Das Reich der Macht - Tom Clancy - E-Book
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Das Reich der Macht E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Keine halben Sachen

In China ist eine neue Regierung an der Macht – zunächst scheint ihr globaler Einfluss schwach. Jack Ryan junior und John Clark können sich einen Vorsprung im Kampf gegen chinesische Triaden erkämpfen. Doch der Schein trügt: Schon bald gibt es zahlreiche militärische Bewegungen der Volksrepublik, die die USA in eine heikle Lage bringen. Präsident Jack Ryan senior muss schnell handeln, bevor der anstehende G-20-Gipfel zum Desaster wird.

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DASBUCH

Präsident Jack Ryan senior bereitet sich auf den anstehenden G-20-Gipfel vor. Die internationale Staatengemeinschaft scheint auf einem guten Weg zu sein. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Kurz vor der entscheidenden Konferenz häufen sich Vorkommnisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, die USA aber zum Eingreifen zwingen: Vor der US-Westküste fliegt ein chinesischer Containerfrachter in die Luft, eine Bohrinsel im Tschad wird von Boko Haram angegriffen, Piraten attackieren eine Privatjacht vor Indonesien, in Argentinien kommt es zu einem Bombenattentat auf eine Ministerkonferenz, und ein manövrierunfähiges, als Forschungsschiff getarntes US-Aufklärungsboot droht vor der chinesischen Küste zu sinken. Alle Spuren dieser mysteriösen Vorfälle führen zur Volksrepublik China, wo seit Kurzem eine neue Regierung an der Macht ist. Während der Präsident versucht, das Scheitern des G-20-Gipfels abzuwenden, müssen auch Jack Ryan junior und der Campus in einem Wettlauf gegen die Zeit alles daransetzen, eine Eskalation zu verhindern.

DIEAUTOREN

Tom Clancy, der Meister des Technothrillers, stand seit seinem Erstling Jagd auf Roter Oktober mit all seinen Romanen an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Er starb im Oktober 2013.

Marc Cameron ist erfolgreicher amerikanischer Romanautor und Experte für Personenschutz und Selbstverteidigung. Er stand 29 Jahre im Polizeidienst und war im United States Marshals Service auf den Schutz von Würdenträgern spezialisiert.

TOM

CLANCY

UND

MARC CAMERON

DAS REICH DER

MACHT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Karlheinz Dürr

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Power and Empire

bei G.P. Putnam´s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Werner Wahls

Copyright © 2017 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.;

Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.;

Jack Ryan Limited Partnership

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung © Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock.com

(Lukas Rs, BestPix, NiglayNik, esfera)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26793-3V001

www.heyne.de

Hauptpersonen

Regierung der Vereinigten Staaten

JOHNPATRICK »JACK« RYAN: Präsident der Vereinigten Staaten

SCOTTADLER: Außenminister

MARYPATRICIA »MARYPAT« FOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste (DNI)

ROBERTBURGESS: Verteidigungsminister

JAYCANFIELD: Direktor der Central Intelligence Agency (CIA)

ARNOLD »ARNIE« VANDAMM: Stabschef des Präsidenten

GARYMONTGOMERY: Leitender Spezialagent im Personenschutz des Präsidenten, U.S. Secret Service

Der Campus/Hendley Associates

GERRYHENDLEY: Direktor von Hendley Associates und Campus

JOHNCLARK: Operationsleiter

DOMINGO »DING« CHAVEZ: Leitender Außenagent

JACKRYANJR.: Außenagent

DOMINIC »DOM«CARUSO: Außenagent

ADARASHERMAN: Außenagentin

BARTOSZ »MIDAS« JANKOWSKI: Außenagent

GAVINBIERY: Leiter der Abteilung für Informationstechnologie

LISANNEROBERTSON: Logistik- und Transportleiterin

MONZAKIYUKIKO: Außenagentin eines japanischen Nachrichtendienstes

US-Küstenwache Air STATION PORT Angeles

ANDREWSLAZNIK: Lieutenant Commander, Pilot des Helikopters MH-65 Dolphin

LANCEKITCHEN: Petty Officer 2nd Class, Rettungsschwimmer des Dolphin-Helikopters

Patrouillenschiff USS Rogue (Cyclone-Class)

JIMMYAKANA: Lieutenant Commander, Kapitän

RAYMONDCOOPER: Petty Officer 2nd Class, Operateur/Drohnenpilot der RQ-20 Puma

Crew des Festrumpfschlauchboots der USS Rogue

STEVENGITLIN: Lieutenant Junior Grade

BILLKNIGHT: Chief Petty Officer

BOBBYROSE: Chief Petty Officer

PEAVY: Petty Officer

STEPHENRIDGEWAY: Petty Officer

USS Meriwether

DAVEHOLLOWAY: Kapitän

Volksrepublik China

ZHAOCHENGZHI, auch ZHAOZHŬXÍ: Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und »Überragender Führer«

HUANGJU: Oberst, Zentrales Sicherheitsbüro, Personenschützer des Generalsekretärs

LIZHENGSHENG: Außenminister

XUJINLONG: Generalleutnant, Volksbefreiungsarmee, Direktor des Zentralen Sicherheitsbüros

MAXIANNIAN: General, Volksbefreiungsarmee

LONGYUN: Oberst, Zentrales Sicherheitsbüro, Außenminister Lis Personenschützer

Texas

EDDIEFENG: Taiwanesischer Journalist

MAGDALENAROJAS: 13-jähriges Opfer des Mädchenhandels

BLANCALIMÓN: 13-jähriges Opfer des Mädchenhandels

ERNIEPACHECO, alias MATARIFE (Der Schlächter), Menschenhändler

LUPE: »Oberhure«, arbeitet für Matarife

EMILIOZAMBRANO: Oberster Kartellboss

ROYCALDERON: Polizist, Amt für Öffentliche Sicherheit, Texas

KELSEYCALLAHAN: Spezialagentin des FBI, Leiterin der Spezialeinheit für Verbrechen gegen Kinder (CAC), Dallas

JOHNOLSON: Spezialagent des FBI, Spezialeinheit CAC

Die Stadt ist gut befestigt, deren Mauern Krieger sind statt Steine.

Nach Lykurg

Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, dass ich sie zu verlängern suche.

Ich werde meine Zeit gebrauchen.

Jack London

Prolog

Ein Dutzend Männer mit orangefarbenen Overalls und weißen Schutzhelmen wuselte wie Ameisen über die Decks der CGSLOrion, des 396 Meter langen Flaggschiffs der China Global Shipping Lines. Schwere Metallcontainer prallten mit dumpfem Dröhnen gegeneinander und stimmten wie mit tiefen, mächtigen Paukenschlägen in das Konzert schrill kreischender Getriebe und jaulender Kabeltrommeln ein. Gigantische, orangefarbene Containerkräne ragten 50 Meter über den Decks empor. Ihre Ausleger senkten und hoben sich, unablässig schwangen sie herum und luden die schwere Fracht vom Schiff auf das Dock – weiße, grüne, blaue, rote Standardcontainer, alle rund sechs Meter lang, auch kurz TEUs genannt, die international gebräuchliche Abkürzung für Twenty-foot Equivalent Unit.

Gao Tian, der Boss der Ameisen, stand auf dem Betondock und beobachtete aufmerksam das Löschen der Schiffsladung. Der Containerhafen von Dalian gehörte zu den wichtigsten Container-Umschlaghäfen Chinas. Neben den auf dem Dock turmhoch aufgestapelten Containern sah der Mann winzig aus. Herrisch winkte er mit seinem guten Arm und redete hastig in das Funkgerät, das an einem Halsband auf seiner Brust hing. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das nicht so recht zu der hektischen Betriebsamkeit passen wollte, die ringsum herrschte. Keiner der Hafenarbeiter nahm sich die Zeit, auf sein wildes Armschwenken zu achten, wohl aber achteten sie sehr genau auf die Befehle, die er ihnen über Funk durchgab. Tians Job war es, das Löschen der Containerladung zu koordinieren und für einen reibungslosen, schnellen und vor allem sicheren Ablauf zu sorgen, denn von all den Männern, die auf den Docks arbeiteten, kannte wohl kaum einer die Gefahren dieser Arbeit besser als er.

Auf der Welt gab es derzeit rund 530 Millionen Container, die zu 98 Prozent in China gefertigt wurden. Pro Jahr befanden sich ungefähr 17 Millionen Container in Bewegung, größtenteils auf See, zu einem kleinen Prozentsatz auch auf Tiefladern und Güterzügen. Nach aktuellen Schätzungen machte das rund 200 Millionen Transporte jährlich. Durch den Hafen von Dalian liefen derzeit rund zehn Millionen TEUs pro Jahr, auf Containerschiffen wie der Orion.

Der Job eines Hafenarbeiters war ausgesprochen stressig, aber Gao Tian fiel es schwer, sich zu konzentrieren, was mit dem schweren Schicksalsschlag zu tun hatte, den er vor Kurzem erlitten hatte.

Gao war 41 Jahre alt, mit bereits schütter gewordenem schwarzem Haar und einem runden Gesicht, auf dem fast automatisch immer ein Lächeln lag – ein Kollege hatte mal gewitzelt, Gao sähe immer so aus, als hätte er gerade voller Genuss in den Swimmingpool gepisst. Er war kein großer Mann und war auch nicht sonderlich stark. Tatsächlich hatte er sogar eine Menge Gründe, unglücklich zu sein. Vor drei Jahren war ihm die rechte Hand zerquetscht worden. Ein Spannschloss war gebrochen, und der Gurt hatte sich gelockert. Der TEU war nur ein paar Zentimeter verrutscht – aber diese wenigen Zentimeter hatten gereicht. Drei Finger seiner rechten Hand waren dem Schiff geopfert worden, Knochen und Fleisch waren zwischen dem stählernen Schott und der 24 Tonnen schweren Metallbox so fein zermalmt worden, dass das Ergebnis als Himbeergelee hätte durchgehen können.

