Das Purpurmädchen - Marina Fiorato - E-Book

Das Purpurmädchen E-Book

Marina Fiorato

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Beschreibung

Ihre Schönheit rettet ihr das Leben, doch nun könnte sie zu ihrem Untergang werden ...

London, 1853. Annie Stride steht vor dem Nichts – sie ist pleite, obdachlos und dazu noch schwanger. Kurz bevor Annie sich in die eiskalte Themse stürzen kann, spricht Francis Maybrick Gill sie an. Der attraktive erfolgreiche Künstler überzeugt sie, ihn zu begleiten und bewahrt sie so vor dem Selbstmord. Als Francis Muse beginnt für die ungewöhnlich schöne Annie ein neues Leben im Luxus. Sie wird zum Star der Londoner Kunstszene, trägt die schönsten Kleider und begleitet Francis auf Partys und in sein idyllisches Haus in den Bergen vor Florenz. Doch hinter Francis schillernder Kulisse lauert ein dunkles Geheimnis – und es gibt jemanden, der nicht vergessen hat, wo Annie wirklich herkommt ...

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Buch

London, 1853. Annie Stride steht vor dem Nichts – sie ist pleite, obdachlos und dazu noch schwanger. Kurz bevor Annie sich in die eiskalte Themse stürzen kann, spricht Francis Maybrick Gill sie an. Der attraktive, erfolgreiche Künstler überzeugt sie, ihn zu begleiten, und bewahrt sie so vor dem Selbstmord. Als Francis’ Muse beginnt für die ungewöhnlich schöne Annie ein neues Leben im Luxus. Sie wird zum Star der Londoner Kunstszene, trägt die schönsten Kleider und begleitet Francis auf Partys und in sein idyllisches Haus in den Bergen vor Florenz. Doch hinter Francis’ schillernder Kulisse lauert ein dunkles Geheimnis – und es gibt jemanden, der nicht vergessen hat, wo Annie wirklich herkommt …

Die Autorin

Marina Fiorato studierte Geschichte, Kunst und Literatur in Oxford und Venedig. Sie arbeitete als Illustratorin, Schauspielerin und Filmkritikerin. Mit ihren Bestsellern »Die Glasbläserin von Murano« und »Das Geheimnis des Frühlings« begeisterte sie die Leser auch in Deutschland. Sie heiratete ihren Mann, einen englischen Filmregisseur, auf dem Canal Grande und lebt mit ihrer Familie im Norden von London.

Von Marina Fiorato bereits erschienen

Das Geheimnis des Frühlings

Das Herz von Siena

Die Heilerin von San Marco

Das Herz der Kriegerin

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MARINA FIORATO

DAS

PURPUR

MÄDCHEN

Historischer Roman

Aus dem Englischen

von Nina Bader

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Crimson & Bone« bei Hodder & Stoughton, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2017 by Marina Fiorato

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Müller

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Magdalena Russocka/Arcangel Images

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23950-3V001

www.blanvalet.de

Für Charlie Rablin, einen wahren Gentleman

ERSTER TEIL

London

PROLOG

London, 1853

Man nannte sie die Seufzerbrücke, weil kaum eine Nacht ohne Selbstmord verging. In dieser Nacht verhielt es sich nicht anders.

Genau in der Mitte der Waterloo Bridge, jener neun grimmigen Bögen aus frisch gehauenem Granit, die sich über der eisigen Themse erhoben, kletterte eine Gestalt auf die Brüstung. Eine junge, sehr schlanke Frau. Der gierige Wind entriss ihr ihre Haube, und ihr rotgoldenes Haar wehte wie ein zerfetzter Wimpel hinter ihr her. Wie Christus am Kreuz breitete sie die Arme aus. Ein zufälliger Passant, der durch den wabernden Nebel einen Blick auf ihre erhobenen Arme und den Glorienschein goldenen Haares erhaschte, hätte sie für einen Engel halten können. Aber sie war kein Engel. Sie war eine Prostituierte, und ihr Name lautete Annie Stride.

Annie Stride warf ohne Bedauern einen letzten Blick auf London. Ihre Atemzüge bildeten Wölkchen vor ihrem Gesicht, doch die Ausdünstungen wurden vom Nebel verschluckt. Durch die sich verlagernden Schwaden konnte sie das Wasser unter sich sehen – grau wie Stahl und so kalt wie die Wohltätigkeit, das Spiegelbild des Mondes war bereits darin ertrunken. Diejenigen, die hier heruntersprangen, überlebten nicht lange, nicht im Januar. Es war die Kälte, die einen tötete, hieß es, nicht so sehr das Wasser. Nun, kalt war ihr bereits. Der einzige Mensch auf der Welt, aus dem sie sich etwas machte, die einzige Gefährtin, die ein freundliches Wort für sie übrig gehabt, eine Schale Haferbrei mit ihr geteilt oder ihr eine Haube geliehen hatte, hatte sich vor drei Monaten just von dieser Brücke gestürzt. Und das, mutmaßte Annie, musste um die Zeit herum gewesen sein, als sie schwanger geworden war.

Anfangs hatte sie gedacht, ihre Blutung wäre wegen dem, was Mary Jane widerfahren war, ausgeblieben – der Schock und die Polizisten und der Coroner und das Armenbegräbnis. Doch dann hatte sie begonnen, sich zu übergeben und dicker zu werden, und da wusste sie Bescheid.

Sie presste die eisigen Finger auf ihren Bauch. Noch war nichts zu sehen. Noch konnte sie ihr Korsett schließen. Und noch immer konnte sie Geld verdienen, wenn ihr nicht zu übel war. Aber das würde nicht mehr lange anhalten. Und dann? Sollte sie mit all den anderen Frauen, die sie dort gesehen hatte, unter den Bögen des Adelphi sitzen, mit diesen zerlumpten Vogelscheuchen mit Babys unter ihren Röcken, und um Münzen betteln, statt sie auf dem Rücken liegend zu erarbeiten?

Ohne Mary Jane war es eine schlimme Adventszeit und ein noch schlimmeres Weihnachtsfest gewesen. Annie hatte fröstelnd in ihrem kleinen kalten Loch über dem Haymarket gesessen und sich zu elend gefühlt, um Kapital aus der Freigiebigkeit der Feierlustigen zu schlagen – sie konnte weder einen Kanten weißen Brotes noch ein paar schwarze Kohlen erstehen. Am Ersten des Monats hatte sie ihre letzten Münzen in die behandschuhte Hand ihres Vermieters zählen müssen, und wegen der zu geringen Mietzahlung hatte er sie auf die Straße gesetzt. Sie hatte ihm gesagt, sie könnte sonst nirgendwo hin, aber das hatte nicht der Wahrheit entsprochen. Es gab einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie konnte Mary Jane in die Themse folgen.

Es gab jetzt keine Seele mehr, der sie fehlen würde, und sie ihrerseits würde diese erbarmungslose Stadt nicht vermissen. Sie würde weder die spitzen Konturen des Neuen Parlaments vermissen, wo Big Ben letzte Nacht das neue Jahr eingeläutet hatte, noch die Inns of Court oder die Bank oder das Change. Diese noblen Etablissements waren für sie nichts als Gasthäuser für ihre vielen Kunden; Orte, wo sie sich tagsüber aufhielten, wenn sie ihre Betten verließen. Selbst der Laternenanzünder, der seine Arbeit entlang des Flusses verrichtete, konnte sie mit seiner funkelnden Perlenschnur aus Licht nicht zum Bleiben verlocken. Annie Stride schloss die Augen und ließ sich vornüber ins Leere fallen.

Einen nicht enden wollenden Moment lang kippte und stürzte sie – dann packte eine Hand sie hart am Arm und riss sie zurück. Ihre abgewetzten Stiefel glitten auf der Brüstung aus, und sie wäre dennoch gefallen, wenn sie nicht hochgehoben und auf die Füße gestellt worden wäre. Ein Gesicht unter einem schmucken Zylinder blickte ernst in ihres. Außer zwei dunklen Flecken als Augen und einem Strich als Mund konnte sie nichts erkennen.

»Madam«, sagte der Mund. »Was haben Sie vor? Solch eine Verzweiflungstat!«

Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem ganzen Leben je Madam genannt worden zu sein. Die letzten drei schweren, entbehrungsreichen Monate hatte sie mit trockenen Augen durchgestanden, aber nun reichte ein einfaches Wort aus, dass ihr die Tränen kamen.

Er ließ sie sofort los, auf gute Manieren bedacht, als würde die Schicklichkeit es ihm nicht gestatten, sie zu berühren. Aber Annie war an Männerhände auf ihrem Körper gewöhnt, erst sanft, dann rauer, schmerzhafter. Und ohne diese stützenden Hände gaben ihre Knie irgendwie unter ihr nach, und sie sackte gegen den kalten Stein der Balustrade.

»Es geht Ihnen nicht gut«, sagte der Fremde. »Heda! Droschkenkutscher!« Mit seinem Stock hielt er einen vorbeifahrenden Hansom an und riss die Tür der Kutsche weit auf. »Bitte, Madam. Ruhen Sie sich etwas aus. Die Nacht ist kalt, und Sie sind halb erfroren.«

Benommen ließ Annie sich in die Droschke helfen und sank dankbar auf den Buckramsitz. Der Gentleman nahm seinen Hut ab – denn dieser war so hoch, dass er damit schwerlich einsteigen konnte – und nahm ihr gegenüber Platz.

