Innehalten im Geiste der Alexander-Technik, des Voice Dialogue und des Zen - Helmut Rennschuh - E-Book

Innehalten im Geiste der Alexander-Technik, des Voice Dialogue und des Zen E-Book

Helmut Rennschuh

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Beschreibung

Das Buch beschreibt einen Weg zu einer oft übersehenen Kraftquelle: dem Innehalten. Wir brauchen es als kleine oder große Pause wie die Luft zum Atmen. Doch Innehalten lässt sich in einem viel umfassenderen Sinne verstehen. Als Weg in die Tiefe des Lebens führt Innehalten uns zum Erleben der lebendigen Stille - zur Präsenz. Als eine innere Haltung führt es uns zum mühelos absichtslosen Handeln - zum Nicht-Tun. Und im Nicht-Tun führt es uns zu natürlichen, harmonischen Bewegungen, einer frei ausbalancierten Haltung und zur Kreativität. So verstanden, eingeübt und erlebt, wird Innehalten zur Grundlage spiritueller Wege und fördert jede Art von körperlich-geistiger und künstlerischer Entfaltung. Die Ausführungen zur Alexander-Technik, zum Voice-Dialogue und zum Zen beleuchten beispielhaft die unterschiedlichen Facetten des Innehaltens. Einblicke in die Steuerungsfunktionen des Gehirns ergänzen die Darstellung.

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Für Elisabeth, meine liebe Weggefährtin und Frau

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort zur ersten Auflage

Einleitung

Zum Geleit

Teil I: Von der Unruhe zur Stille

Abschnitt 1: Durcheinander

Einblick 1: Das Nervensystem

Kapitel 1: Leben ohne Innehalten

1.1 Unsere rasante Welt

1.2 Unser beschleunigtes Leben

1.3 Außer sich sein

1.4 Zu viel zu tun

Ausblick 1: Das Ziel verfehlen

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 2: Achtsamkeit

Einblick 2: Unser formbares Gehirn als Ergebnis der Evolution

Kapitel 2: Innehalten um zu leben

2.1 Der Beobachter: Wie ein Fels in der Brandung

2.2 Beobachter und Hirnforschung

2.3 Wahrnehmung unserer Innenwelt

2.4 Wahrnehmung der Außenwelt

2.5 Innehalten und Wahrnehmung

2.6 Innehalten und die Verlangsamung der Zeit

2.7 Im Kontakt mit unserem Wesenskern

Ausblick 2: Bewusstsein – Achtsamkeit

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 3: Mehr Zeit und Muße

Einblick 3: Wahrnehmung und invariante Repräsentation

Kapitel 3: Wege zum Innehalten

3.1 Urlaub

3.2 Wandern

3.3 Meditation

3.4 Pause

3.5 Achtsamkeit im Alltag

Ausblick 3: Sein

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Teil II: Eine neue Art innezuhalten

Abschnitt 4: Balance

Einblick 4: Zusammenwirken alter und neuer Gehirnteile

Kapitel 4: Innehalten während einer Aktivität

4.1 Zwei Arten von Innehalten

4.2 Beispiel Ausdauersport: Laufen

4.3 Innehalten und Wahlfreiheit

4.4 Beispiel Ballsport

4.5 Innehalten und Flow

4.6 Beispiel Klavierspielen

4.7 Innehalten und die Qualität der Wahrnehmung

Ausblick 4: Handeln im Jetzt – erleuchtetes Handeln

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 5: Stufen – der Blick in die Tiefe

Einblick 5: Innehalten im Spiegel der Evolution

Kapitel 5: Stufen des Innehaltens

5.1 Ein Blick in die Tiefe

5.2 Ein Fundament aus Ruhe und Stille

5.3 Offen werden für neue Wege

5.4 Innehalten als Kunst

5.5 Stille und Kreativität

Ausblick 5: Innehalten – die Tiefe im Sein

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Teil III: Innehalten lernen und vertiefen

Abschnitt 6: Achtsamkeit, Balance und Aufrichtung

Einblick 6: Feste Reaktions‐, Denk‐ und Handlungsmuster

Kapitel 6: Alexander‐Technik: Innehalten als Übungsweg

6.1 Die Arbeit mit Denk‐ und Handlungsmustern

6.2 F.M. Alexander und seine Experimente

6.3 Zielstreben und Gewohnheiten

6.4 Innehalten und Direktiven

6.5 Natürliche Koordination und Primärkontrolle

6.6 Unterricht

6.7 Beispiele für spezifische Anwendungen

6.8 Alexander‐Technik im Alltag – ein Übungsweg

6.9 Mögliche Irrwege und Missverständnisse

6.10 Innehalten und die Einheit des psycho‐physischen Erlebens

Ausblick 6: Innehalten und Ausrichtung – der Weg ins Sein

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 7: Im Fluss des Lebens

Einblick 7: Innehalten und bewusste Kontrolle

Kapitel 7: Innehalten als Tor zur Veränderung

7.1 In Gewohnheiten erstarren

7.2 Entscheidungsfreiheit gewinnen

7.3 Im Fluss des Lebens

7.4 Eine neue Qualität im Denken und Handeln

7.5 Entfaltung des Lebens

Ausblick 7: Leben heißt Entwicklung

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 8: Die Mitte zwischen den Gegensätzen

Einblick 8: Wahrnehmung unserer selbst

Kapitel 8: Voice Dialogue: Wahrnehmen statt unterdrücken

8.1 Das Drama in unserem Leben

8.2 Voice Dialogue

8.3 Innehalten und Unterdrücken

8.4 Innehalten in der zwischenmenschlichen Begegnung

8.5 Unrast und Zielstreben im Spiegel des Voice Dialogue

Ausblick 8: Die Formen unseres Ichs

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Teil IV: Innehalten in einem umfassenden Sinne

Abschnitt 9: Es wachsen Flügel

Einblick 9: Achtsamkeit und Verbundenheit

Kapitel 9: Was wir von F.M. Alexander, dem Voice Dialogue und der Zen‐Tradition lernen können

9.1 Neue Formen der Achtsamkeit

9.2 „Wir werden sehen“

9.3 Urteilen als Weckruf

9.4 Innehalten statt Benennen

9.5 In der Schwebe halten

9.6 Ziele verfolgen ohne Zielstreben

9.7 Reize als Auslöser von starren Mustern wahrnehmen

9.8 Bewusst und achtsam in einem umfassenden Sinne sein

Ausblick 9: Uralte Weisheit

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 10: Transparenz – die Lebendigkeit scheint durch

Einblick 10: Intention, Innehalten und Entwicklung

Kapitel 10: Innehalten als Tor zum Leben

10.1 Das Paradox der Zeit

10.2 Innehalten als lebendiger Prozess

10.3 Die Fülle des Lebens

10.4 Die Tiefe des Lebens

Ausblick 10: Leben als Erfahrung der Einheit – Einklang

Ende des klassischen Teils

Teil V: Alles ist anders

Abschnitt 11: Leere

Einblick 11: Bewusstsein und Ich

Kapitel 11: Die große Illusion

11.1 Erneutes Innehalten

11.2 Vorläufige Antworten

11.3 Ursachen unserer Unruhe

11.4 Denken und Urteilen erzeugen eine starre Identität

11.5 Gewohnheiten verstärken das illusionäre Ich

11.6 Innehalten und Fragen

Ausblick 11: Fragen

Überblick und Übungen zur Vertiefung

Abschnitt 12: Verbundenheit

Einblick 12: Ein neuer Ansatz

Kapitel 12: Alles ist verbunden

12.1 Bewusstsein als eine lebendige reale Größe

12.2 Offene Wahrnehmung in einem umfassenden Sinn

12.3 Das Netz der Natur

12.4 Durchlässigkeit

12.5 Offenheit

12.6 Innen und Außen

12.7 Neue Antworten?

Ausblick 12: Das Unbeschreibliche beschreiben

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Vorwort zur Neuauflage

Das Buch „Innehalten“ wurde vor über zehn Jahren geschrieben, um dem Wort „Innehalten“ zu einer umfassenderen Bedeutung zu verhelfen, denn in der üblichen Bedeutung als „Abwarten“ und „Noch‐einmal‐Nachdenken“ beschreibt es nur einen winzigen Teil eines nahezu magischen Phänomens: Wahres Innehalten ist vor allem anderen ein In‐Kontakt‐Kommen mit dem gegenwärtigen Moment. Dieser Perspektivwechsel vom Vorwärtsstreben zum Dasein hat in der Tat etwas Magisches. Es ist wie ein Erwachen. Es ist als würden wir den Klang eines alten Radios durch ein Livekonzert ersetzen oder statt eines vergilbten Fotos eine wirkliche Landschaft sehen.