Gao waren nur noch der Daumen und ein Finger geblieben, die ihm jedoch nicht viel nützten. Immerhin konnte er damit die Antenne des Funkgeräts herausziehen und auf die Sendetaste drücken. So konnte er den Kranführern und dem Dutzend Dockern in ihren signalfarbenen Overalls Anweisungen erteilen und dafür sorgen, dass die TEU-Stapel korrekt und effizient entladen wurden. Obwohl er jetzt Chefkoordinator war, verdiente Gao weniger als zuvor, aber angesichts seiner nutzlos gewordenen rechten Hand konnte er sich glücklich schätzen, dass ihm der Dockmanager den Job überhaupt gegeben hatte. Außerdem war es doch nur gerecht, dass die Männer, die die härteste und gefährlichste Arbeit verrichteten, ein paar Yuan mehr am Tag verdienten als einer, der nur auf dem Dock herumstand und Befehle in sein Funkgerät bellte.

Andere Männer der Crew mochten vielleicht eines Tages aufsteigen und echte Aufseher mit eigenen Büros und so werden, aber für Gao kam das nicht infrage. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie weiter als 100 Kilometer von seinem Geburtshaus in Dalian entfernt, und das auch nur, um seine Schwiegermutter zu besuchen, die auf einem winzigen Genossenschaftsgrundstück nördlich der Stadt lebte.

Gao hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden und war eigentlich mit seinem Leben recht zufrieden gewesen – bis der Mann mit dem roten Auge bei ihm auftauchte. Das war vor drei Wochen gewesen, und der Mann hatte ihm eine recht beachtliche Geldsumme angeboten, wenn er dafür sorgte, dass ein bestimmter Container auf eine genau bestimmte Stelle und Position auf einem bestimmten Schiff geladen wurde. Zu Gaos Verblüffung passierte danach genau dasselbe noch zweimal, und jedes Mal hatte ihm Rotauge zusammen mit den Anweisungen einen Umschlag mit Geld ausgehändigt. Gao hatte sich die Nummern der jeweiligen Container einprägen und sie mehrfach wiederholen müssen, denn der Mann hatte ihm nicht erlaubt, die Nummern zu notieren.

Für heute hatte Rotauge verlangt, dass gleich zwei TEUs – PBCU-112128-1 und PBCU-112128-2 – an eine bestimmte Stelle geladen wurden, und zwar weit hinten in den Containerstapeln und nahe an der Längsachse des Schiffs.

Mit einer Länge von fast 400 Metern und 16 Metern maximalem Tiefgang galt die CGSLOrion als Ultra Large Container Vessel, kurz ULCV. Der Tiefgang reichte aus, um 18 TEUs vom Laderaum bis hoch über das Deck zu stapeln. Bei einer Breite von 53 Metern konnten bis zu 23 Container nebeneinander platziert werden. Ein TEU sah aus wie der andere, sodass die kreideblaue Metallkiste mit dem an jeder Ecke aufgemalten weißen X unter den anderen 16 000 TEUs an Bord schon bald nicht mehr auffallen würde, die darüber, daneben und darunter aufgestapelt waren, zumal auch die anderen Container ähnlich verblichene Farben hatten. Es war nicht schwer, sich PBCU-112128-1 und PBCU-112128-2 zu merken, und das war auch gut so, denn Gao dachte bereits intensiv darüber nach, was er mit dem Nebenverdienst anfangen sollte, den ihm Rotauge in einem Umschlag übergeben hatte. 900 Yuan, was ungefähr 130 US-Dollar entsprach, und zwar jedes Mal, wenn er dafür sorgte, dass ein Container an eine bestimmte Stelle auf dem Schiff geladen wurde, auf das er ohnehin verladen werden musste. Ein ganz netter Zusatzverdienst für einen, der 7000 Yuan im Monat verdiente.

Gao vermutete, dass sein Wohltäter für eine Triade arbeitete, eine der nach ihrem Dreiecksymbol benannten kriminellen Organisationen, die oft auch als »China-Mafia« bezeichnet wurden. Wahrscheinlich wollte Rotauge nur, dass seine Container mit ihrer Ladung Drogen oder sonstigem illegalem Zeug tief zwischen Tausenden anderer Container gestapelt wurden, wo die Wahrscheinlichkeit, von den Zollbehörden durchsucht zu werden, deutlich geringer war. Gao war ein moralischer Mensch und gegen den Handel mit Drogen, aber 900 Yuan waren nun mal 900 Yuan, und um sein Gewissen zu beruhigen, redete er sich ein, dass er schließlich nicht wissen könne, was sich in den Containern befand. Der Mann mit dem roten Auge hatte ihm versichert, er wolle nur erreichen, dass seine Container am Zielort möglichst schnell entladen werden konnten. Gao fand die Begründung zwar nicht sehr überzeugend, aber er steckte das Geld ein, auch wenn sein Gewissen dabei so trübe war wie das Auge seines Auftraggebers. Um sich von seinen Schuldgefühlen ein wenig abzulenken, malte er sich aus, was er mit der neuesten Schmiergeldzahlung anfangen sollte.

Gao hielt sich in sicherem Abstand von den lose über den Asphalt liegenden Kabeln und den herumschwingenden TEUs, während er die Anweisungen des Mannes genauestens befolgte. Ohne Probleme hatte er PBCU-112128-1 und PBCU-112128-2 in den Containerstapeln lokalisiert. Mit dem Handscanner, der um seinen Hals hing, scannte er die Barcodes der beiden Container. Dann koordinierte er ihre Verladung mit genauen Anweisungen für den Führer des zweiten Brückenkrans und die Docker, die auf dem Achterdeck der Orion hinter den mächtigen Schornsteinen und der Brücke arbeiteten, um die beiden kreideblauen TEUs an den richtigen Platz zu dirigieren. Von dem Moment, in dem Gao mit seinem verbliebenen Finger auf die Sprechtaste seines Funkgeräts drückte, bis zu dem Augenblick, als die Verschlussnocken an den Ecken der Container einrasteten, hatte der ganze Prozess knapp sechs Minuten gedauert. Dann waren die beiden Container sicher miteinander und mit ihren Nachbarn verkoppelt, sieben Container von unten, zehn Reihen achtern des hoch aufragenden weißen Brückenaufbaus und elf Reihen von der Steuerbord-Reling entfernt.

Gao hatte seinen Spezialauftrag erfüllt, drückte erneut auf die Sprechtaste des Funkgeräts und machte mit seinen regulären Anweisungen für das Beladen der Orion an die Kranführer und Hafenarbeiter weiter, die natürlich nichts von Gaos Deal mit Rotauge ahnten. Der Herr der Ameisen war jetzt um 900 Yuan reicher und grinste vor sich hin, als er an die Schweine dachte, die er damit für seine Schwiegermutter kaufen konnte. Er mochte seine Schwiegermutter. Sie war eine gute, sanfte Frau und hatte sich die neuen Schweine wirklich redlich verdient.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, beugte sich Generalleutnant Xu Jinlong vom Zentralen Sicherheitsbüro näher zur Kamera, die auf einem Dreibeinstativ vor ihm stand. Angestrengt spähte er durch das Objektiv über die Dächer des Wohnbezirks Chunhe und der Fabriken und Lagerhäuser hinweg, die sich am Hafen von Dalian entlangzogen. Xu war Soldat bis ins Mark, mit den kräftigen Schultern, großen Händen und muskulösen Armen eines Mannes, der mehr Zeit im Feld als am Schreibtisch verbrachte. Zwei weitere Männer standen neben ihm. Der eine hatte sich dicht neben ihn gestellt; er wirkte locker und entspannt und schien jederzeit bereit, Befehle entgegenzunehmen oder dem General beratend beizuspringen. Der andere war fast noch ein Jugendlicher; er trug eine schwarze Sonnenbrille und hatte einen Schritt schräg hinter dem General Stellung bezogen. Die Hände hielt er vor sich gefaltet, den Kopf leicht gesenkt, als wartete er darauf, vom General näher heranbeordert zu werden.

Alle drei Männer standen im Schatten einer kleinen Gruppe von Walnussbäumen am kiesbestreuten Seitenstreifen der Zhongnan Road, die durch den Haizhiyun-Park und entlang der Laohutan Scenic Area verlief. Die lockeren Baumgruppen waren reich an geschützten Vogel- und Pflanzenarten, weshalb die übrigen Passanten kaum auf das starke 800-mm-Teleobjektiv achteten, mit dem die digitale Spiegelreflexkamera bestückt war. Die Kamera selbst diente nur dazu, den Blick durch das Teleobjektiv zu ermöglichen und es glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Das Letzte, was der General wollte, war, irgendeine seiner Aktivitäten digital festhalten zu lassen. Schließlich war er nicht hierher gereist, um die Schönheit der Landschaft oder die wunderbar geschnitzten Wurzelholzskulpturen von Laohutan fotografisch einzufangen. Sein Interesse richtete sich im Moment auf etwas, das weiter nördlich lag, weit jenseits des Hügels, auf dem er stand: das geschäftige Gewimmel, das auf den Docks von Dalian herrschte.

Das Zentrale Sicherheitsbüro, kurz ZSB, hatte den Auftrag, die politische Führung der Volksrepublik China zu beschützen. Damit glichen die Aufgaben des Zentralen Sicherheitsbüros der Kommunistischen Partei Chinas ungefähr denen des U.S. Secret Service. Im Vergleich zu den Amerikanern legten die Agenten des ZSB jedoch noch größeren Wert darauf, ihre Operationen geheim zu halten, und das galt ganz besonders für die Operativen, die Generalleutnant Xu unterstellt waren.

