Fall, daß der Wind sich aufmacht.«
Sie war bereit und der Wind machte sich auf, aber es war nur eine schwache und kurzlebige Brise. Als sie die Insel Pharos erreichten, war es mit ihr zu Ende.
»Das macht nichts,« sagte Menelaos, »wir haben hier einen guten Hafen und eine Quelle mit süßem Wasser. Wir laufen einstweilen ein, bis der Wind auffrischt, und füllen inzwischen unsre Fässer.«
Helena ging über die schmale Brücke, die die Männer für sie hielten, an Land, als ob eine Landung in Pharos etwas Selbstverständliches wäre. Es war kein lebendes Wesen auf der Insel zu sehen, außer ein paar Krebsen, die sich ans Ufer gewagt hatten. Nach zwanzig Tagen ging der Proviant aus, und die Männer krochen am steinigen Ufer hin und versuchten, mit einer kleinen Angelschnur und leeren Haken Fische zu fangen. Helena schritt die ganze Zeit gelassen und huldvoll auf den bequemsten Pfaden, die sie zwischen den Felsen finden konnte, dahin oder setzte sich auf den Vorsprung einer kleinen Klippe und sah dem Spiel der violetten Wellen und der Möwen zu oder blickte sinnend nach dem Horizont. Menelaos wich seinen Leuten aus und wanderte allein umher, am entgegengesetzten Ende der Insel. Als er aber endlich doch zu ihrem Klippensitz hinaufgeschlendert kam, schien sie nicht überrascht.
»Ich denke daran, nach Ägypten zurückzukehren«, begann er. »Die Leute brauchen kräftigere Nahrung, als sie hier finden können, und wir könnten in einem Tage nach Kanopus rudern.«
»Wenn du mich um Rat fragst,« sagte Helena, »so kann ich nur deinem eigenen vernünftigen Urteil zustimmen. Du hast recht, es scheint uns an Nahrung zu fehlen.«
»Bisweilen irritierst du mich, Helena«, sagte Menelaos; »jeder Narr muß einsehen, daß wir nach Ägypten zurück müssen. Ich habe dich nicht um Rat gefragt. Ich hätte längst zurückfahren sollen.«
Er hatte ihr sagen wollen, warum er nicht früher zurückgekehrt war, aber es verdroß ihn, daß sie nicht fragte. Er wandte sich um und sah drei seiner Leute, bleich und hungrig, und mit ihnen den Steuermann. Sie sahen aus, als ob sie ihm etwas Unangenehmes sagen wollten.
»Menelaos,« begann der Steuermann, »wir sind dir so lange gefolgt, daß du unsre Treue erkannt haben mußt, aber nun kommen wir und fragen dich, ob du den Verstand verloren hast. Macht es dir Vergnügen selbst zu leiden, oder magst du uns gern leiden sehen? Du zwingst uns, hier auf dieser Insel zu verhungern, während in Ägypten, wohin wir in einem Tage rudern könnten, wenn wir noch die Kraft hätten, Speise genug ist. Noch ein paar Stunden, und wir sind zu schwach, um das Schiff in die See zu stoßen. Du sagst, wir warten auf Wind. Aber wenn er jetzt auch käme, wir haben nicht Proviant genug bis Sparta; beim Segeln können wir nicht fischen.«
»Ich will euch euer ungehöriges Benehmen nachsehen, weil ihr Hunger habt,« sagte Menelaos, »aber, wie es gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten der Fall ist, euer Rat kommt zu spät und ist daher überflüssig. Ich hatte bereits beschlossen, nach Ägypten zurückzukehren, um Vorräte einzunehmen, und wir werden sofort aufbrechen. Macht das Schiff fertig! … Habt ihr mich verstanden? Ihr sollt das Schiff flottmachen … Ach so, ihr wolltet noch etwas sagen?«
»Ja, Menelaos«, erwiderte der Steuermann. »Wenn wir Ägypten erreichen, wollen wir den Göttern die gebührenden Opfer bringen, damit wir wohlbehalten heimkehren. Wir hätten gern in Troja geopfert wie unsre Gefährten, aber du hießest uns abfahren. Nun wir deine Strafe mit dir erlitten haben, wollen wir dir in dieser Sache nicht länger gehorchen, sondern nur den Göttern. Sicher ist es keinem einzigen von uns beschieden, die Seinen wiederzusehen, wenn wir den Unsterblichen, die Himmel und Meer beherrschen, nicht Hekatomben zum Opfer bringen. Wir wären zweifellos schon längst umgekommen, hätten wir nicht unsre Herrin dort, dein Weib, bei uns gehabt, um den Zorn der Götter zu beschwichtigen – sie, die in unsern Augen selbst eine Unsterbliche ist und doch ehrerbietig und gewissenhaft gegen die, in deren Händen Tod und Leben ist.«
»Es ist vielleicht ratsam,« sagte Menelaos, »jetzt weitere Opfer zu bringen. Ich hatte auch schon daran gedacht, allein hier ist nichts, was wertvoll genug zum Opfer wäre. In Ägypten können wir uns, wie ihr vorgeschlagen habt, reiche Opfergaben verschaffen, und ich hatte bereits beschlossen, dies bei der ersten Gelegenheit zu tun. Ihr könnt jetzt das Schiff flottmachen – oder habt ihr noch etwas zu sagen?«