Nehme ich den Mund zu voll? Wir werden sehen. Natürlich ist der angedeutete Unterschied schwer durch Worte zu vermitteln. Daher ist das vorliegende Buch eine Art Werkzeugkiste. Es enthält so manches, das uns auf dem Weg in die Tiefe das Lebens dienlich sein kann. Für jeden wird dieser Weg etwas anders verlaufen. Daher ist der Werkzeugkasten prall gefüllt – vielleicht etwas zu sehr, wenn man an die Dicke des Buches denkt. Aber auch das werden wir sehen….

Um den Umfang der Änderung für die Neuauflage möglichst gering zu halten, wurde darauf verzichtet „Beobachter“ durch „Beobachter oder Beobachterin“ oder „Schüler“ durch „Schüler und Schülerin“ zu ersetzen, wie es aus heutiger Sicht angemessen erscheint. Bitte lesen Sie das Wort „Schüler“ gleichsam neutral und denken Sie dabei an Schülerinnen und Schüler.

Helmut RennschuhWeimar im August 2024

Vorwort zur ersten Auflage

Weil du sie [die Augen] offen hast,

glaubst du, du siehst.

Goethe, Egmont, 2. Aufzug, Egmonts Wohnung

Erleben wir das Leben mit all unseren Sinnen und spüren wir seine vitale Kraft in uns? Oder beschränken wir uns darauf, stets von Neuem ein Tagesprogramm zu organisieren und zu absolvieren? Lange können solche Fragen tief in unserem Inneren verborgen sein, bis sie plötzlich den Weg an die Oberfläche unseres Bewusstseins finden. Vielleicht geschieht dies beim Blick in die Augen eines kleinen Kindes, in denen sich das Leben in seiner ursprünglichen, unmaskierten Form zeigt, oder in einer stillen Stunde am Meer, die uns die Tiefe und Weite des menschlichen Daseins spiegelt. Es sind entscheidende Fragen, die da auftauchen. Sie mögen uns manchmal betrübt werden lassen. Doch das ist kein Grund, ihnen auszuweichen, denn sie können uns zu bedeutenden Entdeckungen führen. Davon handelt das vorliegende Buch.

Die meisten Menschen der westlichen Welt sind von Stress geplagt. Sie erledigen eine Aufgabe nach der anderen und hoffen, irgendwann mehr Ruhe zu finden. Viele leben in dem Gefühl, dass sie auf dem falschen Weg sind und ihre wahre Bestimmung noch nicht gefunden haben, doch ihre Betriebsamkeit schiebt das Gefühl in den Hintergrund. Kann Innehalten ein Schlüssel sein, um uns ein Tor zu neuen Wegen zu öffnen? Und lässt sich damit ein umfassender Veränderungsprozess anstoßen – im Einzelnen wie auch global?

Das Innehalten hat viele Facetten. Es erlaubt eine Bestandsaufnahme und eine Neuorientierung. Wie Einstein sagt, kann man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Gerade dann, wenn sich drängende Fragen und Aufgaben immer höher vor uns auftürmen und uns anscheinend keine Zeit zum Verweilen lassen, kann ein radikal neues Handeln erforderlich sein. Denn selbst Probleme, die schnelles Handeln verlangen, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir innehalten. So eröffnen sich Wege zu einer Lösung auf einer anderen Ebene, denn unser Denken und Handeln bekommt durch das Innehalten eine neue Qualität. Doch Innehalten bewirkt noch viel mehr.

Wahrhaft tief greifende Veränderungen beginnen im einzelnen Menschen – in uns selbst. Wir können vor allem auf unser eigenes Leben einwirken. Dabei spielt Innehalten eine entscheidende Rolle. Es verändert unser Lebensgefühl in grundsätzlicher Weise. Statt uns immer nur im Außen zu orientieren und dabei ans Außen zu verlieren, können wir durch eine gewisse Art von Innehalten die Verbindung zur Essenz unseres Lebens tief in uns entdecken. Es ist der Schatz, den jeder in sich trägt. Doch viele Menschen haben sich so weit von der Quelle des Lebens entfernt, dass sie die Erinnerung daran verloren zu haben scheinen.

Rastlosigkeit sowie das Gefühl, keine Zeit zu haben, haben sich zu den Grundpfeilern unseres Lebensgefühls entwickelt. So entsteht der Eindruck, wie ein Hamster im Laufrad zu leben. Die Außenwelt stürmt immer mächtiger auf uns ein: Erwartungen und Anforderungen nehmen zu, die Sinne werden mit immer schrilleren, hektischeren Bildern und Klängen überflutet, und Aufgaben sollen effizienter und in kürzerer Zeit erledigt werden. All das verlangt immer schnellere Reaktionen und Antworten. Schnelligkeit wird dabei zu einem hohen Ziel und zu einer bewunderten Tugend. Schon Kinder und Jugendliche erleben vor allem in der Schule Leistungsdruck, während eine übermäßige Nutzung von Internet und Smartphone ihre Unruhe und Überlastung steigert. Selbst unser Studiensystem ist ganz auf das Sammeln von Creditpoints ausgerichtet. Hinter all dem steht der Gedanke des Wettbewerbs, der die meisten Menschen zu zwingen scheint, in einem zunehmenden Tempo zu leben. Doch da Lebensqualität, wirklicher Fortschritt und innere Entwicklung dabei zu kurz kommen, haben viele das Gefühl, sich nur immer schneller im Kreis zu drehen, statt erfüllt zu leben und sich zu entfalten.

Ein Leben in der oben beschriebenen Weise „schreit“ nach mehr Innehalten. Wer dies wahrnimmt, dem stellen sich folgende Fragen:

Wie kann ich den genannten Zwängen entgehen?

Wenn sich aber an den äußeren Umständen nichts ändern lässt, kann dann bereits eine Veränderung meiner Reaktionsweise die Situation für mich ändern?

Stellen wir uns ein Leben mit mehr Zeit und Ruhe vor, so fragen wir uns vielleicht:

Machen Betriebsamkeit und Geschwindigkeit das Leben nicht auch interessant und entsteht ohne sie nicht gar Langeweile oder Stillstand?

Wie kann sich ein Mensch durch Innehalten entwickeln und entfalten?

Schauen wir etwas tiefer, so stoßen wir auf uralte Fragen der Menschheit, die uns zur Mystik und zum Zen führen:

Wenn wir innehalten und still werden, erleben viele das wie ein Aufwachen. Was ist dieses Erwachen und wohin führt es uns?

Was liegt hinter der Unruhe und dem Lärm in unserem Inneren?

Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir nach der Einleitung zunächst die rastlose Welt um uns herum und ihre Entsprechung in unserem Inneren: die Unruhe in uns. Danach untersuchen wir das Phänomen „Innehalten“, um daraufhin verschiedene Wege zum Innehalten zu erkunden.