Xu stand reglos, das Auge am Sucher der Kamera, und studierte die Szene fasziniert und mit höchster Konzentration. Der 56-jährige Generalleutnant trug gewöhnlich einen dunklen Anzug, der es ihm erlaubte, sich in den Horden ähnlich gekleideter Geschäftsleute im Zentrum von Beijing unauffällig zu bewegen. Aber Beijing lag 460 Kilometer entfernt; hier, am Straßenrand an der Küste des Gelben Meeres, wäre er in einem Anzug zu sehr aufgefallen. Deshalb trug er heute eine helle Khakihose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er wegen der ungewöhnlichen Hitze und Schwüle dieses Septembertages hochgerollt hatte. Eine beigefarbene Fotografenweste aus leichtem Nylon verbarg die halbautomatische Taurus-Pistole, die im Hosengürtel steckte. Auch die beiden anderen Männer waren ähnlich gekleidet. Nur der junge ZSB-Agent namens Tan trug eine Sonnenbrille, um sein stark blutunterlaufenes Auge zu verbergen. Alle drei wirkten kräftig und durchtrainiert, wie sich das für Männer gehörte, die andere Männer beschützen sollten.

Sowohl der Generalleutnant als auch sein Schützling Long Yun hatten in der Volksbefreiungsarmee Karriere gemacht; Long etwa ein Jahrzehnt nach Xu. Tan wiederum war rund zehn Jahre jünger als Long und hatte seine Berufslaufbahn bei der Bewaffneten Volkspolizei, einer paramilitärischen Polizeieinheit, begonnen. Seine Karriere war erfolgversprechend verlaufen – bis er dauerhaft an einer sogenannten Bindehautunterblutung erkrankte. Seither platzten jedes Mal, wenn er niesen musste, ein paar feine Äderchen in seinem rechten Auge. Eingehende Untersuchungen ergaben, dass dadurch sein Sehvermögen nicht beeinträchtigt wurde, aber sein Vorgesetzter, Generalleutnant Xu, fand den Anblick seines ständig geröteten Auges absolut widerlich; um sich diesen Anblick zu ersparen, schickte er Tan immer häufiger auf Botengänge oder irgendwelche Erkundungen. Schließlich hatte der Generalleutnant Tan nahegelegt, eine dunkle Sonnenbrille zu tragen, selbst bei tiefgrauem Himmel und im Büro. Die anderen Parteibonzen sollten schließlich nicht auf den Gedanken kommen, der Mann, der Xu beschützte, sei halb blind oder, was noch schlimmer wäre, ständig angetrunken.

Xu zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. Ohne das Auge vom Kamerasucher zu lösen, fragte er: »Genosse Tan, vertrauen Sie Ihrem verkrüppelten Hafenarbeiter?«

Tans Schuhe knirschten im Kies, als er einen halben Schritt näher trat. »Jawohl, Genosse General. Ich habe bisher drei Transaktionen mit ihm durchgeführt, jeweils im Abstand von einer Woche. Bei den beiden ersten Transaktionen wählte ich beliebige Container aus, aber immer aus den Containerstapeln, die in die Vereinigten Staaten transportiert werden sollten. In den drei Wochen hat Gao Tian niemandem von unserem Arrangement erzählt, nicht einmal seiner Frau.«

»Na so was«, sagte Xu mit leisem, ironischem Japsen, obwohl er nicht glaubte, dass Tan den Spott überhaupt mitbekam. Gab es denn einen Mann auf der Welt, der ausgerechnet seiner Frau gestehen würde, dass er eine unerwartete Nebeneinnahme erhalten habe?

Generalleutnant Xu richtete sich auf und streckte den Rücken, wobei er sein Rückgrat knacken spürte. Im Nachhinein bereute er es bereits, einen Offizier aus seinem eigenen Stab mit den Verhandlungen betraut zu haben, aber das hätte er niemals laut zugegeben. Die Sache mit dem Containerschiff Orion war längst geplant und entschieden worden, bevor Xu die Absprache mit dem Mann getroffen hatte, den er nur unter dem Decknamen Coronet kannte. Normalerweise verliefen Xus Operationen viel sauberer – und ließen sich auch schwerer mit ihm oder seiner Organisation in Verbindung bringen.

»Die Götter haben dem Menschen einen Mund gegeben«, sagte der Generalleutnant. »Und nach meiner Erfahrung fällt es den meisten Menschen schwer zu erkennen, wann sie diesen Mund geschlossen halten müssen. Dieses Unternehmen muss unter größter Verschwiegenheit und Geheimhaltung durchgeführt werden. Wir können uns das Risiko nicht leisten, dass Ihr Kontakt jemandem von dieser Sache erzählt … niemals.« Er schaute Tan ernst an. »Haben Sie das verstanden?«

»Natürlich, Genosse General«, antwortete der junge Mann stramm, aber Xu hatte daran seine Zweifel.

»Sie müssen ihn eliminieren«, machte er Tan den Befehl unmissverständlich klar.

Tan erbleichte, als er das hörte, und bestätigte damit Xus Verdacht.

»Natürlich«, wiederholte der junge Mann.

»Heute noch«, fügte Xu hinzu. Musste er diesem Burschen den Befehl auch noch buchstabieren?

Tan riss sich zusammen, nahm Habachtstellung ein und nickte knapp. »Na … natürlich«, wiederholte er noch einmal stotternd, als seien alle anderen passenden Wörter plötzlich aus seinem Wortschatz verschwunden.

Der Generalleutnant seufzte hörbar; derartige Gespräche brachten ihn regelmäßig an die Grenze seiner Geduld. Er wies mit dem Kopf zur Kamera. »Bauen Sie die Kamera ab. Aber gehen Sie äußerst vorsichtig mit der Ausrüstung um. Mit Schlamperei wird zu viel Geld vergeudet, das dem Volk gehört.«

Bevor sich Tan noch ein weiteres Mal wiederholen konnte, drehte sich Xu abrupt zu Long Yun um und wies mit den Augen unmissverständlich zum Auto.

Long Yun schob sich hinter das Lenkrad, während der General auf dem Rücksitz Platz nahm, wie immer auf der rechten Seite, damit sich die beiden Männer während der Fahrt besser unterhalten konnten. Draußen packte Tan hastig die Kamera und das Stativ ein, noch nervöser als sonst, da er die Blicke seines Vorgesetzten wie Dolche im Rücken zu spüren glaubte.

»Verfolgen Sie dieses hirnlose Schaf«, wies der Generalleutnant Long Yun an. »Sobald er den Krüppel im Hafen eliminiert hat, eliminieren Sie auch ihn. Ich fürchte, Ihrem Mann Tan mangelt es bei Angelegenheiten, die Diskretion und Geheimhaltung erfordern, an der nötigen inneren Stärke. Selbst wenn der Narr im Hafen seinen Kollegen oder Freunden gegenüber nicht bereits mit dieser Sache geprahlt hat, müssen wir damit rechnen, dass jemand seine Zusammenkunft mit Tan beobachtet haben könnte. Einen Mann mit einem derart widerlichen Auge vergisst man nicht so schnell.« Er räusperte sich. »Hm. Das Schiff wird in zwei Wochen in den Vereinigten Staaten ankommen. Ich bin zuversichtlich, dass davon nicht mehr viel übrig sein wird, nach dem … nun, nach dem Unfall, aber wir wissen, wie extrem gründlich die Amerikaner solche Vorfälle untersuchen. Es darf absolut nichts geben, das die Orion mit meinem Büro in Verbindung bringt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Long Yun grinste den General an und drehte den Kopf wieder nach vorn.

»Natürlich, Genosse General«, sagte er.

1

Jack Ryan junior saß hinter dem Lenkrad eines dreckverkrusteten Ford Taurus, strich sich über den dunkelbraunen Bart und bemühte sich, den vorwurfsvollen Druck seiner Blase zu ignorieren. An dieser Stelle parkte der Wagen nun schon zum vierten Mal innerhalb der letzten sieben Stunden. Ryan legte beide Hände auf das Lenkrad und starrte in die Dunkelheit hinaus. Dallas, Texas, war berüchtigt für die drückende Schwüle, die selbst im Herbst herrschte, aber die heutige Septembernacht war ungewöhnlich kühl, sodass die beiden Männer im Taurus die Klimaanlage ausgeschaltet ließen und die Fenster die meiste Zeit geschlossen hielten.

Der verbeulte Ford war eigentlich erst zwei Jahre alt und sah schlimmer aus, als es tatsächlich der Fall war. Er gehörte zur kleinen Flotte der zweifach verwendbaren Fahrzeuge – als regulärer Einsatzwagen der Polizei oder, nach einem schnellen Überzug mit schwarzer Sprühfarbe und ein paar kräftigen Hammerschlägen in Türen und Radkästen, als eine der schäbigen Rostlauben, die wohl jeder Polizist für eine Drogenkurierkutsche halten würde. Obwohl der Wagen technisch in verlässlichem Zustand war, stank er im Innern wie eine üble Mischung aus Schimmelkäse und ungewaschenen Fußballersocken – was aber hervorragend zu dem heruntergekommenen Viertel im Süden von Dallas passte.

Eine flüchtige Internetrecherche hatte ergeben, dass sie hier nur drei Straßenblocks von einer großen Kreuzung entfernt standen. Die Kreuzung gehörte zu den fünf Örtlichkeiten in Dallas, an denen die Wahrscheinlichkeit, ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen, besonders hoch war. Soweit Ryan wusste, hatte es zwar an diesem Abend noch keine Messerstechereien gegeben, aber die Nacht war ja noch jung. Von weiter vorn in der Straße war erst vor ein paar Minuten das Geräusch zersplitternder Bierflaschen zu hören gewesen; ein Zeichen, dass ein paar Schnittwunden durchaus im Bereich des Möglichen lagen.