Sie eilten zu ihren Gefährten, und Menelaos wandte sich zu Helena: »Ich hoffe, du läßt uns nicht warten. Diese Unterredung hat die Ausführung meiner Pläne etwas verzögert.«
Thonis versah sie mit Proviant für das Schiff, und mit Tieren und Kannen mit dunklem Wein zum Opfer. Vor ihrer aller Augen fuhr Menelaos mit dem unbarmherzigen Messer, das er in seiner Erregung schwenkte, über die Kehlen der Opfer hin, die röchelnd zu Boden fielen. Dann goß er den Wein aus den Kannen in die Becher, schüttete ihn aus und betete in eindringlichem Tone zu den Göttern, die ewig leben:
»O glorreicher, erhabener Zeus, o weise und furchtbare Athene, o ihr Unsterblichen alle! Laßt euer Tun offenbar werden, auf daß die Menschen eure Gerechtigkeit schauen! Bestraft die Schuldigen und belohnt die Guten! Wer von uns gegen euch gesündigt hat, laßt sie auf den Felsen des Meeres verhungern oder in den Fluten ertrinken! Aber uns, die mit reinem Herzen euren Willen erfüllt haben, uns führt bald in unsre Heimat zurück!«
Und der Wind trieb sie alle wohlbehalten nach Sparta.
Menelaos,« sagte der alte Torhüter Eteoneus, »ich warte nun schon die ganze Zeit, seit du heimgekehrt bist, daß du ein paar Minuten für mich übrig hast, du bist so lange fort gewesen und willst doch gewiß, daß ich dir über alles Bericht erstatte.«
»Es ist doch nichts passiert?«
»Orest war hier.«
»Oh – mein Brudersohn«, sagte Menelaos.
»Ja,« sagte Eteoneus, »und deines Weibes Schwestersohn dazu.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Menelaos.
»Ich will damit sagen,« erwiderte Eteoneus, »daß ich nicht wußte, ob ich ihn einlassen sollte.«
»Mir scheint, du hast die Absicht, damit etwas Ungebührliches über die Verwandten meiner Frau anzudeuten«, sagte Menelaos.
»Offen gestanden,« erwiderte Eteoneus, »ich ahnte bis zu deiner Rückkehr nicht, daß du deine Frau noch zu deinen Verwandten zähltest.«
»Du vergißt dich«, sagte Menelaos.
»Nein, Menelaos,« sagte Eteoneus, »es ist eine peinliche Sache, aber wir müssen ihr ins Gesicht sehen. Ich jedenfalls, denn ich bin zum Teil verantwortlich. Als Paris kam, ließ ich ihn ein. Was darauf geschah, wissen wir alle – wenigstens wissen wir die Tatsachen, wenn mancher von uns auch nicht weiß, wie er sie sich erklären soll. Du nahmst Paris natürlich gastlich auf, ohne nach dem Zweck seines Kommens zu fragen, und er raubte dein Weib und was sich sonst noch an beweglicher Habe in deinem Hause fand. Natürlich zogst du auf Rache aus, und ich kann wohl sagen, daß niemand von uns zu Hause erwartete, Helena wiederzusehen, jedenfalls nicht als dein rechtmäßiges Weib. Wenn du uns die neue Situation erklären – uns wenigstens einen Wink geben möchtest, wie wir uns ihr gegenüber zu verhalten haben, so würdest du deinen Dienern über ihre gegenwärtige Verlegenheit hinweghelfen.«
»Du wolltest etwas von Orest sagen«, sagte Menelaos.
»Das will ich auch«, sagte Eteoneus. »Als du abreistest, gebotst du mir, mit besonderer Umsicht über das Haus zu wachen, da die Stärksten deiner Leute mit dir gingen, während deine Tochter Hermione hierblieb und sich in den Gewölben immerhin noch ein beträchtlicher Schatz befand. Dann erschien Orest. Vielleicht hätte ich ihn wie jeden andern Fremden einlassen und mich erst später nach seinem Begehren erkundigen sollen; allein in deiner Abwesenheit konnte ich dies nicht wagen. Ich wehrte ihm den Eintritt, bis er mir sagen würde, wer er sei. Er wird sich vielleicht darüber bei dir beklagen.«
»Mir ist nichts so sehr zuwider wie Familienzwistigkeiten,« sagte Menelaos. »Ich hoffe, es kam nicht zwischen euch zum Wortwechsel?«
»Leider doch«, sagte Eteoneus. »Er fragte, was denn über dies Haus gekommen, daß es so ganz von aller Tugend, selbst der elementarsten, verlassen sei. Er äußerte, soweit ich mich erinnere, unser Betragen stinke zum Himmel, so daß den Göttern übel davon werden müsse. Ich will die Einzelheiten nicht wiederholen; sie liefen etwa darauf hinaus, daß wir von einem verhältnismäßig verzeihlichen Fehltritt, wie der Untreue deines Weibes, nun schon bis zur Nichtachtung der Gastfreundschaft heruntergekommen wären. Ich versicherte ihm, daß bei uns das Gastrecht ebenso heilig gehalten würde wie bei andern zivilisierten Völkern, allein daß wir uns neuerdings auch für die Rechte des Wirtes interessierten und, seit diese einmal in unserm Hause mißachtet worden seien, hübschen und unbekannten jungen Männern nicht recht trauten. Man dürfe uns unsrer Ansicht nach eine ungewöhnliche Vorsicht in diesen unruhigen Zeiten nicht verargen.«
»Ich finde nichts Beleidigendes in diesen Worten«, sagte Menelaos.