Der Kutscher beugte sich von seinem Bock herunter. Sein Atem bildete Wölkchen in der Luft. »Wohin, Sir?«

»Seien Sie bitte so gut und halten Sie Ihr Pferd einen Moment an«, erwiderte sein Fahrgast.

Der Kutscher hüllte sich fester in seinen Mantel und schob die Hände unter die Achselhöhlen. Das Pferd stampfte auf der Stelle und schnaubte. Der Verkehr floss an ihm vorbei, die kalte Themse strömte still unter ihnen dahin, und Annie musterte den Mann, der sie vor einem nassen Grab bewahrt hatte.

Ohne den Zylinder sah er jünger aus; jetzt konnte sie auch sehen, wie anziehend er war. Er hatte dichte, braune, leicht gewellte und zum abendlichen Ausgehen mit Pomade gebändigte Haare, klare graue Augen, eine gut geschnittene Adlernase und einen seltsam femininen Mund über einem kräftigen Kinn. Seine Kleidung war formell: Frack und Abendumhang. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zu einem Schauspiel oder etwas Ähnlichem. Manchmal hatten Mary Jane und Annie ein Spiel zusammen gespielt, bei dem es zu erraten galt, welchen Beruf die Männer ausübten, die zum Haymarket kamen, um ihnen dort etwas zu trinken zu spendieren, bevor sie zu anderen Freuden übergingen. Sie wurden Experten auf diesem Gebiet und erkannten rasch die Bankiers, Anwälte und rangniedrigeren Edelleute, die sich unter die Viehtreiber und Küfer mischten, um ihren Vergnügungen nachzugehen. Die feinen Pinkel machte man sofort aus, weil sie es nicht unterlassen konnten, selbst mit einer gemeinen Hure wie ein Gentleman zu sprechen, so sehr waren ihnen ihre Manieren in Fleisch und Blut übergegangen. Sie vergaßen sie erst an der Tür zur Schlafkammer.

Der Bursche, der ihr in der Droschke gegenübersaß, gehörte zu dieser Sorte. Ein Geck. Man sah es an der Art, wie er seine Lederhandschuhe Finger für Finger auszog, sie an der Spitze fasste und abstreifte. Er legte sie übereinander und bot sie ihr an. Sie waren so warm, als lebte noch immer ein Tier in der weichen Haut.

»Ich werde Sie nicht noch einmal fragen, was Sie gerade tun wollten, weil mir das bereits klar geworden ist. Was hat Sie zu diesem Schritt getrieben? Kann Sie denn nichts von diesem schrecklichen Entschluss abbringen?«

Da Annie fürchtete, ihre Stimme würde ihr nicht gehorchen, zwinkerte sie nur. Tränen tropften auf die Handschuhe in ihrer Hand und hinterließen dunkle Flecken auf dem leichten Leder. Sie blickte auf ihre abgekauten, schmutzigen Nägel hinunter. Über solche Finger konnte sie die Handschuhe nicht streifen. Sie war es nicht wert, mit diesem Gentleman zusammenzusitzen. Sie war ein Nichts.

»Wie ist Ihr Name?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hat keinen Sinn, ihn Ihnen zu sagen. Ich werd nicht lange genug da sein, dass wir Bekanntschaft schließen können.«

»Sagen Sie doch so etwas nicht«, tadelte er. »Kann ich Sie irgendwo hinbringen? Nach Hause?«

Sie lachte bitter auf. Ein hässliches Geräusch. »Ich hab kein Zuhause.«

Auch ihre Stimme klang in ihren Ohren hässlich, ihr East-End-Akzent verriet ihre wahre Herkunft, ihr erstes Zuhause. Die Schäbigkeit der St. Jude’s Street in Bethnal Green. Sie hatte dort mit ihren zahlreichen Brüdern und Schwestern gelebt; mit ihrer Mutter, die jedes Jahr ein Baby bekam, und einem Vater, der die Babys in Ma pflanzte und sie dann grün und blau schlug, weil sie schon wieder schwanger war. Als Annie dreizehn war, hatte sie elf Brüder und Schwestern und konnte sich kaum alle Namen merken. Damals hatte ihr Pa ihr ihr Sonntagskleid angezogen und sie in den oberen Raum des Old George gebracht, eines Pubs, wo ein Gentleman wartete. Der Gentleman sagte, er wäre ihr Onkel und forderte sie auf, sich auf sein Knie zu setzen. Pa war dabei gewesen, also hatte sie gedacht, das ginge schon in Ordnung.

Es war nicht in Ordnung gewesen. Danach hatte sie Pa die Hälfte des Geldes ausgehändigt, das ihr »Onkel« ihr gegeben hatte, und war in derselben Nacht mit der anderen Hälfte davongelaufen. Aber sie hatte schnell festgestellt, dass es für ein Mädchen in London keine Möglichkeit gab, alleine zu leben, ohne das zu tun, was sie mit dem Gentleman im oberen Raum des Old George in Bethnal Green getan hatte. Dann hatte sie Mary Jane kennengelernt, sie hatten gemeinsam auf der Straße gearbeitet, und sie hatte sich nie gestattet, zurückzuschauen.

»Haben Sie niemanden, der sich um Sie kümmert?«

»Ich hatte eine … Gefährtin. Ein Mädchen wie ich. Sie starb hier, vor drei Monaten.«

»Bei der Waterloo Bridge? Am … warten Sie, am ersten Oktober?« Er schien von ihrer Enthüllung ehrlich erschüttert zu sein, als berührte sie ihn irgendwie persönlich. Als handelte es sich um eine Familienangehörige, dachte Annie. »Gütiger Himmel.«

Er schien aufrichtig betroffen zu sein, viel betroffener, als Annie es gewesen war, als sie von Mary Janes Tod erfahren hatte. Annie war wütend gewesen. Sie konnte sich nicht erklären, warum Mary Jane sie verlassen hatte. Sie waren nicht glücklich gewesen, das nie, aber gut zurechtgekommen waren sie, während sie von einem besseren Leben träumten. Abends tranken sie etwas, warfen ihre Münzen zusammen und sprachen von ihren Kunden, den Männern, die dafür bezahlt hatten. Sie nannten sie die »Bastarde« und lachten über sie alle: die Schreier, die Schwätzer und sogar über die Schläger. Sie mit Schimpfnamen zu belegen und über sie zu lachen war alles, was sie tun konnten; es war die einzige Macht, über die sie verfügten, und ließ alles etwas weniger schrecklich erscheinen.

Mary Jane war wie eine Schwester gewesen, mehr als jede ihrer eigenen Schwestern. Sie beide hatten immer genug zu essen und zu trinken und konnten sich zu Weihnachten ein Quart Ale oder einen Posset, manchmal eine neue Haube und manchmal ein Federkissen leisten. Zu Weihnachten kauften die Bastarde ihnen vielleicht billige Schmuckstücke oder Geschenke – nichts Großartiges, weit gefehlt; Dinge, die für ihre Ehefrauen nicht gut genug waren, aber nicht so viel Geld kosteten, dass es in der Haushaltskasse fehlte: auffällige Broschen oder billige Handschuhe. Weihnachten war eine einträgliche Zeit für ein Straßenmädchen, und Annie und Mary Jane hatten sich auf eine geschäftige Saison vorbereitet. Mary Jane hatte zufrieden gewirkt; sie war die meisten Nächte mit einem Stammkunden ausgegangen. Dann war sie eines Morgens einfach nicht nach Hause gekommen, und statt des Kratzens des Schlüssels hatte es frühmorgens an der Tür geklopft, und ein Konstabler hatte dort gestanden, wo Mary Jane hätte stehen sollen.

Unbewusst hatte Annie die Lederhandschuhe in den Händen zerknüllt. Vorsichtig strich sie sie glatt und legte sie auf den Sitz neben sich. Plötzlich hatte sie es eilig, fortzukommen – hinaus aus dieser Kutsche, weg von dieser Welt. Dieser Gentleman hatte nichts geändert. Seine Freundlichkeit hatte die Dinge nicht besser gemacht, sondern das Ende nur aufgeschoben. Sie streckte die Hand nach dem Griff der Kutschentür aus.

»Warten Sie.« Er legte seine warme Hand über ihre kalten Finger. »Es bereitet mir großen Kummer, dass Sie so am Leben verzweifeln, vor allem, weil Sie noch so jung zu sein scheinen. Sie sind – verzeihen Sie mir – siebzehn? Achtzehn?«

Sie hatte gelegentlich bezüglich ihres Alters gelogen. Sie war zierlich und nicht sehr groß, deshalb hatte sie oft ein paar Jahre unterschlagen, da einige der Bastarde sehr junge Mädchen zu bevorzugen schienen. Aber jetzt sah sie keinen Grund, zu flunkern. »Ich werde im Juni achtzehn.« Rasch berichtigte sie sich: »Das heißt, ich würde achtzehn werden.«

Sie konnte sehen, dass ihm ihr Versprecher nicht entgangen war und dass er Hoffnung daraus zog. In den grauen Augen lag eine wache Intelligenz. »Ich werde nicht versuchen, Sie davon abzuhalten. Aber wenn ich Sie bitten dürfte … würden Sie mir eine Stunde Ihrer Zeit schenken?«

Annie kniff die Augen zusammen. Sie war nicht übermäßig eitel, aber sie wusste nur zu gut, dass ihr Aussehen ihr ihren Lebensunterhalt sicherte. Glaubte dieser Gentleman wirklich, sie würde ihre letzte Stunde auf dem Rücken verbringen? Sie hob das Kinn. Jetzt musste sie keine solche Angebote mehr annehmen; sie würde ihr Leben nicht mit diesem Kerl in irgendeiner Pension aushauchen, so attraktiv er auch war. Sie musterte ihn scharf.

