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Durch die F.M. Alexander-Technik lernen wir, Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten wahrzunehmen und natürliche Abläufe ungestört ablaufen zu lassen - wir lernen "Nicht-Tun". Erleben lässt sich ein solches Geschehenlassen in den unterschiedlichsten Bereichen: - körperlich als natürliche Haltung, Atmung und Bewegung - geistig als kreativer Einfall - in der Meditation als tiefe lebendige Stille - beim Spielen eines Musikinstruments als frei fließendes musikalisches Geschehen Das Buch führt durch zahlreiche Beispiele anschaulich in dieses geheimnisvoll anmutende Thema ein. Es forscht nach Ursachen und Bedingungen und zeigt Wege zum "Nicht-Tun".
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Seitenzahl: 350
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WIDMUNG
Meinen Elternin Liebe und Dankbarkeit
Vorwort zur Neuauflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Einleitung
I Nicht-Tun: Eine Qualität, die alles verändert
1 Nicht-Tun ist etwas anderes als Nichts-Tun
2 Sind Tiere Meister des Nicht-Tuns?
3 Lässt sich Nicht-Tun selbst im Sport finden?
4 Beispiel Denken: Kreativität aus der Stille
5 Beispiel Hören: Der Musik lauschen
6 Beispiel Sehen: Offenes, unangestrengtes Schauen
II Alexander-Technik: Nicht-Tun lernen
1 Ein neuer Weg
1.1 Befreiung von unbewussten Gewohnheiten
1.2 Eine neue Art zu denken
1.3 Thinking in Activity
1.4 Meine Erfahrungen mit der Alexander-Technik
2 Vom Tun zum Nicht-Tun
2.1 Ein neuer Weg, Probleme zu lösen
2.2 Alexanders Weg zu seiner Entdeckung
2.3 Alexanders Entdeckungsreise
2.4 Unterricht in Alexander-Technik
3 Das Problem
3.1 Gewohnheiten
3.2 Sinneswahrnehmung
3.3 Beispiel: Meine Erlebnisse am Klavier
3.4 Zielstreben
4 Die Lösung
4.1 Innehalten
4.2 Anweisungen, Direktiven
4.3 Beispiel: Meine Erlebnisse am Klavier, zweiter Teil
4.4 Primärkontrolle
5 Aufrecht sein
5.1 Natürliche Aufrichtung
5.2 Beispiel: Atmung
5.3 Ausrichtung
5.4 Beispiel: Gehen
5.5 Beispiel: Wandern und Laufen
5.6 Unsere Vorstellung von unserem Körper: Body-Mapping
5.7 Innere und äußere Haltung
5.8 Beispiel: Sitzen
6 Der ganze Mensch
6.1 Reaktions- und Verhaltensmuster
6.2 Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
6.3 Gewohnheiten des Denkens
6.4 Nicht-Tun heißt, Störungen des Gesamtsystems zu vermeiden
6.5 Das Ich als Störenfried
7 Die Mittel heiligen den Zweck
7.1 Zwecklos
7.2 Richtig – Falsch
7.3 Feste Vorstellung – umfassende Offenheit
7.4 Wollen – Wünschen – Intention
7.5 Da-Sein
III Nicht-Tun als spirituelle Praxis
1 Eckhart Tolle
1.1 Die Stille spricht
1.2 Leiden durch das Ich
1.3 Die Flucht vor dem Jetzt
1.4 Die Kraft des Augenblicks
1.5 Wege ins Jetzt
1.6 Präsentes Handeln
2 Zen und Meditation
2.1 Über Zen
2.2 Zazen: Der Stille lauschen
2.3 Tun und Nicht-Tun in der Meditation
2.4 Nicht-Tun in der Mystik
2.5 Zen und Alexander-Technik
3 Zen-Kunst: Nicht-Tun aus der Stille heraus
3.1 Die Kunst des Bogenschießens
3.2 Unterricht in der Kunst des Bogenschießens
3.3 Eugen Herrigels Bericht
3.4 Die Kunst des Bogenschießens und Alexanders Entdeckung
IV Evolution des Bewusstseins
1 Ein Schritt in der Evolution
1.1 F. M. Alexanders Sicht
1.2 Eckhart Tolles Einschätzung
1.3 Willigis Jägers Beschreibung
1.4 Die Evolution und die Entwicklung des Einzelnen
2 Ent-Wicklung des Lebendigen
2.1 Das formbare Gehirn
2.2 Der Alltag als Übungsweg
2.3 Transparenz
3 Bewusstsein und Präsenz
3.1 Das grenzenlose Bewusstsein
3.2 Das menschliche Bewusstsein im Zustand höherer Ordnung
Schlusswort
Der Weg ist das Ziel
Anhang
1 Der Muskel – ein Werkzeug mit Selbstkontrolle
2 Altes und neues Gehirn
3 Muskelspindeln als Servolenkung
4 Halte- und Bewegungsmuskulatur
5 Primärkontolle – Balance des Kopfes auf der Wirbelsäule
6 Das Schreckmuster
7 George Coghill
8 Benjamin Libet
9 Verstand und Ich
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungen
Abdrucknachweis
Informationen
Danksagung
Als sich vor einigen Wochen die Frage einer Neuauflage stellte, war ich mir zunächst nicht sicher, was zu tun sei. »Gar nichts«, hätte ich sagen und den Titel dieses Buches wörtlich nehmen können. Ich tat auch erst einmal nichts und wog drei Möglichkeiten ab:
nichts zu unternehmen und darauf zu vertrauen, dass der alte Titel antiquarisch erhältlich bleibt,
das Buch grundlegend umzuarbeiten, meine Ideen und Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre einfließen zu lassen und ein ganz anderes Buch daraus zu machen oder aber
ein neues Buch zu dem Thema zu schreiben.
Recht bald merkte ich, dass es mich zur dritten Möglichkeit zog. Allerdings tauchte dabei schnell ein Bild auf von einem Buch, dass mit dem ersten Buch zu dem Thema kaum etwas gemeinsam hätte. Es sollte deutlich kürzer sein, sich allein aus eigenen Erfahrungen speisen und einen umfangreichen Übungsteil enthalten.