Finden wir Geschmack am Innehalten und weckt ein weitergehendes Interesse an dem Phänomen unseren Forschergeist, so können wir es an unvermuteten Stellen entdecken, nämlich beim Sport oder beim Musizieren. Es nimmt dort die Form eines Geheimnisses an, das nur wenige zu kennen scheinen. Um dieses Geheimnis weiter zu ergründen, loten wir seine Tiefe durch eine Folge von sechs aufeinander aufbauenden Stufen des Innehaltens aus. Anschließend wenden wir uns der Alexander‐Technik zu, einem Übungsweg, bei dem das Innehalten die zentrale Rolle spielt. Weitere Klärung bringt ein kurzer Ausflug in den Voice Dialogue, eine Methode, die unsere Verhaltens‐ und Denkmuster mithilfe innerer Stimmen beschreibt. In dieser Weise kann unser Verständnis wachsen, und dabei zeigt sich uns das ganze Potenzial des zunächst unscheinbar wirkenden Innehaltens. Es erweist sich als unentbehrliches Werkzeug zur Veränderung gewohnter Muster und lässt das eigene Leben zu einem wahren Erleben werden.

Verweile doch! du bist so schön!

Goethe, Faust I, Studierzimmer

Einleitung

Goethe hat im „Faust“ einen wahren Kosmos aus scheinbar historischen, fantastischen und mythologischen Szenen erschaffen. Das Werk sprengt den gewohnten Rahmen eines Schauspiels und erscheint genauso maßlos wie seine Hauptfigur Faust, ein Mensch, der verzweifelt mit den uralten Menschheitsfragen ringt.

Ihn treibt die Gärung in die Ferne…

Und alle Näh und alle Ferne

Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.1

Da ihm seine wissenschaftlichen Forschungen die Antworten schuldig bleiben, hat er sich „der Magie ergeben“:

Daß ich erkenne, was die Welt

Im Innersten zusammenhält.2

In seiner Verzweiflung schließt er einen Pakt mit Mephisto, dem großen Verneiner – dem Teufel: Ihm verschreibt sich Faust für den Fall, dass es Mephisto gelingt, Faust einen einzigen Moment der vollkommenen Erfüllung und des uneingeschränkten Ja zum gegenwärtigen Augenblick erleben zu lassen:

Werd ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn!3

Zweifelsohne hat Faust die Magie des gegenwärtigen Augenblicks übersehen, sonst hätte er sich nicht zu dieser verzweifelten Wette hinreißen lassen. Wie wir später sehen werden, verhindert gerade das Faust’sche Vorwärtstreben, die Tiefe des Lebens zu erleben und dadurch Antworten auf die uralten Menschheitsfragen zu erhalten. Faust ist der Archetyp des leidenschaftlichen Wahrheitssuchers, dem Freude und Erfüllung eben gerade durch sein rastloses Suchen verwehrt bleiben. Darin gleicht er dem heutigen Menschen, den technischer Fortschritt – verbunden mit einer unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten für das Leben des Einzelnen – und Erlebnishunger zu einem unruhig Suchenden machen.

Faust glaubt nicht daran, jemals einen Augenblick zu erleben, der ihn sagen lässt: „Verweile doch! du bist so schön!“ Seine vorwärtsdrängende Ungeduld und die zahllosen Enttäuschungen seiner Suche haben ihn am Wert eines Lebens zweifeln lassen, das nur aus Momenten, denen jede Erfüllung fehlt, zusammengesetzt zu sein scheint. Wenn wir jedoch wissen und erlebt haben, wie bedeutsam das Gewahrwerden des gegenwärtigen Augenblicks in unserem Leben ist, so bekommt das „Verweile doch! du bist so schön!“ einen anderen Klang. Es kann uns ein Weckruf sein und ein Wegweiser zum Innehalten. Denn so wie die Stille, besitzt das Innehalten eine gewisse Qualität und eine Tiefe, die wir leicht übersehen. Es ist viel mehr als nur das Unterbrechen einer Handlung oder eines Gedankenstroms und scheint mit der Stille verwandt zu sein, von der die Mystiker sprechen.

Geradeso wie die Abwesenheit inneren und äußeren Lärms – d.h. das Schweigen sowohl der Außenwelt als auch der Gedanken – eine eigene Qualität besitzt, die wir Stille nennen und die mehr ist, als nur die Abwesenheit von etwas, kann uns das Innehalten in einen anderen Zustand versetzen. Ein Vorhang öffnet sich und der Blick in die Tiefe wird frei. Wir merken dies an einem völlig anderen Lebensgefühl, das in uns erwacht. Wir erleben uns, aber auch die Dinge um uns herum als lebendig und betrachten solche Augenblicke als besonders kostbar.

Manche Menschen halten auf Wanderungen plötzlich inne, wenn sie staunend die Landschaft betrachten, oder erleben im Urlaub, wie fremde Kulturen und Naturschauspiele sie in ihren Bann ziehen. Diese Augenblicke prägen sich ein, sie sind ungewöhnlich und scheinen völlig verschieden von unserem Alltag zu sein. Die Frage ist: Sind es die Landschaften an sich, die wir genießen, oder erwecken sie etwas, das in uns schlummert und plötzlich zum Leben erwacht – eine besondere Qualität des Seins?

In der Mystik und im Zen sowie bei anderen spirituellen Übungswegen aller Zeiten und Kulturen geht es darum, aus einem schlafwandlerischen Traum vom Leben zu erwachen und zu erkennen, wer wir wirklich sind. Diese Suche nach unserem Wesenskern ist in der mittelalterlichen Mystik die Suche nach Gott. Der Ansatzpunkt hierfür ist immer der gegenwärtige Moment – das Sein und die Stille. Er allein gewährt uns Zutritt zu den Tiefen unseres Daseins.

Kehren wir zum staunenden Wanderer und der Frage zurück, was in den besonderen Momenten des Naturerlebens mit uns geschieht. Es scheint, als führten uns fremde Landschaften und beeindruckende Naturschauspiele zu einem Innehalten, das uns neben der intensiveren Wahrnehmung der Außenwelt auch unserem Wesenskern näherbringt. Tun und Denken treten in den Hintergrund und machen den Weg frei für ein tiefes Schauen, das an die Beschreibungen der Mystiker erinnert. Solche äußeren Eindrücke, so prachtvoll sie auch sein können, wären dann doch nicht mehr als ein Mittel, uns einen Blick in die Tiefe unseres eigenen Wesens zu erlauben. Wenn dem so wäre, sollte es möglich sein, in unserem Alltag mehr solcher Momente zu erleben, in denen wir innehalten und durch eine innere Loslösung von unserer Geschäftigkeit die Tiefe des eigenen Lebens erfahren.

So wie das Innehalten uns das Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe entdecken lässt, so werden wir im Verlauf des vorliegenden Buches das Innehalten selbst als einen vielleicht unerwartet tiefen und reichhaltigen Prozess verstehen lernen. Indem es uns mit unserem Wesenskern und dem Beobachter – der Achtsamkeit in uns – in Kontakt bringt, eröffnet sich eine Fülle von Möglichkeiten für grundlegende Entwicklungsschritte. Mit wachsender Wachheit und Aufmerksamkeit werden weite Bereiche unseres Lebens, die bisher von Gewohnheiten und Mustern geprägt sind, für uns zu Experimentierfeldern für formbare innere und äußere Entfaltungsprozesse.

Statt uns als Opfer eines äußeren Geschehens zu sehen, auf das wir keinen Einfluss haben, können wir lernen, wenn nicht ein solches Geschehen, so doch unsere Reaktion darauf in gewünschter Weise zu verändern. Dadurch verändert sich die Situation selbst grundlegend.

Denkmuster verlieren ihre Herrschaft über uns, wenn wir sie wahrzunehmen lernen.

Die Wahrnehmung durch unsere Sinne lässt sich zu einer offenen Wahrnehmung erweitern, die uns unsere Umgebung in ungeahnter Tiefe und Vielfalt erscheinen lässt.

Wahre Kreativität entsteht aus einem Geschehen, das „Einfall“ genannt wird. Dabei spielen Stille und Innehalten eine wichtige Rolle.

Eine natürliche Koordination, verbunden mit Leichtigkeit und müheloser Aufrichtung, wie wir sie beim kleinen Kind finden, lässt sich durch Innehalten und eine bewusste Ausrichtung wiedergewinnen.