Ryan trommelte mit beiden Daumen auf das Lenkrad, dann warf er einen Blick auf die Uhr. Seine Blase würde ihm in den nächsten Minuten ein Ultimatum stellen. Er hatte zwar für genau diesen Fall eine leere Gatorade-Flasche zu der üblichen Überwachungsausrüstung auf den Rücksitz gelegt, aber eigentlich hoffte er auch darauf, mal für eine Minute aus dem Auto springen zu dürfen, um die Beine zu strecken – selbst wenn er sich dafür hinter einen stinkenden Müllcontainer stellen musste, der von leeren Pizzaschachteln überquoll und in einer Nebengasse stand, die mit zerbrochenen Spritzen und gebrauchten Kondomen übersät war.

Seit 42 Minuten parkten sie hier, zwischen den Hintereingängen eines mexikanischen Gemischtwarenladens und eines Geschäfts, in dem ausgerechnet Nähmaschinen verkauft wurden. In dieser Zeit hatte Jack ein halbes Dutzend Männer, allesamt Asiaten, in den Stripclub Casita Roja gehen sehen, der auf der anderen Straßenseite lag. In denselben 42 Minuten war auch ein Obdachloser vorbeigetaumelt, der sich plötzlich nach vorn gebeugt und sich die Hose vollgekotzt hatte, außerdem hatte Jack einen Graffitikünstler beobachtet, der die Rückseite des Nähmaschinenladens verschönerte, sowie zwei Huren, die ihre Freier an der rauen Ziegelwand neben dem Müllcontainer bedienten, umschwirrt von einer Art Heiligenschein aus Motten, die im trostlosen Schimmer der schwachen Straßenlaterne herumflatterten.

»Oh, if you could see me now, Mother dear«, summte Ryan vor sich hin, wobei er im Takt mit einer Hand auf die Armstütze trommelte.

»Hast du was gesagt?«, fragte Bartosz »Midas« Jankowski vom Beifahrersitz. Auch er trug einen dunklen Bart und ein kurzärmeliges Button-down-Hemd, das lose über den Gürtel hing, um die dort steckende Pistole, eine Smith & Wesson M&P Shield, zu verbergen – und eine Kupferdrahtschlinge, die tief um den Hals hing. Hollywood machte die Leute glauben, man könne ein Funkgerät samt Mikrofon und Empfänger in ein winziges Stückchen Plastik stecken, das man im Ohr tragen konnte. Dass es so einfach wäre, hätte sich auch Ryan gewünscht. Die Mikrofone waren zwar winzig, aber man brauchte trotzdem Funkgeräte und eine Energiequelle. Das Campus-Team benutzte Profilo-Transduktionsschlaufen mit integriertem Mikrofon und kleine fleischfarbene Ohrstücke. Ein vom Campus entwickeltes sprachaktiviertes Intercom-System machte die PTT-Taste überflüssig. Der ganze Kram wurde durch ein Motorola-Funkgerät von der Größe eines Packs Spielkarten gesteuert.

»Dachte gerade, wie sexy das Leben als Spion doch ist«, antwortete Ryan. »Spätestens in ein paar Minuten muss ich mal.«

Über das verschlüsselte Com-System lauschten vier weitere Ohren dem Gespräch. Ryan hatte gehofft, dass auch Midas gestehen würde, mal kurz austreten zu müssen, weil dann sein eigenes dringendes Bedürfnis ein bisschen humaner erschienen wäre. Aber das war natürlich nicht der Fall. Jankowski war noch relativ neu im Campus, aber Jack hatte schon genug Operationen mit dem ehemaligen Delta-Force-Offizier hinter sich, um zu wissen, dass dieser Bursche eine Blase von der Größe einer Wassermelone besaß.

»Hab das schon vor einer Stunde erledigt«, kam Domingo »Ding« Chavez’ Stimme aus Jacks winzigem Ohrstöpsel. Sie klang ein wenig schadenfroh. »Als ich das Mikro am Pfosten festmachte.«

Chavez, der Leitende Außenagent des Campus, war früher CIA-Beamter gewesen. Er hatte erfahrungsgemäß abgeschätzt, wo und wann die Zielperson nächstens auftauchen würde, und war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um noch schnell ein Hochleistungsmikrofon mit einem Magneten an der Lampenhalterung neben der Tür des Casita-Roja-Stripclubs zu befestigen. Es war kaum größer als eine Streichholzschachtel und sendete verschlüsselt auf der Frequenz des Teamfunks. Absolut erstaunlich, welche nützlichen Informationen man manchmal auffangen konnte, wenn Leute vor der Tür eines Lokals ankamen, das sie noch nicht kannten. Manche murmelten sogar vor sich hin, wenn sie allein waren.

Chavez konnte es nicht lassen – er musste es Jack noch weiter einreiben. »Ich hab sogar noch ein paar kühle Schluck Bier getrunken, als ich da auf der Straße stand. Nur um nicht aufzufallen, verstehst du?« Dass er dabei auch ein paar Blicke auf die nackten Stripperinnen auf der Bühne erhaschen konnte, erzählte er nicht. Denn zufällig beobachtete sein Schwiegervater John Clark, der Operationsleiter des Campus, die ganze Operation vom Dach eines Gebäudes aus, in dem sich die Büros eines Kredithais befanden. Der Bau stand ungefähr einen halben Straßenblock vom Casita Roja und von Ryans Taurus entfernt und bot einen guten Blick auf den Eingangsbereich des Clubs. Und natürlich hing Clark am selben Funknetz.

Ryan seufzte. »Vielleicht sollte ich einfach reinspazieren und mitzuhören versuchen, was unser Bursche zu sagen hat.«

»Negativ«, mischte sich Clark sofort ein. »Wir haben einen GPS-Tracker unter seinen Wagen gepflanzt und hören sein Telefon ab. Vorerst beschränken wir uns darauf, sein Verhaltensmuster auszukundschaften.«

Chavez konnte ein leichtes Kichern nur schwer unterdrücken. »’mano, ein Bleichgesicht wie du wäre da drin so etwas wie ein bunter Hund.«

Ding hatte zwar einen Master-Abschluss in Internationaler Politik, konnte aber ohne Probleme jederzeit seinen Gassenjargon einschalten, den er von seiner Jugendzeit im Osten von Los Angeles mitgebracht hatte.

»Achtung«, sagte Clark plötzlich. Als Einsatzleiter konnte er sich im Funk jederzeit über das Geschwätz der anderen hinwegsetzen, was er nicht selten tat. »Zwei Asiaten kommen aus dem Haupteingang.«

Jack hob schnell sein Monokular ans Auge und konnte nun die beiden Männer genau beobachten. Beide waren Anfang zwanzig, mit Kurzhaarfrisuren und ausgewaschenen Jeans. Ihre über den Hosenbund hängenden Muskelshirts erlaubten den Blick auf dicht tätowierte Arme und Schultern. Sie stellten sich neben die Tür und zündeten Zigaretten an. Ryan konnte leichte Ausbeulungen unter ihren T-Shirts ausmachen. Beide hatten eine Pistole im Gürtel stecken, die von den Shirts kaum verborgen wurden. Das Team hatte bereits mehrere Mitglieder der Sun-Yee-On-Triade identifiziert. Diese chinesischen Verbrecherorganisationen wurden nach ihrem Dreiecksymbol »Triaden« genannt. Der Stripclub Casita Roja gehörte Tres Equis, einer kleinen Zelle des mexikanischen Sinaloa-Kartells, das seine Geschäfte im Drogen- und Menschenhandel und mit Geldwäsche machte. Ihr Erkennungszeichen waren drei X, die angeblich die toten Augen und das einzelne Einschussloch auf der Stirn ihrer Opfer symbolisierten. Seit der Verhaftung von Joaquín »El Chapo« Guzmán waren die verschiedenen Splittergruppen des Kartells immer brutaler geworden – wenn eine gewalttätige Organisation wie das Sinaloa-Kartell überhaupt noch gewalttätiger werden konnte.

Unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass die Besucher derartiger Clubs und Bars immer mit Eisenwaren im Gürtel herumliefen. Die Männer neben der Tür unterhielten sich in schnellem Mandarin – was sich für Ryan so anhörte, als seien sie sauer auf irgendwas.

Midas legte den Kopf schief und lauschte aufmerksam. Die beiden Chinesen blickten beiläufig in beide Straßenrichtungen, sahen aber nichts, was ihnen verdächtig vorgekommen wäre, und rauchten und witzelten weiter. Auch nachdem sie die Kippen weggeworfen hatten, unterhielten sie sich noch zwei Minuten, dann gingen sie wieder in den Club zurück, als folgten sie irgendeinem vagen Ablaufplan.

»Die beiden gehören vermutlich zur Triade«, sagte Ryan.

Midas nickte nachdenklich. »Klingt so, als steckten diese Sun-Yee-On-Arschlöcher mit Tres Equis in irgendeiner dicken Scheiße. Prostitution, Drogen, such dir was aus. Soweit ich die beiden Typen verstanden habe, liefern sie den Mexikanern die Grundsubstanzen, die dann damit irgendwelches Meth-Zeug zusammenbrauen. Mein Mandarin ist zwar ein bisschen eingerostet, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie ›roten Phosphor‹ erwähnt haben.«

Clark stimmte zu. »Ja, das hab ich auch herausgehört.« Auch er sprach nicht fließend Mandarin, hatte aber bei seinen vielen Einsätzen im Laufe der Jahre ein paar Brocken aufgeschnappt. Zusammen mit den englischen Ausdrücken hatte er sich manches zusammenreimen können, worüber die beiden Chinesen geredet hatten. »Haben sie Eddie Feng erwähnt?«

»Nein«, antwortete Midas.

