Das Privileg der Außenseiter - Maxim Szenessy - E-Book

Das Privileg der Außenseiter E-Book

Maxim Szenessy

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Beschreibung

Diese bunte Sammlung von Kurzgeschichten reflektiert mal wehmütig, mal euphorisch die emotionale und spirituelle Entwicklung eines Kindes, das sein Dasein im Spiegel einer ungewöhnlichen Gedankenwelt zu begreifen sucht. Bereits als Kind schreibt Szenessy in genreübergreifenden Kurzgeschichten über Gefühle der Einsamkeit und des Ausgegrenztseins. Nicht selten sind seine Texte garniert mit der Erkenntnis zu Vorzügen einer solchen Perspektive.

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Für alle Eckigen und Kantigen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Held der Ersatzbank

Das Privileg der Außenseiter

Finderlohn

Sphinx

Blick in den Tod

Sonnenschleier.

Der Philosoph

Der Bär

Ein Spuk

Tod eines Sterns

Jessie

Schattenwelt

Terrax

Im Wald

Traumgefüge

Der Blick zum Himmel

Der Seitensprung

Besuch in der Ferne

Maskerade

Im Wartesaal

Am Bettelstab

Illusionen

Brandung

Staub und Stein

Nachtschatten

Vor der Tür

Der zweite Blick

Blind vor Sehnsucht

Schwalben und Falken

Die Summe aller Zufälle

Der flüsternde Ferdinand

VORWORT

November 2012.

Wie flüchtig Ideen doch sind. Zuerst nicht mehr als ein Hauch, geboren im Schoß aller Erfahrungen, als Summe aller Eindrücke und aller Zufälle. Eines jeden Moments entsprungen geistern sie durch den Alltag, sind nebelhafter Spuk aus Schönheit oder Wahn. Sie schmücken wiederkehrend, dann herausfordernd unser Dasein, entführen uns in ferne Länder, unbekannte Welten oder in das Herz eines Fremden. Ideen zu verlieren bedeutet Unglück, sie zu umklammern Halt. Sie sind die Quelle allen Glücks, auch Wurzel allen Übels. Es erfordert einen Menschen, um ihnen Gestalt zu verleihen, und eine Seele, um sie wahrzunehmen. Manche verlieren ihre Idee im Treibsand der Zeit, andere zementieren sie als Monument, ein jeder erinnert sich ureigen Weise an Inhalt und eigene Seele. Droht man zu vergessen, zu vergessen, wer man war, lohnt sich die Suche nach früheren Inhalten. Mit Hoffnung, Geduld und Glück fängt man Ideen wieder ein und erlebt sie neu. Man ist amüsiert oder betrübt, belustigt oder traurig, doch mit jedem wiedergefundenen Gedanken erinnert man sich ein bisschen mehr daran, wer man ursprünglich ist und was einen auszeichnet.

Während der Zeit, in denen ich »Die Summe aller Zufälle« und die Übersetzung ins Englische geschrieben hatte, erlebte ich mehr Glücksmomente als in zwölf erfolgreichen Jahren Firmen-Startup der Softwarebranche. Ich erinnerte mich an alles. Was ich dachte und insbesondere an längst Vergessenes. Ich entdeckte mein Denken neu und doch altbekannt. Ich erinnerte mich, wer ich einst war und wo ich hinwollte. Ich griff die Ideen auf, klammerte mich an ihnen fest und erlebte erneut, sich der Einzigartigkeit der eigenen Seele bewusst zu werden, zu erkennen, wer man ist und was einen auszeichnet. Jeder Mensch auf Erden steht am Ende eines Weges, und niemand denkt oder fühlt gleich. Jede Seele ist unendlich, unendlich selten und wertvoll.

Wer von der Gesellschaft genötigt wird, das Gleiche wie alle anderen zu wollen, muss sich die Frage stellen, ob er seine Individualität aufgeben will, nur weil er dazugehören möchte.

Der Mensch ist ein Herdentier. Allein fühlt er sich verloren. Er hat Angst vor Einsamkeit und Ausgrenzung, Angst, nicht gesehen zu werden. Man sät ihm Hoffnung, durch Konsum und Gleichmacherei mehr dazuzugehören. Dies ist eines der größten Geschäfte auf Erden. Man gehört dazu, wenn man ist wie alle anderen, alles hat wie alle anderen, wenn einem alles gefällt wie allen anderen. Man sollte das Gleiche trinken, das Gleiche essen und dieselben Ideale verfolgen. Man sollte dasselbe denken und dasselbe glauben, man muss das gleiche Leben führen wie alle anderen. Das senkt Produktionskosten, drängt die Konkurrenz aus dem Markt und ist gut für die Aktionäre.

