Die Kraft des Nicht-Tuns - Helmut Rennschuh - E-Book

Die Kraft des Nicht-Tuns E-Book

Helmut Rennschuh

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

"Nicht-Tun" bezeichnet ein müheloses Geschehenlassen, ein Handeln, das frei von Anstrengung und Wollen ist. Als Wu-Wei spielt es in der Lehre vom Tao eine entscheidende Rolle, findet sich jedoch in vielen Methoden und Lebensbereichen. Auch wenn es in unserer von Wettbewerb geprägten Leistungsgesellschaft als eine exotische Idee erscheinen mag, erweist sich das Nicht-Tun bei genauerem Hinschauen als ein besonders effizienter, natürlicher und wahrhaft ganzheitlicher Weg. "Die Kraft des Nicht-Tuns" verdeutlicht die unterschiedlichsten Facetten des Nicht-Tuns. Meditation, Kreativität, körperliche Bewegung und Koordination, Sport, Musik, Heilung und Erleuchtung sind einige der Themenfelder. Lebensgeschichten von F.M. Alexander, Heinrich Jacoby, Joe Dispenza, Clemens Kuby, Eckhart Tolle, Byron Katie und Michael Singer stehen neben Erlebnisberichten zu den Themen Flow, künstlerisches Schaffen und Begabung. Statt eine einzelne Methode zu beschreiben oder sich dem Thema analytisch zu nähern, wird ein Bild des Nicht-Tuns entworfen, das mit jedem Fallbeispiel farbiger, vielschichtiger und lebendiger wird. Durch Geschichten, poetische Bilder, Übungen und Reflexionen wird Nicht-Tun für den Leser erlebbar.

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Seitenzahl: 399

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Widmung

Von unseren Kindern können wir genauso viel lernen wie sie von uns.

Meiner Tochter Nathaly in Liebe und Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Ursprung: Die Lehre vom Tao

Laotse

Uralte Wege: Zen und der Weg des Buddhas

Siddhartha, Eugen Herrigel

Der Geist wirkt durch den Körper: Alexander-Technik und der Weg des Künstlers

F.M. Alexander, eigene Erlebnisse am Klavier

Unerwartet: Flow in Musik und Sport

Berichte von Sportlern

Der Weg des Kreativen: „Entfaltung“ des Menschen und Raum für Einfälle

Heinrich Jacoby, Berichte von Komponisten, Wissenschaftlern und Schriftstellern

Ursachenforschung: Neurofeedback, Naturwissenschaften und Mystik

Versuche zu Bewusstsein und Wahrnehmung

Fingerzeige des Lebens: Zufall oder Synchronizität?

J.G. Jung, Joseph Jaworski

Weckruf des Lebens: Wege der Heilung

Clemens Kuby, Joe Dispenza

Das Leben verwandelt: Plötzlich erleuchtet

Eckhart Tolle, Byron Katie

Die Kunst der Hingabe: Surrender als Weg

Michael Singer

Zum Schluss: Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen

Eine alltägliche Geschichte

Nachklang: Nicht-Wollen, Innehalten und Surrender

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Manches lässt sich nur durch eine Verneinung beschreiben. Dabei kommt man von etwas Bekanntem und leicht Vorstellbarem zu etwas „Unbekanntem“ und „Unvorstellbarem“. Eine Grenze beispielsweise ist etwas recht Konkretes, genau wie ein Ende. Hat etwas keine Grenze oder kein Ende, so ist es „grenzenlos“, „unendlich“ oder „endlos“ und damit eine Herausforderung für unsere Vorstellungskraft.

Geradeso verhält es sich mit dem „Nicht-Tun“. Es bezeichnet einen Zustand oder eine Handlung, die ohne das vertraute „Tun“ ist. Doch was ist dies vertraute „Tun“?

Bei dem uns vertrauten Tun gibt es einerseits einen Handelnden, ein Subjekt, und auf der anderen Seite ein Ding, mit dem etwas getan wird, ein Objekt. Beide sind klar unterschieden. Doch ist das wirklich immer so?

Betrachten wir ein Beispiel: Ein Pianist spielt Klavier. Subjekt und Objekt scheinen klar erkennbar. Stellen wir uns die Situation bildlich vor, dann erscheint die Frage, wo der Pianist endet und wo das Klavier beginnt – die Frage also nach einer Trennlinie zwischen Mensch und Instrument – zunächst völlig unsinnig, denn die Antwort scheint so offensichtlich, dass die Frage eben ohne Sinn und damit überflüssig erscheint.

Fragt man nun aber einen Pianisten, so könnte es sein, dass man eine sehr überraschende Antwort erhält. Der 1991 verstorbene Claudio Arrau, ein wahrer Meister des Klavierspiels, gab beispielsweise an, dass er das Instrument immer als einen Teil seiner selbst, als ein Glied seines Körpers empfunden habe.1

Dies zeigt, dass, ungeachtet des äußeren Anscheins, der Handelnde eine Aktivität so erleben kann, als wären die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt vollständig aufgehoben und als täte er im herkömmlichen Sinne selbst gar nichts. Natürlich könnte man solche Eindrücke als rein subjektiv abtun, wäre da nicht auch im Außen etwas Außergewöhnliches für den Beobachter wahrzunehmen. Etwas Ungewöhnliches, ja scheinbar Magisches, das der Handlung eine außerordentliche Qualität verleiht.

Tatsächlich findet man die Bezeichnung „Magier des Klaviers“ oder „Magier der Tasten“ bei außergewöhnlichen Pianisten gar nicht so selten. Doch berichten beispielsweise auch Bergsteiger von „magischen Momenten“, in denen die gewöhnliche Ordnung der Dinge – hier der Mensch, dort der Berg – sich aufzulösen scheint und etwas an seine Stelle tritt, das man, einfach gesagt, als eine Art Einheitserfahrung bezeichnen könnte.

Hier, in solch zugegebenermaßen außerordentlichen Beispielen, zeigt sich etwas, das in abgeschwächter Form auch im Alltag erfahren werden kann. Und hier, an diesen Beispielen, wird der Unterschied zum gewöhnlichen „Tun“ besonders klar erkennbar.

Während ein Handelnder sich beim Tun um ein bestimmtes Ergebnis bemüht, sich oftmals dabei anstrengt und mit dem Objekt seiner Handlung abmüht, um ein in der Zukunft liegendes Ziel zu erreichen, erfährt derjenige, der im Nicht-Tun handelt, etwas völlig anderes: Mit dem gegenwärtigen Moment und dem Objekt seiner Handlung verbunden, ist er gleichsam Teil eines Geschehens, das ohne sein Wollen abzulaufen scheint. Statt mit dem Ziel ist er mit dem gegenwärtigen Moment verbunden, statt sich zu bemühen, folgt er dem sich vor ihm auftuenden Weg. Da er sich nicht als getrennt erlebt, geht er mit dem Fluss der Bewegung oder des Geschehens – daher spricht man manchmal von „Flow“.

Auch wenn solche Momente sich bei Künstlern, Bergsteigern oder bei bestimmten Tätigkeiten besonders deutlich zeigen, so können sie – wenn vielleicht auch in milderer Form – selbst bei den einfachsten Bewegungen im Alltag erlebt werden. Entscheidend ist die innere Einstellung. Diese zu erforschen ist Anliegen der folgenden Kapitel.

Wenn wir uns also im Folgenden ungewöhnlichen, in den ersten beiden Kapiteln sogar sagenhaften Ereignissen zuwenden, so geschieht das vor allem deshalb, weil die innere Einstellung, die das Nicht-Tun fördert, auf diese Weise besonders deutlich werden kann.

Je klarer diese innere Einstellung erfasst wird, desto eher kann sie verinnerlicht und damit Nicht-Tun im Alltag, aber auch bei gewissen ambitionierten Tätigkeiten, angeregt werden.