Ich ging an die Arbeit. Das Manuskript des neuen Buches schrieb sich wie von selbst. Nur wurde mir beim Schreiben bewusst, dass auch das alte Buch seinen Wert hatte. Seine Themen sind vielfältig, ihre Verbindungen und Bezüge erlebe ich auch heute noch als äußerst erhellend:
die Vergleiche zwischen der Alexander-Technik, dem Zen-Weg und der Arbeit von Eckhart Tolle,
die Fragen nach Bewusstsein und Evolution,
die Erläuterungen zur Anatomie und schließlich
die Darstellung eines reflexartigen Geschehens im Körper, durch das wir erleben können: »Das Richtige geschieht ganz von allein«.
Würde ich den Ansatz dieses Buches noch einmal verfolgen, das entstehende Buch würde sich nur wenig von dem gegenwärtigen unterscheiden. Natürlich ist es ein Kind seiner Zeit, das soll es bleiben, deshalb wurde auch sein äußeres Erscheinungsbild kaum geändert.
Helmut Rennschuh · Weimar im Juli 2023
Das Wollen hält uns gefangen im Käfig der Gewohnheiten,des Bekannten und Vertrauten.Ein unbekanntes Land und neue Möglichkeiten eröffnen sich,wenn wir lernen, Prozesse nicht zu stören,sondern geschehen zu lassen.
»Das Richtige geschieht ganz von allein.« Dieser Satz erscheint in einer Welt, die auf Leistung, Wettbewerb und Anstrengung aufgebaut ist, fast wie eine Provokation. Er mag vielleicht wie ein naiver Wunsch oder wie der Titel eines Märchens klingen. Doch das vorliegende Buch ist nichts dergleichen, denn es beschreibt etwas sehr Einfaches und Natürliches. Obwohl es uns wie ein Märchen in eine fremde Welt entführt, in der sich tiefe Wahrheiten enthüllen, verlässt es nicht den Boden einer erfahrbaren und überprüfbaren Wirklichkeit:
Die folgenden Kapitel zeigen, wie unser Denken auf unser Nervensystem, unsere Koordination und unser Handeln wirkt.
Statt einer fremden »Märchenwelt« beschreibt das Buch eine Welt, die uns so nah ist, dass wir sie meist nicht erkennen können. Es ist unsere Innenwelt mit unseren Gedanken, Einstellungen und Intentionen, die unser Leben bestimmen und unsere Handlungen formen.
Das Geschehen in unserer Innenwelt ist uns so nah, dass wir es oft nicht wahrnehmen, denn wir sind mit ihm identifiziert.
Es ist uns derart vertraut, dass wir es irrtümlich als unser wahres Wesen ansehen. »So bin ich eben«, beschreibt diese Einstellung. Daher hinterfragen wir es auch nicht und versäumen damit die Chance, gewohnte Muster zu verändern.
In diesem Buch geht es um unsere Muster und darum, wer wir wirklich im Innersten sind.
Beides gehört zusammen, denn erst wenn ich ahne, wer ich wirklich bin, kann ich gelassen auf meine Gewohnheiten des Denkens und Fühlens schauen und sie erkennen als das, was sie sind: Sie bilden eine Art veränderbare Hülle, die unseren Wesenskern verdeckt.
Lösen sich diese Muster, so wird die Hülle durchlässiger: Der wahre Kern unseres Wesens enthüllt sich uns und wird für andere leichter wahrnehmbar.
»Erkenne dich selbst«, das berühmte Motto aus der griechischen Antike (vgl. Kapitel IV 3), steht daher im Gegensatz zu »So bin ich eben«.
Wir begeben uns also auf eine Forschungsreise, die unser Inneres beleuchtet, und betrachten die Auswirkung unseres Denkens und unserer Einstellung auf unser Handeln. Ein wesentliches Ergebnis dieser Entdeckungsreise sei hier schon verraten: Was wir als die für uns typische Art und Weise erleben, in der wir handeln, uns bewegen und uns aufrecht halten, ist nichts anderes als eine Anzahl von Mustern, die sich unserem Nervensystem eingeprägt haben. Sie sind über lange Zeit erlernt, jedoch nach und nach veränderbar, wenn wir einen Weg finden, in der rechten Weise mit ihnen zu arbeiten. Das ist der eigentliche Inhalt dieses Buches.
Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Alexander-Technik – stellvertretend für alle Methoden, die in ganzheitlicher Weise an der Veränderung und Auflösung alter Muster arbeiten. Mit ihrer Hilfe können wir lernen, innezuhalten und durch bewusste Ausrichtung eine natürliche Koordination anzuregen. Damit ist die Alexander-Technik als Wegbereiterin für eine grundlegende Entwicklung in dem oben angedeuteten Sinne besonders geeignet. Denn sie fördert das wache Erleben des Augenblicks, das Erkennen und Ändern gewohnter Muster und das behutsame Auflösen eines Körperpanzers, hinter dem sich viele Menschen wie in einer schützenden Burg verschanzen.
In dem angedeuteten Prozess grundlegender Entwicklung und Erkenntnis sind Methoden wie Zen oder Eckhart Tolles »Jetzt« unverzichtbar. In ihnen wirkt die Weisheit jahrtausenderalter Wege der Selbsterkenntnis, die uns unseren Wesenskern wahrnehmen lassen. Wem solche Wege fremd sind, möge sich nicht abschrecken lassen. Einfachheit und Natürlichkeit bilden auch hier die wichtigsten Orientierungspunkte.
Selbst wer keine Gelegenheit hat Stunden in Alexander-Technik zu nehmen oder Meditationskurse zu besuchen, kann in diesem Buch wichtige Hinweise finden, wie er die Ausrichtung in seinem Leben entscheidend verändern kann:
Vom Kampf und Krampf des Alltags zum Einklang des lebendigen Augenblicks
Vom Ringen mit äußeren Widerständen zum Auflösen innerer Spannungen
Vom konditionierten unbewussten Reagieren zur Freiheit bewusster Entscheidung
Unsere Aktivitäten können damit mehr und mehr eine Qualität bekommen, die ich »Nicht-Tun« nennen möchte. Ein Tun, das mit den äußeren und unseren inneren Gegebenheiten in tiefem Einklang steht – zutiefst natürlich und einfach. Doch solange wir die Richtung nicht kennen, gehen wir meist den falschen Weg. Noch so großes Bemühen macht ihn nicht zum richtigen. Im Gegenteil, das übliche Bemühen führt uns in die Irre, weg von der natürlichen Lösung. Erst wenn wir diese finden, verstehen wir den Satz Alexanders:
Wenn wir aufhören das Falsche zu tun, geschieht das Richtige von ganz allein.