Beschwichtigend hob er beide Hände und spreizte die Finger. »Ich versichere Ihnen, dass meiner Bitte nichts Ungehöriges anhaftet. Es gibt da etwas, was ich Ihnen zeigen will. Und wenn Sie nach dieser Stunde hierher zurückgebracht werden wollen, werde ich den Kutscher anweisen, Sie hier abzusetzen, und ich werde davonfahren und mich nicht noch einmal umblicken.«

Seine grauen Augen blickten ernst, flehend. Annie war an Bitten nicht gewöhnt; für gewöhnlich taten Männer mit ihr, was sie wollten, und setzten voraus, dass ihr Geld sie von solchen Höflichkeitsbezeugungen freikaufte. Sie war gerührt. Und eine Stunde war schließlich nicht so lang. Wenn sie noch ein wenig Zeit auf dieser Erde ausharren musste, dann konnte sie das auch in Gesellschaft eines Mannes tun, der sie freundlich behandelte. »Einverstanden«, willigte sie ein. »Eine Stunde.«

Zum ersten Mal lächelte er, was seinem anziehenden Gesicht einen charmanten, offenen Ausdruck verlieh. Er beugte sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu: »Trafalgar Square.«

Der Mann zog die Hände aus seinem Mantel, versetzte dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche, und der Hansom rumpelte Richtung Norden über die Brücke und ließ den Fluss hinter sich.

ERSTES KAPITEL

Fünf Jahre, sechs Monate und einen Tag zuvor.

Ich gehe zum Strand hinunter, stehe da und starre die dunklen Umrisse der HMS Captivity draußen am Horizont an. Es ist sehr windig, deswegen komme ich mir nicht wie eine Närrin vor, wenn ich das sage, weswegen ich gekommen bin; ich weiß, dass der Wind meine Worte davontragen wird, sobald sie meinen Mund verlassen haben. »Auf Wiedersehen, Dad«, rufe ich Richtung Süden. »Ich mache mich auf den Weg nach London.« Dann füge ich für den Fall, dass der Wind durch irgendeinen vertrackten Zufall meine Worte doch zu ihm hinüberweht, hinzu: »Ich bin es, deine Mary Jane.« Natürlich kann ich ihn nicht sehen, aber ich weiß, dass er dort ist, tief unten in einer rattenverseuchten Schlafkoje des Gefangenenschiffs.

Ich warte auf eine Antwort, und der Wind schüttelt mich durch, aber es schwingen weder Worte noch das Echo von Dads Norfolkakzent darin mit. Wenn er in zehn Jahren zurückkehrt, werde ich zweiundzwanzig sein. Eine Frau und eine Londonerin, und ich werde anders mit ihm sprechen.

Ich hätte nach Dads Deportation hier in Holkham bleiben können, wenn nur Mum nicht irrtümlich gehängt worden wäre. Deshalb muss ich jetzt zu meiner Tante nach Battersea. Die Sterne von Norfolk werden mir fehlen, aber ich nehme an, dass es dort dieselben gibt. Was ich am meisten vermissen werde, ist das Wasser. Zumindest Dad hat Wasser, Unmengen davon. Ich hoffe, dass es in London auch Wasser gibt.

Der Hansom bog auf den Trafalgar Square ein und scheuchte dabei ein paar Tauben auf. Annie betrachtete den neu angelegten Platz ohne wirkliches Interesse. An der Säule in der Mitte des Platzes sollten einmal vier Löwen stehen und auf ihr eine Statue thronen, aber jetzt gab es noch keine Statue, und nur ein Löwe kauerte in einsamer Pracht darunter. Vor der weitläufigen Galerie mit dem Säulenvorbau reihte sich eine Anzahl Kutschen. Der Weg wurde von großen Fackeln erleuchtet, und die hohe Säule warf wie der Zeiger einer Sonnenuhr verrückte Schatten.

»Ist es das, was Sie mir zeigen wollten?«, fragte sie ihren Retter gleichgültig.

»Warten Sie ab«, erwiderte er. »Warten Sie einfach nur ab.«

Während Annie müßig elegant gekleidete Paare beobachtete, die aus den Kutschen stiegen – die Herren im Frack, die Damen in glänzendem Satin –, und sich fragte, was sie hier sollte, hielt der Hansom in der Reihe, und ihr Begleiter sprach den Kutscher an. »Sie können bis vorne vorfahren. Man kennt mich hier.«

Annie war neugierig. »Wo ist hier?«

»Die Royal Academy.«

Annie hatte keine Ahnung, was die Royal Academy war. Soweit sie derartige Dinge zur Kenntnis nahm, war das kürzlich erbaute Gebäude mit dem Kuppeldach am Rand des Trafalgar Square eine Kunstgalerie. Die Royal Academy. Ob dieser Ort etwas mit der Königin zu tun hatte? Einen Moment lang sah sie sich in ihren Lumpen vor Victoria höchstpersönlich knicksen.

Sie rutschte auf ihrem Sitz nach hinten, als der Hansom sich vor die anderen Kutschen setzte. Am Fuß der breiten Marmortreppe war ihr ihr Begleiter beim Aussteigen behilflich. Die Leute drehten sich gaffend zu ihnen um, während sie hinter dem Fremden herschlurfte, der den Kutscher bezahlte, aber sie starrten nicht sie an, sondern ihn. Sie nickten und lächelten, sie tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, und eine kleine Gruppe klatschte kurz Beifall. Er quittierte dies mit einem Nicken und bot Annie seinen Arm an. »Kommen Sie.«

»Aber …« Sie blickte an ihrem zerlumpten Kleid aus altem braunen, mit Gott weiß was für Flecken übersätem Barchent hinunter. Und der Rest – keine Haube, halb gelöstes Haar, schmutzige Nägel und Tränenspuren auf ihrem schmuddeligen Gesicht.

»Ah.« Taktvoll hakte er seinen Abendumhang auf, legte ihn ihr um die Schultern und verdeckte so das anstößige Kleid. »So.« Er bedachte sie mit seinem gewinnenden Lächeln. »Jetzt sind Sie die Königin von Saba.«

Annie nahm seinen Arm und stieg die Stufen hoch.

Drinnen gab es warme, von Kerzenschein erhellte Marmorhallen, in denen Gelächter vieler Menschen und das Klirren von Kristall widerhallte. Aufwärter mit silbernen Tabletts boten kleine Gläser mit Sherry an. Annie nahm sich eines, leerte es mit einem Zug, stellte es zurück und griff nach einem weiteren, ohne sich um Anstandsregeln zu kümmern. Es war kein Gin, aber er würde es tun. Ihr Begleiter nahm sich ein Glas und nippte daran, dabei beobachtete er sie aufmerksam. Sie lächelte gepresst; sie brauchte den Alkohol, denn die Augen starrten schon wieder, diesmal in ihre Richtung, registrierten die zerschlissenen Kleider unter dem Umhang, das verschmierte Gesicht, das unordentliche Haar. Aber jetzt wärmte der Alkohol ihren leeren Bauch – den Bauch mit dem Baby darin –, und sie starrte trotzig zurück. Es kümmerte sie nicht, was sie dachten.

»Ist es das, was Sie mir zeigen wollten?«, fragte sie, plötzlich kühn geworden. »All diese feinen Pinkel?« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu dämpfen. Ihr Begleiter schüttelte den Kopf.

»Warten Sie«, sagte er wieder. »Warten Sie einfach ab.«

Weitere Stufen, und dann ein weitläufiger Raum, in dem nahezu jeder Zoll der Eichenholztäfelung mit Bildern bedeckt war. Einige waren so groß wie eine Armenhaustür, andere winzig klein. Zuerst konnte Annie nur Farben sehen: rothaarige Frauen in juwelenfarbenem Samt, die an Gobelins stickten, Blumen in den Händen hielten und auf Wiesen ruhten. Die Gemälde waren schön und friedlich, nichts, was die Seele aufwühlte. Doch in der Ecke am anderen Ende des Raumes, ein Stück vom Hauptteil der Menschenmenge entfernt, gab es andere, verstörendere Arbeiten in dunkleren Farbtönen für dunklere Themen. Themen, die ihr nur allzu vertraut waren.