Natürlich hört man nicht nur im Zusammenhang mit Bergsteigen oder Musik oft den Satz: „Übung macht den Meister.“ Doch ist es wirklich so einfach? Mancher übt sein Leben lang, ohne Meisterschaft zu erreichen. Das Üben allein kann es also nicht sein. Was ist es dann? Begabung?

Ohne mich bereits an dieser Stelle auf eine Erörterung von „begabt“ und „unbegabt“ einzulassen, sei hier nur soviel verraten: Beides, Begabung wie auch Meisterschaft, erfordert eine gewisse innere Einstellung. Ohne eine solche Einstellung kann sich weder Begabung noch Meisterschaft zeigen.

Einfach gesagt: Nicht nur beim Üben ist die entscheidende Frage die Frage nach dem „Wie?“. Darum soll es im Folgenden gehen.

Um etwas zu tun, braucht es jemanden, der die Tat ausführt. Wenn du hingegen dein Tunmeditierst, hast du schon jeden Gedanken losgelassen – sogar den Gedanken an ein Ich. Es bleibt kein Ich mehr, das die Tat ausführen könnte. Sie tut sich von selbst – und indem du dich vergisst, wirst du selber zur Tat, die sich tut. Und so wird dein Handeln frei, spontan, ohne Ehrgeiz, Angst oder Hemmungen.

Der Pfad des friedvollen Kriegers2

Einleitung

Nicht-Tun bezeichnet eine bestimmte Art völlig mühelosen Handelns. Eine Handlung läuft dabei so leicht und ungestört ab, dass es sich anfühlt, als tue man selbst gar nichts, sondern als geschehe alles von allein. Grundlage dafür ist eine bestimmte Einstellung, mit der wir an eine Aufgabe herangehen. Eine solche Einstellung erzeugt ein harmonisches Miteinander. Unser Körper, unser Geist und die Umgebung, in der wir uns bewegen, sind in einem Zusammenspiel vereint, sie wirken aufeinander und vor allem miteinander. Nicht-Tun entsteht, wenn wir lernen, ein natürliches Geschehen in uns oder in der Außenwelt ablaufen zu lassen, ohne es zu stören. Das bedeutet, mit der Handlung und unserer Umgebung eins zu werden, ohne uns darin zu verlieren.

Den Gegensatz zu dieser innigen Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment, dem Verschmelzen und der Hingabe, bildet das Gefühl, einer mehr oder weniger feindseligen Welt gegenüberzustehen, die uns beständig Widerstände entgegensetzt. Der Kampf mit diesen Widerständen erzeugt ein angestrengtes Tun.

Kaum jemand bemerkt, wie sehr sein persönliches Leben von unbewusstem, gewohnheitsmäßigem Handeln auf der einen und von angestrengtem Bemühen auf der anderen Seite geprägt ist. Beides entspringt einem Ich, das etwas erreichen möchte, sich durchsetzen will und versucht, sich gegenüber anderen auszuzeichnen. Doch dabei lässt uns das Ich den tieferen Sinn des Lebens vergessen. Es führt uns in Einsamkeit und Entfremdung. Je mehr wir aus diesem Ich heraus denken und handeln, desto weiter entfernen wir uns vom Leben und verlieren uns im Tun.

Das Nicht-Tun ist so etwas wie ein tiefes Geheimnis – das Geheimnis des Lebens. Als solches erscheint es uns in der alten chinesischen Weisheitslehre vom Tao und wird dort „Wu-Wei“ genannt. Nicht-Tun ist wie das Fließen des Wassers: einfach, weich und natürlich. Einmal erleben wir es spielerisch dahinplätschernd und belebend wie in einem Bach, einmal kraftvoll strömend wie in einem Fluss. Seine Erscheinungsformen sind vielfältig. Es sind glückliche Momente, in denen uns etwas leicht von der Hand geht, etwas wie von allein gelingt, in denen wir uns verbunden fühlen mit dem Augenblick, einem anderen Menschen oder einer Handlung.Wo das Abgrenzende „ich muss jetzt“ oder „ich will“ sich in ein einfaches, stilles „ja“ verwandelt hat.

Als sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die Lehre Buddhas in China verbreitete, entstand aus der Berührung mit der Lehre vom Tao die Urvariante des Zen. Später dann, im 13. Jahrhundert, gelangte Zen nach Japan. Hier beeinflusste es die unterschiedlichsten Übungswege, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Dennoch gleichen sie sich an entscheidender Stelle: Immer geht es darum, aus einem ichlosen Zustand der Absichtslosigkeit heraus ein Geschehen ablaufen zu lassen, das durch ein direktes Tun nicht gefördert, sondern nur gestört werden kann.

Der Zen-Mönch erfährt beim langen Sitzen in der Meditation, wenn er alles Wollen und alle angespannte Konzentration hinter sich lassen kann und sich ganz dem stillen Sein hingibt, eine geistige Kraft, die jenseits seines persönlichen Bewusstseins liegt. In den Kampfkünsten findet diese Kraft ihren Ausdruck auf der körperlichen Ebene: Die Schwertkunst, in der es ursprünglich um Leben und Tod ging, lehrt den Schüler alles Bemühen und alles Wollen hinter sich zu lassen und stattdessen eins mit dem Moment und dem Gegner zu werden, um dessen Bewegungen vorauszuahnen und ohne Denken und Planung unmittelbar zu reagieren. Ähnlich ist es auch in der Zenkunst des Bogenschießens, die kein Wettbewerb, sondern eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Sein ist. Erst wenn es dem Schützen gelingt, das Ziel zu vergessen und mit dem Moment, mit Pfeil und Bogen und der Scheibe eins zu werden, erfährt er etwas, das mit „Es schießt“ beschrieben wird.

Die Kampfkünste lassen erkennen, wie bedingungslos, ohne eigne Ziele und Eitelkeiten, wir uns einer Sache hingeben können. Erst dann öffnet sich der Weg zum Nicht-Tun. Doch die Kampfkünste lehren uns auch, dass die wahre Natur des Nicht-Tuns nicht kämpferisch hart ist, im Gegenteil, es ist das Sanfte und Weiche, welches das Nicht-Tun vor allem auszeichnet.Wie das Wasser ist es weich und kraftvoll. In seinem beständigen Fließen durchsetzungsstark, doch zugleich frei formbar und wandelbar. In seiner Anpassungsfähigkeit verliert es nie seine Natur, es bleibt stets dasselbe Wasser. Sein Fließen ist immer ein Fließen im Moment, auch wenn es seine Form, die sich im gleichmäßigen Dahinströmen eines Baches zeigt, nicht verändert.

Die Geschichten und Erlebnisberichte der folgenden Kapitel zeigen beides, das sich bedingungslos Hingebende ebenso wie die Leichtigkeit, mit der am Ende alles wie von allein geschieht. Manchmal gehen dem Moment des mühelosen Geschehens Jahre des konsequenten Übens voraus.Manchmal entsteht das Nicht-Tun in einer existenziellen Krise, in der uns der Weg, einfach so weiter zu machen, verstellt ist. So unterschiedlich die Felder, in denen das Nicht-Tun sich beobachten lässt, und die Anlässe, die es hervorrufen, auch sein mögen, immer zeigen sich gewisse Gemeinsamkeiten, die das Nicht-Tun und sein Auftreten charakterisieren.

Nicht-Tun ist zutiefst natürlich und sehr einfach, so einfach, dass es nicht zu finden ist, wenn wir danach suchen. Denn jedes Suchen,Wollen und Bemühen ist bereits ein Verlust der Einfachheit. Zum Nicht-Tun gehört das Präsent-Sein, es entspricht ihm. Beide gehen Hand in Hand, sind unzertrennlich und lassen uns das Leben, das in uns und durch uns wirkt, in all seiner rätselhaften Kraft und Tiefe erfahren.