»Das ist nun allerdings nicht alles, was ich sagte«, erwiderte der Torhüter. »Als er die Bemerkung über deine Frau machte, fühlte ich mich als dein getreuer Untertan gedrungen, etwas zu sagen. Ich fragte ihn, wie es seiner Mutter ginge.«
»Das geschieht auch bisweilen unter höflichen Leuten«, sagte Menelaos.
»Ich fragte ihn nämlich,« sagte der Torhüter, »ob es nicht rücksichtsvoller sei, das Haus des Gatten zu verlassen, bevor man ihn verrät, als ihm an seinem eigenen Herde untreu zu werden, während er abwesend ist. Orest verstand den Hieb – darum wurde er zornig.«
»Wenn Orest dich verstand,« sagte Menelaos, »so konnte er mehr als ich.«
»Du hast vermutlich noch nichts davon gehört«, sagte Eteoneus, »aber ganz Sparta weiß um den Skandal. Klytemnestra, deine Schwägerin – oder sozusagen deine Doppelschwägerin, als Schwester deiner Frau und Frau deines Bruders – hat schon seit Agamemnons Aufbruch nach Troja mit Ägisth zusammen gelebt. Es lohnt sich kaum für ihn, zurückzukommen.«
»Da haben wir es!« rief Menelaos. »Ich konnte sie nie leiden. Es empört mich, aber es überrascht mich nicht, wenigstens nicht von ihrer Seite. Ägisth wird seine Verwegenheit zu bereuen haben. Mein Bruder wird zurückkehren. Man wünscht vielleicht seine Heimkehr nicht, aber um so sicherer wird er heimkehren. Er hat in letzter Zeit ziemlich viel Übung darin gehabt, mit Frauenräubern fertigzuwerden.«
»Was Sparta wissen möchte,« sagte der Torhüter, »ist, ob er auch genug Übung gehabt hat, mit Klytemnestra fertigzuwerden. Sie ist ein furchtbares Weib, selbst in ihren harmlosen Augenblicken, und sie macht aus ihrer gegenwärtigen Lebensführung kein Geheimnis. Sie glaubt sich durch etwas, was Agamemnon tat, gerechtfertigt. Natürlich zweifelt sie ebensowenig wie du daran, daß er zurückkehrt. Man glaubt, daß sie einen Willkommen für ihn bereit hat.«
»Wie entsetzlich!« stöhnte Menelaos. »Aber vielleicht ist doch alles leeres Gerücht. Frauen, die so schön sind wie diese beiden Schwestern, müssen dem böswilligen Klatsch des Neides für ihre Vorzüge bezahlen. Ich wundere mich wirklich nicht, Eteoneus, daß Orest erzürnt war.«
»Darüber wundere ich mich auch nicht,« sagte Eteoneus, »aber ob er nun erzürnt war oder nicht, er leugnete jedenfalls nichts. Wie konnte er auch? Solche Gerüchte über schöne Frauen sind oft boshaft und neidisch, aber sie sind selten übertrieben.«
»Das brauchen wir hier nicht zu erörtern«, sagte Menelaos. »So kehrte Orest also wieder heim? Ich muß sagen, Eteoneus, ich hätte die Geschichte gern von seiner Seite gehört.«
»Das kannst du leicht,« sagte der Torhüter, »denn er ist von Zeit zu Zeit immer wieder hier gewesen, und wenn er seine Gewohnheit nicht ändert, muß er in ein paar Tagen wiederkommen.«
»Ich denke, du hast ihn nicht eingelassen?«
»Das tat ich auch nicht, aber danach hat er nicht mehr um Erlaubnis gefragt – er kam einfach herein. Ich muß noch hinzufügen, daß er immer Hermione besuchte, und sie machte es immer irgendwie möglich, wie, weiß ich nicht. Sie kann mich ebensowenig leiden wie er.«
»Ich kann nichts Schlechtes von meiner Tochter glauben,« sagte Menelaos, »und es ist sehr unrecht von dir, dergleichen anzudeuten. Ich bin geneigt, deine Urteilsfähigkeit in bezug auf die andern Dinge auch in Zweifel zu ziehen. Ich bin zwar lange fortgewesen, und sie ist inzwischen herangewachsen, allein ihr Charakter scheint mir im wesentlichen unverändert. Ich habe sie stets für die Ehrbarkeit selbst gehalten.«
»Das tue auch ich, ganz gewiß!« sagte Eteoneus, »und mit den Gesetzen des Herkommens nimmt auch Orest es sehr genau. Das hat man übrigens häufig, nach meiner Erfahrung, – daß die Kinder sich dann äußerst korrekt halten, zumal, wenn sie nicht besonders schön sind.«
»Man sagt, daß meine Tochter mir gleicht,« sagte Menelaos, »und ich glaube, daß wir einander gut verstehen. Aber wenn du zugibst, daß ihre Zusammenkünfte durchaus schicklich waren, wozu in aller Welt machst du denn solch Gerede? Warum ließest du ihn nicht gleich ein? Sie waren für einander bestimmt, bevor unser Familienleben gestört wurde; nun wir heimgekehrt sind, werden sie wahrscheinlich bald heiraten, wenn sie den Wunsch haben.«
