Die Summe aller Zufälle - Maxim Szenessy - E-Book

Die Summe aller Zufälle E-Book

Maxim Szenessy

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Beschreibung

Ein bizarr zurückhaltender Klient lädt eine Gruppe herausragend Talentierter zu sich nach Hause ein, um das Rätsel seiner Anomalie zu lösen. Da die Gäste längerfristig bei ihm einziehen, beginnt er im Hintergrund, für die Nachwelt ein akribisch ausgefeiltes Protokoll der Ereignisse anzufertigen. Er wird Zeuge dessen, wozu Menschen fähig sind, deren gemeinsames Ziel die Wahrheit ist.

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Für alle, die Fragen stellen und Antworten suchen.

Was ist der Sinn des Lebens?

Frage lieber, was ist das Leben.

Was bin ich?

Frage lieber, wie funktioniert das Ich.

Kann eine Maschine fühlen?

Frage lieber, wie funktioniert Fühlen.

Ist das Leben schön?

Schön ist, dass wir uns diese Frage stellen können.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Die Befreiung des Irrlichts

Die Schüler

Der Weg zum Ursprung

Genie-Ästhetik

Übermut und Visionen

Die Ankunft

Rendezvous

Die Calabi-Yau-Herausforderung

Der Landsitz des Klienten

Herr Suri und der Schatten

Die Anomalie des Klienten

Das Unvorstellbare

Vom Wesen der Schönheit

Masaos Empfinden

Schlüssel zur Wirklichkeit

Akte methodischen Unvermögens

Göttliche Eingebungen

Katzenbesuche

Von Strings und Schnupfen

Systematisches Würfeln

Die dunkle Passage

Mechanische Wirklichkeit

Geregelte Welten

Eine Welt erwacht

Von außen betrachtet

Ich lebe, also bin ich

Im Zentrum der Erkenntnisse

Der Gott der Simulation

Sozioemotionale Symmetrie

Gott hat kein Gehirn

Das magische Wesen in uns

Geklonte Seelen

Gepfefferte Erkenntnisse

Das Verschwinden Carina Meiens

Verlorenheit

Resonanzkatastrophe

Das egoistische Ego

Passionierte Suche

Die Erkenntniswolke

Taschenspielertricks

Der mystische Masao

Die göttliche Konfiguration

Der Sinn für Zusammenhänge

Geister der Vergangenheit

Ich lebe, nur warum?

Des Rätsels Lösung

Vier Elemente des Geistes

Kreative Muster der Seele

Die Wissenschaft des Spiegels

Balanceakt auf der Scheibe

Epilog

Vorwort

»Die Summe aller Zufälle« wurde im November 2012 in der Urversion als E-Book und Paperback via Amazon veröffentlicht. Die Geschichte enthielt bereits damals sämtliche Rückschlüsse und Erkenntnisse zum menschlichen Bewusstsein, insbesondere bezüglich des »Ichs«, der möglichen Funktionsweise einer lebendigen »KI« und Ansätze zu digitaler Kreativität und freiem Willen. Keine gedankliche Herleitung innerhalb dieses Buchs entsprang aus anderen Quellen. Lediglich die Passagen zur Stringtheorie (als Maßnahme zur Charakterisierung der Figur »Masao«) sowie das Gedankenexperiment mit der Klonmaschine sind inspiriert aus Büchern wie zum Beispiel »Das elegante Universum« von Graham Greene oder Werken von Roger Penrose.

Die veranschaulichten Ideen zur Funktionsweise eines Bewusstseins mit Ich-Identität und insbesondere die Bedeutung des Ichs für ein Bewusstsein aus funktionaler Sicht sind aus Perspektive des Programmierers gedanklich hergeleitet von Maxim Szenessy. Im Verlauf der Geschichte werden diese Gedankengänge systematisch entwickelt und dargestellt. Sicherheitshalber wurde 2012 vor der Veröffentlichung eine notariell beglaubigte Abschrift als Nachweis Szenessys Urheberschaft angefertigt.

Zehn Jahre später, in Zeiten des KI-Hypes in den Medien, ist es nun an der Zeit, die Summe aller Zufälle in einer deutlich überarbeiteten Version 2.0 im klassischen Buchhandel herauszugeben.

Prolog

Aufgrund eines bemerkenswert unwahrscheinlichen und daher phänomenalen Zufalls gelangte ein als vertraulich gekennzeichneter Brief in die Hände Herrn Anton Suris. Der Inhalt des mysteriösen Schreibens gab jenem Herrn Suri den entscheidenden Anstoß, sich aus einem Zustand herauszuschälen, den man vortrefflich als ideenloses Nichts beschreiben könnte.

Die bevorstehende Aufgabe schien derart ausschlaggebend und wegweisend, dass alles Vorangegangene in astronomisch anmutender Bedeutungslosigkeit zu verblassen drohte. Um genau zu sein, Herr Suri fühlte sich, als hätte seine schiere Existenz exakt in jenem Moment begonnen, in dem er die folgenden Zeilen des bislang unbekannten Verfassers las:

»Verehrtester Herr Suri!

Aus Verzweiflung wende ich mich direkt an Sie. Ich befinde mich in einer Situation, die sicher noch keiner erlebt hat. Bitte lachen Sie nicht! Was ich Ihnen schreibe, ist mein tiefster Ernst:

Ich teile mein Leben mit einer Anomalie.

In meinem Hause wurde ein Opfer erbracht, das im Verborgenen liegt und ursächlich in jeder Faser meines Wesens wiederzufinden ist. Schon vor Jahren erkannte ich, dieses Rätsel nicht lösen zu können, und erst jetzt fand ich die Kraft, Ihnen zu schreiben, Herr Suri, und setze all meine Hoffnung in Sie, in Ihre Neugier, Ihre Intuition, doch vor allem in Ihre Kenntnisse.

Eine offizielle Untersuchung kann ich nicht gestatten, denn ich sehe meine Intimsphäre bedroht. Man würde mir keine ruhige Minute mehr lassen, es wäre Schluss mit dem friedlichen Dasein, das ich mir über schwere Jahre unter Qualen erkämpft habe!

Bitte teilen Sie mir baldigst mit, ob Sie an der Lösung mitwirken werden! Ich ersuche, nein, ich bitte Sie, ein Höchstmaß an Diskretion walten zu lassen.

Hochachtungsvoll verbleibe ich

mit ein wenig Hoffnung.«

Die Befreiung des Irrlichts

Finis früherer Etiketteunterricht hatte rückblickend seine Wirkung nicht verfehlt. Sie wusste, wie sie zu funktionieren hatte. Auf lobenswerte Weise hatte sie die Kunst charakterlicher Maskerade verinnerlicht, um die ihr zugebilligte Rolle voll und ganz auszufüllen. Was Fini auszeichnete, waren ihre Neugier und diese an Selbstaufgabe grenzende Leidensfähigkeit. Nicht selten hatte sie für sich gedacht, sie könnte alles ertragen: Alles, was man ihr zumutete. Sie kommentierte nicht, sondern schwieg. Harmonie war ihr wichtig, also nahm sie sich zurück. Die Welt ihrer Familie erlaubte keine Veränderung. Es wäre möglich, dass daraus ihr Durst nach Neuem und Fremdem und nach Rätseln entsprang, nach Geheimnissen, die gelöst oder gelüftet sein wollten.

Vor Jahren schon ausgezogen wohnte sie allein, doch traditionelle Feierlichkeiten zwangen sie regelmäßig zurück an den Start. Maschinenartig funktionierte sie und entsprach den Erwartungen. Es wurde vorausgesetzt, dass sie am abendlichen Esstisch in festlicher Runde alle Regeln befolgte und das Besteck in der korrekten Reihenfolge nutzte. Es war wie ein Zwang, bei dem es kein Entkommen gab. Sie tat es aus Liebe, dachte sie. Wollte sie über Literatur sprechen, schwärmte sie von Schuhen. In politischen Diskussionen bewies sie mädchenhaftes Desinteresse, genau, wie man es hier von Mädchen erwartete. In fast stoischer Selbstaufgabe erfüllte sie Vorgaben der Familie oder vielmehr – die des Vaters. Auch bei der Wahl ihres Freundeskreises befolgte sie die Gebote. Der Abschluss des nicht von ihr selbst gewählten Wirtschaftsstudiums erfolgte unbemerkt mit summa cum laude. Fini funktionierte und passte sich an.

