Das Schweigen der Mitte - Ulrike Ackermann - E-Book

Das Schweigen der Mitte E-Book

Ulrike Ackermann

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Beschreibung

Wenn die Demokratie in der Krise steckt und der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, geht es ans Kerngeschäft der Intellektuellen. Doch die hitzigen Debatten münden in fatale Polarisierungen. Ulrike Ackermann plädiert für eine Rückbesinnung auf antitotalitäre und liberale Traditionen, um die politische Mitte intellektuell neu zu besetzen. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre Gruppeninteressen kämpfen. Wichtige Kontroversen werden nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her. Deutschlands Intellektuelle wie Joachim Gauck, Uwe Tellkamp, Harald Welzer oder Thea Dorn streiten um die Meinungsführerschaft. Gelingt es ihnen, die ideologische und moralische Polarisierung aufzubrechen? Ackermann fordert eine antitotalitäre Selbstaufklärung, um dem Furor des Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird, entgegenzutreten.

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Seitenzahl: 246

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Ulrike Ackermann

Das Schweigen der Mitte

Wege aus der Polarisierungsfalle

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Der Kampf zwischen der Versuchung des Totalitarismus und den liberalen Sehnsüchten dauert an. Er wird ebenso lange fortgesetzt werden wie unser Auge reicht. Die Freiheiten, derer wir uns erfreuen, behalten im Westen die Zerbrechlichkeit der kostbarsten Errungenschaften der Menschheit.“

Raymond Aron

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.

© 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Satz: Melanie Jungels, TYPOREICH – Layout- und Satzwerkstatt, Nierstein

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4057-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4066-5eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-4067-2

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

Einleitung

Intellektuelle im politischen Kräftespiel

Ihre Präsenz in Deutschland und Frankreich

Verortungen von rechts bis links

Altes Blockdenken und Versuche der Überwindung

Öffentlichkeit und Meinung

Wandel des Debattenraums

Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter

Streit um die Meinungsfreiheit

Shitstorms und Hochschulpolitik

Polarisierungen

Tumult auf der Frankfurter Buchmesse

„Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“

Totalitarismus revisited

Politische Vertrauenskrise

Der Absturz der Volksparteien

Krise der Repräsentation

Die Erosion der politischen Mitte

Aufbegehren gegen Althergebrachtes

Überkommene Organisationen und schillernde Neulinge

Forschung zur politischen Vertrauenskrise

Neue gesellschaftliche Spaltungen

Elitenkritik und Elitenversagen

Die Segregation der Mittelschicht

Verwerfungen zwischen Stadt und Land

Wie viel Heimat braucht der Mensch?

Streitpunkt Nation

Migration und Integration

Der politische Islam

Westliche Selbstzweifel und Identitätspolitik

Antiwestliche Ressentiments

Identitätspolitik von rechts und links

Wertekanon unter Beschuss

Plädoyer für eine antitotalitäre Selbstaufklärung

Danksagung

Literatur

Einleitung

In seinem letzten Buch Versuchungen der Unfreiheit wünschte sich Ralf Dahrendorf Intellektuelle als besonnene, „engagierte Beobachter“, ausgestattet mit der Weisheit der leidenschaftlichen Vernunft. Er hoffte auf ihre Interventionen angesichts eines neuen Autoritarismus und verlangte von ihnen gleichermaßen kühle Reflexion, „ein Leben zwischen den Eindeutigkeiten, ein unbequemes Leben also, das dennoch ertragen werden will.“

Gibt es diese öffentlichen Intellektuellen noch, die unbequem sind, aber nicht schrill, die beraten können, ohne Machthörig zu sein? Brauchen wir sie überhaupt noch nach diesem rasanten Strukturwandel der Öffentlichkeit im Zuge der digitalen Revolution? Jene bürgerliche Öffentlichkeit, in der Intellektuelle ehemals agierten, verflüchtigt sich zunehmend zwischen Blogs und Plattformen im Internet, zwischen Informationsblasen, Shitstorms und sich ständig selbst aufheizenden Echoräumen. Und damit verlieren auch die intellektuellen Akteure selbst an Bedeutung. Einige beklagen diese Fragmentierung der Öffentlichkeit, andere bejubeln den Verlust der einstmaligen Deutungshoheit, die Intellektuelle innehatten, und rühmen die neue Demokratisierung der Diskurse. So überhaupt noch Rat eingeholt wird, sei es in der Politik, in Institutionen oder Talkshows, sind heute anstelle breit gefächerter und universalistischer Perspektiven zudem eher Experten mit spezialisiertem Fachhorizont gefragt. Geistfeindlichkeit und die Neigung, die Komplexität der Welt auf einfache Muster herunterzubrechen und keine Ambivalenzen zu dulden, machen sich allenthalben breit. Diese Anfeindung des Intellekts geht einher mit einer immer vehementer um sich greifenden Anti-politik. Ihre autoritären Anführer scharen per Twitter diesseits und jenseits des Atlantiks eine virtuelle Volksgemeinschaft um sich und setzen sich über Gewaltenteilung und deliberative Traditionen der Demokratie dreist hinweg. Wenn diese über Jahrhunderte hart erkämpften politischen Freiheiten selbst zur Disposition stehen und unter wachsenden Druck geraten, wäre eigentlich die Stunde der Intellektuellen gekommen, um diese Freiheiten zu verteidigen. Doch wo sind sie heute und wer sind sie überhaupt?