Indem wir uns innig mit dem gegenwärtigen Moment verbinden, werden wir eins mit ihm.Weder verharren wir dann mit unserem Denken und Fühlen in der Vergangenheit noch streben wir im Erreichen-Wollen der Zukunft entgegen – einer erdachten Zukunft, die sich nie erreichen lässt, weil sie sich auflöst und zur Gegenwart wird, während wir in der Zeit voranschreiten.

Wenn wir wirklich präsent sind, sind wir ganz im Hier und Jetzt. Das klingt merkwürdig. Wo sollten wir sonst sein? Das Leben ist immer nur hier und jetzt. Und doch verlieren wir uns nur allzu gern in Verkomplizierungen, die uns scheitern und das Wichtigste – das, was jetzt ist – vergessen lassen. Das Leben hingegen ist einfach und natürlich. Es ereignet sich nur im Augenblick.

All dies, so selbstverständlich es erscheinen mag, enthält eine tiefe Wahrheit – und ist, wenn wir es wirklich erlebt haben, für uns alles andere als selbstverständlich.

Die Frage, wie wir den gegenwärtigen Moment und mit ihm das Nicht-Tun erleben können, werden die folgenden Kapitel beantworten. Der folgende Satz, so merkwürdig er klingen mag, beschreibt das entscheidende Hindernis, dem wir dabei begegnen: Wer den gegenwärtigen Moment sucht, wird ihn nicht finden, denn was er sucht, verliert er beim Suchen. Wieder geht es um Einfachheit. Die Natur kann sie uns lehren.

In der Natur gibt es eine Harmonie, die uns staunen lässt. Sie zeigt sich in der Gestalt eines einzelnen Baumes ebenso wie in der Landschaft eines Nationalparks, in die lange nicht störend eingegriffen wurde.Die Anmut von Tieren – besonders gut bei Katzen zu beobachten – zeigt eine Mühelosigkeit der Bewegung, die uns Menschen meist fremd ist. Die Anmut der Tiere können wir uns als Vorbild nehmen und doch können wir ihnen im Nicht-Tun nicht so einfach folgen. Denn unser Denken und Urteilen verstellt uns den Weg zu ihrer Art der Einfachheit. Wir können nicht zurück ins Tierreich – noch wäre das wünschenswert. Wir müssen unseren eigenen Weg finden, einen Weg im Einklang mit der Natur, die uns umgibt und die als unsere „eigene Natur“ in uns wirkt.

Wir sehen in der Natur ein ungeheures Netz von Verbindungen, alles hängt miteinander zusammen, alles arbeitet miteinander. Wenn wir in der Natur sind oder Tiere beobachten, spüren wir etwas, das uns berührt, das einfach und natürlich ist.Wir sind, wie alles Leben, in einer langen Evolution als Teil der Natur – man könnte auch sagen „der Schöpfung“ – entstanden. Wir sind Teil der Natur und folgen ihren Gesetzen. Wenn wir dies nicht nur wissen, sondern auch erleben, werden wir wahrhaft „heil“: einfach, natürlich und ganz.

Im Nicht-Tun verbinden wir uns mit unserem natürlichen Ursprung. Wir können es „das Leben“, „den gegenwärtigen Augenblick“ oder „das Göttliche“ nennen. Im engeren Sinne ist Nicht-Tun ein müheloses Handeln, das sich durch eine besondere Harmonie in der Bewegung, aber auch durch die Qualität unserer Handlung auszeichnet.Wir erleben ein körperliches Wohlbefinden, eine besondere Verbundenheit mit dem gegenwärtigen Moment oder auch ein Gefühl von großer Leichtigkeit und Freiheit. Das Ergebnis eines solchen Handelns kann ein handwerklicher Gegenstand von besonderer Schönheit, das Erklingen eines Musikstücks, das andere Menschen bezaubert, oder einfach nur eine alltägliche Bewegung sein, die sich anfühlt, als hätten wir sie nicht selbst ausgeführt.

Doch all das ist nur ein Teil des Phänomens „Nicht-Tun“. Wie bei einem Eisberg, dessen weitaus größerer Bereich dem Blick verborgen bleibt, da er unter der Wasseroberfläche liegt, zeigt sich bei genauerer Untersuchung etwas noch Umfassenderes. Von diesem Umfassenderen werden uns die folgenden Geschichten und Berichte zumindest eine Ahnung geben. Denn im weiteren Sinne lässt sich Nicht-Tun als etwas sehr Grundlegendes verstehen, als ein Geschehen, das ganz ohne unser Zutun, wie von selbst abläuft – als etwas, das wir zwar nicht hervorrufen, doch durch unsere innere Einstellung begünstigen können.

Hinweis

Während analytisches Denken zerteilt und vereinfacht, sprechen Bilder, Analogien und Geschichten eine Sprache, die am ehesten geeignet ist, unaussprechliche Weisheiten anzudeuten. Dieser möchte ich mich so oft wie möglich bedienen. Ich hoffe, damit einem tieferen Verstehen den Weg zu bahnen.

Die kurzen Abschnitte am Ende jedes Kapitels dienen dazu, das zuvor Behandelte zu verinnerlichen und zu vertiefen. Sie sollten, wie angegeben, nicht nur einfach gelesen, sondern zum Innehalten genutzt werden.

Im Folgenden gebrauche ich immer wieder märchenhafte Bilder vom Wasser. Bitte lassen Sie sich auf diese Darstellungsweise ein. Sie dient dazu, das Beschriebene nicht nur mit dem Kopf zu begreifen, sondern auch mit dem Herzen zu erfassen. Nur so kann es sich wirklich einprägen und nur vom Herzen aus kann es seine Wirkung entfalten.

Das Wasser

Nicht-Tun ist wie das Fließen des Wassers: einfach, weich und natürlich. Auch kraftvoll, denn Bach- und Flussläufe können im Laufe der Zeit tiefe Täler durch die Landschaft ziehen. Die Wellen des Meeres können sanft am Strand auslaufen, große Wellen können den, der sich ihnen in den Weg stellt, umwerfen oder gar als Naturgewalt bedrohliche Ausmaße annehmen.

Doch selbst eine zerstörerische Welle zeigt, wenn wir sie aus sicherer Ferne betrachten, eine Schönheit und Harmonie, die uns staunen lässt. Etwas ist in der natürlichen Bewegung des Wassers, das uns anspricht und dem wir gern zuschauen – sei es das Fließen eines Baches oder das Wogen und Brechen einer Welle.

Wir ahnen vielleicht, dass wir in einem solchen Betrachten Zeuge werden von einem elementaren natürlichen Geschehen, das als Natur und Leben nicht nur die äußere Welt, sondern auch uns selbst, unseren Körper und unseren Geist, atmend durchströmt.

Kann es etwas Einfacheres und zugleich Geheimnisvolleres geben als das Wasser? Alles Leben, so lehrt uns die Naturwissenschaft, kommt aus dem Wasser. Ist es da so verwunderlich, dass uns seine spiegelglatte Oberfläche genauso tief berührt wie sein Fließen und Wogen?

Das Tao ist wie das Meer.

Alle Flüsse fließen ihm zu.

Wolken entstehen aus ihm.

Seine Winde senden sie über das Land.

Ihr Regen macht die Erde fruchtbar,

speist Bäche und Flüsse.

Der Weise kennt den Lauf des Wassers.

Er schätzt Sonne wie Regen.

I

Ursprung

Die Lehre vom Tao

Die Ursprünge des Nicht-Tuns liegen im alten China. Die gleich folgende Geschichte führt uns dorthin. Sie erzählt die Legende von der Entstehung des Tao Te King, eines geheimnisvollen Buches, auf das sich die Lehre vom Tao gründet. Seine rätselhaften Schriftzeichen enthalten in nur 81 kurzen Abschnitten einen ganzen Kosmos tiefer Weisheiten.