Im Beisein der Liebsten verlief der feierliche Abend bestens und nach bekannten Regeln. Die beiden Brüder des Vaters waren mit Familie angereist und vertrieben sich die Zeit mit sich wiederholenden Anekdoten ihrer Kinder. Wie immer blieb Fini tapfer, gab sich unauffällig und erreichte so den rituellen Moment im Kaminzimmer. Das Feuer knisterte im Kamin. Es strahlte eine wohlig gemütliche Hitze ab und tauchte den rustikal eingerichteten Raum in tanzende Goldtöne. Wie früher setzte sich Fini auf die breite Armlehne des ledernen Sessels zu ihrem Vater. Er hatte die Beine bequem auf einen Hocker hochgelegt und musterte mit einem wohlwollenden Lächeln ihr Gesicht, das mittlerweile schon erwachsen geworden war. So würde es bis in alle Ewigkeit weitergehen. Er streichelte ihre Wange und erinnerte sich an Vergangenes. Ihr Glück war immer sein Lebenszweck gewesen.

»Ich möchte dir etwas sagen, Vater«, sprach sie.

Er wirkte überrascht. Aus den Erinnerungen gerissen hob er die Brauen und sah sie zum ersten Mal heute wirklich an. »So, Fini?«

»Es geht um das weitere Studium«, sagte sie. »Ich habe genug.«

Der Vater musterte sie kurz. Solche spontanen Ausbrüche hatte er in ähnlicher Form schon oft bei den Söhnen miterlebt. Auch bei Fini würde es nur eine vorübergehende Phase sein, davon war er überzeugt. Sie würde wieder auf den rechten Weg zurückfinden, jenen, der seiner Meinung nach der richtige war. »Ich habe dich sehr lieb, Fini«, sagte er, »aber das werde ich nicht zulassen.«

Im Hintergrund knisterte das Feuer und Fini seufzte. Sie hatte schon vorher gewusst, wie seine Reaktion ausfallen würde. Sie könnte sich einfach über ihn und seine Entscheidungen hinwegsetzen, doch sie wünschte sich, dass er zufrieden mit ihr war. Wortlos beobachtete sie, wie er sich erhob. Er wartete kurz ab, ob die Tochter Widerspruch wagen würde. Dieser unterblieb. Der Vater legte wohlwollend seine Hand auf ihre Schulter, stieß sich sanft ab und verschwand durch die Tür ins Raucherzimmer. Dort würden er, die beiden Onkel und die großen Brüder Zigarren rauchen und die Zukunft planen.

Fini saß allein auf der Sessellehne, enttäuscht und regungslos. Sie spürte, solange sie in diesem Haus verweilte, würde sie niemals fühlen, was sie selbst wollte, sondern nur, was sie nicht wollte. Die in Stein gemeißelten Rollen würden sie auf ewig daran hindern, die Person zu sein oder zu werden, für die sie sich selbst hielt. Wohin sollte sie ausbrechen? Der Fluch der Verpflichtung würde sie überall ereilen und mit doppelter Härte heimsuchen.

Sie erhob sich, verließ das Kaminzimmer und betrat den Hausflur, wo sie nach Mantel und Schal griff. Die ersehnten milderen Temperaturen ließen dieses Jahr auf sich warten, doch wenigstens hatte es schon länger keinen Frost gegeben. Fini trat vor die Haustür, ohne dass es jemand bemerkt hatte. Draußen begann sie zu laufen. Aus Laufen wurde Rennen. Fluchtartig eilte sie die Straße hinunter, passierte zwei Nebenstraßen und schaffte die Strecke bis zum angrenzenden Stadtpark in gleichbleibendem Tempo, bevor sie langsamer wurde und zum Stillstand kam. Die Sonne war untergegangen und der Himmel verfinsterte sich.

Fini folgte dem Weg und wollte weiter bis zum Platz am See, wo die Bänke standen. Ein paar alte Laternen gaben durch schmutziges Glas etwas Licht ab, so dass man nicht gänzlich die Orientierung verlor. Je weiter sie sich ins Innere des Parks begab, umso dunkler wurde es. Jedes Rascheln am Wegesrand versetzte ihr Adrenalinstöße, und sie meinte, ihr eigenes Herz pochen zu hören. Es war ihr gleichgültig, was ihr hier draußen widerfahren könnte. Alles wäre besser, als weiterhin in diesem fremden Leben gefangen zu bleiben.

Fini hatte nicht bemerkt, dass es um sie herum nun fast stockdunkel war, doch mit einem Male sah sie etwas. Der Schreck holte sie in die Gegenwart zurück und ließ sie erstarrt stehenbleiben. Sie war nicht allein hier. Mucksmäuschenstill hielt sie den Atem. Bis jetzt hatte man sie nicht entdeckt. Vor ihr irrte ein Lichtkegel einer Taschenlampe am Boden umher. Fini versuchte, Genaueres zu erkennen, doch erst allmählig entstand ein Bild in ihrer Vorstellung. Jemand saß auf der Bank am Teichufer. Finis erster Gedanke hieß Entkommen, doch ihre Neugier gewann. Leise näherte sie sich. Jemand Unbekanntes saß leicht nach vorn gebeugt vor ihr auf der Bank. Fini vernahm undeutliche Worte, die sie nicht verstehen konnte. Der geheimnisvolle Mensch schien mit sich selbst zu sprechen. Der Stimmlage nach schloss sie auf einen Mann, auf einen unheimlichen Mann. Sie wollte sich schon abwenden und davonlaufen, doch wie gebannt blieb sie stehen und lauschte weiter. Sie fragte sich ernsthaft, was die Person hierhergeführt haben könnte, und um ihre Antwort zu erhalten, verwarf alle Bedenken und näherte sich weiter. Er würde erschrecken, dachte sie, doch es gab nun kein Zurück mehr.

»Hallo«, sagte sie höflich, direkt aus der Dunkelheit in seinem Rücken.

Er fuhr hoch und stieß einen kleinen Schrei aus, als müsse er einen Angreifer abwehren.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, flüsterte Fini schnell hinterher und rührte sich nicht.

Der Mann blendete direkt und unangenehm in Finis Gesicht. »Oh, Entschuldigung«, sagte er und nahm die Lampe herunter. Es war ihm offensichtlich peinlich, sich erschreckt zu haben.

Fini trat noch ein Stück näher. »Ich bin Fini.«

»Guten Abend, Fini«, antwortete der Mann, der sich relativ schnell wieder beruhigt zu haben schien. »Ich heiße Anton Suri.«

»Darf ich fragen, was Sie zu dieser Uhrzeit im Park machen?«, wollte Fini wissen.

»Möchten Sie die Antwort, die man erwarten würde, oder das, was ich Ihnen in meiner Rolle als Herr Suri dazu sagen würde?«

»Natürlich was Herr Suri sagen würde!«, rief sie amüsiert. Sie hatte schon jetzt keine Angst mehr.

»Was zählt ist, dass wir jetzt hier sind.«

Er hatte es mit einem Lächeln gesagt, meinte Fini in seiner Stimme gehört zu haben.

Der Mann griff in die Seitentasche seiner Jacke und holte eine zweite Taschenlampe hervor. Er knipste sie an und hielt sie Fini hin. »Hier, nehmen Sie!«

»Oh, danke«, sagte Fini überrascht. Sie nahm die Lampe, zögerte einen Moment, setzte sich aber dann zu ihm auf die Bank. Sie fragte sich, warum er zwei Lampen dabeihatte.

Herr Suri leuchtete auf die Fläche des Sees. Einige Enten hatten den Kopf ins Gefieder gesteckt und trieben schlafend an der Oberfläche. »Allem liegt etwas zugrunde. Manchmal sehen wir es nur nicht«, sagte er.

Fini überlegte und dachte an ihren Vater, vor dem sie in gewisser Hinsicht geflüchtet war. Sie war fortgelaufen und einer unbestimmten Zukunft entgegen. »Es stimmt«, sagte sie. »Wir beide haben unsere Gründe. Und wahrscheinlich sind es verrückte!« Der Gedanke gefiel ihr und sie lachte leise. »Sind Sie ein spezieller Mensch, Herr Suri?«

»Ein spezieller Mensch?«

»Ein besonderer Mensch«, erklärte sie. »Jemand, der Dinge tut, die andere normalerweise nicht verstehen. Er tut sie trotzdem.«

»Jeder Mensch ist besonders, Fini«, sagte er. »Und warum sind Sie hier, Fini?«

Sie blickte geradeaus auf den See. Das stille Dunkel hüllte sie ein wie eine Wolke aus Vergessen und Träumen. »Weil ich mehr sein möchte als einfach nur nichts.«

Herr Suri schien überrascht. »Mehr sein … als einfach nur nichts«, wiederholte er und lehnte sich zurück. Nach einer deutlichen Pause des Schweigens wandte er sich ihr im nebelhaften Dunkel zu und fragte, wie alt sie sei und ob sie Unterstützung dabei brauche.