»Menelaos,« sagte Eteoneus, »es ist schwer, diese Sache jemandem begreiflich zu machen, der nicht meinen Beruf ausgeübt hat. Ich bin Torhüter des Hauses, und das Gefühl der Verantwortung macht mich vorsichtig, wen ich einlasse. Als ich Paris das Tor öffnete, hatte ich eine dunkle Ahnung, daß die Liebe ins Haus kam, und ich fühlte instinktiv, daß der Eintritt einer großen Leidenschaft Störung in dein Heim bringen würde. Du selbst fühltest die Gefahr nicht. Nun bin ich sicher, daß Orest gewisse neue Ideen mitbringt. Wenn du eine Vorstellung hättest, was die Einführung neuer Ideen für dein Haus bedeutete, würdest du auf deiner Hut sein.«
»Eteoneus,« sagte Menelaos, »ich habe, seit ich von Hause fort war, allerlei Beredsamkeit gehört, und obwohl ich in solchen Dingen kein Kenner bin, so habe ich doch allmählich gelernt, Andeutungen aus dem, was gesagt wird, herauszuhören. Vieles von dem, was du sagst, klingt mir nach versteckter Beleidigung.«
»Ich bin vielleicht zu weit gegangen,« sagte der Torhüter, »doch ich wollte dich auf ein Problem aufmerksam machen, das nur du lösen kannst. Wir sind dir alle treu ergeben, aber wir wissen nicht, woran wir sind. Es pflegte sonst so zu sein, daß eine Frau, die ihren Gatten und ihre Kinder verließ, in Ungnade fiel und womöglich bestraft wurde. Das war auch deine Auffassung, als du nach Troja fuhrst. Wie sind hier zu Hause die ganze Zeit darauf bedacht gewesen, wie wir dich in deinem einsamen Kummer trösten könnten, wenn du je in deine –«
»Hast du das nicht schon einmal gesagt?« fragte Menelaos. »Du wiederholst dich und schweifst ab. Ich dachte, du wolltest mir Bericht erstatten über das, was sich während meiner Abwesenheit im Hause ereignet hat.«
»Dabei bin ich ja eben, Menelaos,« sagte der alte Torhüter, »und wenn ich dabei Umschweife mache, so tue ich dies nur aus Taktgefühl. Ich versuche, dir auf respektvolle und harmlose Weise begreiflich zu machen, daß sich in deinem Hause gefährliche neue Ideen verbreiten, und ich möchte ausfindig machen, ob du davon weißt und sie verurteilst, oder ob du sie teilst. Ich habe große Angst, daß du sie teilst, und wenn dies der Fall ist, müßte ich dich, so alt ich bin, verlassen, denn in meinem Alter kann man nicht mehr umlernen. Weshalb ich auf den Verdacht gekommen bin, daß du solche neuen Ideen aufgelesen hast, ist – nun, als das Schiff in Sicht kam, sahen wir, daß es mit deiner Einsamkeit nichts sein würde; Helena kam mit dir zurück. Das war eine neue Idee, Menelaos. Allein wir gewöhnten uns an den Gedanken und bereiteten uns auf eine Haltung vor, wie sie uns einer reuevollen Gefangenen gegenüber, die entehrt heimkehrt, angemessen schien. Allein sie scheint sich keiner Entehrung bewußt zu sein und ist nicht reuig. Sie benimmt sich nicht – und auch du nicht – als ob sie eine …«
»Höre einmal, Eteoneus,« sagte Menelaos, »ich habe mir nun genug von dir bieten lassen. Erst behauptest du, von Hausangelegenheiten mit mir sprechen zu wollen, dann willst du mir nachteilige Dinge von Orest erzählen, die schließlich mehr gegen dich als gegen ihn sprechen, und die ganze Zeit bist du nur darauf bedacht, den Ruf meiner Frau anzutasten. Jetzt bin ich wieder da und werde mein Haus selbst verwalten. Du gehst dahin, wo du hin gehörst, und bewachst das Tor … halt, wart' einen Augenblick! Wenn es dir wieder einfallen sollte, über Helena zu sprechen, so hüte dich, daß es mir nicht zu Ohren kommt! Du wunderst dich, daß ich sie nicht tötete. Das geschah, weil sie zu schön war. Du aber gleichst ihr nicht im mindesten. Darum nimm du dich in acht!«
»Die Götter seien gelobt, Menelaos«, sagte der Torhüter. »Nun bist du doch wieder der Alte! Darf ich nun fortfahren mit dem, was ich sagen wollte?«
»Erzähl' von Orest zu Ende und dann mach', daß du fortkommst!«
