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1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit Codex Iuris Canonici. Hatte die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen? Welche Idee liegt dem zugrunde und welche Ziele verfolgt sie damit? Was soll überhaupt Recht und Gesetz in der Kirche? Die drei kirchlichen Gesetzbücher von 1917, 1983 und 1990 werden in Entstehung, Inhalt und Auswirkung dargestellt. Ihre Besonderheiten werden erläutert, wie z. B. die Existenz des göttlichen Rechts, die Ausrichtung auf Liebe und Barmherzigkeit und die Einrichtung der Tatstrafen. Ebenso werden aktuelle Probleme aufgegriffen – wie Machtkontrolle und Beteiligung, Wiederheirat nach ziviler Scheidung und Rechtsschutz in der Kirche.
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Seitenzahl: 265
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Buchinfo
Titelseite
Impressum
Motto
Prolog
Einführung
1 Ein gewagtes Unternehmen von kurzem Erfolg
1.1 Der CIC/1917 in seinen Wurzeln und Besonderheiten
1.1.1 Die Idee einer Neuordnung des kirchlichen Rechts
1.1.2 Beschluss der Neuordnung und Vorbereitung der Kodifizierungsarbeiten
1.1.3 Die Kodifikationsarbeiten unter der Führung von Pietro Gasparri
1.1.4 Die Promulgation des Codex Iuris Canonici 1917
1.2 Der CIC/1917 als neue Etappe in der Kirchenrechtsgeschichte
1.2.1 Die biblische Wurzel kirchlichen Rechts
1.2.2 Decretum Gratiani (1140) und Corpus Iuris Canonici (1582) als Schlüsseletappen
1.2.3 Vom Corpus Iuris Canonici als Rechtsbuch zum Codex Iuris Canonici als Gesetzbuch
1.3 Der CIC/1983 und CCEO/1990 als Aggiornamento des CIC/1917
1.3.1 Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC/1983)
1.3.2 Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium von 1990 (CCEO)
1.3.3 Die Idee eines kirchlichen Grundgesetzes (Lex Ecclesiae Fundamentalis)
1.3.4 Die Fortschreibung der Codices
2 Das Gewissen als Zielgröße
2.1 Legitimierung, Limitierung und Normierung des Rechts – das göttliche Recht
2.1.1 Naturrecht und Offenbarungsrecht als göttliches Recht
2.1.2 Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht als menschliches bzw. kirchliches Recht