Da der Inhalt nichts von seiner Aktualität verloren hat, im Gegenteil, er ist in unserer sich immer schneller drehenden Zeit aktueller denn je, sind in der neuen Auflage neben dem Vorwort nur die Einleitung und das Schlusswort neu gestaltet.
Helmut Rennschuh · Weimar im Juli 2013
Höchste innere Kraft handelt im Nicht-Tun,ohne einzugreifen und ohne Absicht.Tao Te King, Nr. 381
Das vorliegende Zitat zeigt, wie alt die Idee des Nicht-Tuns bereits ist. Die Erkenntnis, dass es natürliche Zustände gibt, die man besser nicht stört, ist mindestens 2500 Jahre alt. Sie stammt aus der chinesischen Lehre vom Tao, die das Zen maßgeblich geprägt hat. Doch was hat uns diese alte Weisheit aus einer fernen Zeit und einer fremden Kultur heute noch zu sagen? Wissen wir denn nicht viel mehr als die Menschen, die vor über 2000 Jahren in China lebten, – selbst wenn es Weise waren?
Sicher ist es so, dass unser heutiger Wissensstand den damaligen um ein Vielfaches übersteigt. Doch geht uns bei der Fülle von Informationen, die uns zugänglich sind, und der schnellen Folge von Aktivitäten, mit denen unser Tag übervoll ist, nicht vielleicht Wesentliches verloren? Oftmals sehen wir auf einer Wanderung nicht die Blumen am Wegesrand, obwohl sie es doch sind, die den Weg erst zu einer wahren, erfüllenden Wanderung machen. So geschieht es auch, dass wir auf unserem Lebensweg den Augenblick nicht wahrnehmen und stattdessen nur immer weiter vorwärtsstreben. Uns entgeht dabei nicht nur das Erleben der großen und kleinen Wunder, die das Leben uns schenkt, sondern es leidet dabei auch die Qualität unserer Handlungen; wir verlieren im Vorwärtsstreben unsere Leichtigkeit.
Dieses Buch handelt von den Blumen am Wegesrand, die unserem Leben mehr Tiefe geben, und dem Innehalten – dem Zurücktreten vom unbedingten Zielstreben –, das unsere Handlungen müheloser, leichter und effizienter macht. Damit sich unser Blick weiten kann und wir so das Wesentliche leichter erkennen können, möchte ich im Folgenden einiges sehr unterschiedlicher Herkunft miteinander verbinden und einen Brückenschlag wagen: zwischen der Weisheit des Tao und unserer Anatomie, zwischen dem 1500 Jahren alten Zen und der vor 120 Jahren entwickelten Alexander-Technik; zwischen dem uralten Geheimnis des Lebens im gegenwärtigen Augenblick und den modernen Erkenntnissen der Hirnforschung. Das verbindende Glied ist das Nicht-Tun und ist der gegenwärtige Augenblick, die Leitbilder sind die Einfachheit und die Natürlichkeit. Behalten wir dies in Erinnerung, wenn wir die Bausteine aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen zusammentragen.
Betrachten wir kurz das folgende Diagramm, um einige einfache Begriffe zu klären: Die äußere Welt wirkt durch Erziehung, Ideale und Zwänge mächtig auf unsere Innenwelt ein. So formen sich Denkgewohnheiten, Ängste und Verhaltensmuster. Daraus entstehen unsere inneren Einstellungen sowie feste Spannungs- und Bewegungsmuster unseres Körpers, die wiederum unser Wirken in der äußeren Welt bestimmen. Führen diese erlernten Muster nicht zu den gewünschten Resultaten, verstärken sich unsere Anstrengungen und damit unsere Muster. Wir stecken fest in einem Kreislauf, der unsere Denk- und Handlungsmuster immer tiefer in unser Nervensystem eingräbt.
Die bekanntesten Folgen solcher Muster sind Nacken- und Schulterverspannungen sowie Rückenprobleme. Aber auch innere Unruhe, beständig kreisende Gedanken und starre Meinungen gehören dazu – wir werden im Folgenden sehen, wie sehr all das zusammenhängt. Selbst die scheinbare Grenze, an die wir beim Erlernen eines Musikinstruments stoßen, hat oft damit zu tun, dass uns unbewusste Verhaltensmuster wie unüberwindliche Wände einengen. Wenn wir erkennen, dass all dies durch erworbene Konditionierungen entsteht, so werden wir uns fragen:
Wie können wir uns aus diesem Kreislauf der Konditionierung befreien?
Wohin kann uns eine natürliche und ungestörte Entwicklung führen?
Für eine solche Entwicklung ist es nötig, einen Weg zu beschreiten, der ein waches Bewusstsein und eine gewisse Art von Innehalten fördert, welches das unmittelbare automatische Reagieren verhindert. Nur so lässt sich der Kreislauf der Konditionierung unterbrechen. Die Entwicklung, die sich dadurch einstellen kann, ist eine sehr grundlegende mit vielfältigen, teilweise überraschenden Auswirkungen. Denn unsere gewohnten Muster engen unser Denken, Fühlen und Handeln auf ein relativ kleines Feld der Gewohnheiten ein. Außerhalb davon gibt es eine ganze Welt an Möglichkeiten.
Auch wenn der hier beschriebene Weg eine Trauma- oder Psychotherapie vielleicht nicht ersetzen kann, so ist er doch ein unverzichtbares Mittel, um diese zu ergänzen. Denn unser Denken und Fühlen ist eng an unseren Körper geknüpft. Es formt unseren Körper, und auf der anderen Seite formt der Zustand unseres Körpers unser Fühlen und Denken. Jeder grundlegende Ansatz muss daher unser Bewusstsein und unseren Körper umfassen. Wie eng diese Verbindung tatsächlich ist, werden wir im Abschnitt II 6 untersuchen.
Schließen möchte ich mit einem kleinen Überblick, der zeigt, wohin unsere Entdeckungsreise uns führen wird. Die zahlreichen Beispiele, die insbesondere das Kapitel I bereithält, sind Belege für die folgenden Thesen:
Misslingen uns Handlungen, so liegt das oft an mangelnder Abstimmung und Harmonie. Die Überzeugung, dass man sich bei auftretenden Problemen mehr anstrengen muss, um sein Ziel doch noch zu erreichen, ist ein weit verbreiteter Glaubenssatz, der genauer Überprüfung nicht standhält. Geht man hingegen von der Hypothese aus, dass man sich oft zu sehr statt zu wenig bemüht, wodurch eine spielerische Leichtigkeit verloren geht, und beginnt in bestimmter Weise damit zu experimentieren sich weniger anzustrengen, so kann man überraschende Entdeckungen machen.