»Ich muß etwas zurückgreifen, um den Faden wieder aufzunehmen«, sagte Eteoneus. »Wo war ich doch? Ach ja. Wir fragten natürlich die Leute auf dem Schiff aus, und sie antworteten uns so, als hätten wir den Verstand verloren; selbst sie, die das ganze Elend des Krieges durchgemacht haben, sind voll Bewunderung für Helena. Wir versuchen, von dir Aufschluß zu bekommen; aber obgleich man dir, wenn ich so sagen darf, zuweilen eine gewisse Verlegenheit anmerkt, und du nun, da ich wage, die Frage anzuschneiden, augenscheinlich gereizt bist, so scheinst du doch Helena immer noch als unerschütterliche Autorität und den guten Geist deines Hauses anzusehen. Und damit komme ich auf Orest. Ich glaubte immer, Hermione huldige den alten Anschauungen. Es war rührend, wie sie Geschichten über ihre abwesende Mutter in Umlauf setzte, nach denen, wenn man sich hätte täuschen lassen, Helena ganz unschuldig gewesen wäre, mehr ein Opfer als eine … nun, wir wollen das auf sich beruhen lassen. Ich bewunderte die Treue der Tochter, wenn sie auch eine phantastische Form annahm; ich war natürlich sicher, daß sie selbst an ihre Räubergeschichten nicht glaubte. Aber jetzt hat Orest ihr Ideen in den Kopf gesetzt, die dich früher beunruhigt hätten. Ich sprach eines Tages mit ihr über ihn – erzählte ihr, was zwischen Klytemnestra und Ägisth vorging, und warnte sie, sich mit dieser Linie der Familie einzulassen. Willst du es glauben, sie nahm tatsächlich Klytemnestras Partei! Ich konnte mir wohl denken, daß sie von Orest beeinflußt war. Wenn ihre Tante auch nicht recht handelte, sagte sie, so hätte Agamemnon ebenfalls unrecht gehandelt; er hätte ihr geboten, ihm die jüngste Tochter zu schicken, da er eine Heirat mit Achill in die Wege geleitet hätte, und als die Mutter hocherfreut ihre Tochter bereit gemacht und wohlbehalten nach Aulis hatte schaffen lassen, hätte er das Kind getötet, um es den Winden zu opfern, damit die Flotte absegeln konnte. Welche Treue, fragte Hermione, schuldete Klytemnestra danach noch dem Agamemnon? Und ich konnte keine rechte Antwort darauf finden. Ich sagte zwar, Klytemnestras Betragen sei nicht, wie das Opfer, durch Religion geheiligt. Doch sie lachte mich aus. Siehst du, Menelaos! da liegt die Gefahr. Wenn du dich nicht verändert hättest, würdest du mir für meine Warnung danken.«
»Nun du endlich zur Sache gekommen bist,« sagte Menelaos, »will ich dir auch gerade heraus sagen, daß ich mich in der Tat verändert habe. Ich fürchte mich nicht vor neuen Ideen, wie es früher der Fall war und wie es bei dir noch heute der Fall ist. Wir sind lange fort gewesen, wir haben viele Länder und fremde Völker gesehen, und unser Horizont hat sich infolgedessen geweitet. Bevor ich fortreiste, hatte ich z. B. kein Interesse für Ägypten, aber es ist ein bemerkenswertes Land, und seine Bewohner wissen ein gut Teil mehr als wir. Und du mußt bedenken, wir haben den Krieg durchgemacht. Nach diesem hat alles ein anderes Gesicht. Wenn man sich lange Zeit in einer ganz neuen Gefühlsrichtung bewegt hat, so merkt man, daß die Ideen andere geworden sind, und nicht notwendig schlechter. Draußen im Krieg bekommt man mehr neue Ideen, als wenn man zu Hause bleibt. Ich will nicht sagen, daß ich diese Ideen Orests teile, aber sie erschrecken mich nicht. Wenn man mir früher gesagt hätte, daß Achill Hektors Leichnam ausliefern würde, damit die Seinen ihn bestatteten, und daß er einen zwölftägigen Waffenstillstand anordnen würde, damit die Bestattungsfeierlichkeiten ungestört vor sich gehen könnten, so hätte ich es nicht geglaubt. Aber das geschah tatsächlich. Als Helena mit Paris davonging, verfolgte ich sie in der Absicht, beide zu töten. Nun ist sie wieder hier mit mir zu Hause. Du kannst dich nicht damit abfinden. Es ist die eine neue Idee, die dir seit zwanzig Jahren entgegengetreten ist – diese erstaunliche Tatsache, daß meine Frau zu Hause ist, und nicht auf dem Friedhof. Ich selbst bin etwas erstaunt darüber, aber nicht so sehr wie du. Ich habe keine Erklärung dafür, – ich kann nur mit dir sagen, unsre Ideen ändern sich.«
»Der Vergleich zwischen Hektors Leichnam und deiner Frau leuchtet mir nicht ein,« sagte der Torhüter, »aber mir scheint, Menelaos, du bist der Ansicht, der Krieg habe allerlei Gutes im Gefolge – nicht für die Trojaner, selbstverständlich, auch nicht für Hektor, noch für Patroklos, noch für Achill, sondern für dich. Im Grunde hast du, wie mir scheint, die Vorstellung, daß deine Frau dir einen guten Dienst erwies, als sie mit einem andern durchging.«