Seit der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts und Émile Zolas berühmter Parteinahme – die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen – hadern sie mit ihrer Rolle. Anlass für diese erste spektakuläre Intervention eines Intellektuellen war die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Spionage für die Deutschen von einem Pariser Gericht. Begonnen hatte sie mit Émil Zolas offenem Brief an den Präsidenten der Republik, der am 13. Januar 1898 in der von Georges Clemenceau herausgegebenen Tageszeitung L’Aurore mit der Überschrift „J’Accuse“ erschien. Der französischen Armee und Justiz warf er vor, das Recht zu beugen und einen Komplott gegen die Republik zu schmieden. Zolas Aufruf folgte eine Flut von Petitionen, Artikeln und Debatten, in denen Schriftsteller und Journalisten öffentlich das Wort ergriffen, um sich für oder gegen Dreyfus zu positionieren. Erstmals wurden diese Unterzeichner der zahlreichen Petitionen Intellektuelle genannt: zustimmend und positiv aufseiten der Dreyfus-Verteidiger und verunglimpfend seitens seiner Gegner. Bei ihnen mischten sich antisemitische Töne mit der Sorge um die nationale Einheit und die Staatsraison, die sie durch Zolas Appell gefährdet sahen. Die Dreyfus-Verteidiger hingegen intervenierten, um die Würde des einzelnen Menschen, um Wahrheit und Gerechtigkeit zu verteidigen, waren ihnen universelle Werte doch wichtiger als das nationale Interesse. Von Anfang an stellte sich damit die Frage nach dem politischen Engagement der Intellektuellen: Ist es ihre Aufgabe, gegen die Macht aufzustehen, oder sollen sie sich der Politik enthalten und ihre Schreibtische, Katheder oder Leinwände besser nicht verlassen?

Bis heute stehen Intellektuelle vor diesem Dilemma: öffentliches Eingreifen in Debatten oder Enthaltsamkeit gegenüber der schnöden Empirie und dem schmutzigen Geschäft der Politik? Intervention oder Abstinenz zugunsten der hehren Wissenschaft, Literatur und Neutralität? Obwohl die komplizierte Weltlage gerade jetzt intellektuellen Esprit im öffentlichen Raum und der Politik bitter nötig hätte.

Die Unzufriedenheit der Bürger mit dem politischen Personal, das allzu oft Politmarketing mit Politik verwechselt, der immense Vertrauensverlust und die Verachtung der Eliten sind in Europa und den USA inzwischen so ausgeprägt, dass die alten Volksparteien reihenweise abgewählt werden und populistische Parteien und Bewegungen allgegenwärtig geworden sind.

Die Landtagswahl in Thüringen 2019 zeigte erneut, dass die politische Mitte zerbröselt und keine Regierungsbildung mit dem bürgerlichen Lager mehr möglich ist. Die extremen Ränder stellen die absolute Mehrheit, die Linke ist erstmals stärkste Partei in einem Bundesland geworden, und die gewachsene AfD erhält ein Viertel der Stimmen.

Doch nicht nur die politische Klasse hat in den letzten Jahren stark an Glaubwürdigkeit verloren, sondern das Misstrauen und die Ressentiments der Bevölkerung gelten auch den Leistungseliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien. Ihnen wird vorgeworfen, versagt zu haben, weil sie ihre Bodenhaftung eingebüßt hätten und den immensen Herausforderungen, mit denen die westlichen, liberalen Demokratien konfrontiert sind, nur zögerlich begegnet seien: Weltweite Migrationsbewegungen nach Europa auf der Flucht vor Bürgerkriegen und auf der Suche nach Wohlstand, die Europäische Union (EU) selbst in der Krise und am Scheideweg, westliche Werte und Freiheiten unter Druck von außen wie von innen, fortgesetzter islamistischer Terror gegen unseren Lebensstil und das Wiedererstarken autoritärer politischer Führer. Man denke nur an die neoimperiale Politik Wladimir Putins, Chinas ökonomischen Eroberungsfeldzug oder Erdoğans islamistische Präsidialdiktatur. Der autoritär-chauvinistische Führungsstil hat auch in Ostmitteleuropa und im Westen seine Nachahmer gefunden. So wird der Rechtsstaat etwa in Polen oder in Ungarns sogenannter „illiberaler Demokratie“ ausgehöhlt. Von Donald Trump gar nicht zu reden, der das lange erfolgreiche westliche Freiheitsprojekt und die bisher geltende Weltordnung täglich weiter demontiert. Lange Zeit waren die Menschenrechte und die Verbreitung von Demokratie Maßstäbe für die US-Außen- und Bündnispolitik. Das ist vorbei: Die bisherige Weltordnung mit Amerika als ordnender, westlicher Führungsmacht droht sich aufzulösen.