Der Mensch reagiert als Ganzes, d.h. Psychisches und Physisches bilden eine Einheit. So bestimmen unser Denken und Fühlen – Ehrgeiz, Versagensangst auf der einen Seite und gelassene Präsenz auf der anderen Seite – die Aktivität unserer Muskeln und so die Qualität unserer Bewegungen. Wir können lernen, unser Denken zu einer bewussten Steuerung unserer selbst zu nutzen, was unseren Bewegungen eine Qualität von Freiheit und Leichtigkeit verleihen kann.
Unsere Wahrnehmung ist oft unzuverlässig und bestimmt unsere Realität. Wir werden in die Irre geführt, wenn wir uns nur nach dem richten, was sich richtig anfühlt. Denn das Gewohnte fühlt sich stets richtig an und das Ungewohnte meist falsch. Das gilt für Bewegungen und unsere Haltung genauso wie für Gedanken und Gefühlsmuster.
Ein Ziel zu verfolgen schadet der Qualität unserer Handlungen nur dann nicht, wenn wir dennoch mit der Aufmerksamkeit im Augenblick bleiben – im Einklang sind mit dem Moment. Das Fixiertsein auf ein vorgegebenes Ziel ist oft ein Hindernis auf dem Weg zum Erfolg, denn es fördert Versagensängste und hemmende Anspannungen. So behindert das Erfolgsstreben den natürlichen Fluss von Bewegungen und schneidet uns von den Möglichkeiten ab, welche Präsenz und Offenheit für den Augenblick uns bieten können. Unser Leben bekommt eine andere Qualität, wenn wir nicht durch unser Wollen die Freude am Spiel des Augenblicks verlieren.
Abbildung 1: Fred Astaire
Abbildung 2: Artur Rubinstein
Tanzszenen bzw. Konzertaufnahmen beider Künstler finden sich im Internet.
Um dem geheimnisvollen Phänomen »Nicht-Tun« auf die Spur zu kommen, betrachten wir im Folgenden ganz unterschiedliche Bereiche unseres Lebens, in denen das Thema wie in einem Kaleidoskop in immer neuen Formen und Farben erscheint. Zusammen mit den Literaturhinweisen mögen die folgenden Abschnitte als eine Art Materialsammlung dienen, die zu einer tiefer gehenden Beschäftigung mit einzelnen Themen einlädt. Im darauf folgenden Kapitel II werden wir uns dann der Alexander-Technik zuwenden, als einem praktischen Weg, das Nicht-Tun zu erlernen.
Das Sprichwort »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg« verkennt, dass uns unser Wille oftmals den Weg zum gewünschten Ziel verbaut. Die unterschiedlichen Kapitel zeigen, in wie vielen Bereichen sich das Nicht-Tun als der Königsweg erweist. So mögen die folgenden Ausführungen an der weit verbreiteten Überzeugung rütteln, dass wir Problemen am besten mit Anstrengung und ernsthaftem Bemühen begegnen sollten, und den Glauben erschüttern, dass wir uns bei Misserfolgen eben noch nicht genug angestrengt haben.
Vieles mag dabei geheimnisvoll und neu erscheinen. Die Kapitel II und IV.3 werden einige der dabei auftretenden Fragen beantworten und Erklärungen liefern. Wichtiger als das Verstehen bleibt es jedoch, die weiter unten beschriebenen Erfahrungen selber zu machen, zu viel Tun in seinen eigenen Handlungen wahrzunehmen und damit zu experimentieren, sich weniger anzustrengen.
Wir tun Dinge am besten,wenn wir uns selbst nicht als diejenigen sehen,die die Dinge tun.Plotin
In der Ruhe liegt die Kraft, sagt ein Sprichwort. Dennoch sind Hektik und angestrengtes Tun in unserer Gesellschaft weit verbreitet, sie liegen sozusagen in der Luft. Wir verlieren uns in die Aktivität und gelangen so in einen Zustand der Unruhe. Dabei handeln wir nach der Überzeugung, Anstrengung sei der Preis für ein gutes Resultat. Wir haben daher das Gefühl, wenn sich der gewünschte Erfolg nicht einstellt, uns nicht genug bemüht zu haben. So geschieht es, dass wir uns umso mehr anstrengen, je erfolgloser unsere Handlungen sind. Ein solches Verhalten beruht auf gewohnten Handlungen und auf Glaubenssätzen, die uns oft nicht bewusst sind.
Nehmen wir einmal an, unsere alten Überzeugungen haben uns in die falsche Richtung geführt und die unterschiedlichsten Probleme bei Alltagsbewegungen, beim Spielen eines Musikinstruments oder beim Sport sind eben nicht Hindernisse, die es zu überwinden gilt, sondern selbstgebaute Hürden, die wir wieder abbauen können. Dann ist die Frage nicht, was wir tun können, um das Problem zu überwinden, sondern was wir lassen können, um es aufzulösen. Damit kommen wir der Bedeutung des Nicht-Tuns auf die Spur, denn es soll nicht heißen, nichts zu tun, im Bett liegen zu bleiben, Bewegungen zu vermeiden oder Gedanken zu unterdrücken. Im Gegenteil: Wenn wir uns in einen Sessel fallen lassen und dort zusammensinken oder resigniert ein Vorhaben aufgeben, so lässt sich das besser als eine Art unnatürliches »Tun«, ein Sich-schwer-Machen verstehen, das uns von unseren natürlichen Lebenskräften abschneidet.
Jeder von uns hat schon die Erfahrung gemacht, dass weniger Tun hilft, eine kritische Situation zu lösen. Fahren wir mit dem Auto eine glatte Straße bergauf, so geben wir am besten nur so viel Gas, dass die Räder nicht durchdrehen. Stecken wir fest im Schnee oder Schlamm, so fahren sich durch zu starkes Gasgeben die Räder noch tiefer fest. Es gibt zahllose andere Beispiele, bei denen das Nicht-Tun oder auch Weniger-Tun offensichtlich die erfolgreiche Strategie ist: Die Mühelosigkeit, mit der Artur Rubinstein bis ins hohe Alter Klavier spielt und mit der Fred Astaire scheinbar frei von den Einflüssen der Schwerkraft tanzt, sind wesentliche Merkmale ihrer Meisterschaft. Selbst Sportler und deren Trainer machen oft die Erfahrung, dass zu viel Angestrengtheit und zu viel »ich will« nicht zum Erfolg führen (I.3). Sollten die Lösung vieler Probleme und die Entwicklung von besonderen Fähigkeiten weit öfter durch Weniger-Tun oder Nicht-Tun möglich werden, als wir vermuten?