Mit der Tiefe des Lebens entdecken wir eine stille, tiefe Freude, die uns belebt, trägt und verwandelt.

Das Innehalten hat noch weitere ungeahnte Facetten. Wenn wir ein Musikinstrument spielen und uns ohne Wollen und Anstrengung ganz dem Fluss der Musik überlassen, so scheint es, als geschehe alles von allein. Ein ähnliches Phänomen gibt es im Sport – es wird „Flow“ genannt. Wenn solch ein Geschehen durch Innehalten befördert werden kann, so erscheint das Innehalten in einem neuen Licht: nicht als Verlangsamen und Stoppen der Aktivität, der man gerade nachgeht, sondern als eine Art Grundeinstellung, die besondere Leistungen möglich macht.

Zum Geleit

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen …

Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater

Das vorliegende Buch nähert sich dem vielschichtigen Thema „Innehalten“ auf drei Ebenen – der Ebene der Einblicke, der Ebene der Hauptkapitel und der Ebene der Ausblicke. Sie sind im Wechsel angeordnet und repräsentieren verschiedene Sichtweisen: In den Einblicken stelle ich die Sicht einiger Naturwissenschaftler vor – meist sind es Hirnforscher –, die sich in besonderer Weise mit den Themen Wahrnehmung, Präsenz, Meditation und individuelle Entwicklung auseinandergesetzt haben. Die Ausblicke zeigen den Menschen als spirituelles Wesen, der den Kontakt mit dem Urgrund des Seins sucht. Zwischen ihnen stehen die Hauptkapitel, die von beiden – sowohl von den Einblicken als auch von den Ausblicken – befruchtet sind.

Das Buch möchte zu einem spielerischen Umgang einladen. Der Leser hat die Wahl, nur jeweils die Einblicke oder die Ausblicke herauszupicken, zunächst nur die Hauptkapitel zu lesen oder der Darstellung Seite für Seite zu folgen. In diesem Sinne hat er drei Bücher vor sich, die eng miteinander verflochten sind und die er einzeln, nacheinander oder miteinander lesen kann. Obgleich die Ausgangspunkte auf den drei Ebenen unterschiedlich sind, entwickeln sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen die vielfältigsten Verbindungen und Übereinstimmungen, ja, man könnte sagen, es entstehen dieselben Aussagen in unterschiedlichen Sprachen. Möge die Beziehung der drei Ebenen zueinander ein Kraftfeld der Kreativität, des Forschens und des Experimentierens erzeugen.

Teil I

Von der Unruhe zur Stille

Abschnitt 1

Durcheinander

Einblick 1

Das Nervensystem

Unser Gehirn gilt als die „bei Weitem komplizierteste Struktur“ 1, die im Universum bekannt ist. Die elementaren Bausteine dieser Struktur sind die Nervenzellen – die Neuronen. Geschätzte 100 Milliarden bis 1 Billion davon2 erzeugen die unüberschaubar komplexen Steuerungsfunktionen des Gehirns durch ein wahres Feuerwerk kaskadenartiger Aktivierungen. Tatsächlich spricht man bei einem Neuron, das aktiviert ist und ein Signal weiterleitet, von „feuern“.

Die Neuronen bilden ein Netzwerk, in dem an jedem Neuron durchschnittlich etwa 5000 Verbindungen3 für einlaufende Signale von anderen Neuronen ansetzen. Jedes Neuron arbeitet nach dem „Alles‐oder‐Nichts-Prinzip“4. Die Summe der einlaufenden Signale entscheidet, ob das Neuron aktiviert wird und „feuert“ oder nicht. Wenn es feuert, leitet es sein Signal über einen auslaufenden Kanal, der sich verzweigen kann, an bis zu 1000 andere Neuronen.5 Solche Aktivierungsvorgänge gehen blitzschnell. Typische Neuronen feuern 5‐ bis 50‐mal pro Sekunde.6

Es werden zwei Arten von Signalen übertragen: Exzitatorische Neuronen senden Signale, die zur Aktivierung anderer Neuronen beitragen, wohingegen inhibitorische Neuronen Signale senden, die zur Hemmung einer möglichen Aktivierung in einem anderen Neuron beitragen. Etwa die Hälfte der Neuronen sind solche inhibitorischen Neuronen.7

Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Die elementaren Bausteine des Gehirns, die Neuronen, empfangen ständig eine Vielzahl erregender oder hemmender Signale. Die Summe dieser Signale entscheidet, ob das Neuron in Aktivität versetzt wird. Je nachdem ob es sich um ein inhibitorisches oder um ein exzitatorisches Neuron handelt, sendet es im Falle einer Aktivierung über seinen Ausgangskanal ein erregendes oder hemmendes Signal an andere Neuronen.

Die einzelnen Verbindungen zwischen den Neuronen bilden sich und werden erhalten durch die Benutzung der entsprechenden Leitungsbahnen. Dieser Effekt steht hinter dem Lernen und dem Ausbilden von Gewohnheiten. Die Zahl der Verzweigungsmöglichkeiten ist unvorstellbar groß. Doch häufig benutzte Bahnen werden zu breit ausgebauten Verbindungen, welche dann bevorzugt benutzt werden. Nicht genutzte Verbindungen werden abgebaut. Unser Gehirn erlaubt die Entwicklung vielfältiger Möglichkeiten. Die Einschränkungen, die wir in unserem Leben erfahren, entstehen hauptsächlich durch die Art und Weise, wie wir unser Gehirn gebrauchen.

Vieles in unserem Nervensystem wird automatisch gesteuert. Im nächsten Einblick werden wir das menschliche Gehirn als Ergebnis der Evolution betrachten und dabei erkennen, wie verhältnismäßig gering die bewusste Steuerung im Verhältnis zur Gesamtaktivität des Gehirns ist. Dennoch beeinflusst unser bewusstes Verhalten den gesamten Organismus und damit natürlich auch die unbewussten Steuerungsvorgänge im Gehirn. Besonders gut lässt sich dies am autonomen Nervensystem erkennen, das den Körper auf Ruhe oder Aktivität einstellt.

Das autonome – oder auch vegetative – Nervensystem sorgt für die Aufrechterhaltung eines optimalen inneren Körpermilieus.8 Es reguliert unter anderem Herz, Kreislauf und Verdauung9 und besteht aus zwei Teilen: dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Der sympathische Anteil dient als Erregungsmechanismus, der den Körper für Leistung, Kampf und Flucht bereit macht. Der parasympathische Anteil wirkt dem entgegen. Er steuert Ruhe und Erholungsphasen, indem er beispielsweise die Vorrausetzung für eine optimale Verdauungstätigkeit schafft. Unsere bewusste Ausrichtung kann eine Balance zwischen Aktivität und Passivität herbeiführen und damit eine heilsame Balance im vegetativen Nervensystem unterstützen. Es kann aber auch beispielsweise durch ein lang anhaltendes überaktives Verhalten eine Art Dauerstress fördern, der mit übermäßiger Aktivierung des sympathischen Anteils einhergeht.

Das vegetative Nervensystem überträgt seine Signale auf die Organe des Körpers. Selbst ist es eng an unser Gefühlsleben (limbisches System10) im Gehirn und damit an ein chemisches Steuerungssystem (Hypothalamus und Nebenniere) gekoppelt.11 All dies sind komplexe, miteinander verbundene Regelkreise. Wir können sie zwar nicht direkt steuern, doch unser Denken und Fühlen beeinflusst sie in indirekter Weise, oft zu unserem Nachteil, indem permanente Unruhe, Angst oder Sorgen ein ungesundes Klima in uns erzeugen.

Kapitel 1

Leben ohne Innehalten

Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,

Der ungebändigt immer vorwärts dringt

Und dessen übereiltes Streben

Der Erde Freuden überspringt.