Hier hing das Bild einer Frau, die gerade vom Knie eines schnurrbärtigen jungen Mannes aufstand, der an einem Klavier saß. Ihre Hände waren entschlossen gefaltet, und in ihren Augen lag eine plötzliche Erkenntnis. Das Bild gab genau den Moment wieder, wo ein leichtes Mädchen erkannte, dass es auf Abwege geraten war. Dort war ein weiteres von einer Frau, die sich vor Scham krümmte, als ihr liebevoller Bruder sie bei der Arbeit auf der Straße ertappte und mit einem Ausdruck von Entsetzen und Bedauern gegen eine Wand sackte. Ein drittes, das wie ein Altargemälde aus drei Teilen bestand, zeigte alles andere als fromme Szenen. Auf der ersten Tafel sah man eine Frau unter dem anklagenden Blick ihres Ehemannes, der einen Brief in der Hand zerknüllte, auf dem Boden liegen. Ihre beiden kleinen Mädchen, die ein Kartenhaus bauten, blickten zu ihrer Mutter hinüber, als ihr Ehebruch bekannt wurde, und das Haus stürzte unter ihren Händchen zusammen. Die zweite zeigte dieselben Mädchen ein paar Jahre später, sie lebten in einer schäbigen Dachkammer und betrachteten durch ein schmieriges Fenster den Mond über den Dächern. Auf der dritten Tafel saß ihre Mutter, deren Absturz jetzt vollkommen war, unter den Bögen des Adelphi-Theaters. Zerfetzte Plakate wehten über ihrem Kopf, und die Füße eines Babys lugten unter den Röcken ihres zerlumpten Kleides hervor.

Annie betrachtete die drei Elendsszenen und wusste, dass ihre Entscheidung, diese Welt zu verlassen, richtig war. Ihr war klar, warum ihr Retter sie hierhergebracht hatte: er hatte ihr die Falschheit ihres Lebenswandels vor Augen führen wollen. Aber sein Plan war nicht aufgegangen, sondern hatte sie nur daran erinnert, wie ihr Leben weitergehen würde, wenn sie ihm nicht selbst ein Ende setzte. Es war für die Frau am Klavier gut und schön aufzuspringen und zu bereuen und in einem Geschäft oder einer Fabrik zu arbeiten, um ihr altes Leben zu vergessen und eines Tages in einer weit entfernten Stadt, wo niemand sie von einer Straßenecke oder einem Ginladen her kannte, gut zu heiraten. Aber das dritte Gemälde, das in drei Teile unterteilte, bewies ihr, dass es für eine Frau mit Kind keinen Weg aus der Schande gab.

»Es nützt nichts«, sagte sie zu ihrem Retter. »Ich weiß, was für ein Leben ich gewählt habe. Was glauben Sie, warum ich es beenden will?«

»Ich habe Sie nicht deshalb hierhergebracht«, erwiderte er. »Sie sollen das hier sehen.«

Es gehörte zu den größten Bildern, eine riesige düstere Leinwand, die einer Tür in das Dunkel glich. Es zeigte eine trübe Szene der genau wie heute in eisigen Nebel gehüllten Waterloo Bridge. Alles war genau gleich: die wie eine Perlenschnur entlang des Südufers brennenden Laternen, die zinngraue Themse, in der der ertrunkene Mond trieb, die neuen, einem kauernden stachelbewehrten Drachen gleichenden Parlamentsgebäude. Aber während Annie die Szene von oben gesehen hatte, hatte der Künstler sie von unten betrachtet – vom Blickpunkt unterhalb der Bögen auf dem schmutzigen Ufer der Themse aus. Und im Vordergrund, halb im, halb außerhalb des Wassers, lag ein Mädchen in Weiß. Lebensgroß, aber eindeutig tot. Und es handelte sich um Mary Jane.

Annie rang nach Luft, trat einen Schritt darauf zu, starrte ihre tote Freundin an und streckte eine Hand aus, als wollte sie ihr Gesicht berühren und die blicklosen Augen schließen. Im Hintergrund sah man schattenhafte Gestalten, aber Annie hatte nur Augen für Mary Jane. Ihr erster Gedanke war absurderweise, dass sie sie noch nie so sauber gesehen hatte. Ihr Gesicht hatte den grauen Glanz einer Austernschale, ihr braunes Haar wirkte vom Wasser durchnässt noch dunkler, die Arme hatte sie auf dem Kies ausgebreitet, als würde sie den Tod umarmen. Eine Sonntagsschulfloskel kam Annie in den Sinn: Sie war von all ihren Sünden reingewaschen. Mary Jane war immer eher nachlässig gewesen, sie hatte von Seife nicht viel gehalten, aber hier, in ihrem weißen Musselin, hätte sie ein Engel sein können. Annie schlug die Augen nieder, sie konnte nicht länger hinschauen. Und entdeckte auf dem Rahmen ein kleines Messingrechteck mit den eingravierten Worten: Die Seufzerbrücke, von Francis Maybrick Gill.

»Sehen Sie«, sagte Francis Maybrick Gill sanft neben ihrem Ellbogen. »Ich war dort. Ich ging vor drei Monaten über die Waterloo Bridge, so wie ich es heute getan habe. Ich hörte den Tumult und die Schreie und stieg die Stufen zum Ufer hinunter.« Sie drehte sich um, um ihn anzusehen. »Die Gassenjungen hatten sie gefunden. Kleine Kinder. Sie riefen die Konstabler, um sie herauszuziehen. Die Konstabler gaben ihnen einen halben Penny. Als der Gehilfe des Coroners kam, sagte ein Konstabler: ›Wieder eine für Sie, Mr. Brownlow.‹ Einfach so.« Er schüttelte den Kopf. »Wieder eine für Sie. Das werde ich nie vergessen. Ich gab dem Gehilfen des Coroners eine Guinea für einen Sarg, und sie schafften den Leichnam fort.«

Annie erinnerte sich an den Sarg aus gutem Hartholz – der Gehilfe des Coroners hatte den Zimmermann also nicht betrogen. Sie hatte sich bei dem erbärmlichen kleinen Kirchspielbegräbnis in St. Leonard’s in Shoreditch gefragt, wo das Geld hergekommen war. Prostituierte wurden für gewöhnlich auf einer Schindel und nebeneinanderliegend begraben, so wie sie zu Lebzeiten nebeneinandergestanden hatten. Sie wandte sich zu dem Künstler; am liebsten hätte sie ihn umarmt. In diesem Moment liebte sie ihn für diesen letzten Dienst, den er einer toten Hure erwiesen hatte.

Das Gemälde ließ das Blut in ihrem Kopf pochen. Das Schlagen eines sterbenden Herzens, der dahinrauschende Fluss. Wie konnte ein Bild all den Lärm und das Drama heraufbeschwören und gleichzeitig den Frieden am Ufer einfangen, das Plätschern des Wassers, die aufgeregten Rufe der Gassenjungen, den lebensüberdrüssigen Konstabler, der den Gehilfen des Coroners begrüßte. Wieder eine für Sie.

Francis sprach weiter, mit gedämpfter Stimme, aber eindringlich. »Und als ich heute über die Brücke ging und Sie auf der Brüstung sah, nun, da wusste ich, dass ich Sie nicht springen lassen konnte. Für sie bin ich zu spät gekommen«, sagte er voller Bedauern, »aber nicht für Sie. Ich wusste natürlich nicht, dass Sie eine Bekannte von …« Er nickte zu dem Bild hinüber.

»Mary Jane«, flüsterte sie.

»Von Miss Mary Jane waren.« Die Ehrerbietung, mit der er von ihrer toten Freundin sprach, brachte sie erneut dazu, ihn zu lieben. »Ich konnte sie nicht vergessen. Ich ging direkt nach Hause, nahm meine Pinsel, gab meine antiken Sujets, meine Nymphen und meine Dryaden auf und malte zum ersten Mal etwas Reales. Ich konnte nicht von ihr lassen; ich malte eine Studie nach der anderen, und dann dieses Ölgemälde – mit dem Ergebnis, dass dieses das erste Bild von mir ist, das von der Akademie angenommen wurde. Ich stehe tief in der Schuld Ihrer Freundin, und da ich sie bei ihr nicht abzahlen kann, würde ich sie gerne bei Ihnen abzahlen.«

Schuld war ein furchteinflößendes Wort für Annie, es bedeutete Drohungen und Blutergüsse, kalte Finger und Zehen, einen knurrenden Magen und Gefängnisgitter. Sie hatte oft Schulden gehabt, aber noch nie hatte ihr jemand etwas geschuldet. »Wie?«

Jetzt nahm er ihre Hände und sah ihr mit einem glühenden Ausdruck in die Augen. »Ich möchte, dass Sie sich von mir retten lassen.«

»Wie meinen Sie das?«

Er zog seine Taschenuhr hervor. »Unsere Stunde ist um. Ich hoffe, dass mein Werk so zu Ihnen gesprochen hat, wie es meine Worte nicht konnten. Deshalb muss ich Sie fragen: Wollen Sie zu der Seufzerbrücke zurückkehren?«

Sie sah das Bild wieder an. Die Farben verschwammen vor ihren Augen, und sie befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Durch irgendeine dunkle Magie war Mary Jane verschwunden, und eine gemalte Annie lag dort auf dem Kies, ihre Augen waren so schimmernd und tot wie die Kiesel, die Haare vom Wasser dunkel, der Mund geöffnet wie das Maul eines Fisches. Sie blinzelte, und das Bild löste sich auf: Mary Jane war wieder da, aber Annie war plötzlich in Schweiß so kalt wie das Themsewasser gebadet.

»Nein«, stammelte sie mit trockenem Mund. »Nein, ich werde nie wieder dorthin zurückkehren. Aber ich weiß nicht, wo ich stattdessen hingehen kann.«

»Sie können mit mir nach Hause kommen«, sagte Francis Maybrick Gill.