Indem wir das Tao Te King an den Anfang unserer Betrachtungen stellen, wenden wir uns dem historischen Ursprung des Nicht-Tuns zu und stoßen damit gleich zu Beginn auf Beschreibungen, die teilweise recht schwer zu erfassen sind. Das liegt zum einen daran, dass wir dem Nicht-Tun hier in einer archaischen und radikalen, doch damit zugleich auch sehr reinen Form begegnen, zum anderen daran, dass die chinesischen Schriftzeichen sich aus einer Art Bildersprache entwickelt haben – in einer für westliche Leser fremden Kultur.

Wem das Folgende schwer verständlich erscheint, der möge es entweder überspringen und zu den „Handwerk“ genannten Übungen am Ende des Kapitels übergehen oder es, ohne alles verstehen zu wollen, einfach auf sich wirken lassen. In jedem Fall aber empfiehlt es sich, später, wenn die zahlreichen Beispiele und Geschichten der folgenden Kapitel ein klareres Bild des Nicht-Tuns haben entstehen lassen, dies erste Kapitel erneut zu lesen, denn es enthält in geheimnisvoller Weise bereits die Essenz des Ganzen.

Wie gesagt: Die Botschaft des Tao Te King ist nicht leicht zu fassen. Wer wirklich in sie eindringen möchte, wird unterschiedliche Übersetzungen zu Hilfe nehmen müssen. Jede ist ein Versuch, die Kraft des Originals einzufangen und ein Bild des Unaussprechlichen zu entwerfen.Vereinfacht ausgedrückt, deutet Laotse in seiner Lehre vom Tao auf ein zutiefst natürliches Geschehen, das allem Sein zugrunde liegt und das wir durch unser gewöhnliches Tun nur stören können. Allein das Nicht-Tun steht im Einklang mit den natürlichen Abläufen. Es stellt sich weder im Handeln noch im Nicht-Handeln diesem Geschehen entgegen und lässt es ungestört ablaufen.1 Die Weisheit des Tao Te King entspringt dem Nicht-Wissen – der Leere. Diese Weisheit der Leere führt zum Nicht-Tun, denn sie ist frei von Vorstellungen und festen Zielen.

Obgleich historisch fragwürdig, ist die nun folgende kurze Geschichte überaus erhellend, denn sie vermittelt einen treffenden Eindruck der scheinbar paradoxen Wahrheiten, die das Büchlein demjenigen, der sich in die zahlreichen Übersetzungen vertieft, preisgibt.

~

Vor 2500 Jahren gab es am Hofe des Zhou-Königs einen Archivar, der Laotse – „Alter Meister“ – genannt wurde.3Damals durchlebten die Menschen in China eine schwierige Zeit, eine Krisenzeit großer Unruhen und vieler Kriege. Das Chaos im Äußeren ließ viele nach innerer Orientierung suchen und so entstanden zahlreiche Philosophenschulen, deren bekannteste in dieser Zeit durch den von Staat zu Staat reisenden Konfuzius gegründet wurde.4Der Legende nach war Laotse ein Weiser, der dem Tao folgte und lehrte, ein einfaches Leben in Stille,Tugend und Wahrhaftigkeit zu führen – ohne nach Ruhm zu suchen.5

Es wird vermutet, dass Laotse über sich selbst spricht, wenn es im Tao Te King heißt:6

Alle Menschen sind fröhlich und ausgelassen, […] Ich allein bin still und gebe kein Zeichen, wie ein Neugeborenes, das noch nicht lacht, […] Alle Menschen haben Überfluss, allein ich habe alles verloren. Einfältig ist mein Herz, wahrlich, […] Die Weltmenschen sind klug und klar, ich allein bin dunkel und trübe […] Die Menschen verfolgen einen Zweck, ich allein bin eigenbrötlerisch und tölpelhaft. Doch worin ich mich vor allem unterscheide: Ich schätze die nährende Mutter allein.7

Was andere lehren, das lehre auch ich: „Gewaltmenschen finden nie ein friedliches Ende.“ Ich mache es zum Ausgangspunkt meiner Lehre.8

Die ganze Welt sagt, ich sei groß, groß, doch nichts ähnlich […] Ich habe drei Schätze, bewahre und schätze sie: Der erste heißt: Mitgefühl, der zweite: Genügsamkeit, der dritte: Bescheidenheit.9

Diese Stellen aus dem Tao Te King lassen auf einen Menschen schließen, der sich zwar vom lauten Weltleben zurückgezogen hat, doch im Stillen als Lehrer der Menschheit wirkt. Sie lassen einen Weisheitslehrer erahnen, der große Achtung erfährt, sich seiner besonderen Stellung innerhalb der Gesellschaft bewusst ist, zugleich aber Bescheidenheit und Genügsamkeit pflegt, da seine Weisheit aus der Stille und aus der Einfalt seines Herzens erwächst. Keinen äußeren Freuden jagt dieser mitfühlende „Eigenbrötler“ und „Tölpel“ nach, und anders als die „Weltmenschen“ verfolgt er keinen bestimmten Zweck, vielmehr lebt er ohne allen Überfluss und schätzt allein die „nährende Mutter“, das Tao mit seiner Wirkkraft „Te“.

Als dieser stille, absichtslose Weise erkannte, dass er nichts mehr ausrichten konnte, weil das Land und die Sitten zusehends verfielen, verließ er den Hof und machte sich auf eine weite Reise nach Westen. An einem Grenzpass „erkannte“ ihn der Passwächter Yin Xi als den „alten Meister“ und bat ihn, nicht einfach so fortzugehen, sondern seine Lehre für die Nachwelt festzuhalten. Daraufhin brachte Laotse 5000 Schriftzeichen über das Tao und seine Wirkkraft zu Papier, überquerte den Pass und verschwand, ohne dass etwas über sein weiteres Leben bekannt geworden wäre.10

~

Selbst wenn es vielfach bezweifelt wird, dass das Tao Te King von einem einzelnen Menschen geschrieben wurde, so gibt es doch gute Gründe, die dafür sprechen, sich den „alten Meister“ Laotse als Urheber der berühmten Schrift vom Tao und seiner Wirkkraft vorzustellen. Als gewichtiger Grund dafür kann das Auftreten der oben aufgeführten „Selbstzeugnisse“ gelten,11 vor allem aber Folgendes: Im Tao Te King spricht eine Stimme tiefer, radikaler Weisheit zu uns. Eine kraftvolle Stimme, so zeitlos und tiefgründig, dass sie unzählige Generationen inspiriert hat. Ihre Botschaft hat bis heute nichts von ihrer Strahlkraft und verblüffenden Frische verloren. Wie ein Elementarereignis begegnet sie uns in ihrer Andersartigkeit. Hierin die Stimme eines Weisen zu hören, der auf der Höhe eines Bergpasses die Essenz seiner Lehre aufschreibt, erscheint in einem tieferen Sinne wahr – zutiefst stimmig – zu sein.

Der „alte Meister“ kommt mit der umfassenden Erfahrung eines langen Lebens auf den Bergpass, als scharfsinniger Beobachter, Menschheitslehrer und Weiser des Tao. Er ist völlig absichtslos, ohne das Verlangen, eine Lehre zu verbreiten, sonst hätte er längst von sich aus Schriften dazu verfasst. Der Wächter „erkennt“ ihn. Obwohl keine äußeren Zeichen Laotse verraten, strahlt die stille Größe seiner Weisheit durch sein unscheinbares Äußeres und ist für das hellwache Auge des „Wächters“ wahrnehmbar. Dieser bittet ihn, seine Lehre für die Nachwelt festzuhalten.