Goethe, Faust I, Studierzimmer

1.1 Unsere rasante Welt

Seit der Erfindung der Dampfmaschine – mit dem Eintritt ins Industriezeitalter um 17701 – hat sich unsere Auffassung von Schnelligkeit und Geschwindigkeit nach und nach gewandelt. Fuhren 1830 die ersten mit Dampf betriebenen Züge nur mit etwa 20 km/h2, so wurde 1870 bereits auf einem rasch wachsenden Schienennetz mit Schnellzügen bis zu 95 km/h3 schnell gefahren. 1933 erreichte der berühmte „Fliegende Hamburger“ 160 km/h, und seit den achtziger Jahren sausen auf mehr und mehr Schnellstrecken Züge wie der ICE und der TGV mit etwa 300 km/h ihren Zielbahnhöfen entgegen, ohne dass die Fahrgäste auf den schnurgeraden, tunnelreichen Strecken viel von der Landschaft wahrnehmen können, die sie durchqueren.

Was für uns Normalität geworden ist, erweckte schon in seinen Anfängen mahnende Stimmen. So schrieb 1838 der Schriftsteller Gustav Flaubert über die nach unseren Maßstäben dahinschleichenden Züge, dass die schnelle Bewegung bei den Reisenden unfehlbar eine Gehirnkrankheit, eine besondere Art des „Delirium furiosum“ erzeugen müsse4, und er plädierte für einen Bretterzaun, um die Zuschauer vor dem Anblick der vorbeifahrenden Züge zu schützen. Auch wenn eine solche Ansicht heute naiv anmutet, so erscheint bei genauerer Betrachtung die Vorstellung, Reisegeschwindigkeiten eines modernen Flugzeugs oder Schnellzugs gingen spurlos an den Mitreisenden vorüber, mindestens ebenso merkwürdig.

Für die letzten 50 Jahre lässt sich feststellen, dass zusätzlich zum Zugverkehr mehr und mehr Menschen der westlichen Welt immer längere Zeit in immer schnelleren Autos verbringen und eine stetig wachsende Zahl von Menschen immer weitere Flugreisen unternehmen. Dabei haben wir uns zu Wesen entwickelt, die gewohnt sind, ihren Aktionsradius weit über ihre natürlichen Möglichkeiten hinaus auszudehnen. Wir sind in einer Weise mobil geworden, wie sie nicht einmal den Vögeln zu eigen ist. Dies geht einher mit einem Mangel an körperlicher Bewegung, denn der Mensch verbringt heute selbst bei seiner Fortbewegung die meiste Zeit im Sitzen. Unsere Art zu reisen ist offensichtlich höchst unnatürlich.

Doch nicht allein unsere Mobilität erzeugt eine Art Rastlosigkeit. Noch gravierender scheint die zunehmende Informationsflut durch die Veränderungen im Bereich von Kommunikation und Unterhaltung auf uns zu wirken. Nachdem das Telefon in den fünfziger und sechziger Jahren in fast alle Haushalte Einzug gehalten hatte, trat das Handy in den neunziger Jahren seinen Siegeszug an. Zwar verbindet uns ein Telefonanschluss mit der ganzen Welt, doch sind wir damit zu Hause auch jederzeit unmittelbar erreichbar. Ein Brief, den wir bekommen, gibt uns Zeit. Er lässt sich, wann immer uns danach zumute ist, beantworten, ein Telefonanruf hingegen verlangt unsere sofortige Reaktion. Ein eingeschaltetes Mobiltelefon macht uns darüber hinaus nicht nur jederzeit, sondern auch überall erreichbar, es verführt uns dazu, ständig zu antworten und zu reagieren.

Viel Unruhe kann ein Fernseher in unser Leben bringen. Seit seinen Anfängen hat sich das Programmangebot sehr verändert. Die Szenen haben sich in den letzten 60 Jahren enorm verkürzt, in neuen Fernsehproduktionen und Kinofilmen wechseln die Einstellungen ständig, sodass ein alter Film aufgrund seiner Langsamkeit in der Szenenfolge den heutigen Zuschauer oft an eine Theaterinszenierung erinnert. Hinzu kommt die in den letzten 30 Jahren ständig gestiegene Anzahl der Sender, zwischen denen man bequem vom Sessel aus mit der Fernbedienung wechseln – sich durch das Programm „zappen“ – kann. Entwicklungen wie Video und DVD erweitern das Angebot ins Unermessliche.

Computer und Internet vervollständigen das Bild. Sie haben in den letzten Jahren sowohl unser Berufsleben als auch unsere Freizeit mehr und mehr bestimmt. Die unüberschaubare Informationsfülle des Internets und die beschleunigte Kommunkation durch E‐Mails tragen sehr zur Rastlosigkeit vieler Menschen bei. Da die Übermittlung einer E‐Mail nur Sekunden dauert, erwartet der Absender oft sofort eine Antwort.

Auf der einen Seite bieten die beschriebenen technischen Neuerungen fantastische Möglichkeiten. Es lässt sich sehr effektiv mit ihnen arbeiten. Sie können uns bei der Lösung vieler Aufgaben helfen. Die Welt steht uns scheinbar offen, wir können reisen, im Grünen wohnen und in der Stadt arbeiten oder Konferenzen, Workshops, Konzerte an fernen Orten besuchen. Wir können uns über Veranstaltungen und Ereignisse informieren, können mit Freunden an fernen Orten Kontakt halten, uns spontan verabreden oder Neuigkeiten austauschen.

Häufig machen die genannten Erfindungen unser Leben allerdings ärmer statt reicher. Es ist eine Verarmung, die sich unbemerkt in der Fülle der Möglichkeiten ausbreiten kann, indem wir an den vielen verschiedenen Orten, die wir besuchen, gar nicht mehr wirklich ankommen oder uns durch das verführerische Angebot der Medien ablenken und zerstreuen lassen. Denn wenn wir ständig Verpflichtungen oder Vergnügungen hinterherlaufen, werden wir dem Hier und Jetzt mehr und mehr entfremdet. Es geht nicht darum, alle Erfindungen der letzten 50 Jahre zu verteufeln, nur scheint die unreflektierte Nutzung all dieser Erfindungen uns oftmals nicht zu einem erfüllten Leben zu verhelfen, sondern vor allem zu einem unruhigen Alltag beizutragen. Denn unser Lebensgefühl wird nicht allein durch äußere Dinge und Ereignisse bestimmt, sondern vielmehr von unserem Erleben. Freude, Vorfreude, Liebe, Angst, Überlastung und Stress bestimmen unser Lebensgefühl. Wie wir etwas wahrnehmen und erleben, prägt unser Leben. All die genannten Erfindungen werden erst wertvoll, wenn sie uns zu tiefer innerer Freude und zu Qualität statt Quantität in unserer Wahrnehmung führen. Stellen sie Anforderungen an einen ohnehin schon angefüllten Alltag oder verlocken sie uns zu immer mehr zerstreuenden und abwechslungsreichen Aktivitäten, so bringen sie uns nicht ein Mehr an Leben, sondern trennen uns vom Erleben – von der Tiefe des Lebens.

1.2 Unser beschleunigtes Leben

Blicken wir ein paar Hundert Jahre zurück und versuchen wir uns ein Leben ohne all die technischen Neuerungen der letzten 250 Jahre vorzustellen. Viele Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft. Sie lebten in und von der Natur: Sie mussten sich dem Lauf der Jahreszeiten anpassen und beobachteten das Wetter, um ihren Tagesablauf danach auszurichten. Ohne elektrische Beleuchtung folgten sie dem Tageslicht. Der Rhythmus der Erde prägte den Rhythmus der Menschen.

Natürlich erlebten die Menschen damals viele Nöte, Gewalt und Hunger. Die Frage ist auch keinesfalls, ob das Leben damals besser war, sondern es geht darum, sich den damaligen Lebensrhythmus vorzustellen, um wahrzunehmen, wie sehr wir unser Leben beschleunigt haben. Nahezu unbeeinflusst von den Jahreszeiten und dem Tageslicht absolvieren wir unser Tagesprogramm. Statt nach dem Wetter richten wir uns nach dem Zugfahrplan oder den Staumeldungen. Statt nach dem Sonnenlicht richten wir uns nach der Uhrzeit, mit deren Hilfe wir unseren Tagesablauf strukturieren. Dabei binden wir uns an einen vorgegeben Plan, den wir selbst, der Arbeitgeber, der Kindergarten oder die Schule festgelegt haben.