Blickt man zurück nach Deutschland, stellt sich die Frage, wie hier die Intellektuellen in dieser unübersichtlich schwierigen Lage agieren. Greifen sie ein oder schweigen sie? Sind sie nützlich oder irrelevant in den Debatten, die unsere Gesellschaft heute über ihre Zukunft und ihren Zusammenhalt umtreibt? Der Soziologie Karl Mannheim sprach 1929, von einer „freischwebenden Intelligenz“, die mutig interveniere, wenn es politisch brenzlig wird, und die zugleich institutionell unabhängig sei. Wer verkörpert eine solche Intelligenz heute noch in Deutschland und wie positionieren sich Intellektuelle politisch in den lodernden gesellschaftlichen Konflikten hierzulande?

Ihr Deutungsmonopol haben sie verloren, auch weil es im Zuge der digitalen Vervielfachung der Kommunikationswege und Plattformen kein Deutungszentrum mehr gibt. Auch die Zahl der intellektuellen „Großköpfe“, die in vergangenen Jahrzehnten die Rede führten und Debatten aus den Universitäten initiierten und aus dem Kulturbetrieb heraus in die Gesellschaft hinein wirkten, hat sich immens verkleinert.

Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, wird es doch immer wieder bemüht, gleich einem Pawlow’schen Reflex. Gerade Vertreter der akademischen Linken im Wissenschafts- und Kulturbetrieb mit ihren vielfältigen und gut vernetzten Institutionen wirken meinungsbildend, wenn sie unbequeme, nicht gefällige Positionen abkanzeln, weil sie vermeintlich dem Common Sense widersprächen – zum Beispiel in Debatten über Migration, Integration und den politischen Islam oder auch immer wieder über die politische Gestalt und Praxis der EU. Oft geschieht dies mit dem Hinweis, es handele sich bei diesen Positionen um populistisches, rechtes, rassistisches, gar faschistisches oder islamophobes Gedankengut oder provoziere den Beifall aus derartigen Kreisen, also von der ganz falschen Seite. Das sind weit verbreitete Versuche, andere politische Einschätzungen und Deutungen der gesellschaftlichen und politischen Lage zu delegitimieren, was zuweilen sogar in Sprechverboten gipfelt. Rechte und konservative Intellektuelle, die sich zum Erstaunen der linksliberalen Öffentlichkeit inzwischen um Petitionen gruppieren, kontern mit dem Vorwurf der „Meinungsdiktatur“ und der „Herrschaft des politisch Korrekten“, die von links durchgesetzt würden und inzwischen den Mainstream bestimmten. Darin wiederum wittern die Linken das Aufziehen einer konservativen Revolution, gar einen untergründig immer noch in der deutschen Seele fortwährenden Faschismus, dem radikal Einhalt zu gebieten sei. Natürlich ist es alarmierend, wenn Asylbewerberheime angezündet werden, wenn sich Rechtsextreme und Neo-Nazis heute wieder dreister zusammenrotten, bestens vernetzt sind, ihre Parolen lautstark herausbrüllen und zu Terroristen und Mördern werden. Verstörend ist auch die Zunahme des Antisemitismus von rechts, aber auch von links, nicht erst seit dem Anschlag in Halle 2019 – und die lange Tatenlosigkeit des politischen Berlins. Dennoch ist die Rede vom Heraufziehen des Faschismus unsinnig, alarmistisch und verharmlost diese totalitäre Herrschaftsform. Es beginnt auch hier wieder reflexhaft das grobe Faschismus-Antifaschismus-Wechselspiel und prägt den Streit wie eh und je in der Rechts-Links-Konfrontation, obwohl sich die Kontroversen etwa über soziale Gerechtigkeit immer stärker von jener dezidiert klassenpolitischen Position entfernen, die sich vornehmlich an marxistischen Koordinaten orientierte. Der Antikapitalismus ist jedoch immer noch beliebt – auf linker wie auf rechter Seite – und die Schriften von Karl Marx erleben eine Renaissance in der Rezeption, obwohl die Zeit der unterdrückten industriellen Arbeiterklasse längst vorbei ist. Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation ist nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt und über den Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten gerückt. Gestritten wird über die vorgebliche oder reale soziale Benachteiligung neuer Opfergruppen, darunter Migranten, sexuelle, ethnische und religiöse Minderheiten. Frauen stehen immer noch als Benachteiligte und fortwährendes Opferkollektiv im Fokus. Auch in der Debatte über den adäquaten Umgang mit dem Klimawandel stehen sich die Lager unversöhnlich gegenüber.

Wir beobachten heute Polarisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen: Sie zeigen sich in sozialen Spaltungen gesellschaftlicher Gruppen, sie prägen Debatten, fördern eine dichotome politische und ideologische Lagerbildung und zeichnen natürlich auch die intellektuelle Landschaft. Intellektuelle sind Teil dieser Prozesse, aktuell wie historisch. Sie forschen über und blicken auf die Realität, deuten, stiften Sinn, ob mit großem oder kleinem Engagement, öffentlich oder im akademischen Raum. In keinem Fall aber stehen sie über den Dingen.

Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck, der ein umfassendes Argumentieren, das heißt eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen ohne Denkverbote und ideologische Scheuklappen immer schwieriger macht. Deshalb schnappt die Polarisierungsfalle zu, und sie greift so erbarmungslos, weil die Kontrahenten sich in ihrem Wunsch nach Eindeutigkeit, Reinheit der Position und beim Leugnen von Ambivalenzen gegenseitig noch befeuern.

Der Platz der politischen Mitte hingegen ist weitgehend verwaist – wovon auch der allseits beklagte Niedergang der Volksparteien zeugt. Und dieses entstandene Vakuum wird, bis auf eine sehr überschaubare Anzahl von Protagonisten, intellektuell nicht bespielt. Das heißt: In der politischen Mitte sind Intellektuelle, die den gegenwärtigen Krisen mit beherzt freiheitlichen, antitotalitären und universalistischen Positionen relevant begegnen würden, kaum wahrzunehmen oder fristen ein Dissidenten-Dasein. Die Mitte ist geistig entleert.

Die Polarisierungsfalle lässt sich indes nur öffnen, wenn andere Positionen und Argumente dazwischenfunken und in der verheerenden bipolaren Konfrontation die Mitte für die Vernunft und neue Gedanken zurückerobern. Diesem Befund geht der vorliegende Essay auf den Grund, um entlang der gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre zu verstehen, warum wir uns in dieser unkomfortablen und misslichen Situation befinden. Wo wir doch gerade jetzt alle intellektuelle Kraft aufbieten müssten, um den Anfeindungen der Freiheit und den Angriffen auf unsere liberal-demokratische Ordnung adäquat zu begegnen.

Intellektuelle im politischen Kräftespiel

Ihre Präsenz in Deutschland und Frankreich

Dass es Intellektuelle noch gibt, sie wahrgenommen werden und über Deutungsmacht verfügen, will die Zeitschrift Cicero mit ihrer alljährlichen Rangliste der 500 wichtigsten Intellektuellen zeigen. Diese Erhebung basiert auf der Präsenz von Intellektuellen in den 160 wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Außerdem werden Zitationen im Internet ermittelt und Treffer in der Suchmaschine Google Scholar gezählt. Ausdrücklich betont Cicero, es gehe dabei nicht um die inhaltliche Qualität der Einlassungen sondern um Quantität. Das wirft natürlich die Frage auf, ob diese Quantifizierung anstelle einer Qualifizierung nicht bereits Teil unseres Problems ist und auf das Schwinden des Intellekts im eigentlichen Sinne verweist. Denn originäre Qualität, Kreativität, Eigensinn und riskantes, offenes Denken als intellektuelle Potenz sind gerade jene Attribute, die Intellektuelle über Jahrhunderte ausgezeichnet haben.

Angeführt wird die Cicero-Rangliste 2019 von einigen noch verbliebenen „Großköpfen“: dem Philosophen Peter Sloterdijk, gefolgt von seinem Kollegen Jürgen Habermas, den Schriftstellern Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Peter Handke, dem ehemaligen Politiker und anschließend erfolgreichen Publizisten Thilo Sarrazin – Politiker werden sonst nicht in dieser Liste geführt –, der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, dem Ökonomen Werner Sinn und der Journalistin Alice Schwarzer. Diese Spitzenreiter haben alle das 70. Lebensjahr überschritten, was der Würdigung ihrer bisherigen intellektuellen Leistungen natürlich keinen Abbruch tut. Die Schriftstellerin Juli Zeh sorgt auf Platz elf dennoch deutlich für Verjüngung.

Das Messverfahren für dieses Ranking hat der Ökonom und Politikwissenschaftler Max A. Höfer entwickelt, der die Intellektuellen-Liste für Cicero bereits seit 2006 erstellt. Seither ist zu beobachten, wie sich die Positionierung der 500 Intellektuellen verschiebt. Die Kategorie „Intellektueller“ ist laut dieser Rangliste recht weit gefasst. Neben Schriftstellern, Sozial- und Geisteswissenschaftlern finden sich Ökonomen, Publizisten und ausgesprochen viele Journalisten – auch wenn Max A. Höfer inzwischen einen Abwärtstrend für Publizisten und Schriftsteller beobachtet, während Naturwissenschaftler, Mediziner und Ökonomen die großen Aufsteiger in diesem Ranking sind.

Die Häufigkeit der öffentlichen Präsenz in Gestalt von Zitaten, Büchern und Artikeln, aber auch leibhaftig auf Podien und in Talkshows macht die gelisteten Intellektuellen – durchaus auch in pekuniärer Hinsicht – zu jenen Spitzenreitern, die umtriebig in der Republik unterwegs sind und sich geschmeidig in den Kulturbetrieb einfädeln. Legt man als Maßstab hingegen eine etwas puristischere Definition des Intellektuellen an, die sich stärker an der historisch gewachsenen Rolle und den qualitativen Interventionspotenzialen orientiert, enttäuscht diese Rangliste. Zeigt sie im Resultat und in der Machart nicht gerade, dass jene Intellektuellen, die wir aus vergangenen Zeiten kennen, die mit scharfem Blick die Gesellschaft ins Visier nehmen, mit ihrer Skepsis ärgern und mutig an Glaubenssätzen, Sitten und Tabus rütteln, am Aussterben sind? Hat diese Figur des „Rüpels und Rebells“ nicht schon längst abgedankt?