Eddie Feng war die Zielperson dieser Campus-Operation. Er war Taiwanese, und von seiner Sucht nach Stripclubs und Lapdance abgesehen, bezeichnete er sich als Reporter für eine Internetzeitung namens Zhenhua Ribao – True Word Daily oder, frei übersetzt, Tägliche Wahrheit. Die Internetzeitung hatte sich auf saftige Enthüllungsstorys über das geheime Leben der politischen Elite der Volksrepublik China spezialisiert. Die Tägliche Wahrheit gierte nach immer mehr Klicks; man konnte sie bestenfalls als Sensationswebsite bezeichnen – und schlimmstenfalls einfach nur als Fake News.

Gerry Hendley hätte niemals einer unbefugten Beobachtung eines echten, seriösen Journalisten zugestimmt. Der CEO der Finanzmaklerfirma Hendley Associates, der »weißen«, harmlosen Seite des inoffiziellen Geheimdienstes »The Campus«, achtete streng darauf, dass die Campus-Operationen im Bereich der Legalität stattfanden – jedenfalls so weit wie möglich. Aber Eddie Feng war definitiv kein seriöser Journalist, sondern eher eine Kreuzung zwischen einem Blogger, Influencer und Propagandisten. Doch nun schien Feng über etwas gestolpert zu sein, das mit taiwanischen Geheimagenten und der Volksrepublik China zu tun hatte.

Jack Ryan junior hatte die dünne Verbindung rein zufällig entdeckt, als er ein wenig im Internet-Chatter der Studenten des Confucius Institute an der Universität von Maryland herumschnüffelte. Ein paar Studenten erwähnten dabei einen Artikel im True Word Daily, in dem es um einen Bombenanschlag auf einen noch im Bau befindlichen U-Bahn-Tunnel in einem Außenbezirk von Beijing gegangen war. Der Artikel enthielt derart viele Detailinformationen – jedenfalls in der Übersetzung, die Jack las –, dass sie nur von jemandem kommen konnten, der mit den Ermittlungen vertraut war oder die für den Anschlag verantwortlichen Personen oder Gruppen kannte. Zufällig hatte Ryan dieselben Informationen auch auf einem anderen Weg erhalten, nämlich in einer Nachricht der Bewaffneten Volkspolizei, die die NSA in Fort Meade abgefangen hatte. Dieser Bursche Feng allerdings hatte daraus so viele offenbar richtige Folgerungen gezogen, die für die ChiComs, die chinesischen Kommunisten, sehr peinlich werden könnten, dass er sie ganz bestimmt nicht aus der Luft gegriffen haben konnte. Denn in den Medien hatte die VRC noch gar nichts über den Bombenanschlag verlautbaren lassen. Über den Vorfall gab es noch nicht einmal das sonst übliche Chatter im Netz, mit Ausnahme des erwähnten von der NSA aufgefangenen Funkspruchs der Volkspolizei – und Eddie Fengs Artikel.

Jack hatte seine Analyseergebnisse John Clark vorgelegt, der daraufhin ein paar eigene Recherchen angestellt hatte. Kurz darauf hatte Clark Jack zu einer Beratung in Gerrys Büro gerufen; als Ergebnis hatte Gerry eine genauere Überprüfung dieses angeblichen Journalisten genehmigt. Gavin Biery, der IT-Direktor von Hendley Associates, wurde beauftragt, Eddie Fengs Bankkonten und Telefonanrufe auszuspähen und überhaupt alles zu beschaffen, was er hacken konnte – was laut Biery so ziemlich »jeder digitale Mückenschiss« war, den er über den Burschen finden konnte.

Wie sich herausstellte, hatte Eddie Feng erst vor Kurzem 2000 Dollar an einen Burschen namens Fernando Perez Gomez überwiesen, einen Gebrauchtwagenhändler in einem der südlichen Vororte von Dallas, Texas. Einer erkennungsdienstlichen Datenbank des texanischen Department of Public Safety zufolge unterhielt dieser Gomez Verbindungen zum Sinaloa-Ableger Tres Equis. Und weitere 2000 Dollar hatte Feng an den Boss der Sun-Yee-On-Triade überwiesen, der erst kürzlich von Taiwan kommend in Plano, Texas, eingetroffen war.

Insgesamt war diese Informationslage noch ziemlich dürftig, aber weil einige wichtige Unterweltakteure in die Sache involviert waren und Feng offenbar irgendwie an die Information über den Bombenanschlag auf die Beijinger U-Bahn gekommen war, beschlossen Hendley und Clark, eine kurze Beschattungsoperation durchzuziehen und dabei Eddie Feng als »unwissentlichen Agenten« zu benutzen. Feng wurden dabei die schwierigen Aufgaben überlassen: Er musste seine Informanten schützen und pflegen und ihnen weitere Informationen entlocken, während der Campus nur aus der Ferne zusah und alles aufzeichnete. Das Campus-Team würde Feng bei dessen Recherchen einfach nur unsichtbar begleiten und beobachten, wo er sich mit wem traf, und abwarten, ob er noch mehr nützliche Erkenntnisse hinter dem virtuellen »Bambusvorhang« hervorholen würde, hinter dem sich die Volksrepublik gerne verbarg.

Biery hatte Feng lokalisiert, als dessen Handysignal von einem Funkmast in Houston zurückgepingt wurde, aber bis das Team zusammengetrommelt war und die Gulfstream von Hendley Associates endlich vom Flughafen Washington Reagan abhob, war Feng bereits nach Norden weitergezogen. Allerdings dauerte es nicht sehr lange, bis er im Dallas-Fort-Worth-Metroplex wieder aktiv wurde. In den letzten sieben Stunden war ihm das Team zu vier verschiedenen Stripclubs gefolgt. Keiner der Clubs war gehobener Standard, aber Casita Roja war definitiv der schlimmste. Außerdem lag er in einem Viertel, in dem zwei bärtige weiße Burschen wie Jack junior und Midas Jankowski herausstachen wie … na ja, eben wie zwei bärtige Weiße in einer Favela in Rio.

Ryan blickte zum Clubeingang hinüber, dann schaute er Midas fragend an. »Na? Haben sie was Wichtiges gesagt?«

»Eigentlich nicht. Zuerst redeten sie nur über die Meth-Zutaten, dann quasselten sie über Girls und allen möglichen Scheiß.«

Adara Sherman meldete sich über das Com. Adara gehörte ebenfalls dem Campus-Kader an und sprach fließend Mandarin. »Die Freundin von einem der beiden tanzt in diesem Sündenloch.«

Jack wollte sich gerade die Gatorade-Flasche vom Rücksitz angeln, als er im Rückspiegel eine Bewegung hinter dem Fahrzeug bemerkte.

»John«, sagte er, »hast du unsere Sechs im Auge? Ich sehe eine Bewegung durchs Rückfenster.«

Clarks leicht gedämpfte Stimme meldete sich einen Augenblick später mit einem Statusbericht. Ryan konnte sich bildlich vorstellen, wie Clark die Wange an den Schaftrücken seiner schallgedämpften Winchester Model 70 Kaliber .308 presste und durch das Fadenkreuz des Nachtsichtobjektivs spähte.

»Zwei hispanische Männer«, meldete Clark. »Und eine Frau. Beide Männer haben Pistolen im Gürtel … Einer trägt einen Stock oder ein dünnes Rohr … nein, jetzt sehe ich es klarer: es ist ein Golfschläger. Jetzt lassen sie das Mädchen einfach an der Mauer stehen und gehen in eure Richtung weiter, Jack. Entfernung zehn Meter, sie kommen rasch näher.«

»Wir rücken von Westen an«, sagte Chavez. Er und Adara saßen in einem Pick-up mit Doppelkabine, etwas weiter als einen Straßenblock entfernt.

Dom parkte noch weiter draußen, fünf Blocks in derselben Straße, in Richtung des nächsten Stripclubs, dem hispanische oder asiatische Verbindungen nachgesagt wurden. Doms Position beruhte im Grunde auf nichts weiter als Vermutungen, denn Eddie Feng war den ganzen Tag lang kreuz und quer von einem Stripclub zum anderen gezogen.

»Aufpassen!«, zischte Clark. »Die Burschen bewegen sich langsam, taktisch … Sie könnten auch Undercover-Cops sein … Wartet mal … das Mädchen läuft ihnen jetzt hinterher …« Seiner Stimme war anzuhören, dass er die Wange immer noch an seine Winchester presste.

Dann stieß er die Luft aus, wie ein Boxer nach einem Körperhaken.

»Scheiße! Das sind keine Bullen! Der Typ mit dem Golfschläger prügelt dem Mädchen das Gedärm aus dem Leib!«

»Höchste Zeit, unsere Ärsche in Bewegung zu setzen, Partner«, sagte Midas und zog die Pistole.

»Warte«, sagte Jack und legte die Hand an den Zündschlüssel. »Ich hab eine bessere Idee.«

»Sie rücken auf beiden Seiten an euer Auto heran«, meldete Clark.

Im Außenrückspiegel sah Jack einen der Männer, der an seiner Seite herankam; er hatte gerade das Heck des Taurus erreicht.

Jack nickte Midas zu. »Stoß die Tür auf, sobald ich es sage.«

Midas grinste. »Dein Stil gefällt mir.«

Ryan drehte den Zündschlüssel, und als der Mann den Rückspiegel praktisch ausfüllte, ließ er den Motor aufheulen, stieß die Fahrertür auf und schob den Rückwärtsgang ein.

Die Reifen drehten auf dem schmierigen Asphalt durch, aber der Wagen schoss trotzdem mit einem Satz rückwärts. Die weit geöffneten Türen wirkten wie ausgebreitete Flügel; sie fegten die beiden anrückenden Männer von den Füßen und schleppten sie mit dem Fahrzeug die Straße entlang. Einen Augenblick nach dem Zusammenprall trat Jack auf die Bremse. Das Trägheitsgesetz sorgte dafür, dass die Türen wieder zuschlugen und die beiden Männer zwischen die unbarmherzigen Stahlkanten von Türen und Chassis einklemmten.