»Und mir scheint, Eteoneus, daß deine Gegenwart am Tor jetzt dringender nötig ist als hier und daß du dich besser dahin verfügst. Hast du vielleicht meiner Frau auch eine deiner Erörterungen zugute kommen lassen, bevor sie nach Troja entfloh? Ich habe mich schon oft gefragt, was sie wohl aus dem Hause trieb; Paris allein war nicht Grund genug.«
Das ist nett von dir, Helena, daß du meinen Besuch so schnell erwiderst. Ich war ganz trostlos, als ich dich nicht zu Hause traf. Sobald ich von deiner unerwarteten Rückkehr hörte, ging ich unverzüglich zu dir hinüber. Das schien mir von einer Jugendfreundin ganz selbstverständlich. Ich möchte so vieles von dir hören. Auf der andern Seite des Gartens ist es schattig – laß uns dort hinübergehen.«
»Ihr habt den Garten anders angelegt, ich hätte ihn nicht wiedererkannt«, sagte Helena. »Er war schon vorher sehr hübsch, aber er hat noch sehr gewonnen, seit ich ihn zuletzt sah.«
»Die Zeit verändert manches«, sagte Charitas. »Helena, dein Mädchen kann mit dem Sonnenschirm draußen warten – du brauchst ihn hier nicht.«
»Sie kann gern hier bleiben«, sagte Helena. »Adraste und ich verstehen einander gut. Komm einmal her, Adraste, daß meine alte Freundin dich sieht – eine Jugendfreundin.«
»O Helena, wie schön sie ist! Ich bewundere dich, daß du ein so schönes Mädchen bei dir im Hause duldest.«
»Ich habe nichts gegen Schönheit,« sagte Helena, »warum sollte ich Adraste nicht bei mir haben?«
»Nun, vielleicht ist dein Mann nicht so leicht entflammt, und du hast keinen Sohn zu hüten. Mein Sohn Damastor – erinnerst du dich an ihn? Ach nein, natürlich nicht, er sollte ja erst geboren werden, als du nach Ägypten fuhrst. Damastor ist schön wie Apoll und liebt alles, was schön ist. Es ist schrecklich! Ich habe versucht, ihn gut zu erziehen. Er ist künstlerisch veranlagt, fürchte ich – ein entfernter Vetter meines Vaters war es auch. Ich habe versucht, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, und er hat auch nicht viel Gelegenheit hier in Sparta. Da ist natürlich Hermione, und ich würde so froh sein, wenn er sich in sie verliebte. Ich habe ihn für Gartenbau interessiert – dies hier ist zum größten Teil sein Werk. Aber ich glaube nicht, daß das ihn lange fesseln wird.«
»Du fürchtest,« sagte Helena, »daß er, sobald er ein schönes Mädchen sieht, sich in sie verliebt?«
»Nun, du weißt, was ich meine«, sagte Charitas.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Helena.
»Ich möchte, daß er seiner Erziehung Ehre macht und sich zur richtigen Zeit in das richtige Mädchen verliebt«, sagte Charitas. »Wir beide wissen, daß Schönheit den Unerfahrenen oft zu Liebschaften verlockt.«
»Ich glaube, sie verlockt oft zur Liebe,« sagte Helena, »und einer großen Schönheit gegenüber sind wohl alle Männer unerfahren. Es gibt vermutlich nicht genug von der Art, um sich daran zu gewöhnen. Du möchtest, daß dein Sohn ehrbar wäre – sich in eine unansehnliche Frau verliebte? Oder dem Herkommen getreu eine heiratete, die er überhaupt nicht liebt?«
»Wie zynisch du dadurch geworden bist – ich meine, bevor du Sparta verließest, redetest du nicht so.«
»Bevor ich Sparta verließ,« sagte Helena, »redeten wir überhaupt nicht über diesen Punkt, da dein Sohn noch nicht geboren war, aber ich glaube, ich hätte damals genau so geredet. Ich hoffe es wenigstens. Es ist nicht zynisch, es ist nur ehrlich. Du weißt so gut wie ich, daß es für ganz in der Ordnung gilt, wenn man jemand heiratet, den man achtet, aber nicht liebt. Die Gesellschaft wird keinen darum in den Bann tun. Und du weißt, es kommt fast nur noch in Romanen vor, daß jemand sein Herz an seinen Gatten verliert, obgleich er oder sie nicht schön ist. Das ist mehr als ehrenwert, daß ist bewundernswert. Etwas Ähnliches, scheint mir, erträumst du für deinen Sohn.«
»Das entspricht nicht ganz meinem Standpunkt«, sagte Charitas.