ZWEITES KAPITEL

Fünf Jahre und sechs Monate zuvor.

Es stellt sich heraus, dass sie in London dieselben Sterne haben. Ich schaue sie gerade an.

Sie sind mir den ganzen Weg mit der Kutsche durch die Nacht von Holkham hierher gefolgt, haben mit den Pferden Schritt gehalten. Unser Pfarrer hat mich mit drei Damen, die nach London wollen, in einen Brougham gesetzt. »Es schickt sich nicht, mit Männern zu reisen, Miss Mary Jane«, sagte er, erklärte aber nicht, warum.

London ist schmutzig und beengt. Jeder Zoll dort ist zugebaut. Meine Tante lebt in einer Wohnung, und ich glaube nicht, dass sie hier wissen, was die Worte »flaches Land« überhaupt bedeuten. Norfolk ist flach. London ist hoch. Hier wohnt einer über dem anderen.

Ich vermisse saubere Luft, an der man nicht erstickt. Ich vermisse die freien Flächen, den Sand, den offenen Strand. Ich habe Sterne, aber kein Wasser. Ich bin an einem Ort namens Battersea, aber die See habe ich noch nicht gesehen.

Ein anderer Hansom brachte Annie und Francis Richtung Norden nach Bloomsbury zu den schönen hohen Häusern der Gower Street.

Francis tippte den Kutscher mit seinem Stock an, und die Droschke hielt vor Nummer Sieben, einer ansprechenden Vorderfront mit einer schwarzen Tür, einem Messingtürklopfer und einer Lünette. Er half Annie beim Aussteigen, und die Haustür öffnete sich, sowie sie näher kamen. Francis reichte seinen Zylinder und die Handschuhe dem Butler, der sie eingelassen hatte, einem entschieden zu wohlerzogenen Mann, um angesichts der Begleiterin seines Herrn mehr zu tun als dezent eine Braue zu heben.

»Bowering, Mrs. Hoggarth soll einen Haferbrei zubereiten – aber dünn, denken Sie daran. Und einen schönen starken Posset mit drei Eiern.«

Der Butler nickte knapp und verschwand, und Annie blickte sich um. Die Eingangshalle war lang und geräumig, der Boden wie ein Schachbrett schwarz und weiß gefliest. Eine breite Treppe wand sich um eine unsichtbare Ecke zu den oberen Stockwerken empor. Über einem einzelnen Tisch hing ein mächtiger Spiegel, und auf dem Tisch stand eine bis zum Rand mit verblühenden weißen Blumen gefüllte Silberschale. Annie musste an Mary Jane denken, die auf dem Bild so bleich wie diese Blüten gewirkt hatte.

Francis war ihrem Blick gefolgt. »Kamelien«, erklärte er. »Es sind eigentlich die Blüten der Teepflanze.« Er sah ihr in die Augen. »Manchmal entspringt himmlische Schönheit aus ganz bescheidenen Dingen.«

Sie hätte schwören können, dass er von ihr sprach, aber dann erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild, ein jämmerliches, zerlumptes Geschöpf. Mit Schönheit hatte sie heute wahrlich nichts zu tun.

Francis führte sie in das Wohnzimmer. Nach dem strengen Schwarz und Weiß erschien es ihr wie eine Schmuckschatulle direkt aus Arabien. Die Wände waren rötlichbraun tapeziert und wiesen eine filigrane Goldverzierung auf. An den Fenstern hingen Bahnen mitternachtsblauer Seide und brennende Lampen mit bunten Glasschirmen. Francis setzte sie in einen gepolsterten, mit topasfarbenem Samt bezogenen Stuhl mit Füßen in der Form von Elefanten gleich neben einem hell prasselnden Feuer. Er selbst zog sich einen weiteren geschnitzten Stuhl heran, setzte sich neben sie und legte seinen kühlen Handrücken auf ihre Stirn. »Sowie Sie sich aufgewärmt und etwas gegessen haben, wird es Ihnen besser gehen.«

Annie konnte kaum fassen, in was für einer Umgebung sie sich befand. Sie war schon früher in eleganten Häusern gewesen, wenn die feinen Herren es gerne etwas derber wollten, aber diese Häuser waren mit Walnussholz getäfelt und in einem gedämpften, kostspieligen Eierschalgrau gestrichen gewesen. Sie hatte auch farbenfrohe gewöhnliche Häuser besucht, aber dort hatte es nur wertlosen Protz und ausgefranste Seide gegeben. Einen Ort wie diesen hatte sie nie gesehen, so bunt, so exotisch und zugleich so kostbar ausgestattet. Er verlieh ihr dasselbe traumgleiche Gefühl, das sie in der Galerie überkommen hatte – das Gefühl, als wäre sie eigentlich gar nicht hier. So wie sie dort Mary Janes Platz auf der Leinwand eingenommen hatte, kam sie sich hier vor, als hätte sie mit irgendeinem anderen verwirrten Mädchen das Leben getauscht, das sich jetzt an ihrer Stelle auf der Brüstung der Waterloo Bridge wiederfand. Sie betrachtete den Mann, der diese Verwandlung herbeigeführt hatte. In seinem Umhang und dem Zylinder hatte er sie an den Zauberkünstler erinnert, der im Hackney Empire auftrat und mit einem Blitz und einem Krachen ein Kaninchen aus einer seiner bemalten Kisten verschwinden und in einer anderen wieder auftauchen ließ. Sie empfand dieselbe sklavische Ehrfurcht vor ihm, die sie diesem Zauberkünstler entgegengebracht hatte.

»Danke, Sir«, flüsterte sie.

»Sie können mich Francis nennen. Ich denke, Sie wissen, dass das mein Name ist.«

Das kleine Bronzeschild an dem Gemälde. »Francis Maybrick Gill«, sagte sie.

»Ja.«

»Ein Künstler.«

»Ja. Und Sie? Könnten wir uns jetzt, da Sie noch etwas länger auf dieser Welt verweilen werden, wenigstens miteinander bekannt machen?« Sein ungezwungenes Lächeln wärmte sie ebenso sehr wie das Kaminfeuer.

»Mein Name ist Annie Stride.«

»Dann, Miss Stride, dürfte ich vielleicht etwas von Ihrer Geschichte erfahren? Wenn ich Ihnen helfen soll …«

»Sir … Francis, Sie fragen nach etwas, was Sie möglicherweise nicht hören wollen.«

Dieser Raum war genau richtig für Geschichten, dachte sie, aber alle Geschichtenerzählerinnen, die sie auf Kupferstichen gesehen hatte, hatten weite Pumphosen, Armbänder und Edelsteine zwischen den Augen getragen, keinen zerschlissenen Barchent, und sie hatten auch keine wirren Haare und Tränenflecken im Gesicht gehabt. Sie erzählten von Riesen so groß wie Häuser, von Elefanten und Dschinns, die in Flaschen lebten, sowie von goldenen Palästen, nicht von dem schändlichen Treiben in der St. Jude’s Street, dem Old George und dem Haymarket. Sie tranken Sorbet und aßen türkische Leckereien, ihr Magen hingegen war leer wie eine Trommel und grollte genauso laut.

Wie zur Antwort wurde die Tür geöffnet, und ein junges Dienstmädchen kam mit einem Tablett herein, auf dem sich eine dampfende Schale befand. Behutsam stellte sie alles auf einer Truhe aus dunklem Holz ab, die mit einer Einlegearbeit aus kleinen Messingdreiecken verziert war.

»Danke, Minnie. Du kannst gehen. Oh, und Minnie: Lass ein Bad für unseren Gast ein.« Das Mädchen starrte Annie mit runden Augen an, nickte und flüchtete.

Francis wandte sich wieder an Annie. »Wie lange haben Sie nichts mehr gegessen?«

Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht mehr.«

»Dann lassen wir es lieber langsam angehen.«

Er nahm die Schale mit dem Haferbrei von dem Tablett sowie einen silbernen Löffel von einer schneeweißen Serviette und löffelte ihr den Brei eigenhändig in den Mund. Selbst in dem bunten Traum, den sie durchlebte, erschien ihr das seltsam. Es war nicht die Geste eines Vaters gegenüber seinem Kind, sondern etwas anderes. Irgendetwas an dem Löffel an ihren Zähnen, auf ihrer Zunge, in ihrem Mund kam ihr übermäßig intim vor, so intim, dass es fast zu ihrem alten Leben zu gehören schien, nicht zu diesem neuen. Mit einem Mal befand sie sich wieder im Hier und Jetzt, der Silberlöffel ließ die Traumblase platzen. Der Haferbrei rann ihre Kehle hinab, und Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie vergaß das Merkwürdige ihrer Situation, als sie sich satt zu fühlen begann, ein Gefühl, das sie kaum noch kannte. Dann erfüllte Dankbarkeit ihr Herz fast bis zum Überlaufen.

Als der Haferbrei aufgegessen war, legte Francis den Löffel weg. »So, Annie, wenn Sie sich jetzt kräftig genug fühlen …«

Sie vermochte ihn nicht anzusehen, sondern griff nach dem Silberlöffel und betrachtete ihr verzerrtes, verschmiertes Spiegelbild. »Ich habe Angst.«

»Angst? Wovor?«, drängte er sanft.