Ryan und Midas sprangen aus dem Taurus direkt auf ihre wehrlosen Angreifer. Ryans Mann war bewusstlos, atmete aber noch. Allerdings ragte der abgebrochene Schaft des Golfschlägers aus seinem rechten Oberschenkel. Midas’ Angreifer war in etwas besserem Zustand und bei Bewusstsein, aber nicht mehr lange – Midas, ein ehemaliger Delta-Soldat, schmetterte den Kopf des Gangsters brutal gegen den Türholm des Taurus.

Rasch entwaffneten sie die beiden bewusstlosen Männer und durchsuchten sie schnell nach weiteren Waffen. Dann meldeten sie über Funk, dass die Situation »bereinigt« sei.

»Im Casita Roja ist noch alles ruhig«, berichtete Clark in kühlem, fast unbeteiligtem Ton, als sei das hier eine völlig alltägliche Beschattungsübung. »Ryan, Midas: Schafft die beiden hinter den Nähmaschinenladen. Ding und Adara: kümmert euch um das Mädchen.«

Kies knirschte, als Chavez und Adara hinter dem Taurus anhielten. Sie luden das bewusstlose Mädchen, eine Asiatin, in ihren ramponierten viertürigen Chevrolet Silverado. Kurz darauf meldete sich Adara mit ruhiger Stimme über Funk. In einem früheren Leben hatte sie bei der Navy gedient und mehr als genug Verwundete und Tote zu sehen bekommen. »Das Mädchen lebt noch, aber dieses Arschloch hat ihr das Nasenbein gebrochen. Bin ziemlich sicher, dass er ihr auch den Augenhöhlenknochen zerschmettert hat. Wahrscheinlich wird sie auch Schwellungen im Gehirn bekommen.«

»Das Parkland Hospital ist nicht weit entfernt, in südlicher Richtung«, sagte Dom Caruso. Bei dieser Beschattungsmission war es sein Job, das Team im Notfall mit Informationen über Polizeistationen und Krankenhäuser zu versorgen. Er gab Adara die volle Adresse des Krankenhauses durch.

»Fahrt direkt zur Notaufnahme«, befahl ihnen Clark. »Legt sie vor der Tür ab und macht euch aus dem Staub, bevor euch jemand zu sehen bekommt. An so etwas sind sie in diesem Bezirk gewöhnt. Aber achtet auf die Überwachungskameras.«

»Roger«, bestätigte Ding.

Adara setzte sich zu dem verletzten Mädchen auf den Rücksitz. Ding steuerte den Pick-up rückwärts aus der Gasse und bog nach links in eine ruhige Nebenstraße ein.

»Nimm ihre Daten auf, falls sie einen Ausweis dabeihat«, wies Clark Adara an. Er musste nicht eigens erwähnen, dass jede Information über Fengs Kontaktnetzwerk hochwillkommen war.

»Längst geschehen, Boss«, gab Adara zurück. »Sie hat keinen Ausweis, aber hier am Nacken hat sie eine Art Brandmal. Es ist teilweise mit Blut verschmiert, aber ich mache ein Foto.«

Ein paar Momente später meldete sich Clark erneut. »Seid ihr fertig, Jack? Es könnte jederzeit jemand auftauchen.«

»Fast fertig«, antwortete Jack.

Er und Midas hatten blaue Nitrilhandschuhe übergestreift und beugten sich über die beiden Bewusstlosen, die sie an die von Graffiti bedeckte Mauer hinter dem Nähmaschinengeschäft gelehnt hatten. Keiner der beiden Angreifer hatte einen Ausweis dabei, aber das war keine große Überraschung. An den Tattoos, die sie an Nacken und Schultern zur Schau trugen, war klar zu erkennen, dass beide der Tres-Equis-Zelle angehörten.

Ryan und Midas zogen ihnen aufgerollte Banknotenbündel aus den Taschen, damit die Sache wie ein Raubüberfall aussah. Dann sprangen sie wieder in den Taurus. Das Geld würden sie Gerry Hendley übergeben, der es an irgendein Spendenkonto für wohltätige Zwecke überweisen würde.

Jack fuhr los. Der Wind pfiff durch die Ritzen, die sich durch die verbogenen Türrahmen aufgetan hatten. Viereinhalb Minuten, nachdem Jack die beiden Typen zum ersten Mal erblickt hatte, waren sie bereits wieder auf dem Harry Hines Boulevard unterwegs.

»Ich bin direkt hinter euch«, sagte Clark über Funk. »Wir tracken weiterhin Fengs Telefon und überprüfen die Daten morgen früh. Dieser Bursche hat sich irgendwie Insiderwissen über einen Terroranschlag in China verschafft, und jetzt hat er sich auch noch mit Drogenkartellen und der Sun-Yee-On-Triade eingelassen. Hier ist irgendwas Schlimmes am Kochen, Leute. Ich weiß zwar noch nicht was, aber was wir haben, reicht völlig aus, um diesen Eddie Feng mal gründlich zu durchleuchten.«

2

Kapitän Leong Tang stützte sich an einen Anlehner auf der Kommandobrücke der Orion. Sein Rücken schmerzte vom langen Stehen, schließlich war er nicht mehr der Jüngste – ein Veteran im Dienste der China Global Shipping Lines, für die er nun schon seit gut 32 Jahren über die Weltmeere schipperte. Draußen vor den riesigen Glasscheiben der Brücke war es dunkel, aber die Positionslichter der Orion drängten die Nacht zurück und beleuchteten das lang gestreckte Deck des riesigen Frachters.

Ein ausgedehntes Tiefdrucksystem hatte, aus dem Südwesten kommend, die Orion vor rund zwei Stunden über den 124. Längengrad bis in die Juan-de-Fuca-Straße verfolgt. Die Kanadier kontrollierten die Schifffahrtsrouten ungefähr bis zum 124. Längengrad, aber sobald der von See kommende Schiffsverkehr Cape Flattery passiert hatte, übernahm die Seeverkehrsleitstelle der U.S. Coast Guard in Seattle die Kontrolle. Die Coast Guard Base Seattle wusste bereits, dass sich die Orion näherte, schon bevor sie das Schiff von den Kanadiern übernommen hatte. Wie jedes andere kommerzielle Schiff auf See sendete das automatische Informationssystem der Orion einen nur für dieses Schiff geltenden Identifikator aus. Und so ähnlich wie bei der Luftverkehrskontrolle meldete sich auch der zuständige Koordinator der Leitstelle regelmäßig, um die Orion auf weitere kommerzielle Schiffe, Lotsenschiffe oder andere potenzielle Gefahren aufmerksam zu machen. Einen riesigen Frachter zu befehligen war ein Rund-um-die-Uhr-Job, aber im Moment konnte sich Kapitän Leong beruhigt zurücklehnen und genüsslich seinen Kaffee schlürfen, obwohl draußen der Sturm tobte. Im Vergleich zu Shanghai war die Straße hier um diese Zeit mitten in der Nacht praktisch tot. Die Stimme der jungen Frau von der Coast Guard Base Seattle klang nüchtern und geschäftsmäßig, aber doch recht freundlich. Und sie verstand sogar Leongs Englisch, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, sosehr sich Leong auch bemühte, seine Aussprache zu verbessern.

Leong warf einen Blick auf den elektronischen Kartenplotter auf seiner Konsole, beugte sich ein wenig näher, um die Schriften besser entziffern zu können, und nickte zufrieden. Sie würden Ediz Hook in etwas mehr als einer Stunde erreichen. Dort würde ein Lotse an Bord kommen, der das Schiff den Rest der Route bis in den Hafen von Seattle führen würde.

Er nahm noch einen Schluck Sumatra-Kaffee aus seinem Keramikbecher, auf dem das Bild eines Football-Helms der Dallas Cowboys prangte. Leong war kein Fan des Teams und machte sich auch nichts aus Football. Die Tasse hatte er nur behalten, weil sie so einzigartig amerikanisch war, obwohl auf ihrer Unterseite MADEINCHINA aufgestempelt war. Nach seiner kulturellen Herkunft hätte Kapitän Leong Tee bevorzugen sollen, aber das anstrengende Leben auf See hatte ihn eines Besseren belehrt. Chinesischer Tee mochte etwas für Frauen und Weicheier sein, aber Hochseekapitäne brauchten nun mal Kaffee, und Kapitän Leong bevorzugte Kaffee aus Sumatra-Bohnen, der noch wunderbarer schmeckte, wenn er ihn aus seinem Dallas-Cowboys-Becher MADEINCHINA trank.

Fünfzehn Tage zuvor waren sie in Dalian aufgebrochen und an der Ostküste des Gelben Meeres entlanggefahren, mit Zwischenhalten in den Häfen von Tianjin und Qingdao. Im hektischen Hafen von Shanghai hatte er weitere 6000 TEUs an Bord genommen, randvoll gefüllt mit Knöpfen, Brillen, Smartphones, Geschirr und zahllosem anderem Glitzerzeug für die amerikanischen Konsumenten. Leong bezweifelte nicht, dass in manchen Containern auch ein paar Drogenpäckchen oder die eine oder andere illegale Waffe versteckt sein mochten, aber wenn, dann waren es Ausnahmen; er lenkte schließlich einen Frachter und kein Schmuggelschiff.

Sollte sich tatsächlich etwas Illegales an Bord befinden, so war dafür die Reederei verantwortlich, nicht das Schiff.

Kapitän Leong leitete eine 31-köpfige Crew – 7 Offiziere und 24 sogenannte »Ratings« oder Matrosen. In Shanghai, dem größten und umschlagsstärksten Hafen der Welt, hatte die Orion genau um Mitternacht abgelegt. Das Navigieren in den stark befahrenen Schifffahrtsstraßen wurde von einem Hafenlotsen und zwei Schleppern erleichtert. Sie hatten im Schutz der Dunkelheit abgelegt, nicht weil sie etwas zu verbergen hatten, sondern weil es bis tief in die Nacht gedauert hatte, bis der letzte Container verladen und das letzte Formular von den Hafenbeamten unterschrieben und abgestempelt worden war. Kapitän Leong wollte sein Schiff immer nur in einem von drei Zuständen sehen: laden, löschen oder fahren. Alles andere war Verschwendung von Zeit und Geld.