»Ich werde in acht Monaten zweiundzwanzig«, antwortete sie, ein wenig irritiert. Sie versuchte, dabei so erwachsen wie möglich zu wirken. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie man sie bei einem solchen Vorhaben unterstützen könnte. Die Luft hier im Stadtpark war zwar noch etwas kühl, aber roch lebendig und angenehm.

»Ah«, nahm er lächelnd zur Kenntnis, »in acht Monaten.«

Dann fragte er, ob sie studiere. Sofort an das Gespräch mit dem Vater erinnert, erklärte sie, es sei ein schwieriges Thema.

»Würden Sie mir glauben, dass ich wegen Ihnen hier bin, Fini?«, fragte er plötzlich.

»Wirklich?«, fragte Fini und hielt die Luft an.

»Ich bin heute hier«, erklärte er, »weil ich Sie auf eine Reise einladen möchte. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Eine Reise an einen Ort, den keiner kennt. Es wird eine Herausforderung an alles sein, was wir glauben und hoffen. Es wird ein Drahtseilakt des Vertrauens und eine Suche nach dem Sinn.«

Bei seinen letzten Worten hatte Fini gelächelt. Schon jetzt stand für sie fest, nichts würde sie davon abhalten, die Reise mit ihm anzutreten.

»Es wird vor allem eine Reise des Glaubens«, sagte Herr Suri. »Doch nicht im religiösen Sinne. Wir werden versuchen, eine Erklärung für Unlösbares zu finden, wenn wir fest davon ausgehen und daran glauben, dass eine Lösung existiert. Es wird eine Erkundung wechselnder Perspektiven. Und jeder, der sich von üblichen Erwartungen zu lösen vermag, kann und wird uns auf diesem Weg folgen.«

Finis Herz schlug höher. »Was muss ich tun?«

Herr Suri nahm ein Büchlein aus der Jackentasche und entnahm eine Visitenkarte. Er hielt ihr das Kärtchen hin und richtete sein Licht darauf. »Melden Sie sich hier«, sagte er. »Und kommen Sie gut nach Haus, Fini. Es war nett, Sie kennenzulernen.«

Er drehte sich um und verschwand im Dunkel.

Die Schüler

»Masao Hatame« stand auf dem Pappschild, das Mathieu Alewi vor seiner Brust in der Hand hielt. Er wartete am Ausgang der Gepäckausgabe des Flughafens. Alewi hatte als Assistent der Wigner-Stiftung ein überaus breites Wirkungsspektrum. Er war Hausmeister sowie Chauffeur und Gärtner, außerdem kümmerte er sich um Catering und Kochen. Er war für alles zuständig, das irgendwer erledigen musste. Alewi war einer derjenigen, ohne die Wigner nicht auskommen konnte. Der Klügste war er nicht, das gab er freiwillig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu, doch die ständige Nähe zu Wigner diente hervorragend dazu, auch seinem Schaffen einen gewissen intellektuellen Glanz zu verleihen.

Von den »Schülern« war Masao der Einzige, den man per Flugzeug ins Land geholt hatte. Nach elf Stunden Flugzeit gab es offenbar Verzögerungen bei der Gepäckausgabe und Alewi wurde ungeduldig. Verschiedenste Fluggäste strömten durch den Ausgang, bis endlich auch Masao im satten Mittelfeld mit Koffer und Rucksack durch das Ankunftstor getrottet kam. Alewi trat ihm entgegen und wedelte mit dem Wigner-Ausweis, der an seinem Jackett hing.

»Hallo, Herr Hatame, Alewi mein Name. Ich bin von der Stiftung.«

»Ich heiße Masao«, sagte dieser und lächelte freundlich.

»Warten Sie, ich nehme Ihnen etwas Gepäck ab«, bot der Assistent an und griff nach dem Rollkoffer. »Sicher sind Sie furchtbar müde nach dem langen Flug, oder?«

Der Ankömmling schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht«, sagte er, »ich fühle mich gut.«

»Haben Sie auf dem Flug hierher so hervorragend Deutsch gelernt?«, fragte Alewi, denn er wusste, den Wigner-Schülern war aus seiner Sicht alles zuzutrauen.

»Ich hatte Sprachkurse, Herr Alewi. Man sollte das alles nicht überbewerten. Bisher habe ich ja noch nicht so viel gesagt.«

Alewi grinste wissend, ihm konnte man nichts vormachen. »Schön«, sagte er, »dann ... geht’s nun los. Ich bringe Sie zum Wigner-Bus.«

Sie setzten sich in Bewegung. Eine Weile schritten sie wortlos nebeneinander her, doch plötzlich blieb Masao stehen und fragte direkt: »Sind Sie glücklich bei Wigner, Herr Alewi?«

Kurz zögerte der Assistent, antwortete dann jedoch mit einem Lächeln. »Ja, schon einige Jahre«, sagte er und schien Erinnerungen zu sortieren. »Als ich bei Wigner anfing, hat sich alles geändert, meine Perspektive, die Sicht auf das Leben – alles hat sich vollkommen geändert. Und das, obwohl ich nur Mitarbeiter bin, nicht wie Sie – ein Schüler.«

»Ich verstehe«, nickte Masao. »Aber wer bezahlt das alles? Kommt alles von Herrn Wigner?«

»Also, ich bin jetzt seit mehreren Jahren dabei«, erklärte Alewi und forderte den Gast mit einer Geste seines Arms zum Weitergehen auf. »Viel weiß ich trotzdem nicht. Nur, dass Wigner gar keine reale Person ist, sondern nur eine Art Pseudonym für einen wohlhabenden Spender, der regelmäßig die Konten der Stiftung auffüllt. Gesehen hat ihn noch keiner, höchstens Eingeschworene, die keine Informationen durchsickern lassen.«

Sie waren auf dem Parkplatz angekommen. »Das ist er«, sagte Alewi und zeigte auf einen futuristischen Bus, der aussah wie ein Hochgeschwindigkeitszug mit verdunkelten Scheiben. Gekonnt öffnete Alewi eine seitliche Gepäckklappe am Bus und hievte Masaos Koffer in den Stauraum dahinter. Dann zog er aus seiner Innentasche eine Chipkarte hervor, die er Masao reichte. »Hier, das ist Ihr Wigner-Ausweis. Herr Suri wird Ihnen erklären, wie es weitergeht.«

»Herr Suri?«

»Genau. Fragen Sie Herrn Suri«, bestätigte Alewi.

Masao nahm die Chipkarte entgegen, begab sich zum Frontbereich des Busses und hielt den Ausweis an den Sensor für den Eingang. Als sich die Tür sofort öffnete, lächelte er zufrieden.

»Nun, meine Arbeit ist damit getan, Herr Hatame«, stellte Alewi fest.

Masao nickte und bedankte sich. Er stieg ein und drehte sich auf der Einstiegstreppe noch einmal um. »Auf Wiedersehen!«

Alewi winkte dem Gast zum Abschied. »Es war mir ein Vergnügen Sie kennenzulernen, Herr Hatame. Viel Spaß und vor allem Erfolg mit den anderen. Gute Reise!«

Der Bus war nicht nur von außen futuristisch. Im Inneren übertraf er geweckte Erwartungen bei Weitem. Design und Ausstattung waren derart erlesen, dass Masao sich fühlte, als träte er ein in die Präsidentensuite eines Luxushotels. Das musste ein Vermögen gekostet haben, dachte er. Es wirkte zunächst wie sinnlose Verschwendung, dennoch fand Masao Gefallen daran. Er begann, den Bus zu erkunden, und begab sich tiefer hinein, vorbei an Waschraum und Toilette, wo ein größerer Bereich angrenzte. Dieser Mittelteil war mit bequem aussehenden Sesseln ausgestattet. Irritierend war die Anordnung der Sitze, die nicht wie üblich in Reihen angelegt war. Es wirkte eher wie ein Sitzkreis.

Masao entschied sich für einen Platz, fiel hinein und ließ den Rucksack neben sich zu Boden sinken. Er atmete tief durch und wurde sich darüber bewusst, dass sein lang ersehntes Ziel in greifbare Nähe gerückt war. Endlich hatte Wigner ihn aufgenommen. Das war alles, was er gewollt hatte. Über zehn Jahre hatte er sich hierauf vorbereitet. Tägliches Gedächtnistraining, Lösen von Rätseln, Probeläufe von Einstellungstests und Prüfungen, immer komplexer, immer schwieriger, immer mehr ... bis er sich nach Jahren sicher genug fühlte. Während er die leeren Sitze um sich herum betrachtete, überlegte er, wer hier mit ihm reisen würde. Lang Vergessenes drang empor, ebenso Bilder und Vorstellungen von alldem, worauf er verzichtet hatte. Nach all den Entbehrungen hoffte er nun inständig, auf Gleichgesinnte zu treffen - auf Menschen, die ihn verstehen würden.