»Dass Sie mich aus dem Haus werfen, sobald Sie wissen, was ich getan habe.«

»Miss Stride. Annie. Ich weiß, dass Sie ein … Straßenmädchen sind. Aber ich bin der Meinung, dass Frauen Ihres Berufsstandes eher Opfer der Umstände als Schuldige sind.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sir.«

»Francis. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, und ich bin sicher, dass Sie mir meine Theorie bestätigen.«

Also erzählte Annie ihm alles, so kurz und knapp sie konnte. Sie zog nichts in die Länge oder schmückte es aus, als würde sie auf einem seidenen Kissen sitzen. Die Geschichte von Bethnal Green und Ma und Pa und all den Brüdern und Schwestern würde keine tausendundeine Nacht in Anspruch nehmen. Sie wollte noch nicht einmal daran denken, geschweige denn es laut aussprechen.

Francis ließ sie reden, warf aber ab und zu eine Frage ein. »Sind Sie jemals zur Schule gegangen?«

»Am Ende der St. Jude’s Street gab es eine Schule. Aber da war ich nur, bis Ma ihr viertes Kind gekriegt hat, dann musste ich ihr zu Hause helfen. Hab Lesen und Rechnen gelernt, aber damit hatte es sich auch schon. Und dann war da die Sonntagsschule in der St. Matthew’s Kirche, wo wir ein bisschen was aus der Bibel gelernt haben. Wir waren nicht fromm, aber Pa hat uns hingeschickt, weil er es Samstagabend immer wüst getrieben hat und uns sonntags aus dem Haus haben wollte, um seinen Rausch ausschlafen zu können.«

»St. Jude’s Street?«, fragte Francis.

»Genau die.«

Er lächelte traurig. »Der Schutzpatron verlorener Seelen.«

Annie schnaubte leise. »Schätze, ich bin wohl so eine.«

»Ganz und gar nicht. Vielleicht hat er Sie heute Abend gerettet.«

»Wenn das einer getan hat, dann nicht er«, widersprach sie sanft.

Er wirkte erfreut. »Erzählen Sie weiter.«

»Als ich dreizehn war, da … lief ich fort.«

»Warum?«

Annie zögerte. Sie hatte den Bastarden zu ihrer Zeit eine Menge schmutziger Geschichten erzählt, weil sie Fantasien über eine Vergewaltigung durch den Pfarrer oder irgendeinen Herzog hören wollten, während sie es mit ihr trieben. Aber diese Geschichte, die obszönste von allen, konnte sie niemandem anvertrauen. Sie konnte einem guten Mann wie Francis nicht erzählen, warum sie die St. Jude’s Street wirklich verlassen und nie zurückgeblickt hatte, noch nicht einmal, wenn sie das Lächeln und die klebrigen Hände ihrer Lieblingsschwester vermisste. Sie konnte ihm nicht gestehen, was geschehen war, als ihr Vater sie an ihrem dreizehnten Geburtstag in den oberen Raum des Old George gebracht hatte. In dieser Nacht hatte sie einen Blick in die Hölle geworfen, und nichts, was sie seitdem zu tun gezwungen gewesen war, war diesem Entsetzen auch nur annähernd nahegekommen. Als sie von zu Hause weggelaufen war, hatte sie geschworen, keiner Menschenseele je davon zu erzählen. Also log sie Francis an. »Es war kein Platz im Haus. Meine Mum war wie die Frau im Schuh, kennen Sie die Geschichte?« Sie ratterte weiter wie eine Droschke, versuchte die Lücke in ihrer Erzählung mit einer anderen zu verdecken, aber er hakte nicht nach.

»Ich kenne sie. Und dann?«

»Ich tat mich mit Mary Jane zusammen. Sie sah mich über den Haymarket schlendern und sagte mir, ich wäre hübsch.«

Annie erinnerte sich an die Macht des Kompliments von dem schönsten Mädchen, das sie je gesehen hatte, eines Mädchens mit so dunklem Haar, dass es den bläulichen Schimmer eines Krähenflügels aufwies, einem Teint wie Milch und Rosen und so langen dunklen Wimpern, dass sie sich wie Fächer über ihre Wangen breiteten. Mary Jane hatte ihr eine Zuckermaus angeboten – die einzige in der Papiertüte in ihrer Hand. Annie war geschmeichelt gewesen. »Die ganze?« Sie erinnerte sich an die nie erträumte Wonne, eine Leckerei ganz für sich zu haben, etwas zu genießen, was nicht sorgsam mit dem Messer in zwölf Teile geschnitten und mit ihren Geschwistern geteilt werden musste.

Die Zuckermaus hatte sie zu Mary Janes Sklavin gemacht; sie war das erste Geschenk, das sie je bekommen hatte, die erste Freundlichkeit, die ihr erwiesen worden war, und so etwas übte eine unglaubliche Macht aus. Deshalb hatte sie, als Mary Jane sie zu einem Spaziergang aufforderte, die Hand des älteren Mädchens umklammert, wie ihre Schwestern ihre zu umklammern pflegten. Annie erinnerte sich jetzt daran, dass nicht einmal der süße Geschmack der Zuckermaus auf ihrer Zunge sich mit der Süße vergleichen ließ, zum ersten Mal im Leben eine Freundin zu haben. Auch nachdem sie zusammengezogen waren, bewahrte sie den Schwanz der Zuckermaus jahrelang in ihrem Schmuckkasten auf wie eine kostbare Reliquie für die Verehrung eines älteren, selbstsicheren und selbstbewussten Mädchens. Im Fluss hatte Mary Jane nicht so ausgesehen. All ihr Selbstvertrauen war fortgespült worden.

»Mary Jane hat mir alles beigebracht.« Einen Moment lang drohte das enorme Ausmaß ihres Verlustes sie zu überwältigen. »Schätze, sie war meine Ausbildung.«

»Was hat sie Ihnen denn beigebracht?« Francis beugte sich vor und lauschte interessiert.

»Wie man mit den Bastarden umgeht.«

»So nennen Sie sie?« Seine Stimme klang weich.

Sie nickte. »Sie hat mich gelehrt, wie ich tun kann, was sie verlangen, mich dabei aber nicht von ihnen besitzen zulasse. Wie ich innerlich auf Abstand gehe, damit ich diese Dinge tun kann, ohne mich hinterher umbringen zu wollen.« Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, fuhr sie hastig fort: »Mary Jane wusste, wie es war, erniedrigt zu werden; sie war in einer Besserungsanstalt gewesen und hatte zum Beweis dafür ein Brandzeichen. Es war auf der Innenseite ihres Arms, und sie zeigte es niemandem. Geschämt hat sie sich dafür, sagte, die Bastarde würden sie nicht anrühren, wenn sie davon wüssten, aber sie hat es mit Armbändern oder Ärmeln verdeckt, und das ging ganz gut. Wir passten gut zusammen – eine Blonde, eine Dunkle. Und dann ist sie am ersten Oktober von der Brücke gesprungen.«

Annie schluckte. An diesem Tag hatte sie begriffen, dass es Mary Jane nie gelungen war, innere Distanz zu wahren, dass das Gefühl, wertlos zu sein und seinem Leben ein Ende setzen zu wollen, nie verging. Und nachdem Mary Jane sie verlassen hatte, hatte dieses Gefühl auch von Annie Besitz ergriffen. Ein Riss hatte sich in dem Damm aufgetan, war unter dem Druck des Wassers nach innen aufgebrochen, und keine Mary Jane war zur Stelle gewesen, um die Fluten aufzuhalten.

»Und Sie haben keinen Anhaltspunkt dafür bemerkt, dass sie beabsichtigte … sich das Leben zu nehmen?«

Annie schluckte erneut. Durch seine Worte schien das alles plötzlich erst Wirklichkeit zu werden. Eine Welle des Kummers stieg in ihrer Kehle hoch, und einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. Dann flüsterte sie: »Überhaupt keinen. Sie hatte sich einen Stammfreier mit etwas Geld zugelegt, sagte sie. Kam jeden Tag nach teurem Parfüm duftend nach Hause, tanzte herein, als spielte irgendwo Musik.«

»Hat sie denn gesagt, wo sie war? Oder mit wem sie zusammen war?« Er wirkte aufrichtig interessiert.