Die Publizistin Hannelore Schlaffer erinnert in ihrer Erfolgsgeschichte des Intellektuellen an diese nonkonformistische Rolle, als der rüpelhaft-rebellische Intellektuelle als Kritiker noch ärgern konnte und zugleich als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten geschätzt wurde. Als „Hofnarr und Missionar“ seiner Gesellschaft, konnte er ein „notwendiges Ferment der Aufklärung“ sein. Und eben eine solche Form des Intellektuellen meint der Medienwissenschaftler Norbert Bolz – selbst auf vielen Podien unterwegs – auch heute noch zu erblicken. In seiner Laudatio auf den Anführer der Cicero-Liste bescheinigt er Peter Sloterdijk Geistesgegenwart ohne Zeitgeistigkeit. Sloterdijk trotze dem medial wie politisch zugespitzten Konformitätsdruck. In einer Zeit, in der die Politik zum Gefälligkeitsdenken, die Medien zur Selbstinszenierung und die Universität zur Resignation verführe, brilliere er mit Eigensinn. Eine Figur, wie sie besonders häufig bei unseren Nachbarn zu finden ist.

Frankreich zehrt bis heute noch von seinem Ruf, das Land der Intellektuellen und gewissermaßen Erfinder dieser Spezies zu sein. Es wundert deshalb nicht, dass es dort unzählige Studien und regelrechte Bestseller über ihre Geschichte, ihren Aufstieg und Niedergang, ihren Verrat, ihre Verantwortung oder ihre Neuverortung gibt. Im Vergleich zu Deutschland war die Essay- und Zeitschriften-Kultur, in der auf hohem Niveau und dennoch breit rezipiert über den Zustand der Gesellschaft gestritten wurde, in Frankreich schon immer viel ausgeprägter. Dazu kam das hohe Ideal des institutionell unabhängigen Intellektuellen, der öffentlich interveniert: Der 2015 verstorbene Philosoph André Glucksmann verkörperte dies auf vortreffliche Weise. Vom ehemaligen Maoisten in der 1968er Studentenrevolte zum antitotalitären Liberalen gewandelt, provozierte er gern Debatten und sparte nicht mit Polemik. Im Gegenzug begleiteten ihn Anfeindungen, scharfe Kritik und Missgunst bis zu seinem Tod.

Einer seiner Kontrahenten war der Soziologe Pierre Bourdieu, der am ehrwürdigen Collège de France in Paris lehrte. Er galt als „Papst“ seines Fachs und war zugleich ein veritabler Vertreter jener akademischen Linken, die das Engagement der Intellektuellen einforderten. Institutionell verankert und stolz auf seine akademische Reputation, polemisierte er gern und zuweilen recht aggressiv gegen sogenannte „Medienintellektuelle“. Diese Vogelfreien, nicht eingebettet in eine wissenschaftliche Institution und Hierarchie, waren ihm zutiefst suspekt. Das war umso erstaunlicher, als sich der Soziologe völlig zu Recht seinen guten Ruf gerade mit Untersuchungen über Die feinen Unterschiede erworben hatte, mit akribischen Analysen sozialer Rangunterschiede und Dynamiken der Macht, der Anerkennung und des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs. Neben dem ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital führte er den Begriff des kulturellen Kapitals ein. Er untersuchte damit Bedeutung, Stellenwert und Nutzen, die der Bildung im sozialen Beziehungsgeflecht und der Genese von Machtstrukturen zukommt. In seinem Anfang der 1980er-Jahre erschienenen Buch Homo academicus setzte sich Bourdieu dann ausführlich mit der Frage auseinander, wer überhaupt die Definitionsmacht darüber habe, wer ein Intellektueller ist, und sich damit ermächtige, kulturelle Produktion zu bewerten.

Bestsellerlisten und Bestenlisten der großen Zeitungen und Zeitschriften, die Intellektuelle bewerteten und in eine Hierarchie einordneten, gab es schon damals. Unter der Überschrift „Die Hitparade der französischen Intellektuellen oder: Wer richtet über die Legitimität der Richter?“ mokiert sich Bourdieu mit beißendem Spott über das Ranking intellektueller Akteure. Er sieht dabei kulturindustrielle Mechanismen am Werk, wobei sich „Journalisten-Intellektuelle“ und „Intellektuelle-Journalisten“ aufs Engste miteinander verstrickten. Dieser Prozess „vollzieht sich auf mehreren Ebenen: auf der des ‚informellen‘ Austauschs privater, wenn nicht vertraulicher Urteile und Wertungen (‚Sag’s nicht weiter, aber das letzte Buch von X ist unter aller Sau‘) zwischen Journalisten, schriftstellernden Journalisten und journalistisch tätigen Schriftstellern, aber auch auf der Ebene der öffentlichen Verdikte, also der Rezensionen, Kritiken, Einladungen zu Radio- und Fernsehauftritten, schließlich auch der ‚Bestenlisten‘.“ (Bourdieu 1992)

Diese scharfsinnige Analyse des Soziologen gilt nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland können wir bis heute – und noch angetrieben und beschleunigt vom Internet und den sozialen Netzwerken – ganz ähnliche Mechanismen im Kultur-, Wissenschafts- und Medienbetrieb beobachten.