2.2 Nicht Gegensatz, sondern Wesenselement allen Rechts – die göttliche Liebe und Barmherzigkeit
2.2.1 Recht als notwendiger Schutz der Liebe und Barmherzigkeit
2.2.2 Kirchliche Strafen als äußerstes Schutzmittel und Appell an die Gesinnung
2.2.3 Die Liebe und Barmherzigkeit Gottes als Letztkriterium für das kirchliche Recht
2.3 KlägerIn, RichterIn, VollstreckerIn in einer Person – das System der Tatstrafe
2.3.1 Die Wirkweise der Tatstrafe
2.3.2 Die Einrichtung der Tatstrafe im Widerstreit
2.3.3 Die Einrichtung der Tatstrafe im CIC/1983
2.3.4 Vorbehalt der Sündenabsolution statt Tatstrafen im CCEO/1990
2.4 Rechtswidrig, aber dennoch gültig – die Nichtigkeitsfeindlichkeit kirchlicher Gesetze
2.4.1 Verschiedene Gesetzeskategorien
2.4.2 Die seelsorgliche Grundoption kirchlichen Rechts
3 Kirchenrechtlich denken und forschen
3.1 Recht als eine Dimension im Mysterium der Kirche seit dem Konzil
3.2 Rechtliches Denken in der Theologie und Theologisches Denken im Recht heute
3.2.1 Innere Einheit oder additive Verbindung von Theologie und Recht?
3.2.2 Communio- oder Hierarchie-Ekklesiologie als Grundlage?
3.2.3 Das Konzil als Interpretationsrahmen für den Codex oder umgekehrt?
3.3 Von der Gesetzesnorm zur theologisch rückgebundenen Rechtsanwendung
4 Mein Glaube und die Gesetze der Kirche
4.1 Religiöse Freiheit, personale Gottesbeziehung, Gemeinschaft der Kirche
4.2 Die Notwendigkeit rechtlicher Normen für die Gottesbeziehung
4.3 Rechtsnormen zur personalen Gottesbeziehung
4.4 Rechtliche Aspekte im personalen Glaubensvollzug
4.5 Keine Spiritualität ohne Recht und kein Recht ohne Spiritualität
5 Machtkontrolle und Beteiligung
5.1 Gewalteneinheit mit Gewaltenunterscheidung in der Kirche
5.1.1 Die Theorie der einen heiligen Gewalt
5.1.2 Zwei Konzepte der einen Gewaltenlehre
5.1.3 Der Ordinarius als Inhaber ordentlicher Vollmacht
5.1.4 Stellvertretung statt Gewaltenteilung
5.1.5 Fließende Grenzen in der Zuständigkeit der drei Funktionen
5.2 Grundrechte in der katholischen Kirche
5.2.1 Grundlagen
5.2.2 Bedeutung und Auswirkung
5.2.3 Probleme und Grenzen
5.2.4 Die Notwendigkeit, Grundrechte zu leben
6 Laien, Wiederheirat nach ziviler Scheidung, Eucharistiegemeinschaft
6.1 Von der klerikerzentrierten zur laienorientierten Umgestaltung der Kirchenstruktur
6.1.1 Die eigene Berufung und Sendung der Laien seit dem II. Vatikanischen Konzil
6.1.2 Notwendige Korrekturen im kirchlichen Gesetzbuch
6.1.3 Die laienorientierte Umgestaltung der Strukturen als Zukunftsfrage für die Kirche
6.2 Von der widersprüchlichen Regelung der Unauflöslichkeit der Ehe zur Zulassung einer Zweitehe nach Scheidung
6.2.1 Widersprüchlichkeiten bei der Unauflöslichkeit der Ehe in Lehre und Recht der katholischen Kirche
6.2.2 Kirchliche Eheauflösungsverfahren sind Zulassungsverfahren zu einer Zweitehe
6.2.3 Befreiung von den Rechtswirkungen der ersten Ehe als Zukunftsoption
6.3 Von dem Verbot mit Ausnahmen zur begründeten Zulassung der Eucharistiegemeinschaft mit evangelischen ChristInnen
6.3.1 Der theologisch-rechtliche Ausgangspunkt
6.3.2 Rechtliche Anknüpfungspunkte für eine Weiterentwicklung
6.3.3 Konkrete rechtliche Vorschläge der nächsten Schritte
7 Kirchenrecht als Schutzmantel der Freiheit
7.1 Die notwendige Grundkonzeption von Gesetz und Recht in der Kirche
7.1.1 Von der autoritativ gesetzten zur gemeinschaftlich verantworteten Rechtsordnung
7.1.2 Von der Gesetzesordnung in der Kirche zur theologisch verankerten Kirchenrechtsordnung
7.2 Die Verantwortung aller für eine Rechtsordnung der christlichen Freiheit für alle
7.3 Der mangelnde Rechtsschutz als Grundfehler im geltenden kirchlichen Gesetzbuch
7.4 Das Vertrauen auf das Wirken des Geistes gegen Recht und Gesetz als Machtinstrument
Epilog
Anmerkungen
Dank
Fußnoten
ZUM BUCH
1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit Codex Iuris Canonici. Hatte die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen? Welche Idee liegt dem zugrunde und welche Ziele verfolgt sie damit? Was soll überhaupt Recht und Gesetz in der Kirche? Die drei kirchlichen Gesetzbücher von 1917, 1983 und 1990 werden in Entstehung, Inhalt und Auswirkung dargestellt. Ihre Besonderheiten werden erläutert, wie z. B. die Existenz des göttlichen Rechts, die Ausrichtung auf Liebe und Barmherzigkeit und die Einrichtung der Tatstrafen. Ebenso werdenaktuelle Probleme aufgegriff en – wie Machtkontrolle und Beteiligung, Wiederheirat nach ziviler Scheidung und Rechtsschutz in der Kirche.
ZUR AUTORIN
Sabine Demel, geb. 1962, ist promovierte und habilitierte Th eologin und seit 1997 Professorin für Kirchenrecht an der Universität Regensburg. Sie ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, stellvertretende Vorsitzende des Vereins DONUM VITAE und Vizepräsidentin der „Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche“.
Sabine Demel
Das Recht fließe wie Wasser
Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?
Verlag Friedrich Pustet
Regensburg
IMPRESSUM
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-6113-8 (epub) © 2017 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Maria Seidl, Neuötting Umschlagbild: Thinkstockphoto/istock eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg
Diese Publikationen ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-2871-1
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Peter Krämer, meinem akademischen Lehrer und Begleiter, zu seinem 75. Geburtstag gewidmet in Dankbarkeit für seine Offenheit, Ausdauer und Geduld, in Respekt vor seiner Lebensfreude und seinem Humor trotz des Handicaps seiner Augen, in Erinnerung an viele schöne gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen in und außerhalb von Uni und Kirche
Was wäre ich ohne Peter Krämer? Sicherlich keine Kirchenrechtlerin! Denn seine Art, Kirchenrecht dezidiert als theologische Disziplin zu betreiben, hat mich neugierig auf das Fach gemacht und in den Bann gezogen. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich auch nicht in katholischer Theologie promoviert. Denn er war der erste akademische Lehrer, bei dem ich unbegrenzt und ungefiltert fragen konnte, ohne den Kommentar befürchten zu müssen, besser evangelisch werden zu sollen. Stattdessen: „Sie haben das Zeug zum Promovieren.“ Und erst recht hätte ich ohne Peter Krämer nicht habilitiert. Denn seine Offenheit für alle Argumente, auch wenn sie in Richtungen wiesen, die wissenschafts- und kirchenpolitisch problematisch waren, hat bei mir die Lust auf universitäres Forschen und Lehren als Beruf geweckt und lebendig gehalten – bis heute. Sein Standartfazit nach vielen Fachdiskussionen: „Ich finde keinen Haken in Ihrer Argumentation. Aber es ist nicht meine Auffassung und Sie werden bestimmt Schwierigkeiten bekommen. Doch Qualität setzt sich durch.“
In der Endphase meines Studiums durfte ich bereits bei Peter Krämer als studentische Hilfskraft arbeiten und habe im Anschluss daran nur zu gerne sein Angebot angenommen, zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann als wissenschaftliche Assistentin an seinem Lehrstuhl zu arbeiten sowie unter seiner akademischen Begleitung zu promovieren und zu habilitieren. Diese sieben Jahre der hauptberuflichen Tätigkeit bei Peter Krämer gehören zu den schönsten und unbeschwertesten Jahren meines Lebens; zwar anspruchsvoll in der Zuarbeit, aber flexibel in den Arbeitszeiten und stets interessiert an meiner fachlichen, beruflichen und persönlichen Entwicklung sowie stets aufgeschlossen für neue Erfahrungen auch außerhalb des Universitäts- und Kirchenbetriebs war Peter Krämer all die Jahre ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann.