»Nein. Sie sagte, sie würde es mir zu gegebener Zeit verraten. Machte irgendwie den Eindruck, als hätte sie etwas Kluges getan. Als würde sie in der Welt vorwärtskommen.«

»Was hat das in Ihnen ausgelöst?«

Annie zuckte die Achseln; sie setzte sich selten mit ihren Gefühlen auseinander und wurde noch viel seltener danach gefragt. »Ich dachte, gut für sie, nicht wahr? Ich wusste, dass sie mich mitnehmen würde, wenn sie ihr Glück macht. Ich hätte dasselbe für sie getan. So war das mit uns, mit ihr und mir. Wie Schwestern, verstehen Sie?«

»Und dann?«

»Und dann kam sie nicht nach Hause.« Da war die Welle wieder, sie stieg und stieg. Sie kämpfte sie nieder. »Stattdessen kam der Konstabler.«

Er nickte. »Was geschah dann?«

»Nun, nach der Beerdigung ging es mir nicht gut. Dachte, es läge an der Melancholie, wissen Sie?« Sie konnte sich noch nicht dazu überwinden, das Baby zu erwähnen. »Wir hatten monatelang keine Miete bezahlt. Mary Jane meinte, das wäre egal, denn es wäre nicht unchristlich, einen Christenmörder zu prellen.«

»Verzeihen Sie … Christenmörder?«

»Juden. Hebräer und so.«

»Ah. Die Kinder Israels. Und ich nehme an, unter ›prellen‹ verstand Ihre Freundin, dass sie beide ausziehen und eine andere Unterkunft suchen sollten, ohne Ihre Mietschulden zu begleichen?«

»Sie begreifen schnell. Aber das tat Mr. Haft auch – er ist der Vermieter. Er wollte sich nicht übers Ohr hauen lassen; er musste gewittert haben, dass ich das vorhatte, deshalb kam er eines Nachts mit seinem Schlüssel herein und nahm mir alle meine Kleider weg.«

»Er nahm Ihre Kleider?«

»Jeden Fetzen außer denen, in denen ich geschlafen hatte. Es ist ein alter Trick, um zu verhindern, dass man bei Nacht und Nebel verschwindet. Also musste ich ihm am ersten Januar …«, ihre Augen wurden groß, es schien eine Ewigkeit her zu sein, »… heute meinen letzten Schilling geben.« Sie hatte ihr gesamtes Geld in die mit einem fingerlosen schmuddeligen Handschuh bekleidete Hand des Vermieters gezählt, Münze für Münze, und gesehen, dass er sie mit seinen kleinen scharfen Augen ebenfalls gezählt und gemerkt hatte, dass es nicht reichen würde. »Ich habe ihm alles gegeben, was ich hatte, aber es fehlte immer noch etwas, daher hat er sich erdreistet, mir zu kündigen.«

»Er hat Ihnen Ihre Kleider zurückgegeben, nehme ich an?«

»Der doch nicht. Er ist ein gerissener alter Fuchs. Er wusste, dass er einen Teil davon verkaufen konnte, ein paar schöne Hauben und andere Sachen, die ich hatte.« Das Schmuckkästchen mit den Geschenken der Bastarde und dem weitaus kostbareren Schwanz der Zuckermaus eingeschlossen. »Dieses eine alte Kleid und eine Haube hat er mir gelassen, aber die hat der Wind weggerissen. Da ich sonst nichts mehr auf der Welt besitze, wie Sie vielleicht sagen würden, bin ich von ihm direkt nach Waterloo gegangen, wo Sie mich auf der Brücke gefunden haben.«

Francis schwieg eine Weile, dann schüttelte er bekümmert den Kopf. »Nicht gerade Scheherazade«, bemerkte er. »Verstehe ich das richtig: Sie sind ganz allein auf der Welt? Es gibt niemanden, den ich versuchen könnte für Sie zu finden, um sie zusammenzubringen? Keine anderen Freunde oder Bekannte? Ich könnte bei den Behörden Nachforschungen anstellen, versuchen herauszufinden, ob Ihre Familie immer noch in Bethnal Green wohnt …«

»Nein!«, wehrte sie ab. Nach dem, was Pa getan hatte, würde sie nicht wieder bei ihm unterkriechen, nicht für tausend Pfund. »Ich geh da nicht wieder hin.« Sie spähte durch ihre Wimpern zu Francis hoch. So freundlich, so attraktiv, so ein Gentleman, das genaue Gegenteil von Pa, trotzdem würde sie die Bekanntschaft jetzt beenden. Sie musste es tun; bald würde sie es nicht länger verbergen können. »Ich werd nicht ganz allein sein. Ich habe etwas ausgelassen. Ich … erwarte ein Kind.«

Sein Gesicht versteinerte plötzlich – nicht vor Zorn oder Abscheu, noch nicht einmal vor Mitleid; es war ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Er schien einen sehr langen Moment nachzudenken, während sie fast zu der Gewissheit gelangte, dass er sie als Nächstes aus dem Haus weisen würde. Aber als er aufstand, sagte er nur mild: »Sehr schön, Annie. Das reicht für heute Abend. Sie brauchen Ruhe, vor allem in Anbetracht des … dessen, was Sie mir gerade erzählt haben. Nehmen Sie Ihr Bad. Ich lasse ein Zimmer für Sie herrichten, und Minnie wird später den Posset heraufbringen. Minnie!«

Annie fühlte sich leichter als Luft, als sie sich, von ihrer Last befreit, erhob und dem kleinen Dienstmädchen die mit Teppich bezogenen Stufen hinauf folgte, und es lag nicht nur an dem dicken Plüsch unter ihren Füßen, dass ihre Schritte so beschwingt waren. Obwohl sie Francis ihr dunkelstes Geheimnis verschwiegen hatte, ging es ihr besser, weil sie ihm einen Teil ihrer Geschichte enthüllt hatte. Selbst von Mary Jane zu sprechen linderte die furchtbare Last des Kummers ein wenig. An der Biegung der Treppe stieg ihr köstlicher Lavendelduft in die Nase und löschte den Übelkeit erregenden Gestank der üppigen Blumen in der Halle aus. Minnie ging Dampfwolken ausstoßend wie eine Lokomotive vor ihr her durch eine Tür, und Annie folgte ihr.

Das Bad war der – wie hatte Francis sie genannt? – der Königin von Saba würdig. Die Wände waren mit in poliertem Kupfer gerahmten Onyx in verschiedenen Farben getäfelt, Lüster aus rosenfarbigem und opaleszentem Kristall hingen an der Decke, und ein wundervoller, an einer goldenen Stange angebrachter orientalischer Vorhang trennte eine Badewanne aus rosenfarbenem Marmor mit Rolldeckel und Adlerklauen als Füßen vom Rest des Raumes ab. Ihr gegenüber stand eine mit dem weißen Pelz eines erlegten Lebewesens, das um der Bequemlichkeit der Badenden willen hatte sterben müssen, bezogene Liege. Ein mit seidenen Rosen bedruckter orientalischer Schlafrock hing an einem goldenen Haken an der Rückseite der Tür. Neben einem riesigen, mit Seerosen bemalten Porzellanbecken befand sich ein Wäschekasten mit vorgewärmten türkischen Tüchern.

Annie stand in ihrem abgetragenen Kleid mitten in diesem Luxus und kam sich in diesem makellosen Tempel der Sauberkeit wie ein Fleck vor, nicht mehr als eine schmutzige Schmierspur in der Mitte des Raumes. Sie wagte sich kaum zu bewegen, da sie wusste, dass sie mit einer Berührung diese schneeweißen Handtücher und glänzenden Spiegel besudeln würde. Selbst das Dienstmädchen, nicht mehr als eine kleine Hausmagd in Schwarz und Weiß, passte besser hier hinein als sie. Minnie beugte sich über die Badewanne und nestelte an den kunstvollen Heiß- und Kaltwasserhähnen herum. Als sie sie mühsam aufdrehte, schoss ein Strahl kochender Lava heraus und durchweichte Annies Stiefel.

Mehr hätte es nicht bedurft, um sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. Jetzt wusste sie, wie sie sich verhalten musste. Sie hatte auf der Straße gelernt, wie eine Katze zu kämpfen, zu kratzen und die Ellbogen einzusetzen, um jede Ecke, jedes Stück ihres Reviers zu verteidigen und sich gegen jede Kränkung, ob real oder eingebildet, zur Wehr zu setzen. Männern musste man schmeicheln und um den Bart gehen, aber andere Mädchen, Mary Jane ausgenommen, konnte man ungestraft zusammenstauchen. »Pass doch auf, was du da tust!«, keifte sie, augenblicklich angriffslustig. »Was zum Teufel soll das?«

Das Mädchen richtete sich sofort mit von Dampf und Demütigung hochrotem Gesicht auf, wischte sich die Stirn unter ihrem Häubchen ab und sprach zum ersten Mal. »Es tut mir so leid, Miss. Ich bin erst drei Monate hier, und ich muss mich immer noch an diesen Badeofen gewöhnen. Ein komisches Ding ist das.«

»Du hättest mich beinahe gekocht wie ein Huhn.«

Das Mädchen biss sich auf die Lippe und sagte leise zu dem Boden: »Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen, Miss. Ich warte, bis Sie fertig sind.«

Annie blieb alleine zurück und bedauerte ihre scharfen Worte sofort. Was hatte sie sich dabei gedacht, dieses kleine Ding so anzuschnauzen? Es tat ihr prompt leid, und ihr drohten schon wieder die Tränen zu kommen. Am liebsten wollte sie das Mädchen um Verzeihung bitten. Sie war nicht immer so hart gewesen. Die Arbeit auf der Straße hatte sie sowohl innerlich als auch äußerlich schmutzig werden lassen. Zeit, das zu ändern.

Hastig schleuderte sie ihre nassen Stiefel weg und streifte ihr fleckiges Kleid ab; sie konnte es kaum erwarten, sich davon zu befreien. Könnte sie doch ihren hässlichen Charakter ebenso leicht ablegen. Da sie nicht wusste, was sie mit ihren alten Kleidern machen sollte, beförderte sie den verschmutzten kleinen Stapel mit einem Tritt unter einen Stuhl. Mieder und Hosen behielt sie an, als sie in das Wasser stieg, auf dem lila Lavendelblüten schwammen. Bislang hatte sie sich nur an der eiskalten Straßenpumpe in Bethnal Green gewaschen oder samstags in der St. Jude’s Street vor dem Feuer ein Bad genommen, wo das Wasser, wenn nach elf Kindern endlich Annie an die Reihe kam, fast genauso kalt gewesen war. In ihren Unterkünften mit Mary Jane hatte es nie mehr als einen Waschtisch oder, wenn sie Glück hatten, einen uralten Badeofen gegeben, und sie mussten sich Stück für Stück waschen. Ganz ins Wasser tauchen konnten sie nie; nie, dachte Annie erschauernd, bis zum Ende in der Themse.