Ein Geräusch aus dem Waschraum holte Masao zurück in die Wirklichkeit. Schnell packte er seinen am Boden liegenden Rucksack und sprang auf. Eine Tür öffnete sich und ein Mann schob sich in den Raum.

»Hallo«, sagte der Mann.

»Mein Name ist Masao«, stellte er sich mit einer kleinen Verbeugung vor. »Masao Hatame.«

»Angenehm. Mein Name ist Suri. Anton Suri«, sagte Herr Suri.

»Sind Sie von der Stiftung?«, fragte Masao eifrig.

»Sehen Sie mich als eine Art Betreuer«, erklärte Herr Suri lächelnd.

Bloß nicht zu schüchtern sein, dachte Masao. »Wie viele betreuen Sie denn? Ich meine, wie viele sind wir?«

Herr Suri überlegte kurz. »Wir haben zwanzig Leute eingeladen«, antwortete er. »Leider haben diesmal viele abgesagt, entweder aus beruflichen, familiären oder anderen, vollkommen absurden Gründen. Jetzt sind wir zwölf.«

Jemand klopfte vorn an die Bustür. »Das wird Elias Pfeffer sein«, erklärte Herr Suri, »der jüngste Teilnehmer, vor kurzem sechzehn geworden und von der Schule wegen Wigner freigestellt. Sein Hobby ist programmieren, allerdings programmiert er erfinderischer als alle Informatikstudenten, die ich kenne. Ich geh mal nach vorn.«

Masao nickte und begab sich zurück zu seinem Sitz.

Zurück in der Kanzel vorn öffnete Herr Suri die Bustür. Wie erwartet stand draußen Elias Pfeffer.

»Hallo Elias«, begrüßte Herr Suri ihn. »Schön, dass du da bist.«

»Guten Tag«, sagte der Junge.

Herrn Suri fiel auf, dass Elias vollkommen gelassen zu sein schien. Er hätte Schüchternheit erwartet, zumindest Unsicherheit. Doch nichts davon traf zu. Der etwas kindlich wirkende Junge schien weder ängstlich noch eingeschüchtert zu sein. Entweder, überlegte Herr Suri, habe Elias keinerlei Emotionen, oder sein Wesen schwebte derart in Balance, dass kein Raum für Furcht war. Herr Suri lächelte. »Geh am besten einfach nach hinten, Elias, da sitzt bereits ein weiterer Teilnehmer, Masao Hatame. Ihr beide werdet euch sicher glänzend verstehen.«

Der Junge nickte und folgte der Aufforderung. Er stieg zu, passierte Herrn Suri und ging durch bis in den Bereich mit den Sesseln. Da Herr Suri Masao bereits angekündigt hatte, zögerte Elias nicht und steuerte direkt auf diesen zu. »Hallo, ich bin Elias und wer bist du?«

»Masao«, stellte dieser sich vor. Er musterte den Neuangekommenen und erkannte keine Gefahr. Vielmehr spürte auch Masao sofort die Ausgeglichenheit, die Elias ausstrahlte. »Willst du neben mir sitzen?«

»Sehr gern!«, rief Elias, nahm Platz und streckte zufrieden die Beine aus.

Ein plötzliches sanftes Dröhnen ertönte. Herr Suri hatte den Motor gestartet.

»Herr Suri sagte, du seist Programmierer«, begann Masao. »Bist wahrscheinlich so eine Art Superhacker und hast bereits sowohl Kreml als auch Pentagon geknackt?«

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Elias und schüttelte den Kopf. »Ich sehe mich nicht als Hacker, besser gesagt, bin keiner.«

»Warum haben sie dich denn eingeladen?«

»Ich glaube, dass es an meinem Projekt liegt, an dem ich seit ein paar Jahren arbeite.«

Masao hatte bemerkt, dass Elias ihn misstrauisch musterte. »Seit ein paar Jahren?«, fragte Masao, »du bist doch noch so jung!«

»Doch, seit ein paar Jahren stimmt schon«, erklärte der Junge.

»Es handelt sich um ein Softwareprojekt?«, fragte Masao. »Das klingt interessant. Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

Elias nickte und sagte, dass sich sicher bald Gelegenheit dazu ergebe. »Und warum haben sie dich eingeladen?«

Masao erklärte, kein Programmierer zu sein. Vielmehr habe er beweisen können, intelligent genug für die Stiftung zu sein. Während er dies sagte, hatte er genau Elias’ Reaktion beobachtet. Der Junge schien darauf gar nicht zu reagieren, er nahm es einfach hin, was Masao überraschte. »Es freut mich, dass es dich nicht stört, wenn ich es so sage.«

»Warum sollte es mich stören?«, fragte Elias. »Wir sitzen beide hier. Ich find es cool, dass wir hier sind. Und wenn du sagst, du seist intelligent, hey – dann lass uns einfach loslegen!«

»Du willst keinen Beweis und zweifelst nicht daran, was ich von mir behaupte?«, fragte Masao skeptisch. »So eine Reaktion ist selten. Die Leute reagieren normalerweise immer ganz anders, selbst Verwandte oder Freunde.«

»Das weiß ich nicht«, bemerkte Elias gleichmütig. »Das kann ich nicht beurteilen. Mit mir redet sonst niemand über irgendetwas. Schon gar nicht über Dinge, die zeigen, dass ich besonders schlau wäre. Ich habe zwar schon das Gefühl, aber ehrlich gesagt ist es mir egal. Hauptsache, ich kann mein Projekt überblicken. Naja, und einen Vergleich habe ich leider auch nicht.«

»Wie, du hast keinen, der sich für deine Erfindungen oder dein Projekt interessiert?«

»Ich muss gestehen, ich erzähle von mir aus auch kaum jemandem davon. Ich freue mich einfach, hier zu sein.«

»Das kann doch gar nicht sein. Was ist mit deinen Eltern?«, fragte Masao mit zunehmender Besorgnis.

Elias antwortete mit einer Gegenfrage. »Hattest du Probleme mit deinen Eltern?«

Masao überlegte, ob er in ein Wespennest gestochen hatte und Elias ihm deswegen auswich. »Naja, das Übliche«, sagte er dann. »Eltern denken ja immer, sie wüssten, was das Beste für einen sei.«

»Aber sie wissen nur, was das Beste für sie selbst gewesen wäre«, fügte Elias an.

Masao nickte und beide lächelten.

»Egal, wie furchtbar oder wie schrecklich deine Vergangenheit auch gewesen sein mag«, sagte Elias plötzlich ernst, »man muss nach vorne blicken. Man löst sich von allem, was einem schadet und macht alleine weiter. Man macht sein eigenes Ding. Wenn eine Endlosschleife das System gefährdet, beendet man sie und erfindet die Funktion neu.«

»Da spricht der Programmierer«, sah Masao.

»Genau!«, rief Elias begeistert. »Wir finden einen Weg, das zu beenden. Dann wird uns klar, dass es uns eigentlich gut geht. Und wenn es uns gutgeht, können wir uns ein Ziel setzen.«

»Und wenn wir ein Ziel haben?«

»Dann nutzen wir unser restliches Leben, um auf dieses Ziel zuzugehen«, antwortete Elias.

Masao verstummte. Normalerweise vermied er es, anderen direkt in die Augen zu schauen. Der Moment, wo Blicke sich treffen, war ihm stets unangenehm. Woran lag es nur, dass es bei Elias nicht so war? Masao sah den Jungen an und dieser schaute zurück. Geschah es auf diese Weise, wenn Leute sich auf Augenhöhe begegnen? »Und dein Ziel ist es, dieses geheimnisvolle Projekt fertigzustellen, Elias? Herr Suri hatte davon gesprochen.«

»Nein Masao. Mein Projekt ist das Leben.«

Masao wusste, dass mehr dahintersteckte, doch er entschied sich, nicht zu drängeln.

Der Weg zum Ursprung

Als sie am Treffpunkt angekommen waren, stellte Herr Suri den Motor ab, erhob sich vom Fahrersitz und öffnete die Tür. Draußen warteten Wigners Psychologe Jacques Montagner und die Gruppe der Schüler. Montagners Aufgabe bestand darin, für das seelische Gleichgewicht der Teilnehmer zu sorgen, Ansprechpartner zu sein, mögliche Konflikte zu schlichten und bei Stimmungsschwankungen und Schieflagen aller Art subtilen Ausgleich zu schaffen. Er hatte die Stiftung bereits zwei Jahre begleitet und konnte deswegen gewisse Verhaltensweisen in Gruppen vorausahnen und vereiteln, bevor es zu spät war. Dass Montagner gern provozierte und dadurch das eine oder andere Mal für Eklat gesorgt hatte, war ihm auf wundersame Weise nicht nur verziehen worden, man hatte ihn sogar ermutigt, weiter so zu handeln. Man nahm an, so die kreative Kraft der Gruppe positiv zu beeinflussen.