Was wir vom Wasser lernen können1
Ein Weiser im alten China wurde von seinen Schülern gefragt: „Du stehst nun schon so lange an diesem Fluss und schaust ins Wasser. Was siehst du denn da?“ Der Weise schwieg. Er wandte seinen Blick nicht ab von dem unablässig strömenden Wasser. Schließlich sprach er:
„Das Wasser lehrt uns, wie wir leben sollen. Wohin es fließt, bringt es Leben und teilt sich aus an alle, die seiner bedürfen. Es ist gütig und freigiebig.
Die Unebenheiten des Geländes versteht es auszugleichen: Es ist gerecht.
Ohne seinen Lauf zu zögern, stürzt es sich über Steilwände in die Tiefe. Es ist mutig.
Seine Oberfläche ist glatt und ebenmäßig, aber es kann verborgene Tiefen bilden. Es ist weise.
Felsen, die ihm im Lauf entgegenstehen, umfließt es. Es ist verträglich.
Aber seine Kraft ist Tag und Nacht am Werk, das Hindernis zu beseitigen. Es ist ausdauernd.
Wie viele Windungen es auch auf sich nehmen muss, niemals verliert es die Richtung zu seinem ewigen Ziel, dem Meer, aus dem Auge. Es ist zielbewusst.
Und sooft es auch verunreinigt wird, bemüht es sich doch unablässig, wieder rein zu werden. Es hat die Kraft, sich immer wieder zu erneuern.“
1917 – die katholische Kirche erlässt zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit: Codex Iuris Canonici. Hat die katholische Kirche mitten im Ersten Weltkrieg keine anderen Sorgen gehabt, als ein Gesetzbuch zu erlassen? Schließlich ist sie doch all die Jahrhunderte vorher auch ohne ausgekommen! Und warum nennt sie dieses Gesetzbuch Codex? Welche Botschaft wird mit diesem Titel transportiert? Und warum musste dieser Codex nur 65 Jahre später schon wieder komplett überarbeitet und neu herausgegeben werden?
Ein eigenes kirchliches Gesetzbuch – die evangelische Kirche kennt so etwas nicht. Warum braucht dann die katholische Kirche eine solche rechtliche Extrawurst? Woher nimmt sich die katholische Kirche das Recht, ein eigenes kirchliches Gesetzbuch zu haben? Haben katholische ChristInnen ein anderes Verständnis von Recht und Gesetz? Was ist also so ein kirchliches Gesetzbuch? Ist es so etwas wie ein katholischer Knigge? Ein Katechismus in rechtlicher Sprache? Eine Vereinssatzung? Oder ein Gesetzbuch wie jedes andere auch? Steht es neben, über oder unter dem Gesetzbuch eines Staates? Wo bestehen Gemeinsamkeiten und wo Besonderheiten?
Gesetze in einer Glaubensgemeinschaft – viele sehen darin eine Verrechtlichung des Glaubens. Ist das so? Was steht im Codex überhaupt drin? Was regelt er alles? Und mit welcher Verbindlichkeit? Welchen Einfluss haben die Regelungen des Codex auf das kirchliche Leben der Gemeinschaft und welchen speziell auf mich, den normalen Katholiken und die normale Katholikin? Verbessert sich durch ihn meine Stellung in der Kirche oder ist das Gegenteil der Fall? Was passiert, wenn ich den Codex gar nicht kenne oder wenn ich ihn nicht beachte oder wenn ich ganz bewusst zuwiderhandle?