»Meinem auch nicht«, sagte Helena. »Übrigens sind diese beiden Formeln: Liebe ohne Schönheit und Heirat ohne Liebe, wenn auch althergebracht und allgemein anerkannt, doch sehr gefährlich. So selten die Schönheit auch ist, so kann man doch nicht immer hindern, daß sie einem in den Weg kommt, und wenn man sie sieht, muß man sie lieben.«
»Ich weiß nicht, daß man das müßte,« sagte Charitas; »man hat doch bisweilen ältere Verpflichtungen.«
»Wenn man sich noch nie der Schönheit hingegeben hat,« sagte Helena, »so gibt es keine älteren Verpflichtungen.«
»So würdest du also nichts dagegen haben, wenn ein Junge sich in die erste beste Schönheit, die er sieht, verliebt?«
»Ich würde etwas dagegen haben, wenn er sich in irgend jemand anders verliebt«, sagte Helena; »und wenn diese Schönheit ihm in den Weg kommt, so ist es seine Pflicht, sie zu lieben. Das wird er auch wahrscheinlich tun, ob er nun Verpflichtungen gegen eine ehrbare Unansehnlichkeit hat oder nicht; und ich möchte vor allem, daß er offen und aufrichtig bleibt. So wie du die Sache anfängst, Charitas, wirst du deinen Jungen dahin bringen, daß er sich schämt, die Schönheit zu lieben, und er wird sie auf hinterlistige und feige Weise suchen. In deinem Bestreben, ihn ehrbar zu halten, hinderst du ihn vielleicht daran, sittlich zu sein.«
»Sprichst du in dieser Art zu Hermione?« fragte Charitas.
»Ich habe noch wenig Gelegenheit gehabt, über irgend etwas mit ihr zu sprechen,« sagte Helena, »aber ich würde ihr dasselbe sagen. Ich hoffe, sie wird den herrlichsten Mann lieben, den sie kennenlernt, und ich würde mich freuen, wenn sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebte; aber jedenfalls wird sie den lieben, den das Schicksal ihr bestimmt hat, und es hat keinen Sinn, sich da einzumischen. Man nimmt nur Rat an, solange das Herz noch frei ist.«
»Möchtest du nicht Adraste unten im Garten warten lassen?« sagte Charitas. »Ich möchte dir leise etwas sagen.«
»Adraste wird unten im Garten warten«, sagte Helena. »Aber nun sie fort ist, muß ich dir sagen, Charitas, daß ich nicht einsehe, weshalb du es leise sagen mußt. Wenn man nicht offen davon sprechen kann, so laß uns überhaupt nicht darüber sprechen.«
»Helena, es ist alles recht schön und gut, wenn du offen bist, aber vielleicht schadest du andern damit. Du solltest solche Sachen nicht in Gegenwart des Mädchens sagen – und mit Bezug auf meinen Sohn; du bringst sie auf allerlei Gedanken.«
»Liebe Charitas, auf was für Gedanken brauchten wir die Jugend, die auf die Stimme der Natur hört, erst zu bringen? Ich erwähnte deinen Sohn nur, weil du selbst es tatest, und ich wünschte ihm ein glückliches Los. Du stelltest ihm, wie mir scheint, ein schlechtes Zeugnis aus; du äußertest Mißtrauen gegen ihn, und in Gegenwart des Mädchens. Deine Schilderung war ihrem Herzen ganz ungefährlich. Du solltest ihn bald einmal zu uns hinüberschicken, damit er beweist, daß er doch mehr Manns ist als du aus ihm zu machen versucht hast. Ich bin neugierig auf den Jungen.«
»Er ist in letzter Zeit mehrmals dort gewesen, um Hermione zu besuchen«, sagte Charitas. »Ich konnte es in Gegenwart des Mädchens nicht sagen, aber ich würde mich freuen, wenn er Absichten auf Hermione hätte. Niemand könnte auch nur das geringste gegen sie sagen.«
»Das würde unter Umständen doch wohl der oder jener fertigbringen,« sagte Helena, »es sei denn, daß die menschliche Natur sich selber untreu würde. Aber ich gebe zu, daß Hermione es nicht verdient. Interessiert sie sich für Damastor? Ihr Vater wünschte immer, daß sie ihren Vetter Orest heiratet.«
»Sie hat nie von Orest zu mir gesprochen,« sagte Charitas, »allerdings auch von meinem Sohn nicht. Aber das ist ja natürlich, seiner Mutter gegenüber. Sie ist neuerdings häufig hier gewesen. Und da sprach sie eigentlich in der Hauptsache von …«