Die für uns so selbstverständliche Messung der Zeit führt zum ständigen Vergleich unserer aktuellen Aktivität mit einem vorher festgelegten Plan. Dies erzeugt das Gefühl, keine Zeit zu haben und zu spät zu sein – oder auf der anderen Seite zu früh zu sein, zu warten, sich zu langweilen oder gar die Zeit totzuschlagen. Oftmals ist es ein eng geknüpftes Planungsnetz, dem wir folgen. Die Kinder müssen zu einer bestimmten Zeit in der Schule sein, die Arbeit beginnt, Besprechungen, Sitzungen, Fertigstellung eines Projekts zu einer bestimmten Zeit, Verabredungen … Eine unrealistische Planung, unerwartete Zwischenfälle oder Verzögerungen führen dazu, dass wir uns hetzen, um unseren Plan so gut es geht doch noch zu erfüllen.

Neben dem Takt der Uhr ist es vor allem die Überflutung unserer Sinne, die unser heutiges Leben bestimmt und es so sehr vom Leben in früheren Zeiten unterscheidet. Sowohl unsere Mobilität als auch die Medien erzeugen eine solche Menge an Reizen, vor allem für Augen und Ohren, dass wir entweder angestrengt und zielfixiert wie mit Scheuklappen unseren Tagesplan verfolgen oder uns von der Flut des Angebots zerstreuen lassen.

Eine typische Episode aus einem derart beschleunigten und übervollen Leben mag etwa folgendermaßen aussehen: Wir eilen zum Bahnhof, werden von Musik und Reklamebildern überschwemmt, reisen im Zug mit 200 km/h, ohne die Landschaft wahrzunehmen, arbeiten stattdessen auf dem Notebook, hören vielleicht sogar Musik dabei – dazwischen klingelt das Handy, wir telefonieren und wenden uns danach wieder unserem Bildschirm zu, während unser Nachbar einen Anruf erhält. Er spricht 20 Minuten, wir werden nervös, weil wir uns nicht mehr konzentrieren können. Plötzlich sind wir am Zielort, wir steigen aus, eilen zu einer Verabredung, denn der Zug hatte 15 Minuten Verspätung …

In der geschilderten Situation erinnert nichts mehr an die eingangs beschriebenen einfachen Lebensumstände. Ein Leben nach der Uhr, eine rasante unnatürliche Fortbewegung im Sitzen, begleitet von dem Bemühen, sich auf seine Computerarbeit zu konzentrieren, ständige Beschallung durch Musik oder Lautsprecherdurchsagen, künstliches Licht und eine Klimaanlage schaffen eine künstliche Welt, die kaum noch Bezug zu unseren natürlichen Ursprüngen hat.

In unserem Inneren dreht sich unterdessen ein Gedankenkarussell. Die äußere Unruhe entspricht einer inneren. Ohne Pause tauchen Gedanken, Planungen, Erinnerungen und Ängste auf. Oft bemerken wir diese erst, wenn es ruhig um uns herum wird und wir ausruhen möchten. Dann lassen uns die kreisenden Gedanken keine Ruhe. Vom übervollen Tagesgeschehen angetrieben, drehen sich die Gedanken wie ein Schwungrad immer weiter. Wenn wir nicht wie Süchtige jeden ruhigen Moment mit Beschäftigung oder Gesprächen überdecken, so lassen uns die unruhigen Gedanken eine Ablenkung suchen und verführen dazu, uns weiterhin der Sinnesüberflutung durch die Medien auszusetzen.

1.3 Außer sich sein

In der oben beschriebenen Weise verlieren wir uns im Außen, man könnte sagen, „wir geraten außer uns“. Statt in uns zu ruhen und den gegenwärtigen Augenblick zu erleben, eilen wir voraus: zu all den Dingen, die erledigt sein wollen, zu den Problemen, die wir erwarten, aber auch zu freudigen Ereignissen, von denen wir uns Erfüllung und Glück erhoffen. So wie unsere Gedanken, eilen wir uns selbst voraus und sind der Zukunft, statt der Gegenwart zugewandt. Statt zu gehen, streben wir vorwärts, statt einzukaufen, erledigen wir den Einkauf, beim Kochen möchten wir bereits essen und beim Essen schnell satt werden. Dies führt uns ständig weg von der Wahrnehmung dessen, was ist, hin zu unseren Gedanken, Vorstellungen und Wünschen. Wir treiben uns voran und sind gleichzeitig die Getriebenen.

In unserer Gesellschaft, die auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet ist, erfreuen sich Sportereignisse großer Beliebtheit. Besonders attraktiv sind die Sportarten, in denen es um Geschwindigkeit geht. Dabei erleben viele Menschen den Sport vor allen Dingen als Zuschauer: Ohne im eigenen Körper anwesend zu sein, hängt sich die Aufmerksamkeit an ein Idol. Der passive Zuschauer vergisst sich selbst, statt seiner selbst agiert der Sportler. In ähnlicher Weise verliert sich der Kinobesucher und Fernsehzuschauer in der Filmgeschichte. Wir sind viel mehr bei dem Sportler bzw. der Geschichte als bei uns selbst. In dieser Weise vergessen wir uns selbst und die Gegenwart – ein oftmals durchaus gewünschter Effekt. Der schnellen Szenenfolge der flimmernden Bilder entspricht eine unruhige Grundverfassung des Zuschauers, der Ablenkung und Unterhaltung sucht.

Wie sehr Kino und Fernsehen unseren Daseinszustand verändern, kann man besonders gut bei kleinen Kindern beobachten, die gebannt und selbstvergessen auf den Bildschirm starren. Es hat fast den Anschein, als hätte ihr Geist den Körper verlassen und wäre in das Fernsehgerät hineingerutscht, so ausschließlich und vollständig sind sie beim Filmgeschehen, während ihr Körper schlaff und leblos dasitzt. Auch dieser Zustand lässt sich als „außer sich sein“ beschreiben, denn die Kinder nehmen weder ihre Umgebung noch sich selber wahr.

Unser Nicht‐Präsent‐Sein nimmt häufig träumerische Formen an. Wir verlieren uns in Reflexionen, sind in einem traumähnlichen Zustand, nicht ganz wach, nicht wirklich anwesend. Wir sind dabei zwar mit der Aufmerksamkeit sozusagen noch in uns, jedoch nicht präsent in unserem Körper, sondern in Gedanken und Träumen versunken. Unsere Gedanken und Tagträume tragen uns davon, entfernen uns von der Gegenwart und führen uns aus einer körperlichen Präsenz heraus. Da in einem solchen Zustand kein wacher Beobachter das Hier und Jetzt belebt und erlebt, könnte man auch diesen träumerischen Zustand als „nicht da“ und damit als „außer sich sein“ bezeichnen.

Ein solches „außer sich sein“ bedeutet nicht nur, in Wut und Aufregung zu geraten, sondern beinhaltet jede Form von geistiger Abwesenheit: nicht „zu Hause“ bei sich selbst und im Hier und Jetzt zu sein. Offensichtlich kann dies auf zweierlei Arten geschehen:

Indem wir einem Ziel zustreben und, getrieben von dem drängenden Wunsch, es zu erreichen, dem gegenwärtigen Moment und damit uns selbst enteilen.

Indem wir in einen träumerischen Zustand versinken und Gedanken und Gefühlen nachgehen, die keinen oder nur einen schwachen Bezug zur gegenwärtigen Situation haben.

Dass wir in diesem erweiterten Sinne meistens „außer uns sind“, darauf verweist schon ein berühmtes Wort Meister Eckharts, nach dem Gott immer in uns ist, doch wir nur selten zu Hause sind.