Verortungen von rechts bis links

Pierre Bourdieu pochte auf die „kritische Mission“, die den Intellektuellen als Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern obliege. Denn aufgrund dessen, was sie wissen und selbst beherrschen, verkörperten sie eine Form von Universalität und hätten als Kollektiv die Funktion, Vernunft zu repräsentieren.

Angesichts des aktuellen Unbehagens im Wissenschaftsbetrieb und der Debatten über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an Hochschulen sind Bourdieus damalige Mahnungen geradezu hellseherisch: Der intellektuelle Rekurs auf Universalität schließe die kompetente Wahrnehmung ihrer Eigeninteressen ein. Dazu zählte er vor allem die Veröffentlichung eigener Werke und die Realisierung der Freiheit von Lehre und Forschung. Er war davon überzeugt, dass Intellektuelle kollektiv intervenieren müssten, um „mit ihren Werten allgemein-kritische, vernünftige Werte zu verteidigen“, sagte er mir 1992 in einem Gespräch.

Bourdieu, selbst nicht frei von eitlen Neigungen, sparte nicht mit Polemik gegenüber den sogenannten Nouveaux Philosophes, jenen öffentlich sehr präsenten Intellektuellen, die im Zuge des sogenannten Gulag-Schocks 1974 mit ihrer marxistisch-leninistischen, trotzkistischen oder maoistischen Vergangenheit gebrochen hatten. Auslöser der großen Debatte war damals die Veröffentlichung des Buchs Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn über die Straf- und Todeslager in der Sowjetunion. Gestritten wurde über Bewertung und Einschätzung der kommunistischen Verbrechen, die von vielen Intellektuellen lange Zeit verharmlost oder verschwiegen worden waren. André Glucksmann, Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner gingen mit ihrer eigenen linken Vergangenheit und intellektuellen Verleugnungsstrategie hart ins Gericht und vertraten fortan in Debatten eine antitotalitäre Agenda. Die alten Lagergrenzen von rechts und links erodierten, und es entstand allmählich eine neue intellektuelle Landschaft. Ganz anders verhielt es sich damals in Deutschland, in der die Weichzeichnung des Kommunismus und ausgeprägte Opposition gegenüber einem als bürgerlich-konservativ verunglimpftem Antikommunismus bei Intellektuellen noch bis weit nach dem Mauerfall und den friedlichen Revolutionen in Europa virulent blieb. Der Schriftsteller Heinrich Böll stand in der deutschen Debatte, als er damals seinen Kollegen Solschenizyn gegen die Anwürfe verteidigte, ein reaktionärer Antikommunist zu sein, auf ziemlich einsamem Posten. Den Verharmlosern der sowjetischen Diktatur hielt er entgegen: „Kein Zweifel, im Archipel Gulag wird nicht etwa nur entstalinisiert, es wird auch entlenisiert, beiden Väterchen wird auf die Finger geklopft und ins Stammbuch geschaut.“ Solche neuen „Antitotalitären“ ernteten prompt den Vorwurf des Renegatentums, besonders von Intellektuellen auf der deutschen Rheinseite.

Der akademische Linke Pierre Bourdieu seinerseits attackierte die Nouveaux Philosophes nicht offen politisch. Er versuchte, sie zu delegitimieren, weil sie institutionell nicht eingebunden waren und keinen akademisch abgesicherten Status hatten – und dennoch über eine solch umwerfende Präsenz in den Medien verfügten. Der hoch angesehene Soziologe, selbst medial äußerst präsent, giftete als Staatsbeamter just gegen jene unabhängigen, „freischwebenden Intellektuellen“, die sich jenseits staatlicher Alimentierung und Förderung auf dem freien Markt des Denkens, Schreibens und Debattierens behaupten mussten. Für ihre Unabhängigkeit zahlten sie im kulturindustriellen Sektor natürlich ihren Preis, ständig unter dem Druck, Neues produzieren und ihre Bücher optimal bekannt machen und vertreiben zu müssen. Ihre vornehmlich gewählte Ausdrucksform des Essays ist wortwörtlich zu verstehen: Sie verfassten Versuche der Zeitdiagnose jenseits geschlossener philosophischer Systeme, soziologischer Schulen oder Lehrmeinungen und politisch-normative Einlassungen, die es nicht darauf anlegten, dem kulturellen Mainstream zu entsprechen. Natürlich waren auch sie nicht immer vor Irrtümern gefeit.