Herr Suri stieg aus und kniff sofort die Augen zusammen. Es war sehr hell, so dass er sich erst ans Licht gewöhnen musste. »Guten Tag«, begrüßte er blinzelnd die Gruppe und stellte sich als Anton Suri vor. Die Schüler standen unschlüssig herum und trauten sich nicht zu sprechen. Zu groß erschien die Gefahr, etwas potenziell Falsches oder Unpassendes zu sagen. Auch Montagner schwieg und wartete Herrn Suris Begrüßung ab, da er den genauen Ablauf des aktuellen Förderungszyklus nicht kannte. Diese Busreise wirkte auf den Psychologen seltsam ungewohnt.

Herr Suri schien indessen bemüht, die freudigen Erwartungen in die Gruppe unter Kontrolle und den Pathos in seiner Ansprache klein zu halten, doch es gelang ihm nicht. »Jeder von Ihnen«, sagte er strahlend, »wirklich jeder, wird seinen individuellen Teil beitragen. Wir werden uns an eine der denkbar wichtigsten Aufgaben des Menschseins herantrauen. Wir werden ein Stück unseres Weges gemeinsam beschreiten und uns daran erinnern, was uns zu Menschen macht. Wir sind Menschen, weil wir Denker sind. Die Summe unseres Erkennens wird eine Botschaft für alle sein, die zuhören. Man wird sich an uns erinnern und daran, was wir gedacht, verstanden und erkannt haben.«

Unter den Gruppenmitgliedern befand sich ebenfalls Fini, die Herrn Suri aus dem Stadtpark kannte. Sie hätte seine Stimme unter Tausenden sofort wiedererkannt. Gerade wollte sie losstürmen und ihn begrüßen, doch sie hielt sich zurück und beobachtete lieber. Es sollte auf keinen Fall ein unschöner Eindruck entstehen. Fini mochte nicht, dass jemand von ihr annähme, sie wolle sich in den Vordergrund drängen.

»Herr Montagner«, sagte Herr Suri in Richtung des Psychologen, »sind alle anwesend?«

»Ja, alle hier!«, rief dieser mit einer salutierenden Geste.

»Gut«, sagte Herr Suri und nickte. Dann stieg er direkt wieder in den Bus. Drinnen postierte er sich so am Gang, dass er jeden Gast einzeln begrüßen konnte.

Als Erste betrat Fini den Bus. »Da wären wir wieder«, sagte sie und lächelte ihn an wie einen altbekannten Freund. Innerlich wollte sie ihn umarmen, doch zu diesem Zeitpunkt hätte es sich falsch angefühlt.

»Wie schön, Fini. Dass du dabei bist, wird unsere Reise schöner machen«, sagte er. »Geh schnell rein!«

Fini schenkte ihm ein weiteres Lächeln und begab sich weiter nach hinten.

Der Weg war frei für Manfred Kühl. Laut Herrn Suris Liste war er achtundzwanzig Jahre alt und direkt aus der Schweiz angereist, genauer gesagt aus Zürich. Dort wohnte er bei seinen Eltern, die Jahre zuvor aus vielfältigen Gründen in die Schweiz ausgewandert waren. Manfreds Erscheinung wies beachtliche Fülle auf, machte aber einen rundum gepflegten Eindruck. Seine Haare waren blond und pünktlich zum Start der Zusammenkunft akkurat frisiert. Ein modischer Schal war elegant um seinen Hals geschlagen. »Ich bin Manfred Kühl«, sagte er zu Herrn Suri, wobei er sich mit beiden Händen an den Tragegurt seines Rucksacks klammerte, der gespannt über seine Schulter hing.

Herr Suri nickte ihm freundlich zu. »Ihr mathematisches Geschick, Manfred, wird bei unserer Arbeit sicher sehr wichtig werden.«

»Danke«, antwortete Manfred. Er schaute demonstrativ Fini nach. Dann sah er Herrn Suri misstrauisch an und kam ein kleines Stück näher. »Kennen Sie und Fini sich schon?«, wollte er wissen und ein gewisser Argwohn klang in seiner Stimme. Offenbar hatte er die beiden genau beobachtet, seine Schlüsse gezogen und witterte nun mangelnde Chancengleichheit.

»Das ist richtig, warum fragen Sie?«

»Ja, ihre Begrüßung war gerade so merkwürdig freundschaftlich«, antwortete Manfred. »Aber es geht mich ja nichts an.«

»Ich hoffe, dass auch wir bald Freunde sein werden, Manfred«, erklärte Herr Suri.

Manfred hob die Brauen, nickte und wirkte zufriedengestellt. Mit eingezogenem Kopf, in leicht gebeugter Haltung begab er sich weiter hinein.

Nun trat Professor Dr. Wilfried Schacht in den Eingang des Busses. Der Professor der Neurowissenschaften war laut Herrn Suris Liste mit vierundsechzig der Älteste unter den Mitreisenden. Sein schütteres Haar war bereits vollständig ergraut, und hinter seiner dicken Hornbrille blitzten gütige Gesichtszüge hervor. Auch wenn ein richtiger Vollbart sicher sehr zu seiner Erscheinung gepasst hätte, trug er keinen. Er war nie Bartträger gewesen, aber wann immer man ihm begegnete, an der Universität oder vielleicht beim Einkaufen, sah er so aus, als hätte er seinen wallenden Bart vor dem Frühstück gerade erst abrasiert. Besonders heute wirkte er, als sei er von einer seiner Vorlesungen direkt zum hiesigen Treffpunkt geeilt, ständig ein wenig außer Atem und die Wangen gut durchblutet. Der Professor war jemand, der dafür lebte, jungen Menschen Wissen zu vermitteln, obwohl seine Leidenschaft für die Forschung brannte. Dieses ungewöhnliche Zusammentreffen der Wigner-Stiftung war für ihn ungewohnt neu. Es schien eine Art Experiment zu sein. Man hatte ihm tiefgreifende Erkenntnisse versprochen, zu denen er mit seinem Wissensschatz entscheidende Beiträge liefern sollte. Er war gespannt.

Herr Suri begrüßte den Professor standesgemäß mit angemessenem Handschlag. »Ich freue mich sehr«, sagte er stolz, »dass Sie der Einladung gefolgt sind, Herr Professor.«

Die beiden wechselten Blicke gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung. Sie wirkten wie Freunde, die weite Strecken gemeinsam zurückgelegt hatten. Da Patricia James wartete, begab sich der Professor weiter ins Innere.

Patricia James, alias »curia27«, war neunundzwanzig Jahre alt und man kannte sie wegen ihrer kontrovers-hartnäckigen Kommentare in physikalischen Internetforen. Den Spottern bei Wigner war sie schon länger bekannt und alle brannten darauf, sie irgendwann einmal live zu erleben. Patricias Spezialität war es, Traumtänzern unnachahmlich trocken durch solides Grundlagenwissen größenwahnsinnige Weltformelfantasien auszutreiben. Sie arbeitete als Assistentin an einem physikalischen Forschungsinstitut und verstand es zudem glänzend, insbesondere Wissenschaftlern den Kopf zu verdrehen. Man wusste gleichzeitig weder wann noch wo sie, in Anlehnung an das Unbestimmtheitsprinzip, ihre Reize durch gezielte Drehungen des Oberkörpers aufblitzen ließ, um sie fast im selben Moment wieder verschwinden zu lassen. Alles Weitere blieb der Fantasie überlassen. Ihr stets durchscheinender Wunsch, wegen ihrer Kompetenz beachtet zu werden und nicht aufgrund von Rundungen, wurde von den Physikern sogar erkannt und respektiert. Dies jedoch geschah nicht selten in der Hoffnung, zielgerichtet auf eben diese Weise einen ihrer reizenden Eindrücke zu erhaschen, um die tägliche Einöde des Messens, Einregelns und Auswertens zu mildern.

»Willkommen im Club, Frau James«, wurde sie von Herrn Suri begrüßt, der ihr sodann den Weg in den hinteren Bereich wies.