Ein Segelflugzeug erfährt einen Auftrieb, wenn Luft über die Tragflächen strömt. Es braucht keinen Motor, um zu fliegen, nur beim Start benötigt es Hilfe. Zur Kunst des Fliegens gehört es, die vorgegebenen Windverhältnisse geschickt zu nutzen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Das bedeutet jedoch nicht, sich mit dem Wind treiben zu lassen. Genauso sind die Verhältnisse im Wasser. Schwimmen wir im Meer, so können wir versuchen, uns in einem festen Rhythmus unangepasst an die Strömung zu bewegen. Das wäre blindes Tun. Wir können uns passiv treiben lassen, das nenne ich Nichts-Tun. Wir haben aber auch die Möglichkeit, die Strömung oder die Wellen zu nutzen, um unser Ziel zu erreichen. Wir vergeuden so keine Kraft und kämpfen nicht mit dem Wasser. Ein solches Handeln besitzt die Qualität des Nicht-Tuns.
So wie viele dieser Beispiele Vorgaben in der äußeren Welt beschreiben, die wir zu unserem Vorteil nutzen können, so gibt es Vorgaben in unserer inneren Welt, deren Beachtung uns das Leben leichter machen kann. So wie ein Auto mit angezogener Handbremse oder in einem zu niedrigen Gang mit hohem Verschleiß und ineffektiv fährt, so behindern wir uns selbst durch zu viel Anstrengung und ungünstige Gewohnheiten, deren wir uns meist nicht bewusst sind. Wir stören dabei ein feines Gefüge von Vorgängen, die ohne unsere Einmischung reibungslos ablaufen könnten.
Der Vergleich mit dem Auto kann uns veranschaulichen, wie gravierend wir natürliche Abläufe in unserem Körper stören können; dieser Vergleich darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel komplexer unsere Situation ist. Wir sind lebendige Wesen, die sich selber steuern, auch wenn dabei vieles unbewusst und automatisiert geschieht. Die Muskeln reagieren auf die Impulse der Nervenzellen. Diese werden durch unsere Gedanken beeinflusst, die stets mit Gefühlen verknüpft sind. Viele Bewegungen laufen nach eingeübten Programmen ab, oft mit zu viel Anspannung in gewissen Muskelgruppen und zu wenig Unterstützung von anderen. Auch unser Denken läuft überwiegend in eingespielten Mustern ab. Diese können Emotionen wachrufen, die sich dann wiederum in körperlichen Reaktionen spiegeln. F. M. Alexander hat den Begriff des Selbst benutzt, um diese psycho-physische Einheit zu beschreiben.
Beim angestrengten Tun wollen wir ein bestimmtes Ergebnis erreichen. Wir sind dabei auf ein Ziel fixiert und abgetrennt vom Gewahrsein des Augenblicks und vom natürlichen Fluss der Dinge. Unser Wille versucht mit Gewalt, das Ziel gegen auftretende Widerstände zu erreichen. Das Nicht-Tun hingegen ist eine angemessene Reaktion des ganzen Menschen, des Selbst, bei der alle Teile in günstiger Weise zusammenspielen. Verbunden ist dieses Geschehenlassen nicht mit einem dämmernden Zustand schlummernder Bewusstheit, sondern mit hellwacher Präsenz. In Jahrmillionen der Evolution entwickelte Mechanismen können dann ungestört arbeiten. Dabei geschieht alles mit Leichtigkeit, wie von allein, jedes angestrengte Bemühen wird überflüssig, ja sogar störend.
Doch wie können wir in einen Zustand des Nicht-Tuns gelangen? Die Abläufe und Zusammenhänge sind viel zu kompliziert, als dass unser Verstand die unzähligen Körperfunktionen direkt steuern könnte. Wenn eine Steuerung auf direkte Art nicht möglich ist, dann vielleicht in einer indirekten Weise? Statt unser Gesamtsystem durch direktes »Besser-machen-Wollen« negativ zu beeinflussen, können wir uns darauf beschränken, störende Einflüsse auf natürliche Abläufe zu kontrollieren und immer weniger auftreten zu lassen. Dies ist der Ansatz von F. M. Alexander, dessen über hundert Jahre alte Methode sich in unserem immer weiter beschleunigten Leben als wertvoller denn je erweisen kann.
»If we stop doing the wrong thing, the right thing will do itself.«
»Wenn wir aufhören, das Falsche zu tun,geschieht das Richtige von ganz alleine.«
Solche Missgriffe … sind unvermeidlich,seitdem wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns;wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen,ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.Heinrich von Kleist »Über das Marionettentheater«2 (vgl. IV.1.4)
Nicht-Tun heißt, natürliche Gegebenheiten in optimaler Weise zu nutzen. Für Tiere, die im Wasser leben, sind dessen Eigenschaften von entscheidender Bedeutung. Weich umfließt das Wasser eines Baches alle Hindernisse, Wasser gibt uns beim Schwimmen Auftrieb, doch wenn wir aus großer Höhe hineinspringen, erleben wir es als hart. Je schneller sich etwas durchs Wasser bewegt, desto mehr Widerstand scheint es zu leisten. Man kann das spüren, wenn man eine Hand beim Motorbootfahren ins Wasser hält.
Die Meeresbewohner haben gelernt, all diese Eigenschaften in optimaler Weise zu nutzen. Delfine scheinen mit dem Wasser zu spielen. Kleinste Bewegungen lassen sie schnell dahingleiten. Sie erreichen dabei Geschwindigkeiten bis zu 60 km/h. Dies ist in etwa die Geschwindigkeit, die wir beim Sprung aus 14 m Höhe ins Wasser beim Eintauchen haben. Der Widerstand des Wassers kann sich uns dabei als schmerzhafter Aufprall zeigen, doch die Delfine scheint diese Eigenschaft des Wassers nicht zu behindern. Auch Schwertwale mit ihren 2600 bis 9000 kg Gewicht können sich bis zu 55 km/h schnell fortbewegen. Selbst riesige Tiere wie die Blauwale scheinen sich mühelos fortzubewegen, sie werden vom Auftrieb des Wassers getragen, langsame Bewegungen der riesigen Schwanzflosse geben ihrem 100000 kg schweren Körper eine Geschwindigkeit von bis zu 30 km/h, was einem Widerstand des Wassers entspricht, den wir bei einem Sprung aus 3,5 m Höhe erleben.