Trotz seiner Häme gegenüber diesen außeruniversitären Kollegen begrüßte Bourdieu die Uneinigkeit und Kontroversen zwischen Intellektuellen. Ihre Auseinandersetzung sei letzten Endes ein Kampf darum, was richtig ist, also ein Kampf um die Wahrheit. Doch im vernetzten Kultur-, Medien- und Wissenschaftsbetrieb geht es beileibe nicht nur um die hehren Werte der Aufklärung, sondern immer auch um Macht, Geltungsansprüche und den Kampf um Ressourcen.

Schon Julian Bendas 1927 erschienenes Buch La trahison des clercs entfachte eine lang währende Diskussion über die gesellschaftliche Rolle der Intellektuellen. Ihm ging es um die Verteidigung eines Berufsstandes, der sich nicht vonseiten der Politik oder von aktuellen Notwendigkeiten vereinnahmen lassen solle, sondern „im Namen ewiger Werte und nicht dem Gebot der Stunde gemäß“ urteile. Der mit dem Kommunismus kokettierende Philosoph Walter Benjamin hielt ihm damals in seiner Rezension des Buchs entgegen, Aufgabe des Intellektuellen sei es gerade nicht, über den Dingen zu stehen, sondern der Wirklichkeit möglichst nahe auf den Leib zu rücken.

Nur weil sie aufgrund ihrer Ausbildung fähig sind, nach Vernunft, Wahrheit und Erkenntnis zu streben, verfügen Intellektuelle nicht unbedingt über eine bessere Moral und sind nicht gefeit davor, zu irren oder sich blenden zu lassen. Sie sind aufgrund ihres Berufs oder ihrer Berufung also nicht per se die authentischen Vertreter universeller Prinzipen, wie Pierre Bourdieu gern insinuierte. Selbst wenn sich die Genese ihres Berufsstands den Prinzipien der Aufklärung und deren erfolgreicher sozialgeschichtlicher Durchsetzung verdankt. Viele von ihnen haben gerade im vergangenen Jahrhundert der totalitären Diktaturen gezeigt, wie sie sich für ethnisch-rassistische und Klasseninteressen zum Diener eines Regimes haben machen lassen oder zu Mitläufern wurden: Linksintellektuelle, welche die Sowjetunion feierten und die kommunistischen Lager und Verbrechen leugneten, schönredeten oder ignorierten; Rechtsintellektuelle, die von der konservativen Revolution, einer Reinheit der Rasse und der Weltherrschaft träumten und den Nationalsozialismus und Faschismus ideologisch bedienten, verteidigten und später versuchten kleinzureden.

Altes Blockdenken und Versuche der Überwindung

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Kommunisten sehr erfolgreich darin, Intellektuelle auf großen Konferenzen zu versammeln und kollektiv Deklarationen zu verabschieden. Vor 1917 bereits in Russland üblich, wurde diese Praxis organisierter Zusammenkünfte von der sowjetischen Kommunistischen Partei (KP), der Kommunistischen Internationale und ihren europäischen Mitgliederparteien in den frühen 1930er-Jahren fortgesetzt. Wie ergiebig diese Propagandaarbeit war, zeigte nicht zuletzt die große Begeisterung vieler deutscher Schriftsteller für die Sowjetunion. Im eigenen Land geächtet, verfolgt oder bereits im Exil, wurde westlichen Intellektuellen in Moskau ein grandioser Empfang bereitet. Zu Hause hatten sie ihre Leserschaft weitgehend verloren, aber im „Arbeiter- und Bauern-Paradies“ hob man sie auf ein Podest und feierte sie.

Der Kommunist, Verleger und Filmproduzent Willi Münzenberg leitete die Agitprop-Abteilung der Kommunistischen Internationale und organisierte den „Ersten internationalen Kongress der Schriftsteller für die Verteidigung der Kultur“ 1935 in Paris. Unter den Gästen waren André Gide, André Malraux, Robert Musil, Heinrich Mann, Bertolt Brecht und Aldous Huxley. Diese versammelten Schriftsteller einte der Antifaschismus, und viele westliche Intellektuelle ließen sich in seinem Namen von Moskau betören und missbrauchen, auch der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Er war während der Schauprozesse 1936 gegen vorgebliche Abweichler der KP in Moskau zugegen, verteidigte die Todesurteile und denunzierte Kritiker des sogenannten „Großen Terrors“ als schlechte Antifaschisten.