Der Codex Iuris Canonici von 1917 und die nachfolgenden Codices
„Dank der Zusammenarbeit aller … kann Euere Heiligkeit heute, während die Menschheit sich in einem Kriege zerfleischt, der seinesgleichen in der Geschichte nicht kennt, der Kirche ein Gesetzbuch geben, das sie von nun an zu beachten hat. Wieder ein glänzender Beweis für die geschichtlich erwiesene Tatsache: die Kirche, von der göttlichen Vorsehung mitten in die ruhelosen Kämpfe dieser Welt gestellt, setzt heiter und unberührt ihre Mission der Liebe und des Wohltuns fort und lässt sich in ihr nicht beirren durch alle irdischen Stürme. Euere Heiligkeit haben in der jüngsten Konsistorialansprache der Überzeugung Ausdruck gegeben, dass der neue Kodex das Studium und die Beobachtung der Kirchendisziplin und dadurch die Heiligung und das ewige Heil der Seelen fördern werde. Möge es Gott geben in seiner unendlichen Barmherzigkeit! Das ist der einzige Lohn, den wir mit dem apostolischen Segen für unsere Mühen wünschen.“2
Mit diesen Worten überreichte der Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri mitten im Ersten Weltkrieg am Festtag von Peter und Paul 1917 dem Papst ein kostbar gebundenes Exemplar des ersten Gesetzbuches der katholische Kirche mit dem Titel Codex Iuris Canonici.3
Auch oder gerade als Katholikin von heute ist man irritiert, wenn man sich diese geschichtliche Tatsache vergegenwärtigt: Vor 100 Jahren tobt der Erste Weltkrieg und die katholische Kirche stellt zeitgleich dazu ihr erstes Gesetzbuch fertig. Fast zwei Jahrtausende ist sie ohne ein Gesetzbuch ausgekommen, und dann muss sie gerade im Ersten Weltkrieg eines verfassen?! Nicht, dass sie den Krieg unterschätzt oder gar ausgeblendet hat! Nein, sie weiß sehr wohl um die Brutalität des Krieges. Denn bei der Übergabe des Gesetzbuches an den Papst dient der Krieg in der Rede des Kardinalstaatssekretärs als Kontrastfolie zum Kodifikationsgeschehen: In der Welt zerfleischt sich die Menschheit im Kriege, finden ruhelose Kämpfe statt, während in der Kirche heiter und unberührt die Mission der Liebe und des Wohltuns fortgesetzt, mit dem neuen Kodex die Kirchendisziplin und dadurch die Heiligung und das ewige Heil der Seelen gefördert wird. Was für eine hohe Erwartung an das erste kirchliche Gesetzbuch! War sie zu hoch? Im Nachhinein betrachtet: ja. Denn nur 65 Jahre später wird bereits eine grundlegend neu bearbeitete Fassung dieses Gesetzbuches in Kraft gesetzt und als Codex Iuris Canonici von 1983 in Abhebung zu dem von 1917 bezeichnet. Für ein Gesetzbuch ist das eine überraschend, fast erschreckend kurze Geltungszeit. Wie ist diese Diskrepanz zwischen dem Anspruch an das kirchliche Gesetzbuch von 1917 und der Realität seiner tatsächlichen Wirkung zu erklären? Um hierauf antworten zu können, ist die Idee und die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzeswerkes näher zu betrachten.
Das Urteil zeitgenössischer und nachgeborener Fachleute über den CIC/1917 ist einhellig. Er stellt rechtssystematisch „das seit Jahrhunderten größte Ereignis“ dar.4 Seine große Leistung liegt nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der formalen Ebene in der „Methode der neuzeitlichen Gesetzgebung“5, d. h. in der Anwendung der abstrakten Kodifikationsmethode des weltlichen Rechts auf das kirchliche Recht,6 so dass das gesamte damals geltende Kirchenrecht „in noch nie dagewesener Geschlossenheit und Vollständigkeit“7 vorgelegt wurde und damit erstmals auch in einer Form, die „sogar für den Nichtfachmann leicht zugänglich geworden ist und auch von ihm ohne Schwierigkeiten wieder übersehen werden kann.“8 Mit dem Kodex hat die katholische Kirche ihre Rechtsordnung auf eine neue Grundlage gestellt, indem sie erstens altes Recht, das außer Kraft getreten war, abgestoßen hat, zweitens Recht, das teilweise überholt war, umgestaltet und dadurch wieder lebensfähig gemacht hat sowie drittens alles Recht, das sich bisher bewährt hat, vollständig aufgenommen hat.9
Schon seit Langem war das kirchliche Recht in seinem Normenbestand unübersichtlich geworden, war von einem Durcheinander veralteter, längst außer Kraft getretener und neuer Gesetzesnormen geprägt und lebte mehr in den Kommentaren als in den Rechtsnormen.10 So war bereits 1864, also im Vorfeld des I. Vatikanischen Konzils, der Ruf nach einer Reform des kirchlichen Rechts aufgekommen und von den Konzilsvätern aufgegriffen worden. Von einem dschungelhaften Zustand des Rechts war dabei die Rede, vom Erdrücktwerden durch die Gesetze und davon, dass man mit der Fülle des überlieferten Rechtsstoffes mehrere Kamele beladen könne.11
Darüber, dass eine Reform dringend notwendig war, herrschte sehr schnell Einigkeit, nicht dagegen über die Art und Weise. Die einen forderten eine Überarbeitung der bestehenden Rechtssammlung des Corpus Iuris Canonici in seiner Ausgabe von 1580, andere wegen der Überalterung des Corpus Iuris Canonici die Schaffung einer ganz neuen Sammlung und eine dritte Gruppe schließlich eine moderne Kodifikation nach dem Vorbild der weltlichen Gesetzbücher, wie sie seit dem Code Napoleon von 1804 in Europa üblich geworden ist. Auch die Frage, ob das Konzil selbst diese Reform vornehmen sollte oder eine Kommission damit zu beauftragen ist, wurde diskutiert, konnte aber nicht mehr geklärt werden, da die Konzilsversammlung durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges im Oktober 1870 unterbrochen und auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, was sich im Nachhinein als ihr faktisches Ende erwies.