Die Orion hatte 165 000 Tonnen und war 60 Meter länger als ein Flugzeugträger der U.S.-Nimitz-Klasse. Für die einfachsten Manöver wie Wenden und sogar Anhalten brauchte der Koloss eine Menge Raum. Die zwei Schlepper arbeiteten in genauester Abstimmung mit dem Shanghai-Lotsen an Bord, um den riesigen Frachter durch die stark befahrenen Hafengewässer zu lenken – ein Bugsierschlepper in ständiger Bereitschaft, ein weiterer Schlepper unterstützte die Lenkmanöver durch eine lange Schlepptrosse am Heck. Die Hafeneinfahrt brachten sie in weniger als einer Stunde hinter sich. Der Lotse ging durch die Lotsentür im Rumpf unterhalb des Brückenaufbaus von Bord und sprang auf einen der Schlepper, die nun das Schiff sich selbst und dem Geschick seiner Besatzung überließen.

Die starken Wärtsilä-Dieselmotoren trieben die Orion mit steten 22 Knoten durch die spiegelglatte See nach Nordosten. Durch die Bauweise des Mammutfrachters war es Kapitän Leong nicht möglich, das Wasser direkt um sein Schiff zu sehen, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Bugwulst der Orion das Meer auf beiden Seiten in schäumende weiße Bugwellen teilte. Britische Seeleute hatten für die geteilte Bugwelle eine schöne, bildhafte Beschreibung: »Sie läuft mit dem Knochen zwischen den Zähnen.«

Die glitzernden Lichter von Shanghai waren immer schwächer geworden und schließlich ganz verschwunden, sodass sie in der dunkellila Nacht das Gefühl hatten, völlig allein unterwegs zu sein. Kurz nach Sonnenaufgang passierte die Orion die südliche japanische Insel Kyūshū und wurde nun von den dunklen Wassern der Kuroshio-Meeresströmung erfasst, auch Schwarze Strömung oder Japanstrom genannt. Ähnlich wie der Golfstrom im Atlantik strömt der Kuroshio vom Äquator heran und treibt sein warmes Wasser in nördlicher und östlicher Richtung – was Kapitän Leong und seiner Reederei wertvollen Treibstoff sparte.

Ungefähr auf halber Strecke hatte der Schiffskoloss eine ganze Serie von Sturmböen durchfahren müssen. In den folgenden drei Tagen behielt Kapitän Leong seinen Radarschirm noch aufmerksamer als sonst im Auge, zumal sich darauf ein Tiefdruckgebiet als riesiger Fleck abzeichnete, was kühlere Temperaturen und eine aufgewühlte See erwarten ließ. Die Schifffahrtsstraße war den Westwinden des Pazifiks ausgesetzt und bot wenig Schutz vor Wind und Wellen. Bis die Orion den 124. Längengrad erreichte, hatten die Böen auf 40 Knoten und die andauernde Windgeschwindigkeit auf 30 Knoten zugelegt. Drei bis vier Meter hohe Wellen rollten heran, aber das war in Ordnung. Leongs Schiff war riesig und schnitt durch die Vier-Meter-Wellen, als gäbe es sie gar nicht. Zwar war es zu dunkel, um über Steuerbord die Küste der Olympic-Halbinsel sehen zu können, die zum US-Bundesstaat Washington gehörte, aber er glaubte fast, einen Hauch von Sägemehl und Harz riechen zu können, der von den schier endlosen Wäldern herüberwehte. Leong mochte den pazifischen Nordwesten. In dieser Gegend herrschte eine Stille, die beruhigend auf ihn wirkte, selbst hier draußen auf rauer See.

Obwohl draußen ein böser Sturm tobte, herrschte in der beheizten Brücke eine wohlige, einschläfernde Wärme. Der Kapitän gähnte. Selbst ein Idiot konnte ein Schiff durch ruhiges Wasser lenken, aber um in einem Sturm Treibstoff zu sparen, mit einem Schiff, das randvoll mit großen eisernen Kisten beladen war … ja, dafür war schon ein richtiger Seemann nötig.

Leong Tang vermutete, dass Jungen in jedem Land, das an ein Meer grenzte, die Verlockung von Salz, Wind und Abenteuer verspürten. Aber eiserne Kisten hatten nichts Verlockendes an sich. Der Kapitän selbst bemerkte sie kaum noch. Sie waren nichts weiter als graue, blaue oder rote Farbkleckse, wenn er den Blick über sein Schiff gleiten ließ.

Er hatte auch keine Ahnung, was sich in den Containern befand. Natürlich gab es Frachtbriefe, Zollformulare und so weiter, aber jeder Kapitän eines modernen Großfrachters hat es auf den Fahrten von einem Hafen zum nächsten mit einem Berg von Papierkram zu tun, und auch für Leong gab es da keine Ausnahme. Er fand einfach nicht die Zeit – und verspürte auch keine Lust –, das ganze Zeug zu lesen. Gefahrgüter wurden deutlich gekennzeichnet, die Kühlcontainer wurden immer zusammen gestapelt, und, sofern sich nicht wieder ein Dutzend Flüchtlinge aus der chinesischen Provinz Fujian als blinde Passagiere in einem der TEUs versteckt hatten, wie das vor einem Jahr geschehen war, sollte sich eigentlich nichts Lebendiges in den Containern befinden.

Das »Twenty-foot Equivalent Unit« hatte das Wesen der Welthandelsschifffahrt fundamental verändert. Und natürlich hatte dieser Fortschritt auch vor der Bauweise moderner Hochseefrachter nicht haltgemacht. So bestand das Steuerrad der Orion nicht mehr, wie zu Zeiten von Leongs seefahrenden Ahnen, aus schönem, poliertem Holz, sondern aus schwarz mattiertem, robustem Stahl in der Mitte der Konsole des Steuerstands, und das Steuern selbst erfolgte meistens durch einen Computer und einen kleinen Anschlaghebel. Neben und über der Steueranlage reihten sich mehrere Monitore – der Radarschirm, das Elektronische Kartendarstellungs- und Informationssystem EDCIS, ein Echolot und andere Anzeigen wie Funkfrequenz und Tachometer. Ferner gab es da noch das AIS – das Automatische Identifikationssystem sendete den Schiffsnamen, die Geschwindigkeit und Positionsangaben an die Hafenbehörden und andere Schiffe in der Nähe – und leider auch an Piraten, die natürlich die App auf ihre Smartphones luden.

Vor Seattle gab es glücklicherweise keine Piraten, von der Firma abgesehen, die die Scheiße aus den riesigen Abwassertanks der Orion pumpte. Deren Preise waren reinste Piraterie.

Neben all dem seelenlosen Hartplastik gab es auf der Brücke nur eine kleine Verneigung vor den Traditionen der Seefahrt: den Kompass, eine Halbkugel, und daneben ein auf der Kompasskonsole befestigter Rahmen, in dem die Deviationstabelle steckte, in der die für die Navigation wichtigen Abweichungen des Magnetkompasses eingetragen wurden.

Eine Dose Bier über den Pazifik zu schippern kostete heutzutage kaum mehr als einen amerikanischen Penny, aber mit dieser Effizienz gingen auch die letzten Reste der Seefahrerromantik verloren. Blitzschnelles Laden und Löschen hinderten Leong daran, seinen Männern für einen Landgang freizugeben, von ganz wenigen Häfen abgesehen. Und selbst dort würden es die meisten nicht mal bis hinter die mit Maschen- und Stacheldraht begrenzten MARSEC-Sicherheitsbereiche in den Docks schaffen.

Wenn Kapitän Leong auf sein Leben zurückblickte, kam es ihm manchmal so vor, als sei er als junger Mann von einem Hafen abgefahren, in dem ihm noch ein exotisches, abenteuerliches Leben gewinkt hatte – aber im Verlauf der einen, langen Fahrt von seinem ersten bis zum letzten Hafen war dann aus seinem Seefahrerleben ein kalter, seelenloser Job geworden – ohne dass er es selbst bemerkt hätte. Wenigstens gab es noch Stürme wie diesen hier, in denen er sich wie ein Seemann fühlen konnte.

Trotz allem hatte sein Job auch gewisse Vorteile. Er bot ihm immer wieder ein paar stille Momente, um zu lesen. Die Kommunistische Partei der Volksrepublik stand zwar den Kirchen und überhaupt jeder Form organisierter Religiosität nicht besonders wohlwollend gegenüber, aber vor ungefähr zehn Jahren hatte ihm ein eifriger Hafenarbeiter auf den Philippinen eine kleine Ausgabe der King-James-Bibel geschenkt – und die hatte Leong nun schon viele Male durchgelesen.

»Ein ruhiger Winkel unterm Dach ist besser als ein ganzes Haus gemeinsam mit einer ständig nörgelnden Frau«, wie es einer der Bibelsprüche so treffend ausdrückte. Wenn Leong an seine zänkische Frau dachte, konnte er dem nur zustimmen. Wobei er das weite Meer einem Winkel unter dem Dach selbstverständlich vorzog.

Hinter Leong quietschte die Luke, und Goos, der balinesische Steward, kam mit einem Teller frischer Donuts auf die Brücke. Mit seinen 17 Jahren war Goos – die Abkürzung für Bagus, was auf Balinesisch »hübsch« bedeutete – mit Abstand das jüngste Crewmitglied auf dem Schiff. Und nach Leongs Einschätzung war er auch das hellste.

»Captain«, sagte der Junge auf Englisch und nickte Leong höflich zu.

»Goos«, gab Leong zurück und hob grüßend seine Dallas-Cowboys-Tasse.