Anabell Kepler und Sima-Lauri Ludwig waren die nächsten. Anabell war achtundzwanzig Jahre alt und Studentin der Philosophie. Einen Abschluss hatte sie bisher nicht, doch aus den Aufzeichnungen der Stiftung war hervorgegangen, dass sie über einen gut durchwachsenen Wissensschatz verfügte. Man hatte sie für die Gruppe ausgewählt, um ein wenig Struktur in den zu erwartenden philosophischen Austausch zu bringen. Sima-Lauri war im gleichen Alter wie Anabell, hatte jedoch einen Bachelor in Kunstgeschichte. Die jungen Frauen waren schon jetzt untrennbar wie Pech und Schwefel. Beide waren relativ groß, etwa einen Meter achtzig. Anabell hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug schlichte Kleidung, die in jeder Universitätsbibliothek in höchstem Maße unauffällig gewesen wäre. Sima-Lauri hingegen war eingewickelt in verschiedene Lagen aus bunten Tüchern und Schals, teils aus Wolle, teils aus Leinen. Sie zeigte dem Betrachter eine abwechslungsreich verspielte, demonstrativ künstlerische und Aufmerksamkeit einfordernde Zusammenstellung.

»Hallo, Frau Kepler und Frau Ludwig…«, sagte Herr Suri mit leichtem Zögern bei Sima-Lauris Nachnamen. Irgendetwas an ihr schien ihm merkwürdig vorzukommen, er hätte nur niemals sagen können, was es war. Er würde sie im Auge behalten, dachte er und forderte beide freundlich auf, in den Konferenzraum des Busses weiterzugehen. Während die jungen Frauen seiner Anweisung Folge leisteten, grinste Anabell Sima-Lauri breit an, »netter Typ, der Suri!«

Sima-Lauri kicherte und schaute im Weitergehen noch einmal kurz zurück. Kein weiterer Schüler stieg zu, doch es fehlten noch drei. Von Ungeduld getrieben trat Herr Suri an den Eingang, hielt sich an der Türmechanik fest und schob den Kopf ins Freie. Draußen standen der Psychologe Montagner, Jeroen Jardin und Aneshka Ivanovna vor dem Rest des Gepäcks, welches noch zu verstauen war. Sie diskutierten wegen einer sehr langen, relativ sperrigen Kiste, die ohne Umdisponieren bereits verladener Gepäckstücke nicht untergebracht werden konnte. Jeroen war ein sechsundzwanzig Jahre alter, diplomierter Musikwissenschaftler und Frau Ivanovna mit siebenundzwanzig Jahren eine hochbegabte Pianistin aus der Ukraine.

»Kann ich euch irgendwie helfen?«, rief Herr Suri ihnen zu. »Wir haben einen Termin und sollten schon lange losgefahren sein!«

»Wir haben existenzielle Probleme!«, feixte Montagner. »Das E-Klavier von Madame Ivanovna passt nicht mehr rein.«

Aneshka funkelte ihn grimmig an. »Ich kann nicht verstehen, dass Sie hier rumstehen und nur Witze machen!«, fauchte sie mit hartem Akzent und stellenweise fragwürdiger Grammatik. »Die Staffelei von Sima-Lauri ist schließlich auch verpackt worden! Das können Sie nicht mit mir anstellen – ich bin Künstler! Und ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um Ihr Witz zu sein!«

Montagner zog den Kopf ein, konnte jedoch sein Grinsen nicht unterdrücken. Kurz davor, noch einen zersetzenden Kommentar nachzuschieben, wurde er von Jeroen unterbrochen. »Komm, Aneshka, ich versuche es noch einmal.«

Jeroen griff hochmotiviert in den Gepäckraum und zerrte an den Taschen, die sich zwischen den Stützsäulen so ineinander verkeilt hatten, dass sie sich nicht mehr herausziehen ließen. Wenig später sah auch er ein, dass es vergeblich war. Von vorn mahnte Herr Suri erneut zur Eile.

»Dann nehmen wir das gute Stück einfach mit in den Bus hinein«, sagte Montagner versöhnlich. »Das Taschenchaos können wir später ordnen.«

Jeroen ließ erleichtert von den Taschen ab, erhob sich wieder und schaute unschuldig in Aneshkas Richtung, schließlich hatte er nun wirklich alles Menschenmögliche getan.

Montagner schloss die Klappe. »Also gehen wir jetzt rein«, sagte er und wollte sich direkt in Bewegung setzen. Aneshka schnaubte vor Wut und fragte zischend, was nun mit ihrem Klavier geschehe.

»Das nehmen Sie jetzt schön selbst mit rein«, konterte Montagner. »Oder Sie lassen es stehen. Irgendjemand wird es schon gebrauchen können.«

Er war es leid, sich von ihr anfeinden zu lassen, ohne etwas verbrochen zu haben. Er ließ sie einfach stehen. Natürlich war ihm bewusst, dass er sich im Sinne der Gruppendynamik und vor dem Hintergrund seines Fachbereichs auch de-eskalierend hätte verhalten können, doch Frau Ivanovna hatte eine Art an sich, auf die er allergisch reagierte. Aus den Unterlagen wusste er, dass man sie für sehr begnadet am Klavier hielt. Er konnte jedoch Leute nicht ausstehen, deren Egozentrik dafür sorgte, dass alle Welt sich nur um sie zu drehen hatte. Wenn sie ihr ganzes Leben lang am Klavier verbracht hatte und von allen Seiten nur mit Lobeshymnen bezüglich ihrer Fähigkeiten befeuert und stets gefördert worden war, so schloss Montaner, dann folgte daraus zwangsweise das überdimensionale Ego einer Person, die vom Leben nicht die Spur einer Ahnung hatte. Man würde sich dann Künstler nennen und alle Welt für sich springen lassen, dachte Montaner, aber nicht mit ihm. Er stieg zu Herrn Suri in den Bus.

Montagners kritische Einstellung blieb zunächst folgenlos, denn die zu erledigende Aufgabe übernahm Jeroen. Er preschte vor und ergriff aufopferungsbereit den Henkel der Kiste, um sie für Aneshka in den Bus zu schleppen. Jeroens Schwäche für sie war ihr nicht entgangen. Sie hatte es als Option zur Kenntnis genommen.

Beim Einsteigen hatte Jeroen Mühe mit der Balance. »Was mag die Kiste bloß wiegen?«, ächzte er. »Das sind doch bestimmt dreißig Kilo!«

»Das liegt daran«, erklärte Aneshka, »dass eine gewisse Qualität wichtig ist. Meine Mechanik muss einen bestimmten Standard mindestens erfüllen, Jeroen, sonst geht mein Spiel kaputt.«

Die beiden manövrierten sich durch die Kanzel und durch den mittleren Sesselbereich, wo die anderen es sich bereits bequem gemacht hatten. Am Ende der Kabine stellte Jeroen die Kiste ab.

»Wir werden noch sehr viel Zeit haben, uns wirklich kennenzulernen«, sagte Herr Suri, der am Rand des Konferenzbereichs stand. Er betätigte einen Knopf an der Wand und freute sich, in Erwartung dessen, was nun folgte. Ein Surren ertönte und verschiedene Verblendungselemente im Fußboden schoben sich zur Seite. Aus dem Boden stieg ein Tisch empor, der sich auf dem Weg nach oben entfaltete, bis er seine endgültige Position erreicht hatte. Die Oberfläche zeigte für jeden Platz virtuelle Bildschirme.

»Man kann die Schirme untereinander tauschen, indem man sie einfach zum Gesprächspartner hinzieht«, erklärte Herr Suri. »So hat jeder direkten Internetzugang für Recherchen während der Fahrt.«

Dann holte er Namensschildchen mit Klemmvorrichtung aus seiner Tasche hervor und legte sie auf den Tisch. »Hier können Sie sich Ihr Schildchen raussuchen«, sagte er.

Elias griff als Erster nach den Namensschildern und suchte sich seines heraus, gefolgt von Masao und den anderen.

»Da man uns weitestgehend im Unklaren gelassen hat, was uns erwartet«, sagte Herr Suri, »will ich kurz ein paar Worte zum Ablauf verlieren. Zuerst werden wir unseren Klienten besuchen, um herauszufinden, ob und wie wir ihn unterstützen können. Wir werden mindestens drei Stunden dorthin unterwegs sein. In der Zwischenzeit können Sie sich ein wenig anfreunden.«

Herr Suri wurde unterbrochen, da vorn jemand energisch an die Bustür klopfte. Schnell begab er sich nach vorn und öffnete die Tür. Draußen stand eine junge Frau mit Reisetasche.