Doch die Idee war geboren und nahm ihren Lauf, der sich allerdings zu einem Langstreckenlauf entwickeln sollte. Als Sieger dieses Langstreckenlaufs zeichnete sich dabei sehr bald die weltliche Methode der Kodifikation ab. Denn zum einen wurde die Idee der Reform in der Wissenschaft weiter diskutiert, und zwar vor allem unter dem Aspekt eben dieser neuen Methode der Kodifikation. Ein deutlicher Ausdruck dafür ist die Tatsache, dass einige Kanonisten sogar eigene Kodifikationsentwürfe verfassten. Zum anderen erfolgten die neuen Einzelerlasse der Päpste im Stil des Kodifikationssystems, wie z. B. die Reform des kirchlichen Strafrechts durch Pius IX. oder der Bücherzensur, des Missionsrechts und des summarischen Prozessverfahrens durch Leo XIII.12 Die neue Methode der Kodifikation hatte damit in Wissenschaft und Gesetzgebung Einzug gehalten. Im Vergleich mit der bisherigen Art und Weise, Recht und Gesetz zu einem Rechtsbuch zusammenzuführen, liegt das Besondere und Neue der Kodifikation vor allem in zwei Aspekten: Die jeweils vollständig erfasste Rechtsmaterie wird erstens nicht mehr wie bisher mithilfe von konkreten Rechtsfällen dargestellt, sondern in eine abstrakte Sprache gefasst und dadurch inhaltlich verdichtet, sowie zweitens nicht mehr nur gesammelt und nach logischen Gesichtspunkten geordnet, sondern nach zweckorientierten Prinzipien gestaltet und so in ein einheitliches und widerspruchsfreies Rechtssystem gebracht. So werden zum einen aus konkreten Rechtsfällen abstrakte Gesetzesvorschriften, die nicht mehr unmittelbar anwendbares Recht sind, und zum anderen alle Einzelregelungen, die ursprünglich für sich stehen, in eine Gesamtordnung des Rechtsstoffes eingefügt und können dadurch eine neue Funktion und auch Bedeutung erhalten, selbst wenn sie inhaltlich unverändert aus der Tradition übernommen sind.13
Bis die Idee der vollständigen Gesetzesreform aber wieder aufgegriffen wurde, dauerte es allerdings über 30 Jahre. Zweifelsohne schreckte man vor der tief einschneidenden Aufgabe einer kompletten Neuordnung des kirchlichen Rechts zurück. Ein weiterer Aspekt war aber auch kirchenpolitischer Art. Das Papsttum wollte zunächst von der „gesteigerten und gesicherten Machtfülle“, die es auf dem I. Vatikanischen Konzil durch die beiden Dogmen über den Lehr- und Jurisdiktionsprimat erhalten hatte, „keinen unmittelbaren Gebrauch [machen]. Leo XIII. war vor allem darauf bedacht, die ehemalige Gegnerschaft, soweit sie in der Kirche verblieben war, entweder zu überzeugen oder doch durch ruhige Überlegenheit zum Schweigen zu bringen, auch die nicht katholische Welt nach Möglichkeit an die neue Lage zu gewöhnen und durch diplomatische Erfolge das Ansehen der Kirche und des päpstlichen Stuhles zu heben. Demgemäß beobachtete sein Pontifikat auch auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung die vorsichtigste Zurückhaltung.“14
Es war Papst Pius X., der es wagte, die historische Aufgabe der Neuordnung des gesamten kirchlichen Rechts in Angriff zu nehmen und dafür die Kodifikationsmethode zu nutzen. Noch im gleichen Jahr seiner Wahl teilte er 1904 der Weltöffentlichkeit seinen diesbezüglichen Entschluss mit. Das dazu von ihm erlassene Motu Proprio Arduum sane munus („ein wirklich beschwerliches Unternehmen“ [sc. die Neuordnung des kirchlichen Rechts]) wiederholt ganz bewusst die Formulierung der Konzilsväter auf dem I. Vaticanum.
Nur wenige Tage nach dieser Ankündigung erfolgte ein päpstliches Rundschreiben an die Metropoliten, also an die Vorsteher eines Verbundes von mehreren benachbarten Diözesen (= Kirchenprovinzen). Darin wurden sie aufgefordert, gemeinsam mit den Bischöfen ihrer Kirchenprovinz Vorschläge für die Reform des Kirchenrechts einzureichen. Da die dafür vorgesehene Frist von vier Monaten sehr knapp bemessen war, trafen allerdings nur wenige Eingaben in Rom ein.15 Dennoch ist dieses Vorgehen gerade aus heutiger Sicht bemerkenswert, weil es den Ortskirchen bzw. Diözesen eine Mitwirkungsmöglichkeit an der Reformarbeit des kirchlichen Rechts eröffnet hatte und somit als eine Vorwegnahme und erste Probe des synodalen Gedankens und der kollegialen Ausübung der kirchlichen Vollmacht gesehen werden kann, wie sie rund 60 Jahre später auf dem II. Vatikanischen Konzil thematisiert worden ist.16
Unverzüglich wurde eine Kommission von 16 Kardinälen eingesetzt, der der Papst selbst vorstand. Aus ihr wurde ein fünfköpfiger Unterausschuss gebildet, dem wiederum ein Kollegium sachkundiger Konsultoren (= Berater) beigeordnet wurde. Die Konsultoren waren teils römische Kurialbeamte, teils Ordensgeistliche, Professoren und andere Experten. Aus finanziellen Gründen wurden hierbei vor allem Personen ausgewählt, die in Rom tätig waren. In der Tatsache, dass jeder Bischof das Recht hatte, einen Konsultor zu bestellen, zeigt sich auch hier wieder der moderne Gedanke der Beteiligung und Synodalität.
Von diesem Kollegium wurde die eigentliche Kodifikationsarbeit des Arbeitsplans, der Stoffsichtung sowie der Neuformulierung der Gesetze geleistet, die dann den Kardinälen zur Beschlussfassung vorgelegt wurde. Zu diesem Zweck wurde es später in zwei Abteilungen gegliedert, von denen die eine Kardinal Pietro Gasparri leitete.
