Das Script-Girl - Patrick Kincaid - E-Book

Das Script-Girl E-Book

Patrick Kincaid

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Beschreibung

Eigentlich wollte der kauzige Forscher Jim nur in Ruhe die Flora und Fauna von Loch Ness untersuchen, als plötzlich Billy Wilder samt Filmteam dort aufkreuzt, um den Film „The Private Life Of Sherlock Holmes“ zu drehen. Zunächst ist Jim alles andere als begeistert — das ändert sich jedoch nach und nach, als er die erfrischende Filmassistentin April näher kennenlernt. Glücklich vereint werden die beiden jedoch erst 45 Jahre später, als die ursprüngliche Fassung des Filmes zur Vorführung kommt…

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Seitenzahl: 427

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Das Buch

1969 kommt eine Hollywood Filmcrew für sechs Wochen in einen kleinen Ort am Loch Ness, um einen Teil des Films Das Privatleben des Sherlock Holmes zu drehen. Davon überhaupt nicht begeistert ist der Wissenschaftler Jim Outhwaite, der sich intensiv mit der Suche nach dem Loch-Ness-Monster Nessie beschäftigt und sich in seiner Arbeit gestört fühlt. Doch dann verliebt er sich in April, das Continuity Girl, das dafür zuständig ist, dass bei den Aufnahmen keine Logikfehler passieren. Und auch sonst geschehen ein paar unvorhergesehene Dinge. Streitigkeiten brechen aus zwischen den Mitgliedern der Filmcrew und den Wissenschaftlern …

Der Autor

Patrick Kincaid wurde als Sohn einer Engländerin und eines Amerikaners in Texas geboren. Als Kind zog er mit seiner Familie nach Großbritannien, wo er nach seinem Schulabschluss Eng­lische Literatur studierte, promovierte und als Lehrer tätig war. Das Script-Girl ist sein erster Roman.

Patrick Kincaid

Roman

Aus dem Englischen vonTobias Rothenbücher

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die englische Originalausgabe The Continuity Girl erschien 2018 bei Unbound.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2019

Copyright © 2018 by Patrick Kincaid

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock (Ashusha, thenatchdl)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24260-2V001

www.heyne.de

Für Mum, die da war, als alles anfing.

In großer Dankbarkeit für Alva Clayton Kincaid, die viel dazu beigetragen hat, dass es dieses Buch gibt.

London, 2013

Holmes ist nachdenklich. Er lehnt am Kamin und wendet sich direkt an Watson. Madame Valladon ist in der Einstellung nicht zu sehen.

»Wir haben diese Situation schon einmal erlebt«, sagt er.

»Haben wir? Wo denn?« Watson hört auf, an seinem geborgten Kilt herumzuzupfen.

Holmes tritt ans weit geöffnete Fenster. Draußen schimmert Loch Ness im Mondlicht, und wir erkennen die undeutlichen Umrisse der Berge. »Beim Ballett.«

»Ballett?«

Holmes deutet nach draußen. »Da ist ein See, da ist ein Schloss, da ist ein Schwan, der in Wirklichkeit kein Schwan ist …«

Davids Hand liegt schon wieder auf Gemmas Oberschenkel. In seinen Brillengläsern spiegelt sich das Licht des Projektors, aber das ist alles, was sie von ihm erkennen kann. Es ist fast, als wäre er gleichzeitig Holmes und Watson in der Szene, über die gerade geredet wird: beim Ballett. Er ist gelangweilt und geil zugleich. Und er macht ihre willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit zunichte, reißt sie heraus aus dem Schottland der viktorianischen Zeit, das auf der Leinwand zu sehen ist, und holt sie zurück nach Islington, in ein Kino des 21. Jahrhunderts. Das kann sie nicht zulassen. Sie gibt dem Fünffingertier eins auf die Knöchel, es zieht sich von dem schwarzen Nylonstoff zurück und verkriecht sich wieder in seiner dunklen Höhle.