Doch indem man dasselbe will wie alle anderen, indem einem dasselbe gefällt wie allen anderen, indem man dasselbe lebt wie alle anderen, hilft einem dies gegen das Gefühl der Verlorenheit? Ist es nicht vielmehr im Gegenteil eher ein Abtauchen in die Schatten des Grauens, in das Meer der Eintönigkeit, Grau in Grau, Weiß in Weiß, Schwarz in Schwarz, smart in smart, ab ans Smartphone? Ist es nicht ein Gleichmachen der Seelen und Verlust der Einzigartigkeit? Wie soll man sich nicht verloren fühlen, wenn alle das Gleiche tun, dasselbe wollen, alle dasselbe lesen, wenn allen dasselbe gefällt und wenn alles unterschiedslos gleich aussieht? Wenn alle auf diese Weise in dieselbe Spur gezwungen sind und alle Seelen sich grau in grau entwickeln, wie soll man da etwas Besonderes finden, oder sich in etwas verlieben? Man verliebt sich nur in die wenigen Dinge oder Menschen, in die alle verliebt sind und in die alle verliebt sein sollen, weil es gut für die Aktionäre ist. Alles wird austauschbar und gnadenlos eingewechselt beim leisesten Defekt. Nichts ist mehr unersetzlich. Wie soll man sich in diesem Teufelskreis nicht verloren fühlen? Wie soll man an einer glasglatten Wand hochklettern? Würde man sich darauf besinnen, wie schön individuelle Einzigartigkeit ist, dann hätte die Wand so viele kleine Kanten und Absätze, so viele Wege führten nach oben und jeder wüsste, ohne den anderen ginge es nicht. Niemand wäre austauschbar, jeder hätte Wiedererkennungswert und wäre des Erinnerns wert. Überall gäbe es Schätze zu entdecken. Vergleiche untereinander wären sinnlos, da Unterschiedlichkeit bereits feststünde. Wer »die Summe aller Zufälle« gelesen hat, weiß, dass Intelligenz und Naivität sich nicht ausschließen - im Gegenteil. Manchmal steht sich das Wissen selbst im Weg. Manchmal sind es ganz einfache Ideen, die ein System heilen könnten.

Es war für mich beglückend festzustellen, dass die Gedanken, die ich als Jugendlicher aufgegriffen hatte, mittlerweile zu gewisser Reife gelangt waren. Es war erstaunlich, nach dem Verfassen des Romans die alten Kurzgeschichten zu lesen und zu erkennen, dass ich als Junge über dieselben Themen nachgedacht hatte wie heute: Wahrnehmung und Geist, künstliche Intelligenz, Einsamkeit und natürlich - keinesfalls zu vergessen - »das Universum«.

»Sonnenschleier« und viele der anderen Kurzgeschichten hatte ich damals auf dem C-64 mit einem Wordprocessor von DataBecker auf fünfeinviertel Zoll Disketten gespeichert. Das von der Figur »Elias Pfeffer« im Roman »Die Summe aller Zufälle« beschriebene Programm zum Erschaffen einer Welt existierte tatsächlich. Ich hatte 1986 angefangen, es zu programmieren. Die Idee, andere Lebewesen in von mir gestaltete Welten zu entführen, beseelte mich durch und durch. In der Schule fragte man sich oft, warum ich so selten anwesend war. Nun - das hier ist die Antwort.

Zu den Geschichten ist zu sagen, dass sie inhaltlich unberührt blieben und nur an die Rechtschreibreform angepasst wurden. Einige der behandelten Themen mögen heute veraltet wirken, doch das ist nicht schlimm, da die meisten Geschichten lange vor 1990 entstanden.

Was ich schrieb und heute schreibe, ist für alle, die ihre Individualität bewahren und in die Tiefe sehen, die aus naiver Neugier hinter den Spiegel schauen. Es ist für diejenigen, die Ironie nicht als Waffe, sondern als Zeichen von Humor im Herzen tragen. Es ist für alle Eckigen und Kantigen, die dadurch anderen Halt geben, deren bloße Existenz Inspiration für die Mitte ist.

DER HELD DER ERSATZBANK

Juli 1998.