Ohne lange zu zaudern, bringt Laotse das Tao Te King zu Papier. Sein ganzes Leben erscheint wie eine Vorbereitung auf diesen Moment. Laotses Weisheit hat sich über Jahrzehnte hindurch entwickelt und ist jetzt reif, niedergeschrieben zu werden. Dennoch hatte er offenbar nicht die Absicht, den Menschen etwas zu hinterlassen. Nicht eigenes Wollen, sondern die Begegnung mit dem Wächter ist der Auslöser: ein durch und durch spontanes Geschehen, das in der klaren Höhenluft eines Bergpasses seinen angemessenen Hintergrund findet.

Die Legende hat Ähnlichkeit mit der Geschichte vom Holzschnitzer, die Dschuang Dsi, der zweite große Lehrer des Taoismus, vor etwa 2300 Jahren erzählt. Sein „Wahres Buch vom südlichen Blütenland“ ist eine Sammlung von Texten, die in zahlreichen Bildern und Geschichten die Lehre vom Tao anschaulich werden lassen:

~

Ein Holzschnitzer schnitzte einen Glockenständer. Als der Glockenständer fertig war, da bestaunten ihn alle Leute, die ihn sahen, als ein göttliches Werk. Der Fürst von Lu besah ihn ebenfalls und fragte den Meister: ‚Was habt Ihr für ein Geheimnis?’ Jener erwiderte: ‚Ich bin ein Handwerker und kenne keine Geheimnisse, und doch, auf Eines kommt es dabei an. Als ich im Begriffe war, den Glockenständer zu machen, da hütete ich mich, meine Lebenskraft (in anderen Gedanken) zu verzehren. Ich fastete, um mein Herz zur Ruhe zu bringen. Als ich drei Tage gefastet, da wagte ich nicht mehr, an Lohn und Ehren zu denken; nach fünf Tagen wagte ich nicht mehr, an Lob und Tadel zu denken; nach sieben Tagen, da hatte ich meinen Leib und alle Glieder vergessen. Zu jener Zeit dachte ich auch nicht mehr an den Hof Eurer Hoheit. Dadurch ward ich gesammelt in meiner Kunst, und alle Betörungen der Außenwelt waren verschwunden. Danach ging ich in den Wald und sah mir die Bäume auf ihren natürlichen Wuchs an. Als mir der rechte Baum vor Augen kam, da stand der Glockenständer fertig vor mir, so dass ich nur noch Hand anzulegen brauchte. Hätte ich den Baum nicht gefunden, so hätte ich's aufgegeben. Weil ich so meine Natur mit der Natur des Materials zusammenwirken ließ, deshalb halten die Leute es für ein göttliches Werk.’12

~

Ähnlich wie Laotse, den ein ganzes Leben im Geiste des Tao dazu bereit werden lässt, spontan und absichtslos zu handeln, folgt der Holzschnitzer beim Erschaffen des Glockenständers einem natürlichen Geschehen, das er durch eigenes Bemühen nur stören könnte. Indem er sich lange Zeit darauf eingestimmt hat, gelingt es ihm, aus dem Weg zu treten,um einen Prozess ablaufen zu lassen, der ihn zu einem Werk einfacher Natürlichkeit führt – versinnbildlicht durch den passend gewachsenen Baum.

Als sich der Holzschnitzer der Stille zuwendet und fastet, löst er sich von allem Wollen: Er bringt „sein Herz zur Ruhe“ und nach einigen Tagen verschwinden all seine Gedanken an „Lob und Tadel“, „Lohn und Ehren“. Im Tao Te King heißt es:

Gunst und Ungunst sind wie ein Schrecken, Ehre ist eine große Sorge wie der Leib.13

Offensichtlich weiß der Holzschnitzer, dass jegliche Art von Eitelkeit das Erschaffen eines Werkes im Sinne des Tao unmöglich macht, eines Werkes, das nur auf einfache und natürliche Weise entstehen kann und das frei von aller Künstlichkeit ist. Daher wendet er sich dem Schaffensprozess im Außen erst zu, als alle „Betörungen der Außenwelt“ verschwunden sind: Erst nachdem die innere Arbeit geleistet ist, geht er in den Wald, findet den „rechten Baum“ und vollendet sein Werk im Handumdrehen.

Der Meister

Wie Laotse erweist sich der Holzschnitzer in seinem Handeln als ein Meister des Nicht-Tuns.Im Tao Te King begegnen wir an vielen Stellen einem solchen „Meister“ oder „Weisen“. Sein Denken und Handeln zeigt, was es heißt, im Einklang mit dem Tao zu leben.

Also der Weise: Er stellt sich selbst zurück […] entäußert sich seines Selbst.14

Der Weise achtet auf innere Bedürfnisse und nicht auf äußerliche Begierden.15

Loslassen und immer wieder loslassen, so gelangt man zum Nicht-Tun. Verweilend im Nicht-Tun bleibt nichts ungetan.16

Der Weise kennt den Zusammenhang aller Dinge. Er weiß, dass alles Werden und Entstehen in einem natürlichen Raum geschieht und dass alles künstlich oder gewaltsam Erzeugte keinen Bestand hat:

Die Welt ist ein Geistgefäß, nicht etwas, in das man eingreifen kann. Wer eingreift, verdirbt. Wer besitzen will, verliert.17

Sein Lebensinhalt ist es, leer zu werden:

Wer dem Lernen nachgeht, häuft täglich an. Wer dem Tao folgt, lässt täglich los.18

Ein solches Loslassen macht frei vom Wollen:

Die namenlose Einfachheit lässt alle Wesen frei vom Begehren sein, frei vom Begehren sein, macht still und die Welt ordnet sich von selbst.19

Nur aus dem Nicht-Wollen entsteht das Nicht-Tun und nur ein solches absichtsloses Handeln hat Aussicht auf Erfolg. Dies ist nur eine von zahllosen scheinbar paradoxen Aussagen, die das Tao Te King bereithält:

Was man erlangen möchte, muss man zunächst aufgeben, das wird feinsinnige Einsicht genannt.20

Im Nicht-Tun folgt der Weise dem Tao:

Das Tao ist ewig ohne Tun, doch nichts gibt es, was es nicht bewirkt.21

So wie der Weise vor der Handlung von allem Wollen Abstand nimmt, bleibt er danach frei von jeglicher Eitelkeit und rechnet sich das Ergebnis seiner Handlung nicht selbst als Verdienst an:

Er wirkt, doch hängt er nicht daran, vollendet das Werk, doch stützt sich nicht darauf. Er wünscht nicht, überlegen zu erscheinen.22

Sein Wirken ist einfühlsam und zurückhaltend. Er geht mit den Dingen und nicht gegen sie. Denn er weiß, dass es eine natürliche, organische Ordnung der Dinge gibt, die „Li“ benannt wird.23 Sie zeigt sich im Fließen des Wassers genauso wie im Wuchs der Pflanzen. Diese natürliche Ordnung steht im Gegensatz zur mechanischen Ordnung einer Technik, die sich nicht an der Natur ausrichtet.Was „Li“ bedeutet, lässt sich leicht verstehen, wenn wir einen natürlichen Bachlauf mit einem betonierten Kanal vergleichen.

Die Weisen der alten Zeit: waren schwer fasslich und geheimnisvoll, tief und durchdringend. Ihre Tiefe ist unmöglich zu ergründen.