Da ist ein Schwan, der in Wirklichkeit kein Schwan ist, denkt sie. Jetzt steht Holmes am Fußende des Himmelbetts, und ­Madame Valladon unter ihrer Decke schaut mit vor Furcht geweiteten Augen zu ihm auf. In diesem Falle eigentlich ein Monster, das aber kein Monster ist …

»Also, zwei Sachen weiß eigentlich jeder über Das Privatleben des Sherlock Holmes von Billy Wilder.«

Sie sitzen im King’s Head, viel zu nah an der Tür, weil es an diesem Donnerstagsabend voll ist und alle anderen Tische bereits besetzt waren. Als Belohnung dafür, dass er den Film über sich hat ergehen lassen, hat Gemma David ein Craft-Bier bestellt. Ihr Glas Merlot hat sie schon halb geleert, um sich auf das Verkünden der großen Neuigkeit einzustimmen.

»Zwei Sachen, die jeder weiß?« Seine Augenbrauen schauen über den Brillenrand und stoßen oben fast an seine blonde Tolle. »Über den Film weiß doch niemand irgendwas. Bevor ich dich kennengelernt habe, wusste ich nicht mal, dass es ihn überhaupt gibt.«

Sein Midwestern-Akzent durchschneidet das britische Geplapper wie ein U-Boot ein trübes Gewässer. Dabei ist er kein Angeber, er hat nur eine laute Stimme. Gemma hat eine Weile gebraucht, um das zu merken. »Okay, es gibt zwei Dinge, die vom Privatleben des Sherlock Holmes besessene Dozentinnen der Filmwissenschaft darüber wissen.«

Er nickt zufrieden. »Und die wären?«

Sie nimmt noch einen Schluck Merlot. »Erstens waren die Dreharbeiten verdammt schwierig. Die Schauspieler, die Wilders Stil nicht kannten, kamen nicht damit klar, wie viele Takes er von ihnen verlangte und dass er Betonungen und Bewegungen so penibel vorgab. Für Christopher Lee, der 1969 bereits viel Erfahrung vor der Kamera hatte, war das schon schlimm genug – für andere, die vom Theater kamen, war es ein Albtraum. Am schlimmsten hat es den armen Robert Stephens erwischt. Er hatte ja gehofft, es wäre sein Ticket nach Hollywood, wenn er Sherlock Holmes in einem Billy-Wilder-Film spielt. Stattdessen haben die endlosen Takes und Regieanweisungen seinem Selbstbewusstsein einen Riesenknacks versetzt. Am Ende hat er sich eine Überdosis verpasst, was eine Megaverzögerung verursacht und die Produzenten richtig Geld gekostet hat. Und dann war da noch das Fiasko mit dem Ungeheuer von Loch Ness …«

»Fiasko?«, sagt David. »Das war doch die beste Stelle im ganzen Film.«

Gemma verdreht die Augen. »Der Film hatte ein fettes Budget – zehn Millionen Dollar –, und davon haben sie sich erst mal ein ebenso fettes Baker-Street-Set geleistet. Außerdem ein funktionstüchtiges Modell des Ungeheuers aus der Werkstatt von Wally Veevers, der mit 2001 berühmt geworden war, zum Einsatz im echten Loch Ness. Aber gleich beim ersten Test im Wasser ist es ihnen komplett abgesoffen und bis auf den Grund gesunken. Keine Chance auf Bergung.«

»Und was haben wir dann eben im Film gesehen?«

»Sie haben noch eins gebaut und die Szene in einem Becken in Elstree gedreht.«

David bläst die Backen auf und lässt sie platzen. »Und so was kostet Zeit und Geld!«

Gemma nickt. Langsam kapiert er’s.