Die Tiere haben offensichtlich im Laufe ihrer Evolution gelernt, die Natur des Wassers für ihre Fortbewegung zu nutzen, statt gegen seinen Widerstand anzukämpfen. Ähnliches gilt für die Luft. Beim Radoder Autofahren können wir den Widerstand schnell strömender Luft erfahren. Vögel lassen sich von diesen Luftströmungen tragen. Ein Adler segelt nach einigen Flügelschlägen mühelos durch die Lüfte und ist uns damit ein Inbegriff für grenzenlose Freiheit geworden.
Auch Katzen bewegen sich mit großer Leichtigkeit und Eleganz. Anders als die meisten Menschen scheinen sie die Schwerkraft nicht als eine Kraft zu erleben, die schwer macht. Sie bewegen sich mit minimalem Aufwand, ohne dabei schwer zu wirken. Beim Jagen sitzen sie aufmerksam, hellwach, ohne sich zu bewegen und ohne Verspanntheit, bis sie im entscheidenden Moment zielsicher reagieren.
Die Tiere und ihr Verhalten wurden durch die Evolution über tausende von Jahren hindurch geformt und optimiert. Sie leben angepasst an ihre Umgebung. Ihre Bewegungsmuster haben sich über lange Zeiträume gebildet. Wir könnten sie Meister des Nicht-Tuns nennen. Doch verstehen wir nicht unter wahrer Meisterschaft eigentlich das bewusste Einsetzen der eigenen Mittel? Die Tiere treffen jedoch keine bewusste Entscheidung, sie reagieren automatisch in instinktiver Weise.
Vor fast 200 Jahren hat Heinrich von Kleist in hellsichtiger Weise Tier und Mensch in schönen Bildern gegenübergestellt. Ein sehr geübter Fechter liefert sich ein Duell mit einem Bären:
Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterposition. … Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte meinen Stoß. … Nicht bloß, dass der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein.3
Der Mensch scheint hier durch seinen Verstand, der ihn reflektierend denken lässt, im Nachteil. Die Geburt des menschlichen Verstandes – in der Bibel als Kosten vom Baum der Erkenntnis beschrieben – führt zur Vertreibung aus dem Paradies. Eine unbewusste, natürliche Leichtigkeit und Einfachheit – Kleist nennt es Grazie – ist dem Menschen dadurch verloren gegangen. Wir können die Bewegungen der Tiere bewundern, in deren Unbewusstheit können wir nicht zurück. So stellt sich die Frage: Können wir den Weg des wachsenden Bewusstseins weitergehen, um die verlorene Einfachheit und Anmut wiederzugewinnen?
Kleist gibt uns am Ende der Schrift »Über das Marionettentheater« eine visionäre Antwort:
Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. … so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat.4
Kapitel II und III werden uns Möglichkeiten zeigen, einen solchen Weg zu gehen.
… müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen,um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?Heinrich von Kleist »Über das Marionettentheater«5
Wenn Menschen Sport treiben, so haben sie ein bestimmtes Ziel vor Augen. Meist wollen sie gewinnen, schneller laufen oder etwas besser machen als zuvor. Die Einstellung – die Gedanken und Gefühle –, die ein Mensch in die sportliche Aktivität mitbringt, kann dabei förderlich oder hinderlich sein.
Das menschliche Bewusstsein, das sich selbst erkennt und sagt, »ich bin«, ist eine Errungenschaft der Evolution. Es hilft uns, Probleme zu lösen, uns unsere Welt zu gestalten, doch scheint es oft gegen uns zu arbeiten. Auch hierfür gibt uns Kleist in unvergleichlicher Weise ein Beispiel. Er lässt seinen Erzähler ein unscheinbares Ereignis schildern, bei dem ein junger Mann durch einen Moment der Selbstbeobachtung die Anmut in seinen Bewegungen verliert:
Ich sagte, dass ich gar wohl wüsste, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden.6
Darauf erzählt Kleist die Geschichte eines jungen Mannes, der den Fuß hebt, um sich abzutrocknen, und der sich beim Blick in den Spiegel der Ähnlichkeit seiner Grazie mit einer bekannten Statue bewusst wird:
Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch missglückte. Er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! Er war außerstande, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen. … Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.7
Wem Kleists Schilderung zu poetisch klingt, der sei auf das Buch »The Inner Game of Tennis« von Timothy Gallwey verwiesen. Er beschreibt ähnliche Phänomene aus seiner Praxis als Spieler und Trainer: Spieler, die einfach nur Tennis spielen, ohne dabei reflektierend nachzudenken, vollbringen oft Höchstleistungen. Sie sind präsent, wissen, wo der Ball im gegnerischen Feld landen soll, denken aber nicht über Schlägerhaltung oder den Schlag nach. Fangen sie an zu reflektieren oder versuchen sie einen erfolgreichen Schlag zu wiederholen, so scheitern sie oft kläglich, da ihnen die Unbefangenheit und Natürlichkeit fehlt. Diese lassen sich durch direktes Tun und Wollen nicht wiederholen.
Timothy Gallwey nennt unseren reflektierenden und zweifelnden Anteil Selbst 1 und den unbewusst automatisch funktionierenden Anteil Selbst 2. Seine Hauptaufgabe als Trainer und Spieler sieht er darin, Selbst 1 zur Ruhe zu bringen und Selbst 2 ungestört arbeiten zu lassen. Dieses Modell ist einfach und leicht anwendbar, kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesen beiden Anteilen um zwei qualitativ sehr verschiedene Dinge handelt. Selbst 1 ist unsere Ich-Identität (Anhang 9) und der menschliche Verstand, eine im Zeitrahmen der Evolution betrachtet erst vor kurzem entwickelte Kraft. Selbst 2 bezeichnet das Erbe der Evolution in uns: ältere unbewusste Muster und Instinkte, unseren Zugang zu einer Urkraft, die sich schwer benennen lässt. Das Vertrauen auf diese Kräfte, die Gallwey Selbst 2 nennt, kann uns helfen, natürliche Abläufe nicht zu stören. Wenn wir darauf vertrauen, dass etwas in uns den perfekten oder angemessenen Schlag kennt, können wir uns dem Moment überlassen. Unser Bewusstsein hat dann die Aufgabe, diesen Prozess nicht zu stören. Um Selbst 1 aus dem Spiel herauszuhalten, schlägt Gallwey unter anderem vor, sich auf die Nähte des Balles zu konzentrieren, seine eigenen Schläge nicht zu beurteilen und außerdem Topspieler zu kopieren, indem man sich mit ihnen identifiziert.