1.4 Zu viel zu tun

Ein wichtiger Grund dafür, dass die meisten Menschen ständig „außer sich“ geraten, ist das Gefühl, zu viel zu tun zu haben. Trotz einer Vielzahl technischer Hilfsmittel wie Computer, Auto, Waschmaschine oder Geschirrspüler, die uns das Leben erleichtern können, erleben viele Menschen ihren Alltag als von Arbeit überladen. Bisweilen gewinnen wir den Eindruck, dass diese Hilfsmittel uns mehr Probleme schaffen, als sie uns an Arbeit abnehmen. So werden durch die Mobilität, die Auto und Bahn uns schenken, längere Schulwege und weitere Fahrten zur Arbeitsstätte erst möglich und nach und nach normal. Immer neue Kommunikationsmittel scheinen nicht nur in der Berufswelt immer neue Aufgabenfelder zu erschließen, all diese Geräte und Maschinen in unserem Haushalt wollen auch gewartet, repariert und fachmännisch bedient werden. Sie scheinen damit unser Leben oftmals komplizierter, anstatt einfacher zu machen.

Insgesamt haben sich die Erwartungen an uns und unsere eigene Vorstellung von dem, was wir an einem Tag alles erledigen können, mit der allgemeinen Beschleunigung des Lebens geändert. Daher lastet immer mehr Arbeit auf unseren Schultern. Betrachten wir unseren Arbeitsalltag etwas genauer, so können wir unsere Aufgaben in drei Kategorien einteilen:

eine Fülle von Dingen, die getan werden müssen

Dinge, die wir nicht tun müssen, die wir aber aus Pflichtgefühl und Perfektionsdrang dennoch erledigen

Dinge, die nicht notwendig sind, die wir aber aus Gewohnheit oder aus innerer Unruhe heraus dennoch tun

Oftmals fühlen wir uns durch die Aufgaben der ersten Kategorie schon überlastet. Wir könnten uns dann fragen, ob einige dieser Aufgaben in Wahrheit vielleicht zur zweiten oder dritten Kategorie gehören und ob wir unser Leben grundlegend anders organisieren können. Doch anstatt uns in dieser Weise von Ballast zu befreien, reagieren wir auf das Gefühl, zu viel zu tun zu haben, meist mit dem Versuch, schnell heute noch etwas zu erledigen, um dann morgen mehr Zeit zu haben. Dies stellt sich oft als Illusion heraus, denn eine solche Entscheidung wird aus einer inneren Unruhe heraus getroffen, die immer neue Aufgaben entdeckt, sich dann durch weitere Erledigungen verstärkt und zu Erschöpfung oder Schlafstörungen führt. Damit entfernen wir uns weiter und weiter von der Ruhe, die wir eigentlich suchen.

Wenn wir innehalten und die Situation wahrnehmen, können wir unsere Lebenssituation mit mehr Abstand sehen und Entscheidungen treffen, die uns nicht immer weiter von uns selbst entfernen. Im Abschnitt 2.6 werden wir noch einen anderen, überraschenden Effekt des Innehaltens kennenlernen, der dazu beitragen kann, unser Leben in grundlegender Weise selbst dann zu entschleunigen, wenn unsere Aufgaben die gleichen bleiben.

Ausblick 1

Das Ziel verfehlen

Ein Mensch, der eifrig seinen Verpflichtungen nachgeht und sich mühsam durch sein Tagesprogramm arbeitet, wird in unserer Gesellschaft oft als Vorbild angesehen. Gerade Menschen in Führungspositionen arbeiten oft sehr lange und haben einen dicht gefüllten Terminkalender. Doch worauf gründet eine solche Ansicht? Ist sie ein Zeichen für unser Verhaftetsein im Materiellen? Hat sie mit der Neigung der Naturwissenschaften zu tun, alles zu messen, um es in Zahlen auszudrücken und so den Blick von der Qualität auf die Quantität zu lenken? Spielt dabei ein religiöser Gedanke der Pflichterfüllung, des Befolgens von Geboten, eine Rolle?

Der zeitgenössische Mystiker und spirituelle Lehrer Eckhart Tolle verweist in seinem Buch „Eine neue Erde“ auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sünde“.1 Während wir bei „Sünde“ meist an eine konkrete Verfehlung, an das Übertreten eines Gebotes, denken, hat das Wort ursprünglich eine etwas andere Bedeutung. Im Neuen Testament ist es die Übersetzung des griechischen „hamartia“, im Alten Testament geht es auf das hebräische „chat´at“ zurück. Beides bedeutet: das Ziel verfehlen.2 Wenn nach biblischem Verständnis die Menschheit nach dem Sündenfall im Zustand der Erbsünde lebt, bedeutet das demnach, dass wir das eigentliche Ziel unseres Lebens verfehlen.

Ein anderer zeitgenössische Mystiker, Willigis Jäger, Benediktinerpater und Zenmeister, zitiert in diesem Zusammenhang gern die Geschichte vom verlorenen Sohn und betont in seiner Deutung, dass wir vergessen haben, wer wir wirklich sind. Nach seinem Verständnis der genannten Geschichte, die sich sowohl in der Bibel als auch in den Lehren Buddhas findet3, verlangt der Sohn vom Vater sein Erbteil, weil er denkt, das Leben zu Hause könne doch nicht das eigentliche Leben sein, es müsse noch etwas anderes geben. Er geht in die Welt, vergisst, wer er ist, braucht sein Erbe auf und kehrt als armer Mann in die Gegend zurück, in der sein Vater wohnt. Dieser erkennt ihn, und statt ihm Vorwürfe zu machen, gibt er ihm neue Kleider und lässt ein Fest feiern, weil sein Sohn seine wahre Herkunft wiedergefunden hat.

Es ließen sich noch weitere Stimmen zitieren, die uns Ähnliches sagen. Danach ist es unsere Hauptaufgabe in diesem Leben, wieder in Verbindung mit dem Urgrund des Seins zu kommen, zu erkennen, wer wir wirklich sind. Das ist die eigentliche Bedeutung eines spirituellen Lebens. Oft wird Spiritualität hingegen als die Suche nach gewissen ungewöhnlichen Erlebnissen missverstanden. Vor diesem Hintergrund betonen spirituelle Lehrer wie Willigis Jäger, dass wir nicht Menschen sind, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen. Es geht also nicht darum, ein spirituelles Erlebnis zu suchen – so wie wir uns durch einen Kinobesuch, einen Konzertbesuch oder ein Naturerlebnis eine Freude und einen Genuss bereiten können –, sondern vielmehr darum, aus einem bestimmten Verständnis heraus unser Leben zu erfahren.

Mit Begriffen unserer Zeit lässt sich der tiefe Sinn des menschlichen Lebens in ähnlicher Weise beschreiben. Dies führt uns zu „Evolution“ und „Bewusstsein“. Eckhart Tolle und andere moderne Mystiker wählen eine solche Beschreibung, um Begriffe zu meiden, die durch die religiöse Tradition für viele Menschen belastet sind. Betrachten wir dazu im Folgenden die Evolution des Lebens vor allem als eine Entwicklung des Bewusstseins.

Die vielen ungeklärten Fragen rund um die Entwicklung eines Lebewesens aus der befruchteten Eizelle – etwa: Woher weiß eine Zelle, dass sie eine Gehirnzelle oder eine Muskelzelle wird? – legen die Annahme einer schöpferischen Kraft genauso nahe, wie die zahlreichen Lücken bei fossilen Funden, die dem Darwinismus als einer Entwicklungstheorie widersprechen, bei der Anpassung und zufällige Mutation die Hauptrolle spielen.4Es gibt weitere Gründe, so etwa die relativ kurze Zeit der Evolution, die im Widerspruch zu Wahrscheinlichkeitsberechnungen steht, die verbreitete These von der Evolution als einem zufälligen Geschehen zu verwerfen.5 Wenn wir hingegen eine vitale Kraft, ein für uns unfassbares universelles Bewusstsein, dahinter sehen, so klären sich die Widersprüche, die der Darwinismus als Erklärungsmodell mit sich bringt. Wissenschaftliches Zweifeln braucht uns also von den folgenden Vorstellungen nicht abzuhalten.