»Nur weiter,« sagte Helena, »wovon?«
»Nun, von dir. Sie erklärte alles, und ich muß sagen, sie nahm mir eine Last vom Herzen.«
»Du erwartest offenbar, daß ich dich verstehe,« sagte Helena, »aber deine Worte sind mir absolut schleierhaft. Was erklärte sie? Was für eine Last hattest du auf dem Herzen?«
»O Helena, es war wirklich nicht meine Absicht, davon zu sprechen – jetzt gleich zu Anfang. Aber nun kann ich ebensogut fortfahren. Sie erklärte die Sache mit dir und Paris, und ich war so dankbar zu erfahren, daß du der unschuldige Teil warst.«
»Unschuldig woran? Handelt es sich um ein Verbrechen? Das ist ja ein ergötzlicher Gedanke! Vielleicht erklärt Hermione ihrer Mutter die Sache, wenn ich nach Hause komme.«
»Nun, meinetwegen nicht gerade ein Verbrechen,« sagte Charitas, »aber ich dachte – wir alle dachten –, du wärst mit Paris nach Troja entflohen – er wäre dein Liebhaber gewesen, und du – du hättest ihn geliebt. Ich muß gestehen, daß ich es geglaubt habe, Helena –, dein Mann befand sich in demselben begreiflichen Irrtum. Und da Paris ein Prinz war, hielten wir ihn ohne weiteres für einen Gentleman. Sobald Hermione seinen niedrigen Charakter schilderte und mir von der wunderbaren Rettung erzählte, die der Himmel dir beschied, wußte ich, daß du von Anfang bis zu Ende ein widerstrebendes Opfer gewesen bist. Wir sind alle so froh, daß auch Menelaos die Sache eingesehen und dir verziehen hat.«
»Menelaos!« sagte Helena. »Nun also, um auf Paris zurückzukommen, weshalb dachte Hermione, er hätte einen niedrigen Charakter?«
»Er stahl die Sachen«, sagte Charitas.
»Was?« rief Helena.
»Ich hörte es von Hermione,« sagte Charitas, »und er zwang dich, mit ihm zu gehen. Hermione drückte es sehr zart aus, wie es einem jungen Mädchen ziemt, aber ich verstand, daß du ihm die ganze Zeit, bis ihr nach Ägypten kamt, Widerstand leistetest, und dort wurdest du gerettet. Es muß wirklich ein furchtbar aufregendes Abenteuer gewesen sein, Helena.«
»Charitas,« sagte Helena, »diese Fassung meiner Geschichte interessiert mich aufs lebhafteste. Wann erzählte meine Tochter dir dies alles?«
»Das meiste, bevor du zurückkehrtest, einiges später. Neulich kam sie herein, um mir zu sagen, daß sie seit deiner Rückkehr noch Genaueres über deinen Aufenthalt in Ägypten hätte feststellen können.«
»Wieso über Ägypten?« fragte Helena. »Du erwähntest das Land heute schon einmal, und ich verstand die Beziehung nicht.«
»Oh, Hermione sagte mir die Namen des Mannes und seiner Frau, bei denen du gewohnt hast – Thon – Thonis? Hieß er nicht so? und – ach ja, Polydamna.«
»Ich wohnte also in Ägypten bei Thonis und Polydamna?« fragte Helena.
»Tatest du das nicht?« fragte Charitas. »Hermione behauptet es.«
»Erzähle mir lieber erst alles, was sie behauptet,« erwiderte Helena, »dann will ich nachher das, was nicht stimmt, richtigstellen.«
»Es scheint mir so unsinnig, wenn ich dir erzähle, was geschah, Helena – ich wollte lieber, du erzähltest es mir. Also du weißt, wir glaubten, du wärest einfach mit Paris durchgegangen, bis Hermione uns erklärte, daß er dich mit Gewalt geraubt und Menelaos ein paar wertvolle Sachen entwendet und sich überhaupt als der Schurke gezeigt hätte, der er im Grunde war. Dann trieb der Wind euch nach Ägypten statt nach Troja – sicher war dies ein Werk der Götter, die dich beschützten – und dort flehtest du um Schutz, und Thonis würde Paris getötet haben, wenn er nicht gewissermaßen sein Gast gewesen wäre, der auf eine Freistatt Anspruch hatte. Er zwang ihn jedoch, allein nach Troja weiterzufahren, während du und die geraubten Sachen bei Thonis und Polydamna blieben, bis dein Mann dich holte und nach Hause brachte. Das stimmt doch so, nicht wahr?«
»Hat Hermione die Vorstellung,« fragte Helena, »daß es überhaupt keinen trojanischen Krieg gegeben hat?«