Sie saß in der Wanne. Ihre schmutzige Unterwäsche saugte sich voll, denn trotz allem, was sie im Laufe der Jahre mit den Bastarden getan hatte, hielt sie es auf irgendeine wirre Art immer noch für unschicklich, nackt zu baden. Plötzlich angewidert streifte sie die nassen Sachen mühsam ab und warf sie auf die Korkmatte vor der Wanne. Dann lehnte sie sich in der übervollen Wanne zurück und kostete die nach Lavendel duftende Wärme aus. Ihr Haar floss um sie herum, Lavendelblüten verfingen sich darin, und sie dachte an die Mädchen mit den langen roten Haaren in der Royal Academy, die Blumen in den Händen gedreht hatten, während sie aus ihren vergoldeten Rahmen auf sie hinunterblickten. Sie ließ das Wasser in ihren Mund dringen, bis sie an Mary Janes Ende dachte und es wie die Fontäne eines Springbrunnens wieder ausspie. Sie zog die Luft dem Wasser vor. Sie würde weiterleben.

Genau wie die Mädchen auf den Gemälden nahm sie eine Pose ein. »Ich bin die Königin von Saba«, teilte sie dem Lüster über ihrem Kopf mit. »Ja!« Und die Kristalle schwangen zur Antwort leicht hin und her. Ihre Hände wanderten zu ihrem Bauch: eine kleine Rundung unter ihrer Berührung, weich und nachgiebig wie aufgehender Brotteig, obgleich sie so dünn war. Ihre Brüste spannten ebenfalls, waren empfindlich und von schwachen blauen Adern durchzogen – Bauch und Brüste bereits von dem Baby erfüllt. »Nicht heute Abend«, sagte sie laut. »Ich werde morgen über dich nachdenken.«

Sie rieb sich den Lavendel in die Haare, spürte, wie sich Fett und Schmutz auflösten, dann setzte sie sich auf, so dass Wasser aus ihrem Haar und von ihrem Gesicht herabrann. Sie kramte auf dem kleinen Marmorregal neben der Wanne herum, wo Kästchen mit Einlegearbeiten aufgereiht waren. Hier gab es verschiedene Sorten Seife, Kästen mit Stärke, Beutel mit Kleie, Parfüms, Pasten und Natriumkarbonat. Stirnrunzelnd musterte sie alles. Es konnte doch sicher keine Mrs. Maybrick Gill geben, sonst hätte Francis sie nicht hierhergebracht. Trotzdem fand sich hier alles, was eine Lady benötigte. Vielleicht hatte er eine Schwester. Oder vielleicht – der Gedanke reizte sie zum Lachen – war er vom anderen Ufer. »Nur glaube ich das nicht«, sagte sie zu dem Natriumkarbonat. Diese Neigung hatte sie im Lauf der Jahre zu wittern gelernt; für Mary Jane und sie waren Männer, die Männer bevorzugten, eine Zeitverschwendung und anstrengend dazu, und so hatten sie gelernt, sie zu erkennen und zu meiden.

Sie fuhr fort, jede Creme, Paste und Salbe zu benutzen, die sie finden konnte, bis sie sauber und eingeölt war und wie ein Apothekerladen roch. Erst dann stieg sie aus der Wanne und hüllte sich in die dampfenden Tücher aus dem Wäschekasten. Das Badewasser war so grau wie die Themse, in der die welken Lavendelblüten wie Treibgut schwammen. Sie schämte sich für den ganzen Schmutz, also zog sie den Stöpsel, bevor das Dienstmädchen es sehen konnte, und schlüpfte in den Schlafrock. Nachdem sie mit dem Ärmel über den Spiegel gewischt hatte, betrachtete sie sich – nur Augen und Wangenknochen und wasserdunkles Haar. Sie sah aus wie eine Leiche. Erschrocken pustete sie auf das Glas, damit es wieder beschlug und ihr Bild verdeckte.

Vor der Tür wartete das Mädchen, sie war verlegen und konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie führte Annie durch einen grottenähnlichen Flur, dessen in einem satten Zinnoberrot gestrichenen Wände mit Bildern in goldenen Rahmen, die religiöse und Landschaftsszenen zeigten, sowie kleinen Spiegeln geschmückt waren. Eine schöne Standuhr tickte laut, aber als Annie sie näher betrachtete, sah sie keine Zahlen, sondern Tierkreiszeichen, die einen Reel um eine Sonne in der Mitte tanzten. Minnie öffnete eine Tür und trat zurück, und Annie schritt an ihr vorbei in das Zimmer.

Ein Schlafzimmer wie dieses hatte sie noch nie gesehen – die Wände waren goldgelb und gaben ihr das Gefühl, als wäre sie auf Feengröße geschrumpft und in den Dotter eines Eis geraten. Auf dem Bett lag eine Decke aus schwerer türkisfarbener Seide, und an jeder Lampe hingen Fransen oder an Tau erinnernde Kristalltröpfchen. Francis’ Haus war eines, in dem die Farbe lebte, dachte Annie – Farben, von denen man nie geglaubt hätte, sie könnten Freunde oder auch nur Nachbarn sein, existierten hier alle zusammen in trauter Einigkeit.

Minnie stand an der Tür, die Hand am Knauf, als suche sie Sicherheit. »Miss«, sagte sie. »Das eben tut mir leid. Bitte sagen Sie es nicht dem Herrn. Wenn Sie Ihre Stiefel draußen vor die Tür stellen, werde ich sie bis morgen früh für Sie putzen.«

Annie ging zu ihr und griff nach der feuchten Hand des Mädchens. »Die Wahrheit lautet«, erwiderte sie sanft, »dass ich es nicht wert bin, dir die Stiefel zu putzen.«

Minnie hätte fast gelächelt, fast genickt, zog dann aber ihre Hand und sich selbst zurück.

Mit einem Mal zu Tode erschöpft trat Annie an das Bett. Unter der Bettdecke zeichnete sich eine Beule ab. Als sie die Hand darauflegte, spürte sie die wundervolle Wärme einer Wärmepfanne. Über der Beule lag ein sauberes Leinennachthemd mit von dem Kupfer gewärmten Fasern. Sie hatte sonst immer in ihrem Mieder und Unterrock geschlafen, aber sie brachte es nicht über sich, fleckige und verkrustete Kleidungsstücke über ihren gerade sauberen Körper zu ziehen. Also musste sie wohl in diesem Nachthemd schlafen. Es fühlte sich herrlich bequem an, als es über ihren Körper glitt, und duftete nach Lavendel. Bevor sie in Hoffnung gekommen war, hätte es ihr gepasst, aber jetzt waren ihre Brüste voll und empfindlich und standen wie Kugeln vor, so dass sich die Schnüre darüber spannten. Sie drückte das lange Seil ihres Haares in dem Baumwolltuch aus, das neben dem Waschtisch lag, und flocht es, feucht wie es war, über ihrer Schulter zu einem Zopf. Dann nahm sie die Wärmpfanne aus dem Bett, stellte sie auf den Boden und schob sich zwischen die Leinenlaken. Sie wollte nicht im Dunkeln sein, nicht heute Nacht, daher ließ sie die Lampe brennen.

Sie schlief schon fast, als es leise an die Tür klopfte.

»Ja?«, rief sie, plötzlich hellwach, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Privatsphäre zu haben war neu für sie. Sie rechnete mit der verhuschten kleinen Maus von einem Dienstmädchen und hoffte, weitere Wiedergutmachung leisten zu können, aber es war Francis persönlich, der einen glasierten Possetkrug in Händen hielt und eine Serviette über der Schulter trug.

»Darf ich?« Er stand auf der Schwelle wie ein Bräutigam, und sie winkte ihn mit einem leichten Lächeln herein. Er zog sich einen Stuhl neben das Bett und wandte den Blick von den Falten der Decke ab, die den Teil ihres Busens, den der Spitzenrand des Nachthemds freigab, nicht ganz verdeckte. »Trinken Sie das ganz aus«, sagte er, »aber langsam. Zuerst mit kleinen Schlucken.«

Annie nahm ihm den Krug ab, schob die Daumen durch beide Henkel und hob die Tülle an die Lippen. Das Getränk war warm und süß, sie konnte die heiße Milch, den Muskat und den Wein schmecken und noch etwas anderes, ein berauschendes Gewürz, das sie nicht einordnen konnte. Die cremige Mischung floss direkt in ihre Eingeweide und wärmte sie von innen.

»Gut?«, fragte er.

Sie nickte immer noch trinkend.

»Es ist ein Rezept von meiner Mutter.« Er betrachtete sie voller Zuneigung. »Ich möchte, dass Sie gut schlafen und Ihre Sorgen vergessen. Morgen früh werden wir über Ihre Zukunft sprechen.«

»Und die des Babys«, fügte sie hinzu.

Er senkte den Blick. »Ja, natürlich, über … diese Angelegenheit auch.«