»Du hast gesagt, es gibt zwei Dinge, die Billy-Wilder-Nerds über Das Privatleben des Sherlock Holmes wissen …?«

»Genau.« Sie nimmt noch einen Schluck Wein. »Das Zweite ist, dass der fertige Film auf Anweisung des Studios gnadenlos zusammengeschnitten wurde, und das hat Billy Wilder das Herz gebrochen.«

Ein feuchtkalter Luftzug weht durchs Pub. Gerade sind ein paar Frauen in bunten seidigen Outfits und hochhackigen Riemchensandalen hereingekommen. Das ist zwar komplett unpassend für eine Dezembernacht – selbst wenn sie noch so mild ist –, aber auch nicht meilenweit entfernt von dem Aufzug, den Gemma noch vor fünf, sechs Jahren an einem solchen Abend gewählt hätte. Sicher wollen sie hier mit ein paar billigeren Drinks vorglühen, ehe sie zum Klub weiterziehen. David mustert die Neuankömmlinge ausgiebig – das Pub ist voll von ihresgleichen –, dann aber grinst er Gemma verlegen an.

»Du bist unverbesserlich«, sagt sie und zieht ihren Cardigan vor dem Bauch zusammen.

Er zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen: Sorry,ich kann’s leider nicht ändern.

»Jedenfalls war es den Produzenten komplett egal, dass ihnen Wilder mit dem Appartement zehn Jahre vorher alle möglichen Oscars beschert hatte«, fährt sie fort. »Sie hatten einfach Schiss, dass sie den Film, den er abgeliefert hatte, nicht verkaufen können. Wilder schwebte ein Monumentalfilm vor – ein Drei-Stunden-Epos wie Ben Hur. Doch dieses Format war in der Filmindustrie längst tot. Schon ein paar Jahre vorher hatte keiner Doktor ­Dolittle sehen wollen, und der schien vergleichbar, weil auch er auf einer alten literarischen Vorlage basiert. Also haben die Produzenten den Film um ein Drittel kürzen lassen, und ganze Sequenzen wurden gestrichen – endgültig, wie es aussah. Das hat ihn aber auch nicht gerettet. Die Leute blieben trotzdem weg, und die Kritiker haben ihn ignoriert. Der arme Robert Stephens ist also nie ein Hollywoodstar geworden.«

»Und was ist jetzt die Neuigkeit?« Er legt den Kopf schief und mustert sie. »Irgendwas ist doch passiert, sonst würdest du mir das alles nicht erzählen, als wäre es interessant für mich.«

Sie strahlt ihn an. »Ein verdammtes Wunder«, sagt sie, »das ist passiert.«

Sie fischt ihr iPhone aus der Handtasche und loggt sich auf ihrem Uni-Account ein. »Hier«, sagt sie und rückt mit ihrem Stuhl herum, sodass sie beide aufs Display schauen können. »Das hat mir John Letterer vom British Film Institute letzten Donnerstag geschrieben.«

Der Betreff lautet einfach: »DPLDSH«.

Hi Gemma,

MGM Holdings sind einverstanden, dass ich Ihnen ihre Mail weiterleite. Kurz zusammengefasst: Die Gerüchte stimmen. Bei Nachforschungen letztes Jahr wurden ein paar verschollene Filmdosen im Haus eines früheren Mitarbeiters von United Artists aufgespürt. (Ob es der Hausmeister war, wie Sie ver­muten, konnte ich nicht klären.) Er selbst ist schon längst verstorben, aber seine Tochter hat auf dem Speicher herumge­stöbert und den Schatz entdeckt. Nichts Spannendes eigentlich, nur eben diesen kompletten Film.

»Ach, so einfach ist das?«, fragt David.

»So einfach«, sagt Gemma. Sie scrollt runter.

Materialreinigung und digitale Abtastung sind bereits weit fortgeschritten, und sie wollen ihn parallel zum Kinostart im Herbst auch auf DVD und Blu-Ray rausbringen. Aber: Zuerst soll er unbedingt auf Festivals laufen!

Da Sie sich bekanntermaßen so sehr für den Film engagiert haben – und für Wilders Spätwerk im Allgemeinen –, würden wir die Sache gern Ihnen anvertrauen. Natürlich könnten wir ihn nächsten Oktober beim LFF zeigen, aber wenn es schon im Sommer eine geeignete Gelegenheit gäbe, wäre das sicher noch besser.