Inhaltliche Bezugspunkte der Kodifizierung waren das Corpus Iuris Canonici, das Konzil von Trient, die Akten der Päpste sowie die Dekrete der römischen Kurie und Gerichtshöfe. „Die im materiellen Sinn reformerische Arbeit hatte drei Schwerpunkte: 1. Die Ausscheidung des nicht mehr geltenden Rechtes; 2. Die Herbeiführung einer klaren Entscheidung in Streitfragen; 3. Die Begründung bei ratsamen oder notwendigen Änderungen des geltenden Rechtes bzw. bei Neueinführungen.“17
Während der Kodifikationsarbeiten machte auch Pius X. von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch. „Viele seiner Erlasse erscheinen als Vorarbeiten zum großen Kodifizierungsplan, suchen das bestehende Recht zu klären, zu vereinfachen und auf seine Durchführbarkeit zu erproben, bevor es für lange Zukunft unveränderlich dem neuen Gesetzbuch eingegliedert werden soll.“18 Zu nennen sind hier insbesondere seine Gesetzeserlasse über die tridentinische Eheschließungsform und die Nichtanwendung des kanonischen Rechtes auf nichtkatholische Ehen sowie die Neuorganisation der Römischen Kurie.19
Bei der Kodifikationsarbeit im Kollegium der Konsultoren entwickelte sich Pietro Gasparri immer mehr zum führenden Kopf und wurde schließlich „die Seele der ganzen Kodifikation.“20
Bis heute ist nicht geklärt, ob der Papst selbst die Idee hatte, das Vorhaben der kirchenrechtlichen Neuordnung wieder aufzunehmen, oder ob Gasparri den Papst von dieser Idee und von der Umsetzung dieser Idee mithilfe der Kodifikationsmethode überzeugte. Dass gerade 1904 die Entscheidung für die Kodifikation des kirchlichen Rechts getroffen wurde, wird zweifelsohne von dem 100-jährigen Jubiläum des Code Napoleon mitbeeinflusst worden sein, zumal Gasparri, Kanonist und Verfasser zahlreicher kanonistischer Werke, zwanzig Jahre lang gleichsam im Gebiet des Code civil am berühmten Institut Catholique in Paris gelehrt hat.21 Denn zu seiner Hundertjahrfeier wurde der Code civil in einer großen zweibändigen Festschrift als „Standardwerk zur Geschichte, Dogmatik und Weltgeltung der französischen Privatrechtskodifikation“22 gepriesen und somit das gewaltige Ansehen, das der Code civil weit über Frankreich hinaus genoss, eindrucksvoll belegt. Dieses einzige Loblied auf den Code civil wird Gasparri vermutlich dazu bewogen haben, sich dieses bewährte Gesetzeswerk zum Vorbild für die kirchliche Kodifikation zu nehmen. Das beinhaltet wohl auch den Gedanken, ein unwandelbares Weltrecht zu schaffen. Wie Napoleon im Zeichen des neuen Absolutismus überzeugt war, mit dem Code civil ein Gesetzbuch zu schaffen, das so vernünftig ist, dass es für alle Völker und alle Zeiten unabänderlich gelten wird, so wollte auch Gasparri auf der Grundlage eines göttlichen Rechts und eines ewigen Gesetzes ein für alle gleichermaßen geltendes und unabänderliches Kirchenrecht schaffen.23 Für diese Annahme sprechen auch weitere Parallelen zum Code civil wie z. B. dessen Erlass mit Alleingeltungsanspruch und der Einrichtung einer am französischen Hof angesiedelten Behörde, die allein befugt war, aufkommende Rechtsfragen zu klären, und so diesen Alleingeltungsanspruch sicherstellen sollte. Ähnlich wurde auch das kirchliche Gesetzbuch 1917 mit dem Anspruch in Kraft gesetzt, fortan „wahre und einzige Quelle“ des kirchlichen Rechts zu sein, mit einem Übersetzungsverbot versehen und mit der Einrichtung einer an der römischen Kurie angesiedelten Behörde zur Klärung von Rechtsfragen flankiert.