Nehmen wir an, das menschliche Bewusstsein ist von derselben Natur wie das umfassende Bewusstsein, das hinter der Evolution steht. Wir können danach mit Eckhart Tolle das Aufblühen des menschlichen Bewusstseins im spirituellen Erwachen als ein Ereignis verstehen, bei dem das allumfassende Bewusstsein sich selbst im menschlichen Bewusstsein erkennt6 und sich als dieses Leben erfährt – in einem umfassenden Sinne selbstbewusst wird.

Anders ausgedrückt, wir verfehlen unser Ziel, wenn wir uns völlig in die Form verlieren. Form steht dabei im Gegensatz zum Formlosen, aus dem alle Formen entstehen. Es umfasst nicht nur die materiellen Dinge, sondern auch jeder Gedanke und jede Überzeugung ist eine Art Form. Unsere Betriebsamkeit lässt sich verstehen als das unbewusste Verlieren an die Form. Wir vergessen dabei, wer wir wirklich sind, und leben in einer Art Halbbewusstsein: Wir sind uns unserer wahren Natur nicht bewusst. Es ist wie eine Art Schlaf. Daher wird in diesem Zusammenhang von einem Erwachen gesprochen. Es gibt die Möglichkeit, aus einem Halbbewusstsein in ein umfassenderes Bewusstsein zu erwachen. Innehalten, in einem umfassenden, tiefen Sinne verstanden, hat mit diesem Prozess zu tun.

Ohne Innehalten:

Das Leben

nur verwalten,

nur verhalten

zu leben.

Überblick 1

Je besser wir unsere Muster erkennen, desto leichter können wir uns von ihnen lösen. Äußere Umstände mögen unausweichlich erscheinen, unsere Reaktion darauf ist es nicht. Das Durcheinander kann sich ordnen, wenn wir uns ordnen. Wenn wir lernen, mehr wahrzunehmen und bewusste Entscheidungen zu treffen, werden wir vom Opfer äußerer Umstände zum Mitgestalter. Das Leben verliert dann seine Schwere.

Übungen zur Vertiefung 1

1) Lassen Sie die letzten Stunden Revue passieren: Wann haben Sie sich gehetzt? Wann waren Sie ganz bei sich?

2) Machen Sie eine Liste mit drei Spalten, auf der Sie stichwortartig die folgenden Fragen beantworten:

Was wollte ich in den letzten Tagen tun?

Was habe ich tatsächlich getan?

Was hätte ich lassen können?

3) Suchen Sie eigene Beispiele für die drei Kategorien aus Kapitel 1.4.

4) Am Wochenende: Fügen Sie Pausen zwischen Ihre Aktivitäten ein, setzen Sie sich kurz hin und kommen Sie zur Ruhe. Verweilen Sie etwa 2 Minuten (bitte mit Uhr, denn Sie werden wahrscheinlich erstaunt sein, wie lang zwei Minuten sind).

5) Nehmen Sie die kleinen Wege im Alltag als Pausen wahr, in denen Sie zu sich kommen können.

6) Schaffen Sie kleine Freiräume in ihrem Arbeitsalltag: Kommen Sie kurz zur Ruhe (auch wenn es nur für einen Atemzug ist) oder gehen Sie bewusst ein paar Schritte (etwa um sich ein Glas Wasser zu holen).

Abschnitt 2

Achtsamkeit

Einblick 2

Unser formbares Gehirn als Ergebnis der Evolution

Der Komplexität unseres Gehirns nähert man sich am besten durch einen Blick auf seine Evolution, die sich in enger Verbindung mit der Evolution des gesamten Körpers über Millionen von Jahren entfaltet hat. Wir tragen nicht nur Spuren dieser Evolution in uns, sondern wir können uns als eine Synthese aller in der Evolutionskette vor uns liegenden Lebensformen verstehen. Das lässt sich am deutlichsten an unserem Gehirn ablesen. Seine Teile werden manchmal nach ihrer Entwicklungsgeschichte benannt: Reptiliengehirn, (Ur‐)Säugetiergehirn und Primatengehirn. Die im Deutschen üblichen Bezeichnungen, die wir auch in den folgenden Kapiteln verwenden werden, sind kursiv gedruckt.

Drei Schichten unseres Gehirns wölben sich – vergleichbar den Jahresringen eines Baums – übereinander, wobei die älteste direkt über der Wirbelsäule liegt, wie eine Art Verlängerung des Rückenmarks:

Das

Stammhirn

(der Hirnstamm) wird auch Reptiliengehirn

1

genannt und steuert lebenserhaltende Grundfunktionen des Körpers wie Herzschlag, Atmung und Wach‐Schlaf‐Rhythmus

2

, auch Instinkte und Reflexe sind hier fest installiert.

3

Es entwickelte sich vor über 500 Millionen Jahren.

4

Ähnlich alt (300 bis 500 Millionen Jahre)

5

ist das Kleinhirn. Es liegt hinter dem Hirnstamm, steuert Bewegungen, sorgt für ihre Feinabstimmung und empfängt eine Flut von uns unbewusst bleibenden, sensorischen Informationen über Körperhaltung und Bewegung.

6

Darüber wölbt sich

das

limbische System

(Mittelhirn)

7

, auch Vogel‐ und Säugetiergehirn

8

oder paläo‐mammalisches Gehirn

9

(Ursäugetiergehirn) genannt. Hier werden Gefühle, aber auch so grundlegende Funktionen wie Körpertemperatur, Verdauung

10

und unser unwillkürliches autonomes Nervensystem gesteuert. Es entwickelte sich vor 150 bis 300 Millionen Jahren und erreichte vor ca. 250000 Jahren den Höhepunkt seiner Entwicklung.

11

Darüber legt sich

die

Großhirnrinde

(kurz Kortex), auch Primatengehirn

12

oder neomammalisches Gehirn

13

genannt. Sie entwickelte sich vor etwa 3 Millionen Jahren.

14

Hier sitzt unser Bewusstsein mit bewusster Wahrnehmung und Steuerung willkürlicher Bewegungen, mit unserem Denken und unserem Sprachvermögen.

15

Bei uns Menschen hat sich insbesondere der vordere, hinter der Stirn liegende Teil dieser Schicht in einzigartiger Weise weiterentwickelt16, wir wollen ihn daher im Folgenden wie eine Extraschicht behandeln:

Die

präfrontale Rinde

(Frontallappen) steuert diejenigen Funktionen, die uns als Menschen auszeichnen: Hier wird unser „Ich“ gebildet, unser Selbstbild, hier geschieht Planung.

17

Unser Arbeitsgedächtnis (für kurzzeitiges Erinnern), eine übergeordnete Selbstregulation unseres Verhaltens

18

und die Steuerung unserer Aufmerksamkeit haben hier ihren Sitz.

19

Außerdem geschehen von hier der Ausgleich unserer Emotionen und die Einstimmung auf andere Menschen.

20

Zusammenfassend könnte man sie als den Ort unserer bewussten Steuerung bezeichnen.

Unser Gehirn ist ein unüberschaubares Netzwerk aus ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen21 und ihren Verbindungen untereinander. Das Erlernen neuer Verhaltensweisen entsteht durch die Fähigkeit, neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu bilden. Diese Formbarkeit des Gehirns nimmt von den älteren zu den neueren Gehirnteilen hin immer weiter zu. Daher zeichnet sich das menschliche Gehirn, bei dem die Großhirnrinde etwa zwei Drittel der gesamten Hirnmasse ausmacht, durch eine besonders hohe Plastizität aus.

Tiere wie Reptilien oder Insekten, die hauptsächlich von ihrem Stammhirn gesteuert werden, kommen mit einem fest verschalteten Gehirn auf die Welt. Das ermöglicht ihnen in einer Umgebung, für die sie die Evolution über lange Zeiträume hinweg angepasst hat, zu überleben.22