Auch F. M. Alexander bezieht sich in »Universal Constant in Living« an einer Stelle auf den Tennissport. Er schildert ein Erlebnis des Tennisspielers W. H. Austin, das zeigt, welche Steine wir uns durch unser Denken oft selbst in den Weg legen:
(Beim Turnier) in Wimbledon habe er einmal so schlecht gespielt, dass er sich entschied, nicht mehr versuchen zu wollen, den Satz zu gewinnen. Sobald er jedoch diese Entscheidung getroffen hatte, begann er wieder gemäß seiner normalen Form zu spielen. Als Folge dieses verbesserten Spiels entschied er sich, jetzt zu versuchen, den Satz nach all dem doch noch zu gewinnen. Sogleich kehrte er dabei wieder zu seiner mittelmäßigen Spielweise zurück, die ihn zuvor veranlasst hatte, das Gewinnenwollen aufzugeben.8
Spiele wie Tennis und Golf konfrontieren uns als Individualsportarten besonders stark mit unserem Wollen und angestrengten Versuchen. Nach anfänglichen schnellen Fortschritten und Spaß erleben viele Golfer Unzufriedenheit und Frustration bei ihrem Sport. Werden wir mit unseren Leistungen unzufrieden, dann versuchen wir, uns durch mehr Bemühen und angestrengtes Tun zu verbessern. Wir entfernen uns damit von der Quelle unserer Kraft. Der daraus folgende Misserfolg treibt uns zu noch größeren Bemühungen. Dies ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Wir befinden uns in einer Spirale der Leistungsfähigkeit nach unten.
Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg, sagt man. Wenn wir zufrieden mit unseren Leistungen sind, können wir uns ungestört dem Moment und dem Spiel überlassen. Spaß und Freude führen zu unverkrampften Muskeln. Wir strengen uns nicht an und versuchen nicht, etwas besser zu machen. Vielleicht lassen uns weitere Erfolge immer müheloser agieren. Wir sind in einer Spirale nach oben, die uns zum Erlebnis großer Leichtigkeit führen kann. Es scheint alles zu gelingen, ganz von alleine.
Befindet sich ein Sportler in einem Zustand, in dem ihm alles ohne eigenes Bemühen, spielerisch wie von selbst zu gelingen scheint, so spricht man von »Flow« oder von »Being in the zone«. Roy Palmer gibt in seinem Buch »Zone Mind, Zone Body« zahlreiche Beispiele für diesen geheimnisvollen Zustand:
Der Basketballer Michael Jordan erlebte ein Spiel, in dem ihm alles mühelos gelang. Er hatte das Gefühl, dass nichts schiefgehen konnte. Doch der auftauchende Gedanke, wahrscheinlich in »the zone« zu sein, vertrieb diesen Zustand.
Sebastian Coe konnte die Laufzeit bei seinem 800-Meter-Weltrekord 1979 nicht glauben. Er war ohne Anstrengung gelaufen und hatte kein Gefühl für seine Schnelligkeit. Sein um 1,1 Sekunden verbesserter Weltrekord hatte 16 Jahre Bestand.
Eine Schwimmerin, die offensichtlich das Rennen ihres Lebens schwamm, gab bei einem großen Vorsprung auf der letzten Bahn auf. Sie berichtete später, das Wasser nicht mehr gespürt zu haben. Die Leichtigkeit, mit der sie sich durchs Wasser gleiten ließ, fühlte sich für sie falsch an.
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Die wichtigsten Merkmale, die Roy Palmer für diesen Zustand angibt, sind:
Ganz präsent, vollständig im Hier und Jetzt zu sein, mit einem Gefühl von verlangsamt ablaufender Zeit.
Völlige Mühelosigkeit, alles kann ohne eigenes Zutun ablaufen.
Ohne Angst und ohne nachdenkendes Ich (
Anhang 9
) zu sein.
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Sportler geraten unerwartet in diesen Zustand und fallen heraus, wenn sie sich dieser besonderen Momente bewusst werden.11 Selbst Spitzensportler, die viel Erfahrung damit gemacht haben, gelangen öfter im Training als im Wettkampf in diesen Zustand. Ihr Siegeswille und das stärkere Zielstreben (II.3.4) im Wettkampf scheinen dem geheimnisvollen Zustand im Wege zu stehen.
Siegeswille und Versagensängste eines Golfers sind im Film »Die Legende von Bagger Vance« eindrucksvoll geschildert. Auch wenn es sich hierbei um eine Fiktion handelt, macht der Film deutlich, in welchem Auf und Ab sich Sportler oft befinden, und zeigt einen Ausweg aus der Falle des verzweifelten, erfolglosen Bemühens: Ein viel bewundertes, legendäres Nachwuchstalent verliert durch traumatische Kriegserlebnisse seine Fähigkeit, einen Golfball erfolgreich zu schlagen. Verzweifeltes Üben bis in die Nacht hinein bringt keine Verbesserung. »You lost your swing. We got to find it«12, sagt Bagger Vance, der aus dem Dunkel der Nacht erscheint und sich der ehemaligen Golfhoffnung als Caddy anbietet.
Bagger übernimmt im Weiteren die Rolle eines Trainers und Zenlehrers: »Es gibt nur einen Schlag, der in vollkommener Harmonie mit dem Feld ist. … Es gibt einen perfekten Schlag, der jeden von uns finden will. Alles, was wir tun müssen, ist, aus dem Weg zu treten und uns von ihm auswählen zu lassen.«13
In dem folgenden Turnier, dem der Held sich nicht entziehen kann, erleben wir ihn zunächst als von Selbstzweifeln gelähmt. Als er seine Schlagtechnik wiederfindet, oder besser ausgedrückt, als er frei wird vom Versuch, es richtig zu machen, und der richtige Schlag durch ihn geschieht, ist er im »Flow«. Dieser hält an, bis sein Ich zu triumphieren beginnt, er übermütig wird und erst nach vielen misslungenen Schlägen und Verzweiflung wieder zu einem selbstlosen Spiel zurückfindet.