Die Kodifikationsarbeiten erfolgten unter strikter Geheimhaltung; alle Bearbeiter wurden auf das päpstliche Amtsgeheimnis verpflichtet und so eine öffentliche Diskussion der Gesetzgebungsreform unterbunden. Jeder Entwurf, den das Kollegium erarbeitet hatte, wurde an die Kardinalskommission weitergegeben, die ihrerseits den Entwurf annehmen, abändern oder zur weiteren Bearbeitung zurückgeben konnte. Manche Canones wurden mehr als zwölf Mal überarbeitet.24 Von 1912 bis 1914 wurden die bis dahin erarbeiteten Entwürfe zur Stellungnahme an Bischöfe und Ordensprälaten in der ganzen Kirche versandt. Die Bearbeitung der eingegangenen Stellungnahmen konnte allerding nicht so erfolgen, wie ursprünglich vorgesehen. Denn im Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, so dass an Stelle der Konsultoren und Fachvertreter eine kleine Kardinalsgruppe unter dem Vorsitz von Gasparri die Revisionsarbeit vornahm. „Es gibt Stimmen, die behaupten, dass dies dem Kardinal Gasparri nicht ungelegen gekommen war, da er nunmehr in kleinem Kreise und unter seinem gewichtigen persönlichen Einfluss die Schlussredaktion durchführen konnte.“25 Andere Stimmen weisen demgegenüber darauf hin, dass der Codex bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges schon weitgehend vollendet war.26
Als Papst Pius X. im August 1914 starb, war zunächst unklar, ob der nächste Papst das Unternehmen der Gesamtkodifikation weiterführen wird. Doch Papst Benedikt XV. ließ keinen Zweifel aufkommen, das Werk zu vollenden. So konnte schließlich 1916 der endgültige Text zur letzten Stellungnahme den Kardinälen vorgelegt werden. „Auch hier gibt es Meinungen, die behaupten, dass von diesem Zeitpunkt an von einer Revision nicht mehr die Rede sein konnte, weil der Text schon für die Promulgationsausgabe in Druck gegangen war.“27 Andere verweisen darauf, dass die Veröffentlichung des Codex mit Rücksicht auf den Krieg aufgeschoben worden war und der Papst bereits 1916 dem Kardinalskollegium offiziell mitgeteilt hatte, dass das Werk vollendet sei.28
Jedenfalls wurde schließlich am Pfingstsonntag 1917 – es tobte immer noch der Erste Weltkrieg – der Codex Iuris Canonici feierlich promulgiert und für Mai 1918 in Kraft gesetzt. Für manche war dieser Zeitpunkt der Publikation, „die Höhe des ersten Weltkrieges, sichtlich günstig gewählt. Insbesondere staatlicherseits begegneten keine Widerstände.“29 Seit der letzten großen Erstellung einer Rechtssammlung, den sog. Clementinen von 1317, die auf Geheiß des Papstes Clemens V. erfolgt war, waren sechshundert Jahre vergangen.30 Der Titel „Codex Iuris Canonici“ kann als Reminiszenz sowohl an den „Codex“ des oströmischen Kaisers Justinian als auch an den Code Napoleon verstanden werden.31 Die von Zeitgenossen vorgenommene Charakterisierung des Codex Iuris Canonici von 1917 als „vatikanisches Kirchenrecht“32 wird auch heute noch als zutreffend beurteilt. Denn „nicht nur die Kodifikationsidee als solche hat ihre entscheidenden Anstöße den Arbeiten für das I. Vatikanische Konzil zu verdanken, eine Idee, die auch dann zu dem erstarkten Papsttum passt, wenn man die Dogmatisierung des Jurisdiktionsprimates nicht als Spätfrucht des Absolutismus, sondern im religiös-kirchlichen Sinne versteht. Aber auch in sachlicher Hinsicht gehen viele Anregungen unterschiedlichen Ranges direkt oder indirekt auf die Konzilsarbeiten zurück.“33 So ist der CIC/1917 zweifelsohne ein Produkt „der europäischen Kodifikationsära“34 ebenso wie er ein Produkt der päpstlichen Gesetzgebungsvollmacht ist. Wenn man es zugespitzt formulieren will, hat das Papsttum – durch das Dogma der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimats auf dem I. Vatikanischen Konzil in bisher noch nie dagewesener Weise gestärkt und mit Machtfülle ausgestattet – mit dem Codex Iuris Canonici von 1917 „auf dem Gebiete des Rechtes ganze Arbeit gemacht und der Kirche ein zusammenfassendes, die innerkirchlichen Verhältnisse erschöpfend und einheitlich regelndes Gesetzbuch … geschenkt, wie sie es in ihrem bald zweitausendjährigen Bestande bisher nicht besaß.“35 Dennoch darf dabei nicht übersehen werden: „Die Geschichte seiner Erarbeitung zeigt aber, dass hierzu eine weltweite Mitarbeit in Gang gesetzt worden ist.“36
Als Zitation des kirchlichen Gesetzbuches von 1917 hat sich „CIC/1917“ eingebürgert zusammen mit der Abkürzung „c.“ bzw. „can.“ für canon als der Bezeichnung der kirchlichen Gesetzesbestimmung, also z. B.: c. 11 CIC/1917.
Die Grundlage für eine eigene Rechtsordnung der katholischen Kirche bildet der Glaube an den Bundesschluss Gottes mit seinem Volk, dessen Inhalt und Wirkung in der Thora zusammengefasst ist.
Gott wendet sich dem Volk Israel zu, er erwählt es aus freien Stücken zu „seinem“ Volk. „Sein“ Volk kann Israel aber nur sein, wenn es diese Auserwählung annimmt und sich ebenso freiwillig an Gott bindet, also Jahwe zugleich „sein“ Gott ist. Sein Volk und sein Gott ist die Umschreibung für diese wechselseitige Zugehörigkeit, Bindung und Treue. Von Seiten des Menschen kommen diese Zugehörigkeit, Bindung und Treue an Gott in der Bindung an seinen Willen zum Ausdruck. Und was der Wille Gottes ist, ist in der Thora zum Ausdruck gebracht. Die Gesetzesvorschriften der Thora dienen der Orientierung des Menschen auf Gott hin. „Das zeigt sich auch darin, dass die Vorschriften einerseits Erinnerungscharakter haben hinsichtlich der einstigen Befreiung aus Ägypten und anderseits Verheißungscharakter hinsichtlich einer noch ausstehenden endgültigen Erlösung. Es war der Kampf der Propheten, in dieser Ausrichtung des Gesetzes auf die kommende Erlösung seinen wahren Sinn aufzuzeigen, und es war das Missverständnis der Priester und Schriftgelehrten, das Gesetz durch eine ausgebaute Kasuistik zum Instrument einer selbstgewirkten Gerechtigkeit, einer selbst gemachten Erlösung machen zu wollen.“37 Das Befolgen der Thora und ihrer einzelnen Vorschriften ist also nicht so etwas wie die Vertragsverpflichtung für den Bund bzw. die Einhaltung von Mindestbedingungen für den Bund, sondern Ausdruck der freiwilligen Bindung an Gott, der Treue zu Gott, der Zugehörigkeit zu Gott. Entscheidend ist nicht die äußere Erfüllung eines Gesetzes, sondern die innere Bindung an Gott, die in der Erfüllung des Gesetzes zum Ausdruck kommt.