Und fällt Ihnen jemand für ein Interview ein? Im Frühjahr stellt Mark Gatiss bei uns die »alte« Version vor, aber für die große Neuveröffentlichung sollten wir jemanden ansprechen, der damals bei den Dreharbeiten dabei war. Christopher Lee wäre bei seinem Alter wohl zu viel des Guten, oder? Vielleicht jemanden aus dem Team, der noch nicht so in die Jahre gekommen ist? Ich überlasse es Ihnen …

David lacht – wie immer ein Bild für die Götter. Die Lachfalten in seinem langen Gesicht sind genau an den richtigen Stellen.

»Gut, oder?«, sagt Gemma.

»Und was bekommt man da zu sehen, was wir heute Abend nicht gesehen haben?«

Gemma sprudelt fast über, so viel wird es zu entdecken geben. »Der Film war immer als eine Art Fallbuch gedacht. Voller beispielhafter Fälle, die Dr. Watson dem viktorianischen Publikum noch nicht zumuten wollte. Mit anderen Worten: reichlich Sex und Drogen.« Sie legt ihr iPhone zur Seite und zählt an den Fingern ab: »Es gibt einen Prolog mit Watsons kanadischem Enkel. Dann ›Die schreckliche Sache mit den nackten Hochzeitsreisenden‹ …«

»Da sagt der Titel ja schon alles, oder?«

»So ziemlich. Dann ist da der ›Kuriose Fall des umgekehrten Zimmers‹, in dem Watson versucht, Holmes mit einem unlösbaren Rätsel von seiner Kokainsucht abzubringen. Und das Beste: ein Flashback zu Sherlocks Studentenzeit samt einer prägenden Begegnung mit einer Prostituierten. In der Schnittfassung des Studios dagegen gibt es nur zwei Fälle: ›Die eigenartige Affäre um die russische Ballerina‹ und ›Der perplexe Detektiv‹ – eben der mit dem Ungeheuer von Loch Ness. Beide wunderbar, und deshalb ist das auch schon ewig mein Lieblingsfilm, aber ein Fallbuch ergeben sie noch lange nicht. Jetzt wird es ein ganz anderer Film sein.« Als sie das sagt, fühlt sie ein komisches Ziehen im Bauch. »Völlig anders.«

David wirft ihr einen Arm um die Schulter und drückt sie – ein bisschen zu fest. »Ich weiß nicht, was für mich ein derartiger Hammer wäre«, sagt er. »Vielleicht wenn Han Solo wieder als Erster schießen dürfte.« Sie knufft ihn in die Rippen. »War nur Spaß.«

Er schaut zur Bar hinüber. Entweder überlegt er, ob er sich sein zweites Bier holen soll – sein Glas ist leer –, oder er lässt sich von den Vorglüherinnen ablenken. Womöglich beides.

»Ich finde, das muss gefeiert werden«, sagt er. »Noch mal dasselbe?«

Sie beobachtet ihn an der Bar und beobachtet, wie die Vorglüherinnen ihn beobachten. Sie werfen ihm Blicke zu und tuscheln in ihre Drinks oder ihren Freundinnen ins Ohr … Er macht schon was her: ein langer Wikinger aus Minnesota mit Hornbrille im Hipsteranzug aus Tweed, das Haar mit Gel zu einer gelben Meerschaumskulptur geformt. Sie hat ihm gesagt, das sei ein blöder Look – wo er doch schon fast dreißig ist und sie bald eingeholt hat –, ein Spiel für Jüngere, die sich wie ein alter Mann zurechtmachen wollen. Aber eigentlich sieht er toll aus, und das weiß er.

Wieder gibt sie ihre iPhone-PIN ein und überfliegt noch einmal voll Freude John Letterers E-Mail. Dann öffnet sie ihren Gmail-Account. Es macht ping – Julie Crosby von der Universität Aberdeen hat geschrieben. Sie spürt ein Flattern im Bauch. Im Vorschaufenster steht: »Hallo Dr. MacDonald, bezüglich unseres Gesprächs am Donnerstag möchte ich …« Mehr kann sie leider nicht lesen, und öffnen kann sie die Mail jetzt auch nicht, weil David mit den Getränken zurückkommt.