Golf ist ein Spiel, das man spielen, aber nicht gewinnen kann.Aus dem Film »Die Legende von Bagger Vance«14
Unsere Gedanken spiegeln unseren Zustand und unser Handeln, sie werfen uns oft aus dem natürlichen Fluss. Betrachten wir noch einmal die Beispiele des letzten Kapitels: Der Jüngling in Kleists »Marionettentheater« wurde sich seiner Grazie bewusst und versuchte daraufhin, die anmutige Bewegung direkt zu tun. Der von Alexander zitierte Tennisspieler in Wimbledon konnte sich nur durch den Entschluss, den Satz nicht zu gewinnen, vom Druck seines verbissenen Wollens befreien, allerdings nur, bis er sich doch wieder vornahm zu siegen. Roy Palmers beschreibt, dass bei Michael Jordan der reflektierende Gedanke, er sei wohl im Flow, ausreichte, um ihn zu entzaubern. Besonders ungünstig scheint sich in all diesen Fällen das beurteilende Denken auszuwirken. Um dieses zu verändern, müssen wir zunächst Aufmerksamkeit dafür entwickeln, was in unserem Kopf vorgeht, denn oftmals nehmen wir unsere Gedanken und Gefühle nicht bewusst wahr.
Experiment
Setzen Sie sich in einen ruhigen Raum und seien Sie innerlich still. Beobachten Sie, ob Gedanken kommen. Wie lange können Sie gedankenlos sein? Die meisten Menschen haben schon nach wenigen Sekunden Gedanken, die sie aus dem Hier und Jetzt forttragen. Ein Gedanke hängt sich assoziativ an den anderen. Ehe wir es merken, tragen uns die Gedanken weit in die Vergangenheit oder Zukunft und an einen anderen Ort.
Ein weiteres interessantes Experiment ist es, Gedankenketten zu rekonstruieren. Hier ein Beispiel: Ich gehe spazieren und nehme die mich umgebende Landschaft wahr. Nach einer gewissen Zeit versinke ich, ohne es zu bemerken, in meiner Gedankenwelt. Plötzlich wache ich auf und realisiere, dass ich in der Zwischenzeit geträumt habe. Ich habe mich vom Strom meiner Gedanken forttragen lassen, ohne zu merken, wo ich bin. Zwar bin ich nicht gestolpert, denn ich habe mich wie ein Flugzeug mit Autopilot fortbewegt, doch ich war nicht im Cockpit anwesend und konnte den Weg nicht genießen. Vielleicht erinnere ich mich an die Gedanken während dieser Zeit und kann mich von einem zum anderen zurückhangeln bis zu dem Moment, in dem ich zuletzt die Landschaft wahrgenommen habe. Dabei kann ich erkennen, wie ein Gedanke durch irgendeine Verbindung sich an den nächsten hängt, aus ihm erwächst. Ein Prozess, der oft ohne meinen Willen abläuft, denn eigentlich wollte ich im Gehen die Landschaft genießen, ganz im Hier und Jetzt sein.
Manchmal sind es quälende Gedanken, oft gedacht, die beharrlich wiederkehren, vermischt mit Ängsten um die Zukunft, Ärger über Vorfälle in der Vergangenheit. Der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle, auf den ich im Kapitel III genauer eingehen möchte, hat dies in extremer Form erlebt. Er war als Doktorand an einer Universität und litt sehr heftig unter Zukunftsängsten. Die bohrenden Gedanken ließen ihn nicht einmal nachts Ruhe finden. Im Rückblick stellte er fest, dass sein Verstand ihn permanent mit Gedankenlärm überschüttet hatte. Dieser unerträgliche Zustand löste sich eines Nachts in einem traumartigen Erleben auf und ließ ihn in völliger Ruhe zurück.
Oft scheinen es extrem widrige Umstände zu sein, die Menschen fundamentale Entdeckungen machen lassen. Wir werden diesem Phänomen bei F. M. Alexander wiederbegegnen, der sich als Schauspieler und Rezitator nicht mehr auf seine Stimme verlassen konnte – bei seiner Leidenschaft für die Bühne sicher eine verzweifelte Situation. Eckhart Tolle wurde die Lösung seiner inneren Probleme über Nacht geschenkt, doch er brauchte Jahre, um zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Nach und nach erkannte er seinen früheren Zustand als verschärfte Form eines universellen Phänomens.
In seinem Buch »The Power of Now » beschreibt Eckhart Tolle, wie der Verstand und das von ihm gebildete Ich (Anhang 9) unser Leben bestimmen. Wir identifizieren uns mit unseren Gedanken und erzeugen so ein immer stärkeres Ich, das eine Ansammlung unserer Gedanken und Überzeugungen ist. Zweifelt jemand an unseren Überzeugungen, dann fühlen wir uns persönlich angegriffen. Dieses illusionäre Ich lässt uns als eine Art falsches Selbst vergessen, wer wir im tiefsten Inneren wirklich sind. Wir erleben uns als getrennt von der übrigen Welt. Diese wird dadurch zu einer Art Gegner, gegen den wir uns behaupten müssen. All das erzeugt eine Angst, die unseren Verstand in Unruhe versetzt. Wir gebrauchen den Verstand dabei nicht mehr als Werkzeug, vielmehr scheint er uns zu gebrauchen.
Der Gedankenstrom und das Ich verstellen uns den Zugang zur Quelle voller Leitungsfähigkeit und wahrer Kreativität. Besonders das Urteilen stärkt dieses falsche Selbst. Wir fühlen uns besser oder schlechter als ein anderer, wir fühlen uns überlegen und werden selbstherrlich oder wir sehen uns als unterlegen und nicht gut genug. Selbst dies kann uns eine starke Identität verleihen: »ich Armer«. Beide Arten von Beurteilung – seien sie positiver oder negativer Natur – lassen die Ich-Aktivität stark anwachsen. Unsere Bemühungen, etwas zu erreichen, sind im ersten Fall geprägt von Unaufmerksamkeit, fehlender Sensibilität und Wahrnehmung der Situation und im zweiten von Anstrengung, Verunsicherung und nagendem Selbstzweifel. In beiden Fällen sind wir weit davon entfernt, im Flow zu sein. Die drei oben genannten Merkmale für den Flow-Zustand haben sich genau umgekehrt:
Wir sind nicht präsent, denn die anstehende Aktivität ist nur Mittel zum Zweck, unsere Überlegenheit zu demonstrieren oder unsere Fähigkeiten und unseren Wert zu beweisen.
Alles geschieht mit großer Mühe, denn wir fühlen uns auf dem Prüfstand und kämpfen um eine größere Anerkennung.
Wir sind von der Angst zu versagen oder zu unterliegen getrieben, denn das um Selbstbehauptung ringende Ich sieht sich einer feindlichen Welt gegenüber.