Weil ihre Tiefe unergründlich ist, lassen sie sich nur in Bildern beschreiben:

Behutsam, wie man im Winter einen Fluss überschreitet, abwartend, als wenn von überall Gefahren lauern, zurückhaltend, wie ein Gast,nachgebend, wie schmelzendes Eis, einfach, wie unbehauenes Holz, weit, wie ein offenes Tal, undurchschaubar, wie trübes Wasser.24

Der Meister trägt ein tiefes Wissen in sich, das sich aus dem Nichtwissen speist:

Das Wissen, nichts zu wissen, ist das Höchste. Das Nichtwissen nicht zu wissen, ist ein krankhafter Fehler.25

Der chinesische Schriftsteller Lin Yutang, ein Mittler zwischen Ost und West, der im Westen genauso zu Hause war wie in seiner Heimat, erklärt in einem Kommentar zu den Versen des Tao Te King,was es mit Wissen und Nicht-Wissen auf sich hat. Sinngemäß schreibt er, alle Dinge träten ins Leben, ohne dass wir ihre Quelle sähen, sie erschienen, ohne dass wir der Pforte gewahr würden, durch die sie kämen. In diesem Sinne ist unser Wissen oberflächlich. Daher kommt Lin Yutang zu dem Schluss, dass nur derjenige wirklich weiß, der zu dem zurückgeht, was das Wissen nicht wissen kann.26

Es ist wie eine Offenbarung, die sich einstellt, wenn der Weise das Wissen hinter sich lässt. Ein Erkennen dessen, was jenseits des Wissens liegt. Etwas, das erfahren, aber nicht beschrieben, geahnt, aber nicht begriffen, gelebt, aber nicht durch den Verstand erfasst werden kann: das geheimnisvolle Tao.

Das Tao

Öffnen wir eine Übersetzung des Tao Te King, so stoßen wir gleich zu Beginn auf den berühmten Satz:

Das Tao, das ergründet werden kann, ist nicht das zeitlose Tao. Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der zeitlose Name.27

Das Tao entzieht sich der Beschreibung und ist damit grundsätzlich unterschieden von den „zehntausend Dingen“, die man benennen und beschreiben kann.

Das Unnennbare ist der Ursprung von Himmel und Erde, das Benennen ist die Mutter der zehntausend Dinge.28

Wer sich in seinem Begehren den „zehntausend Dingen“ zuwendet, übersieht das Entscheidende:

Daher: Beständig ohne Begehren, erschaut man die geheimnisvolle Essenz. Ständig im Begehren, sieht man nur die Oberfläche.

Beides ist gemeinsamen Ursprungs, doch unterschiedlich benannt.29

Nur wer ohne Begehren und damit ganz leer ist, kann das große Geheimnis erkennen:

Der gemeinsame Ursprung kann das Geheimnis genannt werden, des Geheimnisses Geheimstes, die Pforte aller geheimnisvollen Essenzen.30

In späteren Abschnitten folgen dann zwar noch bildhafte, paradoxe Umschreibungen, doch bleibt das Tao dasjenige, von dem nicht „gesprochen“, das nicht „definiert“, „ergründet“ oder „erklärt“ werden kann.31 Es ist auch nicht direkt wahrnehmbar:

Weil das Auge starrt, aber keinen Schimmer von ihm erfassen kann,wird es schwerfassbar genannt. Weil das Ohr horcht, aber es nicht hören kann, wird es verfeinert genannt. Weil die Hand nach ihm fühlt, aber es nicht finden kann, wird es unendlich klein genannt. […] Man nennt es: formlose Form, dingloses Bild. Man nennt es: das dunkel Gestaltlose.32

Das Tao ist der Leere verwandt:

Wie feinste Fädchen, doch allgegenwärtig, unerschöpflich im Gebrauch.33

Das Tao ist wie ein leeres Gefäß, und durch Gebrauch nicht zu füllen. Wie ein Abgrund, scheint es der Urgrund aller Wesen. […] Tief verborgen, ist es dennoch da. Ich weiß nicht, wes Kind es ist, ein Schein dessen, was vor den Göttern war.34

Das Tao ist unbeschreibbar, nicht direkt wahrnehmbar und doch in seiner Wirkung unerschöpflich.Wir können sein Wirken vielleicht erkennen, selbst bleibt es unerkannt, ja sogar unbenannt. Die Übersetzungen des Wortes „Tao“ sind vielfältig: Weg, Richtung,Wahrheit oder Sinn.35 Wer an dieser Stelle das Wort „Gott“ gebrauchen möchte, muss sich fragen, ob er es mit dem Bild eines Herrschers verknüpft, der seiner Schöpfung gegenübersteht.36 Dann ist es im höchsten Maße irreführend. Besser mag es sein, das Tao als das umfassende, doch unfassbare und geheimnisvolle Urprinzip, das die Welt durchwirkt, zu sehen und keine weiteren Begriffe dafür zu suchen, denn sonst handelt es sich – wie das Eingangszitat zum Ausdruck bringt – eben nicht um das Tao.

Innere Haltung

Weisheit im Sinne des Tao besteht darin, zu erkennen, dass es eine Art höhere Weisheit gibt. Dieser höheren Weisheit folgt allein derjenige, der sich nicht in den natürlichen Fluss der Dinge einmischt.

Wer eingreift, zerstört, wer festhält, verliert. Daher der Weise: Nicht eingreifend, zerstört er nichts. Nicht festhaltend, verliert er nichts. […] So fördert er den natürlichen Lauf der Dinge und wagt nicht einzugreifen.37

Ja mehr noch, durch Nichteingreifen entsteht eine höhere Ordnung:

Durch Handeln ohne einzugreifen kommen alle Dinge in Ordnung.38

Dieses Nichteingreifen kann durch ein Handeln im Nicht-Tun geschehen oder dadurch, dass man Abstand nimmt von einer Handlung. In jedem Fall aber liegt dem Nichteingreifen eine besondere innere Haltung zugrunde: Es gilt, sich durch selbstlose Präsenz auf das Tao hin auszurichten.

Halte fest am uralten Tao, so meisterst du, was jetzt ist. Den Urbeginn zu erfassen, nennt man des Weges Richtschnur.39

Halte am großen Urbild fest und die Welt wird zu dir kommen, zu dir kommen und keinen Schaden leiden, friedvoll, ruhig und ausgewogen.40

Vom Tao können wir zwar nichts wissen, doch können wir uns ihm gegenüber durch die Leere des Nicht-Wissens und der Stille öffnen. Es geht um eine wache Flexibilität und Unbeirrbarkeit, die dem Weg höherer Weisheit, dem Tao, zu folgen vermag.

Wer nur das kleinste bisschen Weisheit besitzt, wandelt im großen Tao – seine einzige Sorge ist es, davon abzuweichen.

Das große Tao ist sehr einfach, doch die Menschen lieben die Umwege.41

Daher ist es auch nicht möglich, Handlungsanweisungen zu formulieren, sie würden menschliche Allwissenheit voraussetzen. Doch wer erkannt hat, dass es eine natürliche Ordnung in allem gibt, wird Wege suchen, die vom zielstrebigen Tun und von der Anstrengung weg zu einem Handeln im Einklang mit dieser Ordnung führen. Wir können diese Ordnung durch ein Tun weder erzeugen noch verbessern. Indem wir dies erkennen, werden wir uns durch Nicht-Handeln aus Dingen heraushalten, die wir nur stören können.2 Und wir werden im Nicht-Tun eine Art zu denken und handeln entwickeln, die im Einklang mit der natürlichen Ordnung steht. Wie auch immer dies im Einzelnen aussehen mag, entscheidend ist unsere innere Haltung, unsere Grundausrichtung.

Der Weise oder Meister des Tao verliert sich nicht im Äußeren. Er will nichts erreichen. Stattdessen stellt er „sich selbst zurück“, und „entäußert sich seines Selbst“. Er wendet sich also seinem Inneren zu und achtet auf eine angemessene Einstellung. Denn er weiß, dass sein Wirken in der Welt durch seine innere Einstellung bestimmt wird. Da er nichts erreichen will, ist sein Wirken „behutsam“, „zurückhaltend“, „einfach“ und „nachgebend“. „Seine einzige Sorge ist es“, vom „großen Tao“ „abzuweichen“. Indem er dem Tao folgt, „verringert er sein Tun“ und wirkt dadurch wie das „Allerweichste auf Erden“, das alles durchdringt.

Das Weichste der Welt überwindet das Allerhärteste. Das Nichts durchdringt sogar das Lückenlose.

Daraus erkenne ich den Vorteil des Nicht-Tuns.