»Hallo!«, rief die Frau und strahlte Herrn Suri breit an. »Können Sie mich mit nach Bremen nehmen?«

Verdutzt und überrumpelt benötigte Herr Suri einen Moment, um die Situation zu begreifen. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu den anderen nach hinten. Vor der Tür stand jedenfalls keine der Schülerinnen. »Wer sind Sie denn?«

»Oh, ich heiße Carina Meien und will erstmal weiter. Na ja, eigentlich will ich überhaupt erst mal los, am besten nach Bremen. Wohin fahren Sie denn?«

Herr Suri war verdutzt und eine gewisse Neugier mischte sich hinzu, so dass er mitspielte. »Wir fahren in Richtung Norden.«

Die junge Frau dachte einen Moment lang nach. »Ja, kann ich dann vielleicht trotzdem mitfahren?«

»Frau Meien, ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich hier in unserer Gruppe wirklich wohlfühlen würden. Wir sind hier von einer Stiftung und jeder muss sich eigentlich seinen Platz hart erkämpfen. Selbst ich.«

»Ach, das macht nichts«, sagte sie ungeniert. »Ich wäre ja nur vorübergehend dabei, danach werde ich schon wieder verschwinden. Platz haben Sie sicher genug. Das ist doch ein Riesenbus. Jetzt seien Sie nicht so. Ich würde jetzt wirklich gern einfach mitfahren. Wenn Sie sowieso fahren, können Sie mich doch wirklich mitnehmen. Was haben Sie zu verlieren?«

»Sie sind ganz schön forsch, Frau Meien«, sagte Herr Suri mit einem Lächeln. Er mochte Carina sofort. »Warten Sie kurz. Ich werde einmal nachfragen, was die Gruppe davon hält.«

Er begab sich zurück zu den anderen, wo man ihn neugierig anblickte.

»Worum geht es?«, fragte Elias.

Herr Suri schaute in die Runde. Er schien sich zu sammeln und wollte gerade die Situation erklären, als Carina schon neben ihm stand und sprühend lächelnd die Aufmerksamkeit an sich riss. Sie hatte blonde Locken, war nur geringfügig kleiner als Herr Suri, dabei schlank und adrett.

»Ja, wir haben nichts dagegen!«, rief Elias und grinste, wie auch Masao und Manfred. Professor Schacht und Patrica James wirkten skeptisch, enthielten sich aber eines Kommentars. Fini, Sima-Lauri und Anabell musterten die Fremde interessiert, jedoch insgesamt neutral. Jeroen und Aneshka schienen desinteressiert. Einzig Montagner sah Herrn Suri mitleidig an.

»Dann darf ich also mit?«, fragte Carina und schäumte fast über vor Enthusiasmus.

»Platz haben wir wirklich genug«, antwortete Herr Suri. »Volljährig sind Sie? Nicht, dass wir hier Schwierigkeiten bekommen.«

»Na hören Sie mal, ich bin dreiundzwanzig.«

»Also gut, ausnahmsweise«, sagte Herr Suri und Montagner schüttelte den Kopf.

»Na, dann sind wir gespannt auf ihre Beiträge«, witzelte Manfred.

»Danke!«, jubelte Carina und hüpfte auf der Stelle. »Wo darf ich sitzen?«

»Wo Sie wollen«, sagte Herr Suri und verschwand kurz nach vorn, um die Tür des Busses wieder zu schließen. Kaum war er zurück, hatte Carina bereits Platz genommen und grinste breit. Es schien, als sei es vollkommen natürlich für sie, ihren Willen so überaus entwaffnend durchzusetzen. Sie war es scheinbar gewohnt, genau auf diese Weise zum Ziel zu gelangen.

Herr Suri wollte zwar unbedingt losfahren, doch seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an den Brief des Unbekannten, und im selben Moment legte sich eine Gänsehaut über seine Arme. Ihm war bewusst, dass die ungewöhnliche Anfrage das Hirngespinst eines Verrückten hätte sein können, doch er hatte schon immer eine Schwäche für solche Leute gehabt. Außerdem war es durchaus möglich, dass sie tatsächlich mit etwas Ungewöhnlichem konfrontiert werden könnten, etwas nie Dagewesenem, einer Anomalie, wie der Verfasser des Briefs so schön formuliert hatte. Seit Erhalt des Briefes hatte Herr Suri im Geheimen kaum mehr richtig schlafen können, seine Fantasie war nicht zu bremsen. Alles an dem Schreiben des Unbekannten hatte ihn entzückt: Der Irrsinn, die Merkwürdigkeit, die kleine Chance auf Wahrheitsgehalt und auch das vom Unbekannten beschriebene Opfer, das dieser seit Jahren erbrachte. All diese Informationen ließen Herrn Suri frohlocken. Sogar für den Fall, dass sich alles als großer Hokuspokus herausstellte, wäre es eine willkommene Gelegenheit, die Schüler auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten.

Er begab sich nach vorn zur Fahrerkanzel und zog die Tür zum Konferenzbereich zu. Dann ließ er den Motor an und setzte den Bus in Bewegung.

Genie-Ästhetik

Masao ergriff das Wort: »Also gut, dann fange ich einfach an. Mein Name ist Masao Hatame. Ich komme aus Tokio und bin dreißig Jahre alt.«

»Mit dreißig wirst du ja fertig studiert haben, richtig?«, hakte Manfred ein. »Was hast du denn studiert?«

Irritiert schwieg Masao, denn der negative Unterton war ihm nicht entgangen. Er erklärte, dass er sein Studium aus persönlichen Gründen abgebrochen habe. Unweigerlich stellte sich dadurch eine gewisse Zufriedenheit bei Manfred ein. Er lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, nicht allzu bestätigt auszusehen. »Ach, na ja«, sagte er dann beiläufig, »sicher gibt es andere Gründe, warum du hier dabei bist.«

»Das mag sein«, sagte Masao und lächelte.

Inzwischen hatten alle ihre Namensschilder angeheftet und schauten auf Manfred, der sich nun vorstellte. »Ich bin Manfred Kühl, achtundzwanzig Jahre alt, zurzeit schreibe ich meine Doktorarbeit über optimierte Inversionsverfahren geometrischer Körper, und seit kurzem bin ich auch Mitglied der IQ Hall of Fame.«

»Was ist denn die Hall of Fame?«, fragte Elias neugierig.

»Das ist ein Verein für Hochbegabte mit besonders hohem IQ«, erklärte Manfred. »Es ist einfach genial. Man kann sich mit Gleichgesinnten austauschen und auf hohem Niveau kommunizieren. Außerdem ist es eine große Auszeichnung, wenn man dazu gehört.«

»Das ist nur etwas für Leute mit einem IQ höher als hundertdreißig«, erklärte Montagner mit leicht spöttischem Unterton. »Ich persönlich halte generell nicht viel von solch selbsternannten Elitegrüppchen.«

»Wenn du da Mitglied bist, Manfred,« fragte Masao, »dann musst du ja mindestens hundertdreißig Punkte haben, oder?«

»Natürlich.« Der Mathematiker hüstelte und verzichtete galant darauf, seinen Wert in die Runde zu werfen. »Sonst hätten sie mich ja nicht als Mitglied aufgenommen.«

Masao schaute Manfred plötzlich überraschend ernst an, und in seinen Augen funkelte ein tiefes Verständnis, das mehr verhieß, als einfach nur im direkten Vergleich mit anderen besser dastehen zu wollen. »Meinst du nicht, dass wir mehr sein sollten?«, fragte er schließlich. »Mehr als nur die Punktezahl unseres Intelligenzquotienten, gemessen durch Tests, die unter Berücksichtigung bestimmter Zielsetzungen erstellt wurden?«

»Was meinst du damit?«, fragte Manfred misstrauisch und warf sofort einen heimlich besorgten Blick in die Runde, ob er sich möglicherweise eine Blöße gegeben hatte.

Masao erklärte ruhig, er könne hier und jetzt einen Test erstellen, bei dem Manfred einen IQ von unter achtzig erzielen würde. »Manfred, ich habe mich eingehend mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Es ist vieles nur Schall und Rauch.«

Manfred, ständig darauf bedacht, sich in alle Richtungen gegen Angriffe sofort zur Wehr zu setzen, winkte ab. »Erstens glaube ich das nicht«, hielt er verärgert dagegen, »und zweitens, was hätte das wohl für einen Sinn?«

»Es würde demonstrieren, wie absolut relativ die Tests sind«, betonte Masao. »Es würde zeigen, wie unsinnig es ist, sich bei Intelligenz auf seine Punktezahl zu berufen. Wenn ich irgendwo hingehe und meinen IQ nenne, dann geht es nicht um Denken, Können oder Fähigkeiten, sondern nur ums Vergleichen. Das Einzige, was Vergleiche bringen, ist Kampf.«

»Hast du denn mal deinen IQ an einem richtigen Referenztest messen lassen?«, fragte Manfred herausfordernd.