Er setzt sich und schiebt ihr das frische Glas Merlot hin. »Okay«, sagt er, und schon liegt seine Hand wieder auf ihrem Oberschenkel, »dann kommen wir jetzt zum FrightFest. Quid pro quo, Clarice.«

Auf ihrem Weg zur U-Bahn-Station »Angel« spürt Gemma, wie ihr Haar in der feuchten Luft leicht erschlafft. Trotz der Lichter in den Schaufenstern, die sich in den Gehsteigpfützen spiegeln, will keine Weihnachtsstimmung aufkommen. Es ist ihr sogar zu warm in ihrem Mantel. Selbst letzten Februar, als das ganze Land sich über richtigen Schnee gefreut hat, mussten sich die Londoner mit ein paar Tagen Matsch zufriedengeben.

An der Bushaltestelle neben der Treppe zur U-Bahn hängt ein Poster von Matthew Bournes Schwanensee-Inszenierung. Der Tänzer der Hauptrolle trägt struppig gefiederte Hosen. Seine Brust ist nackt, die Arme hat er wie Flügel hinter dem Rücken erhoben. Gemma lacht, doch was sie daran witzig findet, behält sie für sich: Ein Schwan, der eigentlich kein Schwan ist – diese Ballerina ist auch keine echte Ballerina. Wie würde Billy Wilder das wohl finden?

Auf der Rückfahrt nach Whitechapel muss sie gar nicht erst auf ihr Telefon schauen, denn hier unten hat sie sowieso meistens keinen Empfang, und ein Buch hat sie auch nicht dabei. Also betrachtet sie die Gesichter, während David auf seiner Kindle-App liest, die rastlosen, durch nichts mehr zu beeindruckenden Gesichter der Hauptstadt – dieses großen Strudels, der Watson am Anfang der Studie in Scharlachrot aufsaugt wie alle Müßiggänger und Faulenzer des britischen Weltreiches. Nicht dass das hier die Gesichter von Müßiggängern und Faulenzern wären. Offenbar sind sie von Erfahrungen gezeichnet, die so vielfältig sind wie ihre Herkunft. Bücher und Zeitungen aus fremden Ländern werden gelesen, und Gemma erkennt nicht alle Sprachen. Selbst die Schriftzeichen kann sie nicht immer zuordnen.

In der Wohnung angekommen, besetzt sie das Bad. Als David nach ihr hineingeht und sich die Zähne putzt, ­öffnet sie ihren Laptop und checkt im Bett E-Mails.

Liebe Dr. MacDonald,

bezüglich unseres Gesprächs am Donnerstag möchte ich Ihnen gerne bestätigen, dass wir an Ihren Ideen zum Studienangebot des Seminars für Filmwissenschaft interessiert sind, und ich möchte Sie bitten, uns ein schriftliches Kurzkonzept zuzu­schicken. Ich werde mich bei Ihnen zurückmelden, und dann schauen wir, wann wir uns dazu austauschen. Wir können das gern per Skype erledigen, aber vielleicht finden wir ja auch einen Termin zum persönlichen Gespräch, entweder in London oder hier oben bei uns.

Herzliche Grüße

Julia

Prof. J.H. Crosby

Institut für Sprachen, Literatur, Musik und ­Visuelle Medienkultur

Universität Aberdeen

Jetzt hört Gemma, wie der Spülkasten vollläuft, und weiß, dass David gleich bei ihr sein wird. Sie ärgert sich über ihre handfesten Schuldgefühle: Es gibt überhaupt keinen Grund dafür. Trotzdem öffnet sie einen neuen Tab und schließt den ersten. Sie tippt eine Suchanweisung ein: Filmfestivals Schottland.