Das Lehren ohne Worte, den Vorteil des Nicht-Tuns, erreichen nur wenige auf Erden.42

Was immer geschieht, der Weise lässt sich durch Erfolg oder äußere Ereignisse nicht beirren. Er bleibt bei seiner Grundausrichtung:

Der Weise: Reist er auch den ganzen Tag, so entfernt er sich nicht von seinem Gepäckwagen. Welche Herrlichkeiten er auch erblickt, er bleibt still und unberührt.43

Was diese Grundausrichtung ist, daran lässt das Tao Te King keinen Zweifel:

Die Stille ist der Meister der Tätigkeit.44

Dreißig Speichen umgeben eine Nabe, gerade dort, wo sie nicht sind, entsteht des Rades Brauchbarkeit. Forme Ton und bilde daraus ein Gefäß, gerade dort, wo nichts ist, entsteht seine Brauchbarkeit.45

Der Meister bewahrt eine innere Unabhängigkeit und sieht die Ergebnisse seines Handelns nicht als Verdienst oder persönliche Errungenschaft:

Daher verlässt sich der Weise aufs Nicht-Tun und betreibt das Lehren ohne Worte.Die zehntausend Dinge, […] sie entstehen, doch er nimmt sie nicht in Besitz, er wirkt auf sie ein, doch stützt er sich nicht auf sie, er vollendet sie, doch verharrt nicht bei ihnen.46

Wer in dieser Weise unabhängig von Besitz und dem Ergebnis einer Handlung ist, folgt nicht seinem Ich. Das Innere wird zum stillen Zentrum, das frei von Wollen ist. Er macht sich innerlich frei von jeglichem Streben, ja sogar von festen Vorstellungen – er wird leer:

Erreiche die höchste Leere, bewahre die Stille im Inneren.47

Doch die Stille ist mehr als nur die Abwesenheit von Geräuschen:

Der größte Klang ist wie die Stille.48

Sie ist der Schlüssel zum Erkennen der tiefsten Zusammenhänge:

Die Welt hat einen Anfang, er gilt als der Welt Urmutter. Erfasse die Mutter, um die Kinder zu kennen.

Hast du die Kinder kennengelernt, so wende dich wieder der Mutter zu, und bis zum Ende deiner Tage erfährst du kein Leiden.

Verschließe deine Lippen, verriegele die Pforten deiner Sinne und dein Leben ist bis zum Ende mühelos.

Öffne deinen Mund, steigere deine Geschäftigkeit und dein Leben bleibt bis zum Ende unerlöst.49

Daher gewinnt der Weise seine Erkenntnisse in der nichtgeschäftigen Stille:

Ohne aus dem Haus zu treten, die Welt kennen. Ohne aus dem Fenster zu schauen, das Tao des Himmels sehen.

Je weiter man in die Ferne geht, desto weniger versteht man.

Daher der Weise: Er erkennt, ohne zu reisen, sieht, ohne zu schauen, und vollendet, ohne zu handeln.50

Wer die innere Stille erreicht und sie zum Zentrum seines Wirkens macht, der hält sich zurück und greift nicht ein. Sein Grundsatz lautet:

Handle ohne einzugreifen, schaffe ohne Geschäftigkeit.51

Alles Künstliche liegt ihm fern, er ist durch und durch einfach geworden – wie unbearbeitetes Holz. Alles Unnötige ist von ihm abgefallen. Darin gleicht er dem Tao:

Das Tao ist ewig namenlos. Ein unbehauenes Holzstück, scheinbar klein, niemand auf der Welt kann es meistern. […] Wird das Holzstück behauen, gibt es Begriffe. Sobald Begriffe da sind, wisse, ist es Zeit anzuhalten. Nur wer anzuhalten weiß, kann die Gefahr vermeiden.52

Was im großen Ganzen geschieht, geschieht auch im Einzelnen: Wer das große Eine nicht mehr sieht, der verliert sich in Begriffen. Denken und Wissen haben die Herrschaft übernommen. Damit versinkt er in der Welt der zehntausend Dinge. Er ist in Mühen und sein „Geist in Wirren verloren“:53

Viele Worte erschöpfen den Geist, besser ist es, die Mitte zu wahren.54

Rennen und Hasten, Treiben und Jagen lassen der Menschen Herz toll werden.55

Alles unter dem Himmel in den Griff bekommen wollen und eingreifen – Ich sehe, dass das nicht gelingt.56

Stille heißt Rückkehr zur Bestimmung, Rückkehr zur Bestimmung bedeutet das ewige Gesetz sehen, das ewige Gesetz kennen, heißt Erleuchtung. Das ewige Gesetz nicht zu kennen bedeutet achtlos Unheil herbeirufen.57

Die unbeirrbare Stille in seinem Inneren und die sich allen äußeren Begebenheiten anpassende Nachgiebigkeit lassen den Weisen mit den Dingen gehen. Er ist im Einklang mit dem Leben statt im „Wettstreit“ mit der Welt:

Das Tao des Weisen: Zu wirken ohne Wettstreit.58

Dadurch bewegt er sich durch sein Leben, ohne zu stören oder zu zerstören.

Ein guter Wanderer hinterlässt keine Spuren.59

All das ist das Ergebnis einer inneren Haltung, einer inneren Reinigung.Wie das Tao kennt der Weise nur eine Bewegung:

Rückkehr ist die Bewegung des Tao, Nachgiebigkeit ist die Anwendung des Tao.60

Doch diese Nachgiebigkeit ist nicht kraftlos, im Gegenteil:

Das Weiche und Schwache besiegt das Starke und Harte.61

Das zeigt sich vor allem am Wasser, das in seinem weichen Strömen und Fließen durch das Feste und Harte nicht wirklich geändert werden kann. Das Wasser behält seine Eigenschaft, während das Harte sich nach und nach abnutzt – aus Felsen werden Kieselsteine und selbst ein Bach gräbt über lange Zeiträume tiefe Schluchten in den steinigen Boden:

Nichts in der Welt ist weicher und nachgiebiger als Wasser.

Und doch kommt ihm nichts gleich im Bezwingen des Festen und Harten, denn dieses findet keinen Weg, es zu verändern.

Das Schwache besiegt das Starke, das Weiche bezwingt das Harte. Niemand ist auf der Welt, der das nicht wüsste, doch niemand vermag danach zu handeln.62

Im Weichen und Geschmeidigen zeigt sich die Lebenskraft, in der Verhärtung die Leblosigkeit:

Menschen werden geboren, weich und schwach, im Tod sind sie hart und starr.

Die zehntausend Dinge, Gräser und Bäume, lebendig sind sie weich und geschmeidig,im Absterben sind sie trocken und spröde.63

Te

Das, was wirkt,wenn wir dem Tao folgen, ist De oder Te.Als Bedeutung dafür nennt Richard Wilhelm Leben, Natur, Geist, Wirkkraft64 und bezeichnet es als den Anteil, den der Einzelne am Tao habe.65 In einem ähnlichen Sinne spricht Alan Watts von der Verwirklichung oder dem Ausdruck des Tao.66

Höchstes Te scheint ohne Te, darum hat es Te. Geringes Te kann von Te nicht lassen, daher hat es kein Te.