Er war zu wenig ein anderer gewesen, hatte nicht gefordert, zu zaghaft geäfft und zu leise geschrien, galt sein Blick doch der Nacht allein. Im Strom der Momente folgte er der Mitte, mit der Mannschaft im Rücken alle Gegner zu bezwingen. Er wurde gelehrt, das Spiel zu lieben und mit Liebe zu spielen, das Trikot zu ehren und es außen wie innen mit Stolz zu tragen. Er war nicht genug ein anderer gewesen und erhielt deswegen einen Platz am Rand, den Platz auf der Bank. Nie saß er dort ohne Herzklopfen. Er sprühte vor Hingabe und verfolgte das Spiel, doch war es nie das seine gewesen.

Von außen sah und lernte man mehr als von innen; dem Spielball folgend ahnte er Züge und erkannte Wege zum Sieg. Bat man ihn um heimlichen Rat aus der Mitte, half er ohne Zögern, wann immer er konnte, denn er war zu wenig ein anderer gewesen. Täglich und täglich wuchs seine Hoffnung, das nächste Spiel aus der Mitte zu sehen, doch schien es niemand zu bemerken. Die Leidenschaft seines Hoffens überstieg all ihre Grenzen, nur an Einwechseln war nicht zu denken, spielte er doch zu wenig wie ein anderer.

Als der Ball seinen Kopf traf, schloss er für kurz nur die Augen. Er öffnete sie, verließ bald die Halle, denn allen war klar, dass diese doch den anderen gehörte. Er begab sich nach draußen und sah die Nacht allein. Er zählte Sterne. Er sah den Mond. Er sah ihn wirklich zum ersten Mal. Er hoffte, er weinte, er sprühte vor Hingabe. Er liebte und lebte. Er tat einfach alles, alles - wie kein anderer.

DAS PRIVILEG DER AUSSENSEITER

November 2012.

Wir sind frisch geboren und noch blind, tastend und zitternd und lauschend, solange werdend, bis wir erwachen. Alles ist neu und unbekannt, nichts erinnernd, nichts wissend, lernen wir uns kennen im Spiegel unserer Nächsten, streben nach begehrten Plätzen im Zentrum, wo die Hitze pulsiert und wohin alles schaut, doch jeder Blick sieht nur sich selbst. Die Nähe der Mitte poliert alles Leben, reibungslos rotierend, immer gleich und verschmelzend in glühend geschliffenem Fieber.

Könnten wir schätzen, was wir würden, drängte die Mitte uns nach außen, doch von ihr selbst niemals gesehen, wäre der Blick über den Rand unser Vermächtnis.

FINDERLOHN

Oktober 1994.

Ich habe nachträglich zu meinem Geburtstag Dostojewskis Gesamtwerk geschenkt bekommen. Das hat mich wirklich glücklich gemacht, denn obwohl das Lesen seiner Werke zumindest für mich eine zeitraubende Angelegenheit ist, hatte ich mir von der ersten Seite des ersten Romans an geschworen, alle seine Werke zu lesen. Damals hatte ich in einem Brief an eine Freundin zu diesem Thema geäußert, es gäbe eben Geschenke und Geschenke.

Tagtäglich erlebt man heutzutage Dinge, die einen für den Moment fesseln, faszinieren und die vielleicht sogar etwas in Bewegung bringen können. Aber Eindrücke, die so nachhaltig sind, dass sie das ganze Leben bestehen bleiben und sogar über das eigene Leben hinausgehen, weil man anderen davon berichtet und auch noch beobachten kann, wie man selbst die Zuhörer damit in tiefes Nachdenken stürzen und diese sogar verändern kann - solche Eindrücke widerfahren einem nur ein oder zwei Mal im Leben und auch nur demjenigen, der im richtigen Moment aufmerksam ist.

Ich war so glücklich, denn ich hatte ein Erlebnis, das mein Leben verändert und bereichert hat. Möglicherweise hätte dieses auf jemand anderen nicht diese Wirkung erzielt, doch mich hatte es mit unendlicher Freude erfüllt und mir Hoffnung und Liebe zurückgegeben.

Wahrscheinlich hatte ich so glühend darauf gewartet, wohl war meine Sehnsucht so groß, dass es einfach passieren musste. So erstaunlich es auch klingen mochte, das Erlebnis selbst war fast uninteressant, denn wichtig war allein die Sehnsucht, die ich in meinem Herzen wiederentdeckt hatte, dieses heftige Verlangen nach etwas, das der Seele Frieden zurückgibt. Mit so etwas könne man die Welt verändern, das spürte ich. Mit solchen Wundern im Herzen wollte ich meine kommenden Bücher schreiben, denn diese Leidenschaft spürte ich auch bei Dostojewski, als er in »Schuld und Sühne« den Marmeladoff in seinem Suff beschrieb, dessen unbändiges Leid mir tief in alle Glieder gefahren war. Nur wollte ich nicht von Suff oder Mord schreiben, sondern von Wundern.