»Ja, das habe ich«, antwortete Masao und wirkte resigniert.

»Mich würde ja mal brennend interessieren, welches Ergebnis du im aktuellen Hall-of-Fame-Test hättest«, zündelte Manfred und berührte mit seinem Zeigefinger den Screen vor ihm, um die Internetseite aufzurufen.

Sima-Lauri Ludwig, die buntbeschalte Künstlerin, nutzte die entstehende Sekunde unbehaglichen Schweigens, sah Anabell verheißungsvoll an und sagte grinsend: »Männer.«

»Ich muss nichts beweisen«, betonte Masao ruhig. »Doch ich merke, worauf es hier hinausläuft. Wenn es so sein soll, muss es so sein.«

Dann griff er den verblüfften Manfred plötzlich am Arm und blickte ihn fest an. »Ich mache deinen Test, und danach will ich niemals wieder derlei Gespräche mit dir führen müssen, Manfred.«

Indessen hatte Professor Schacht das Gespräch aufmerksam und mit gewissem Amüsement verfolgt. Er war gespannt, wie es ausgehen würde, obwohl er tendenziell eher auf Masaos Seite war. Er lehnte sich im Sessel zurück und hoffte auf ein denkwürdiges Spektakel. Da er die Regeln bei Wigner kannte, wusste er, es würde interessant werden.

»Hier, das ist die Internetseite«, sagte Manfred und schob den Browser auf dem virtuellen Screen zu Masao hinüber, der einen kurzen Blick darauf warf.

»Bevor ich anfange«, fragte Masao, »kannst du mir sagen, wer im Moment die Tests der Hall of Fame erstellt? Es ist immer sehr wichtig, wenn es um Rätsel geht, zu wissen, wer der Schöpfer des Rätsels ist. Weiß man das, hat man schon fast gewonnen. Wenn man ein Rätsel nicht lösen kann, muss man sich Fragen nach dem Schöpfer des Rätsels stellen. Stellt man die richtige Frage, erhält man den Schlüssel zum Rätsel. Bei IQ-Tests verhält es sich im Grunde genauso.«

»Das ist wie in der Kunst«, warf Sima-Lauri ein, »viele Werke kann man erst interpretieren und verstehen, wenn man Hintergrundwissen über den Künstler hat.«

»Da gibt es auch viele musikalische Rätsel, für die dasselbe gilt«, stimmte Jeroen ihr zu.

»Mir ist das alles ein Rätsel«, warf Carina Meien lachend ein. Die anderen grinsten.

»Ich will nur wissen, wer den Test erstellt hat«, sagte Masao.

Manfred war bereits angestrengt dabei, dies herauszufinden.

»Ist ja schon extrem chic, so eine Hall of Fame der Intelligentesten, oder?«, schnalzte Masao, doch Manfred war schon zu sehr in seine Recherche vertieft, um den zynischen Unterton zu bemerken. »Da! Es ist immer noch Johannes Hundertbaum«, fand er heraus.

Masao hob sein Kinn. »Uh, der Mozart des Denkens«, raunte er, denn er kannte Hundertbaum und wusste genauestens Bescheid über dessen Treiben: Hundertbaum war jemand, der dem Begriff Genie-Ästhetik neue Bedeutung verliehen hatte. Ohne stete, grenzenlose Anbetung seiner Claqueure konnte Hundertbaum nicht leben, dachte Masao. In seinen Augen hatte Hundertbaum auf immer subtilere Art und Weise den eigenen Mythos des intellektuellen Überfliegers durch gezielte Gerüchte oder durch Beeindrucken von Verteilerpersönlichkeiten genährt. Permanent glänzte er vor denjenigen, die sich gern im Schein genialer Personen sonnten und die alles zuverlässig und ungefiltert weitertrugen.

Hundertbaum, erinnerte sich Masao, war einst in Tokio auf einer Veranstaltung als englischsprachiger Redner aufgetreten. Masao hatte ihn in den nachfolgenden Gesprächen beim Aperitif aufmerksam beobachtet und seine Strategie eingehend studiert. Wann immer Hundertbaum ebenbürtigen Geistern begegnete, verstand er es auf unnachahmliche Weise, stets jene Themen anzuschneiden, von denen sein Gegenüber keine Ahnung hatte. Durch dieses bewährte Verfahren sicherte er sich permanent unverdiente Siegeszüge intellektueller Art. Allein auf besagter Veranstaltung hatte Masao drei Gespräche belauscht, in denen Hundertbaum im gleichen Wortlaut über die »noch nicht in Gänze erschlossene Mathematik der Superstringtheorie« dahergedichtet hatte. Aufgrund der ihm nicht abzusprechenden Fähigkeit, seine scheinbare, intellektuelle Überlegenheit in Szene zu setzen, war Hundertbaum in die Position geraten, die Aufnahmetests für die Organisation zu erstellen. Aus Masaos Sicht bereitete es Hundertbaum ein diebisches Vergnügen, durch gezielte Schwerpunktauswahl unliebsame Geister schlecht und diejenigen, die ihn von vornherein als unantastbar verstanden hatten, gut abschneiden zu lassen. Während der Jahre Masaos stiller, geheimer Studien empfand er Hundertbaums Tests eher einfach, nur wenige Fallen waren enthalten. Beispielsweise wurde gern die vollkommen willkürliche Aufgabendefinition verwendet: »Bitte ergänzen Sie die einfachste Lösung.« Die einfachste Lösung war in solchen Fällen aber subjektiv festgelegt und demnach alles andere als eindeutig. Grundsätzlich hatte Masao nichts gegen Herrn Hundertbaum, doch es fehlten konkrete Hinweise auf dessen wirkliches Schaffen. Mythen über seine legendäre Kreativität allein genügten ihm nicht.

Patricia James kannte Johannes Hundertbaum ebenfalls. »Der hat auch schon mal am Desy einen Vortrag gehalten«, erklärte sie, und die Erinnerung legte ein unverkennbar bewunderndes Lächeln auf ihre Lippen.

»Oh ja, Hundertbaum ist super«, stimmte Manfred mit ein. »Der hat überall seine Finger mit drin. Was der schon alles gemacht hat für die Wirtschaft, das kann man alles auf der Internetseite nachlesen. Steht bestimmt irgendwo.«

Elias und Professor Schacht hatten das Gespräch mit Interesse verfolgt, während die anderen ziemlich still geworden waren und zum Teil abgeschaltet hatten. Insbesondere Jeroen schien nach der erschöpfenden Aufopferung innerhalb der E-Piano-Affäre zunehmend müde. Seine Augenlider verrieten, dass er kurz davor war einzunicken.

»Gut«, sagte Masao. »Dann werde ich jetzt den Test für dich machen, Manfred. Unter einer Bedingung.«

»Welche?«, fragte Manfred, und es war ihm anzumerken, dass er es nicht mehr erwarten konnte, Masao scheitern zu sehen. Manfred interpretierte bereits das Verzögern als Furcht vor schlechten Ergebnissen. Masao selbst gab sich gelassen, beugte sich geringfügig nach vorn über den Tisch und sah Manfred direkt in die Augen. »Du musst mir versprechen, dass wir in Zukunft gemeinsam handeln und dass es nie wieder einen Vergleich zwischen dir und mir gibt. Ich weiß, dass du ein besonderer Typ sein musst, sonst wärst du nicht hier in diesem Bus. Das Gleiche gilt für alle hier. Wir sind total unterschiedlich, aber jeder hat einen Grund, hier zu sein. Ich habe sehr hart gekämpft, um dabei sein zu können. Deswegen werde ich nicht zulassen, dass dies durch unsinnige Vergleiche in den Schmutz gezogen wird. Jeder tut das, was er tut, und jeder kann das, was er kann.«

Manfred schluckte, denn Masaos direkte Ansage hatte ihn überrumpelt. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sein eigenes Verhalten tatsächlich genau darauf abzielte. »Ja, gut«, sagte er dann etwas kleinlaut.

Masao wandte sich langsam dem Schirm zu, behielt Manfred jedoch noch im Blick, um der Wirkung seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Dann sah er sich die Internetseite an.

»Also, wo muss ich klicken?«

»Ich habe einen Gast-Account für dich angelegt und die Sprachtests innerhalb der Aufgaben deaktiviert. Es wäre wohl zu viel von dir verlangt, deutsche Synonyme zu nennen.«

»Danke. Wenn ich jetzt hier auf Start klicke, dann geht es los?«

»Genau«, bestätigte Manfred und fügte hinzu, dass es auch um die benötigte Zeit gehe, man müsse sich demnach beim Beantworten beeilen.