Mit der Gegnerschaft zu Hitler gewann der Kommunismus ein neues Gesicht: Die proletarische Revolution wurde zur Vorhut der Demokratie im Kampf gegen den Faschismus; der Antifaschismus geriet gewissermaßen zum negativen Konzept der Demokratie. Der Krieg und der Sieg über Hitler verliehen daher dem Kommunismus 1945 einen nie gekannten Glanz. Die Rote Armee verkörperte nicht nur die Stärke, sondern nun auch die Freiheit, und plötzlich schienen die Verbrechen des sowjetischen Regimes gegen die Völker und Bürger der Sowjetunion durch den Sieg über Hitler wie ausgelöscht. Verbunden war diese Haltung, besonders bei französischen Intellektuellen, mit einem Revolutionsmythos, der in der Oktoberrevolution die Fortsetzung und Vollendung der Französischen Revolution erblickte. Waren die Pariser Intellektuellen – bis auf wenige Ausnahmen – während der deutschen Besatzung eher indifferent, wenn nicht sogar kollaborativ gewesen, so neigten sie in der Nachkriegszeit dazu, diese wenig rühmliche Haltung vehement mit einer radikalen Attitüde zu kompensieren. Heftig polemisierten sie gegen Kapitalismus, Bourgeoisie und Antikommunismus und feierten stattdessen lieber die Sowjetunion. „Historisch ist die UdSSR die Chance des Proletariats, sein Vorbild und die Quelle der revolutionären Wirkung. Darüber hinaus ist sie an sich selbst ein zu verteidigender historischer Wert, der erste Staat, der, obwohl er den Sozialismus noch nicht verwirklicht, dessen Prämissen enthält.“ (Sartre 1982) Diese Einschätzung Jean-Paul Sartres teilten in den 1950er-Jahren viele Intellektuelle in Frankreich, wo die Linke kulturell dominierte. Er hatte schon früher die Sowjetunion gepriesen als ein Land, das aufseiten all derer stehe, die gegen Ausbeutung kämpften. Sein Widersacher, der Soziologe und liberale Totalitarismuskritiker Raymond Aron, hatte 1948 seinen vom Kommunismus begeisterten Pariser Kollegen entgegengehalten: „Wer ein Regime, das Konzentrationslager einrichtet und eine politische Polizei unterhält, die jene der Zaren weit übertrifft, als Station auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit betrachtet, der verlässt die Grenzen selbst der für Intellektuelle noch erträglichen Idiotie.“ (Le Figaro, 11.4.1948)

In Paris kursierte seinerzeit das Bonmot „Mit Sartre irren ist besser, als mit Aron recht zu haben“. Aron stand damals noch auf einem ziemlich einsamen Posten und galt als Nestbeschmutzer. Sein Werk Opium für Intellektuelle, das 1955 erschien, provozierte daher erwartungsgemäß heftige Auseinandersetzungen über das Selbstverständnis der Intellektuellen. In dem Buch analysiert er akribisch die Faszinationskraft, welche die kommunistische Ideologie über solch einen langen Zeitraum trotz der stalinistischen Verbrechen auf Intellektuelle ausübt. Die später folgende Kontroverse zwischen Albert Camus und Sartre kreiste ebenfalls um diesen ideologischen Kern.

Auch in Deutschland stand der Kommunismus in den 1950er-Jahren in Intellektuellenkreisen keineswegs unter Bann. Viele sahen die DDR als legitime Erbin des Sieges über den Faschismus und der antifaschistische Gründungsmythos der DDR fand Anklang bei zahlreichen Intellektuellen. Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Anna Seghers, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Johannes R. Becher und andere waren nach ihrem Kampf gegen das nationalsozialistische Regime bereit, im östlichen Teil Deutschlands zu leben und ein ‚anderes‘ Deutschland aufzubauen. Dort hofierte man sie als intellektuelle Bündnispartner des antifaschistischen, demokratischen Aufbaus. Sie erhielten zahlreiche Privilegien und gebührender Respekt wurde ihnen entgegengebracht. Ganz anders damals in der eben gegründeten BRD, welche die Exilautoren teils ignorierte oder sie sogar als Störfaktoren in der Phase des Neubeginns ansah. Viele glaubten deshalb auch hier daran, in der DDR könnte tatsächlich ein alternatives Gesellschaftsmodell entstehen.

Der Kongress für kulturelle Freiheit

Die amerikanisch-deutsche Initiative zur Gründung des Kongresses für kulturelle Freiheit am 26. Juni 1950 in West-Berlin war gewissermaßen die Antwort auf die recht erfolgreiche Arbeit der Kommunisten, die Herzen und Köpfe der Intellektuellen zu erreichen. Als Antwort auf die Erfahrungen des Totalitarismus organisierten und versammelten sich darin regelmäßig namhafte amerikanische und europäische Intellektuelle. Sie einte die Hoffnung auf ein Ende der Ideologien, wie auch 1962 der Buchtitel des bekannten Soziologen Daniel Bell lautete. Der Kongress spielte fortan in der ideologischen Gemengelage eine gewichtige Rolle und die Protagonisten wurden von links und natürlich von den kommunistischen Parteien umgehend als Kalte Krieger beschimpft.

Zu den Hauptakteuren des Kongresses zählten der Schriftsteller Arthur Koestler und der 1920 in New York geborene Journalist Melvin J. Lasky. Koestlers politische Erfahrungen und der Bruch mit der Kommunistischen Partei prägten sein gesamtes literarisches Werk. Sonnenfinsternis, erschienen 1940, ist eines der beeindruckendsten Dokumente über die sogenannten „Großen Säuberungen“ Stalins von 1936 bis 1938. Und Lasky war nach Kriegsende als Kulturoffizier nach Berlin gekommen und hatte 1948 den Monat