Nach meinem Urlaub hatte ich mich mit einem Mädchen verabredet, das mir schon früher durch ihre stille Zurückhaltung aufgefallen war. Sie machte auf mich einen sehr liebenswerten Eindruck und hatte zudem ein sehr hübsches Gesicht. Leider trank sie sehr viel und hatte auf der Bühne des Lebens ihre Rolle noch nicht gefunden. Sieprobierte verschiedenste Masken und schien darunter zu zerbrechen.

Vielleicht würde ich ihr ein Geschenk machen, war mir jedoch noch nicht sicher, ob sie die Richtige dafür sei. Wir trafen uns in einem Café und setzten uns an einen Platz, von dem man all die vielen vorbeispazierenden Menschen beobachten konnte. Unser Gespräch handelte von nichts Besonderem, doch ich hörte ihr zu und stellte fest, dass sie genau wie ich ähnlich glühend auf etwas wartete, um ihr Leben zu verändern. Noch im Café sagte ich ihr, ich hätte für sie ein Geschenk, das alle ihre Probleme für immer lösen könnte, wenn sie nur hinsähe. Sie lächelte und nahm mich nicht ernst, doch ich versicherte ihr, es gäbe Geschenke und Geschenke.

Etwas später verließen wir diesen belebten Ort. Mit Fahrrädern fuhren wir durch einen Park, über Sandwege und vorbei an Brennnesseln. Ein schattiges Plätzchen mit Stühlen aus Holzstümpfen lud ein, anzuhalten und sich hinzusetzen.

Sie war schon ganz neugierig, was ich ihr schenken wollte. Ich begann damit, dass ich ihr zwei meiner Geschichten vorlas, ihr meine Seele öffnete und ihr tiefere Einblicke gewährte als manch anderem, wenn sie nur hinsähe. Dabei saß sie stumm vor mir auf dem Holzbock und lächelte mich an. Konnte sie meine Worte tatsächlich verstehen? Wusste sie wirklich, was ich meinte, während ich las? Spürte sie, dass ich übersprudeln mochte, weil ich bemerkte, sie würde mich tatsächlich verstehen wollen?

»Und jetzt das Geschenk«, sagte sie.

Ich nickte, öffnete meinen Rucksack und nahm zwei etwa handtellergroße, flache Steine heraus, die eine rötliche Färbung aufwiesen. Ich legte die beiden vor sie auf den Tisch.

»Die sehen schön aus«, sagte sie.

Ich nahm sie wieder, in jede Hand einen. »Diese Steine haben eine Geschichte«, sagte ich, während ich sie drehte und wendete.

»Eine Geschichte?« fragte sie überrascht, »was denn für eine Geschichte?«

In Erinnerung daran musste ich lächeln, denn es handelte sich um eine wahre Geschichte. »Ich hatte die beiden in meinem Urlaub gefunden. Mein Vater und ich hatten uns ein Auto gemietet und waren an die Südküste der Insel gefahren. Das müssen ungefähr 150 km Fahrt gewesen sein«, begann ich und erklärte weiter, ich hätte aus einem früheren Urlaub diesen Ort in Erinnerung gehabt, weil hier ein so toller Strand gewesen war. Besonders hübsche Steine und Kiesel hätten in dieser Bucht gelegen.

»Das hört sich schön an«, sagte sie, während ich die beiden rötlichen Steine in den Händen wog.

»Diesen hier«, ich hob die linke Hand, »hatte ich zuerst gefunden. Er steckte im Sand, nicht weit entfernt von unseren Badetüchern. Der sieht irgendwie schön aus. Ist nichts Besonderes, aber trotzdem hatte ich ihn eingesteckt.«

Das Mädchen fand ihn auch toll. Er war nichts Besonderes und doch von schlichter Schönheit. »Mehrere Stunden hatte ich nun schon damit verbracht, nach hübschen Steinchen zu suchen.«

Ich erinnerte mich, dass einige andere Urlauber diese Tätigkeit geteilt hatten. »Wir Steinesucher«, zitierte ich einen älteren Herren. »Der ältere Herr hatte ein Steinchen hochgehoben, um eine ältere Dame anzulocken. Er sei ja Maler, hatte er mit schweizerischem Akzent gesagt und dabei auf eine runde, farblich abgesetzte Furche in seinem Steinchen hingewiesen, dies sei wie das Auge Gottes in allem.«

»Und was war dann mit den beiden?«, fragte das Mädchen, immer noch auf dem Holzbock sitzend.