Das ist auch die Kernbotschaft Jesu Christi, der gekommen ist, nicht um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu „erfüllen“. Nicht äußere Werkgerechtigkeit, nicht Buchstabentreue ist Erfüllung des Gesetzes, sondern „das innere Durchdrungensein vom Geist dieser Vorschriften, für das Gottgewollte und die wahre Seligkeit.“38 Und weil Christi Leben von Anfang bis Ende ein einziger Ausdruck dieses Durchdrungenseins vom Geist ist, ist sein Leben, ist er selbst die Erfüllung des Gesetzes. Denn mit ihm bzw. durch ihn erfüllt sich die Verheißung der Thora von einem Gnadenbund Gottes mit der ganzen Menschheit. Seitdem gilt: Christus ist das Heil, durch Christus wird der Mensch gerettet, die Gnade Christi macht den Menschen vor Gott gerecht. Das zu betonen, wird Paulus in den ersten Gemeinden der ChristInnen nicht müde. Offensichtlich war auch damals die Vorstellung verbreitet, wie sie schon bei den Gesetzeslehrern des Alten Testaments herrschte. Gegen sie ist die Gesetzespolemik in den paulinischen Schriften gerichtet. Sie zielt nicht auf eine Abschaffung des Gesetzes, sondern auf dessen „heilsame“ Relativierung. Nicht die noch so treue Erfüllung der Gesetzesvorschriften macht den Menschen vor Gott gerecht (vgl. Gal 2,16); sie macht ihn höchstens selbstgerecht, dann nämlich, wenn sie nicht Ausdruck seiner Beziehung zu Gott ist. Den Menschen vor Gott gerecht zu machen, das vermag einzig und allein die Gnade Jesu Christi.39
Dieser biblische Grundgedanke vom Befolgen des Gesetzes (in der Kirche) als Ausdruck, nicht als Ursache der Gottesbeziehung einerseits und von der immer wieder neu drohenden Gefahr seiner Fehlinterpretation andererseits durchzieht bis heute die Geschichte des Rechts in der Kirche. Er ist stets bei allen Stationen der Rechtsentwicklung in der Kirche mit im Blick zu behalten – von der Sammlung über die Bearbeitung bis hin zur Systematisierung der Gesetze.
Betrachtet man das Kirchliche Gesetzbuch von 1917 wie jedes andere Gesetzbuch unter dem Aspekt, wie es sich in die bisherige Rechtsgeschichte der katholischen Kirche einfügt, so stellt es eine neue Phase dar, mit Rechtsvorschriften in der Kirche umzugehen. Schlaglichtartig skizziert kann die kirchliche Rechtsgeschichte in drei große Epochen eingeteilt werden: private und chronologisch angelegte Rechtssammlungen bis zum 12. Jahrhundert – den Rechtsstoff systematisierende Sammlungen teils privater, teils amtlicher Natur bis zum 19. Jahrhundert – die Kodifizierung des Rechts seit dem 20. Jahrhundert.
Ausgehend vom Neuen Testament bis zum 12. Jahrhundert waren kirchliche Erlasse und Gesetze nur in privat angelegten Sammlungen verfügbar. Amtliche Sammlungen existierten nicht.
Die Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit in den Aussagen dieser privaten Sammlungen führte dazu, dass allmählich Interpretationsregeln entwickelt wurden, nach welchen Kriterien eine Sammlung bzw. eine Vorschrift als echt bzw. als Fälschung zu bewerten ist, als höher- oder niederrangiger vor einer anderen Vorschrift. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Decretum Gratiani von 1140 dar, das einem Mönch namens Gratian zugeschrieben wird. Die Art und Weise, wie der Verfasser dieser Rechtssammlung die widersprüchlichen Vorschriften in eine Logik und damit in Einklang miteinander gebracht hat, hat ihm den Titel „Vater des Kirchenrechts“ eingebracht.
Seine Methode wurde maßgeblich für die weiteren Sammlungen der päpstlichen Erlasse und Gesetze in den folgenden Jahrhunderten, die auch namentlich den Anschluss an das Decretum Gratiani signalisieren und als Dekretalen in die Rechtsgeschichte eingehen. Während allerdings das Decretum Gratiani noch eine rein private Initiative war, wurden die Sammlungen im Anschluss daran erstmals in der Geschichte der katholischen Kirche auf päpstliches Geheiß hin erstellt. Den Startschuss dazu hatte 1234 Papst Gregor IX. gegeben. Die so entstandenen Dekretalen Gregors IX., später als Liber extra (= Buch außerhalb) betitelt, weil sie die Dekretalen außerhalb des Decretums waren, sind somit das „erste offizielle von einem Papst für die gesamte Kirche erlassene Rechtsbuch.“40