Der Junge sprach zwar passables Mandarin, versuchte aber, Englisch zu lernen, die internationale Handelssprache. Leong und sein Erster Offizier halfen ihm dabei, so gut sie konnten, auch deshalb, weil es auch für sie eine gute Übung für ihre Kommunikation mit der Seeverkehrsleitstelle war.

Goos hielt den Teller mit den Donuts in die Höhe. »Mr. Hao … Koch … Donut«, erklärte er stockend.

»Dein Englisch wird immer besser«, sagte der Kapitän. »Ich mag Donuts.«

Goos grinste. »Ich … mag … Donuts.«

Der Kapitän schloss die Augen und atmete den herrlichen Duft der frisch gebackenen Krapfen ein. Gerade als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, wurde er durch einen lauten Knall unterbrochen. Zuerst dachte er, dass irgendein schwerer Gegenstand draußen im Sturm umgefallen sei, aber dann verspürte er ein heftiges Beben, das sich durch das gesamte Schiff fortsetzte, als sei es auf Grund gelaufen.

Leong riss die Augen auf und stellte die Tasse in die Mulde neben seiner Lehnhilfe. Hastig zuckte sein Blick über die Monitore und Instrumentenanzeigen. Aber das Echolot zeigte 119 Faden an – mehr als 216 Meter. Vielleicht waren sie mit irgendetwas zusammengeprallt? Jährlich gingen zahllose TEUs über Bord. Die meisten versanken sofort in der Tiefe, aber manche trieben auch noch eine Zeit lang als eine Art treibender Riffe direkt unter der Wasseroberfläche. Vielleicht war die Orion mit etwas Derartigem zusammengestoßen, oder mit einer Flotte von Baumstämmen. Aber ihr Rumpf war massiv und konnte solchen Zusammenstößen problemlos widerstehen. Trotzdem war der Stoß so stark gewesen, dass man der Sache nachgehen musste.

Einen halben Atemzug danach wurden die Achterdecks von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Die achtern im Brückenhaus befindliche Fensterreihe wurde durch die heranrollende Schockwelle zerschmettert. Leong packte den jungen Goos am Kragen und zerrte ihn mit sich hinter den Kapitänssessel, um dem Scherbenhagel zu entgehen. Auch der Erste Offizier Su suchte dort Deckung.

Draußen wurden schwere Container wie Kinderspielzeug in die Luft geschleudert, verschwanden in der Dunkelheit und fielen entweder ins Meer oder krachten auf den Schiffsrand, wo sie zerbarsten und ihre Ladung sich ins Wasser ergoss. Leong spürte das Blut nicht, das aus einer Wunde an seiner Wange rann, aber in Sus Gesicht sah er winzige Scherben der angeblich bruchsicheren Glasscheiben stecken. Auch Goos’ schwarzes Haar war von dem Zeug übersät.

Durch die geborstenen Fenster brüllte der Sturm herein, peitschte durch die Brückenkabine, vertrieb schlagartig die wohlige Wärme und wirbelte die Papiere hoch. Der Wind trug den Geruch von brennendem Plastik und den scharfen, beißenden Gestank von geschmolzenem Metall in das Brückenhaus.

Die Lichter auf den Achterdecks waren erloschen, aber Leong starrte voller Entsetzen auf eine weiße Stichflamme, die wie ein Geysir als fünf Meter hohe Feuersäule aus den übrig gebliebenen TEUs emporschoss und das Schiff beleuchtete, als sei es heller Mittag.

Der Kapitän riss den Blick von der blendenden Helligkeit weg und klatschte in die Hände, um seinen Ersten Offizier Su aus der Schockstarre zu reißen.

»Rufen Sie den Maschinenraum und lassen Sie sich berichten, was da los ist!«, bellte er. »Es gibt bestimmt auch Verwundete. Goos, rufen Sie Huang über das Intercom, er soll sich in der Galley bereithalten.« Huang hatte sich als Soldat der Volksarmee zum Sanitäter ausbilden lassen und fungierte an Bord als eine Art Ersatzarzt.

Der Alarm schrillte los und übertönte die Schreie entsetzter Matrosen und sogar den röhrenden Sturm. Ein Containerstapel nach dem anderen neigte sich schwer nach steuerbord. Halterungen und Gurte rissen und knallten wie Schüsse, eine Metallkiste nach der anderen kippte in das wuttobende Meer. Der Wind riss die schweren schwarzen Rauchwolken vom Schiff weg, sodass Leong jetzt das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennen und die lodernden Flammen sehen konnte.

Die weiße Feuersäule röhrte noch immer aus den Eingeweiden des Schiffs.

Die Warnlampen auf der Konsole waren von Grün auf Rot gesprungen und begannen nun eindringlich zu blinken, als ein System nach dem anderen versagte.

Das Intercom knisterte und rauschte, dann dröhnte die atemlose Stimme von Jimmy, einem philippinischen Matrosen, durch die Brücke.

»Capt’n«, stotterte der Mann auf Englisch, »brauche … Hilfe … Sir …«

Goos griff nach dem Mikrofon und reichte es dem Kapitän.

»Wo sind Sie?«, fragte Leong.

»Maschinenraum …«

»Ich will mit Mr. Duan sprechen!«

Leongs Englisch war zwar gut, aber in derartigen Situationen zog er es vor, mit einem Chinesen zu reden. Duan war der Maschinist, der Mann, der die richtige Ausbildung hatte, um Leongs dringendste Fragen beantworten zu können.

»Das ist … ist nicht … möglich«, antwortete der Filipino. »Mr. Duan ist … weg.«

»Weg?«, echote Leong fassungslos. »Wie weg?« Geschockt schlug er sich mit der Hand auf den Kopf. Draußen stürzten die Container über beide Seiten ins Meer, und ein grauenhaftes Stöhnen lief durch die gesamte Länge des Schiffs. Einen Augenblick lang stellte sich der Kapitän vor, ein gewaltiges Biest sei aus einem TEU entkommen und tobte nun wild durch die riesigen Laderäume im Schiffsrumpf.

Jimmys Atem ging immer hektischer. Keuchend und hustend versuchte er, ein Schluchzen zu unterdrücken. »Ich … ich hab ihm geholfen, einen Filter zu wechseln … und dann … ist es …« Er hustete, wahrscheinlich konnte er in dem ätzenden Rauch kaum noch atmen. »Viele Explosionen von oben und dann … furchtbarer Lärm … Kapitän, glauben Sie an die Hölle?«

»Nein«, sagte Leong und zwang sich, ruhig zu bleiben. Es hatte keinen Zweck, in so einer Situation herumzubrüllen. Er musste den geschockten Mann dazu bringen, seine Fragen zu beantworten. »Was ist passiert, Jimmy?«

»Ein … Ball aus weißem Feuer … fiel einfach herab.«

»Durch das Deck?«, fragte Leong.

»Ja. Aus dem Frachtraum direkt achtern von der Wärt.« Das war der Kurzname für den Schiffsmotor des finnischen Herstellers Wärtsilä Corporation.

»Und Mr. Duan …?«, flüsterte Leong.

»Er … fiel, Sir.«

»Er fiel?«, keuchte Leong. »Ist er verletzt?«

»Sie verstehen nicht«, sagte der Matrose. »Das Feuer brannte ein großes Loch durch das Deck. Mr. Duan fiel in … in das …« Der Mann schluchzte auf und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. »Capt’n, das Deck schmolz unter seinen Füßen weg. Er ist … verschwunden.«

»Okay«, sagte Leong, während er versuchte, sich die unvorstellbare Szene vorzustellen. »Kommen Sie da raus, sofort.«

»Kann ich nicht, Capt’n.« Wieder ein Aufschluchzen, das aber in ein angstvolles Wimmern überging. »Das Feuer … war sehr hell. Ich hab noch gesehen, wie Mr. Duan gefallen ist, aber jetzt kann ich nichts mehr sehen. Die Flammen sind ganz nahe, ich spüre die Hitze. Ich werde fallen, wenn ich mich vom Fleck rühre.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte der Kapitän hastig. Kein Wunder, dass der Mann vor Angst fast starb. »Ich schicke jemanden, der Sie herausholt.«

»Bitte … beeilen Sie …«

Rauschen übertönte Jimmys Stimme, dann brach die Funkverbindung ab.

Leong blickte sich nach Su um. Der Erste Offizier hatte inzwischen einen dicken Ordner mit der Aufschrift »FEUERSCHUTZ« aus einem Staufach unter der Konsole hervorgeholt und blätterte mit zitternden Fingern darin.

»Wen!«, sagte der Kapitän und sprach den erschütterten Mann mit dem Vornamen an, um ihn aus der Benommenheit zu reißen. »Legen Sie das weg und gehen Sie schnell zum Maschinenraum. Befehlen Sie allen, die Sie sehen, die Rettungswesten anzulegen. In solchen Augenblicken wird das oft vergessen.«

Der Erste Offizier nickte knapp, zerrte seine eigene Rettungsweste unter dem Navigationstisch hervor, zog den Kopf ein und schob sich durch die Luke, die auf das Achterdeck führte.

Goos blickte unsicher zwischen der offenen Luke und dem Kapitän hin und her. »Ich … mit ihm gehen«, sagte er und wartete auf die Genehmigung.

Der Kapitän nickte nur knapp und griff nach dem Funkgerät.

»Goos!«, bellte er dem jungen Balinesen nach, als dieser schon fast die Treppe hinunter war, die zum Achterdeck-Durchgang führte. Der Junge drehte sich um, nur noch sein Kopf ragte über das Deck. »Eine weiße Flamme … das bedeutet Metallbrand. Sie müssen unbedingt nur die Feuerlöscher für Brandklasse D verwenden. Wasser würde alles nur noch schlimmer machen. Und ziehen Sie eine Rettungsweste an, verdammt!«