Höchstes Te handelt im Nicht-Tun, ohne einzugreifen und ohne Absicht.67

Wie das Tao ist Te unscheinbar und wie das Tao wirkt es durch Nicht-Tun. Dabei ist die Kennzeichnung „ohne einzugreifen und ohne Absicht“ besonders bedeutsam. Im Tao Te King folgen zwei weitere Sätze, die zeigen, dass sich Te von dem, was allgemein unter Menschlichkeit und Gerechtigkeit verstanden wird, sehr unterscheidet:

Menschlichkeit handelt im Tun, eingreifend, doch ohne Absicht. Gerechtigkeit handelt im Tun, eingreifend, doch mit Absicht.68

Eingreifendes Handeln, selbst wenn es dem Gefühl der Nächstenliebe entspringt und somit ohne selbstsüchtige Absicht ist, bleibt ein eingreifendes Tun und folgt damit nicht dem Tao. Noch weniger im Einklang mit dem Tao ist ein eingreifendes Handeln, das sich auf das eigene Gerechtigkeitsempfinden stützt, denn statt dem Tao folgt es einer persönlichen Ansicht und damit einer eigenen Absicht.„Ohne Eingreifen und ohne Absicht“ sind die deutlichsten Merkmale für ein Nicht-Tun, das nicht dem persönlichen Fühlen und Denken entspringt, sondern dem „höchsten Te“. Diese „Wirkkraft des Tao“ speist sich aus der Stille in uns und ist daher überpersönlich – also jenseits persönlicher und gesellschaftlicher Vorstellungen von gut und schlecht.

Eine „Fülle von Te“ entsteht aus dem „vollkommensten inneren Einklang“, aus einer Harmonie, die den ungestörten Zugang zu unseren natürlichen Kräften ermöglicht. Sie zeigen sich beim Kleinkind, dessen Stimme selbst dann nicht versagt, wenn es lange schreit. – Im Gegensatz dazu werden kräftige Männer, die ein Fußballspiel lautstark begleiten, oft schon nach kurzer Zeit heiser.

Wer die Fülle des Te bewahrt, der gleicht einem neugeborenen Kind. […]

Es kann den ganzen Tag schreien und wird doch nicht heiser, der vollkommenste innere Einklang.

Den Einklang zu kennen, bedeutet Beständigkeit, Beständigkeit zu kennen, bedeutet Einsicht.69

Die Harmonie, die uns in der Kraft des neugeborenen Kindes begegnet, gründet sich im Meister oder Weisen nicht allein auf einfache Natürlichkeit. Vielmehr bedarf sie der Einsicht, dass es eine natürliche Ordnung aller Dinge gibt, die wir zwar nicht verbessern, durch unser absichtsvolles Handeln jedoch empfindlich stören können. Die Natürlichkeit und Einfachheit des Weisen ist die Folge dieser Einsicht, denn sie ist verbunden mit einer inneren Haltung, die sich auf die höhere Weisheit des Tao ausrichtet:

Die Gesinnung des Te folgt allein dem Tao. Das Wesen des Tao ist ungreifbar und ausweichend.70

Weil das Tao so schwer zu erfassen ist, braucht es eine besondere Art von Aufmerksamkeit und einen hellwachen Geist, der sich nicht in sorgenden Gedanken verliert.

Das Kleinste erkennen, heißt Klarheit, Nachgiebigkeit bewahren, bedeutet Stärke.

Nutze diese Einsicht, um zur Klarheit zurückzukehren, setze dich keinen Sorgen aus.

Das nennt man, dem Beständigen folgen.71

Das Tao Te King gibt sogar noch genauere Hinweise, um welche Art von Aufmerksamkeit es sich handelt. Aus ihr erwächst die innere Haltung, die das Te und damit das Wirken des Tao befördert:

Kannst du Geist und Seele nähren, die Einheit umfassen, ohne dich zu zerstreuen? Kannst du die Lebenskraft bündeln, Weichheit erlangen und wie ein neugeborenes Kind sein? Kannst du den Spiegel deines Geistes reinigen, so dass er ohne Flecken ist? […] Kannst du, wenn dein Geist alles durchdringt, ohne Denken sein?

Erschaffen und nähren. Erschaffen, doch ohne zu besitzen, handeln, doch ohne anzueignen, leiten, doch ohne zu beherrschen. Das ist tiefgründiges Te.72

Ein Leben in Präsenz reinigt den Spiegel unseres Geistes. Präsenz bedeutet, ganz hellwach da zu sein und wahrzunehmen, wenn unsere Gedanken abschweifen und das Wollen des Ichs die Herrschaft über unseren Geist sucht.Tiefgründiges Te erwächst einem reifen, klaren Geist –einem gesammelten, hellwachen Geist, der alles durchdringt, ohne sich im Denken zu verlieren und ohne sich von einem wollenden Ich bestimmen zu lassen.

Te wird manchmal auch übersetzt als Kraft,73Charakter74 oder Tugend75 – allerdings nicht in einem moralischen Sinne.76 Wer Te besitzt, will sich nichts aneignen und will nicht herrschen. Seine charaktervolle Tugend entspringt einer geistigen Entwicklung, die ihn zu Absichtslosigkeit und Ausrichtung auf das Tao geführt hat – und damit in die Präsenz.

Alles Leben kommt aus dem Tao und wird von Te „genährt“:

Die zehntausend Dinge […]

Das Tao erzeugt sie, Te nährt sie, lässt sie wachsen, lässt sie reifen, behütet sie, stärkt sie, pflegt sie, beschirmt sie.

Erzeugen, ohne zu besitzen, handeln, ohne zu erwarten, wachsen lassen und nicht befehlen, das ist tiefgründiges Te.77

Das tiefgründige Te verbindet uns mit dem Urgrund allen Seins und erzeugt so den „großen Einklang“:

Tiefgründiges Te, tiefgreifend und weitreichend, mit den Dingen kehrt es zur Quelle zurück. So entsteht der große Einklang.78

Alles geschieht natürlich und daher unauffällig.Der Weise ist nicht beherrscht vom Ich, das sich selbst als etwas Gesondertes wahrnimmt und sich vor der Welt auszeichnen will.

Also der Weise: Er begehrt, nichts zu begehren. Nicht schätzt er schwer zu erlangende Güter. Er lernt zu verlernen und wendet sich dem zu, woran die Menge vorübergeht.79

Alan Watts weist darauf hin, dass die ursprüngliche Bedeutung des Schriftzeichens für Te lautet: Mitgehen mit der Einheit von Auge und Herz. Er nennt dies die „intelligente Wahrnehmung des Laufs der Dinge“.80 In einem solchen Mitgehen wird der Lauf der Dinge erspürt und damit erfahren. Der Weise erkennt in diesem Mitgehen das nicht mit Worten zu beschreibende Tao, findet zum Nicht-Tun und gewinnt so seine „Wirkkraft“. Das Nicht-Tun setzt also ein tiefes Erkennen voraus. Dieses Erkennen beinhaltet kein herkömmliches Lernen oder Wissen. Im Gegenteil:

Sei einfach, bewahre Natürlichkeit, verringere Selbstsucht, hab wenig Begierden, gib auf Gelehrsamkeit.81

Te erwächst aus dem Erkennen, dass alles seinen natürlichen Weg geht und dass dieses Alles ein zusammenhängendes Ganzes ist.

Das Tao ist wie eine große Flut, es fließt links wie rechts.

Die zehntausend Wesen danken ihm ihr Leben, und es versagt sich ihnen nicht.

Es vollendet sein Werk, erhebt aber keinen Anspruch.

Es kleidet und nährt die zehntausend Wesen, doch es macht sich nicht zu ihrem Gebieter, beständig ohne Begierden, kann man es als klein ansehen.

Die zehntausend Wesen gehorchen ihm,obwohl sie nicht wissen, dass sie einen Meister haben, daher kann man es als groß ansehen.82

Das Tao ist der Fluss der zehntausend Dinge.83

Diese Erkenntnis lässt das Ich schwinden, denn was könnte das Ich noch wollen, wenn der Mensch von der tiefen Erkenntnis des Tao durchdrungen ist? Gleichzeitig verstärkt sich Te in dem Maße, in dem das wollende Ich in den Hintergrund tritt.

Daher entsteht Absichtslosigkeit, genauso wie Wunschlosigkeit, aus einem lebendigen Erkennen – und nicht aus erlerntem Wissen. Es ist eine Haltung, die tiefen Frieden schenkt und mit Resignation nichts zu tun hat. Das ist die Stille, die der Weise in sich trägt.