»Wollen wir was gucken?« Er trägt Pyjamahose und ­T-Shirt. Ihm ist kalt – bei Gemma muss das Fenster selbst bei Frost offen sein. Gleich wird sie auch noch ihr Nachthemd ausziehen, ehe sie versucht zu schlafen. »Game of Thrones?«

Sie nickt. »Bin gleich fertig.«

Natürlich steht das Edinburgh Festival auf der Liste und noch ein paar andere bekannte Namen: Das Glasgow Short Film Festival und Dead by Dawn, das schottische Pendant zum FrightFest. Sie ruft die nächste Trefferseite auf und scrollt nach unten, bis sie auf einen Namen stößt, bei dem sie zweimal hinschauen muss, aber sie hat tatsächlich richtig gelesen: Loch Ness Film Festival. Sie öffnet den Link in einem neuen Tab, bookmarkt die Seite und schließt den Browser. Dann klickt sie auf »Dokumente« und öffnet den Ordner DPLDSH.

Doch da kippt der Bildschirm weg, und die Tastatur rutscht ihr fast von den Knien. Mit einer hastigen Bewegung kann sie sie gerade noch festhalten.

»Wir können auch gar nichts schauen«, sagt David. Seine Hand unter der Decke liegt schon wieder auf ihrem Knie, und diesmal ist kein Nylonstrumpf im Weg.

»Ich hab doch gesagt, ich bin gleich fertig.« Sie seufzt theatralisch, als würde sie es nicht wirklich ernst meinen. »Mann, du bist echt wie ein junger Hund.«

»Nein, nicht junger Hund« – er schnuffelt an ihrem Nacken herum, während sie mit Mühe den Rechner wieder gerade rückt – »eher wie ein ausgewachsener ›mächtiger Baskerville-Hund‹.«

Er imitiert Clive Revills Akzent als Generaldirektor des kaiserlichen russischen Balletts aus dem Film, hat aber nicht den genauen Text im Kopf. Er knurrt ihr ins Ohr, während sie rasch die Namen des Filmstabs auf dem Bildschirm überfliegt. Ganz unten findet sie die Position, die sie gesucht hat, mit der Bezeichnung »Continuity«, aber so hat man bei den Dreharbeiten im Sommer 1969 sicher nicht gesagt. Wie in der damals ausklingenden Mad-Men-Ära üblich, war der Begriff wahrscheinlich noch geschlechtsspezifischer und herablassender.

Langsam klappt David den Bildschirm zu und schnuffelt sich nach unten vor. Gemma lacht, greift aber nach dem Monitor und bremst seine Abwärtsbewegung. »Lass mich doch richtig runterfahren, du Wahnsinniger.«

»Ja, ich bin wahnsinnig«, knurrt er. »Das macht das Mondlicht. Ich bin der Werwolf der Baskervilles.«

Sie schafft es gerade noch, auf »Ruhezustand« zu klicken, dann lässt sie den Laptop auf den Boden gleiten. Vorerst lässt sie sich auf das Tier ein; später kann sie sich alles in Ruhe anschauen. Warum auch nicht? Er ist ja eigentlich gar kein Monster.

Erstes Kapitel

Zum ersten Mal seit letztem Oktober war es Jim in seinem Armee-Pullover zu warm. Aus reiner Gewohnheit hatte er ihn morgens übergestreift, aber jetzt zog er ihn sich über den Kopf und ließ ihn vom Dach des Wohnmobils rutschen. Weiter südlich, auf den Höhen der Cairngorms, und in den Bergen Richtung Nordwesten hielt sich noch der Schnee, doch hier, im Great Glen, war es endlich Frühling.

Er nahm ein neues Schreibheft aus seiner Sporttasche und klappte den Umschlag nach hinten. Oben auf der ersten Seite vermerkte er: »Logbuch von J. Outhwaite, Mitglied der LNFG. Nr. 64«, dann unterstrich er den Text, sah auf die Uhr und notierte Datum und Uhrzeit. »Donnerstag, 22.5.1969, 08:43 BST«. Als Nächstes hielt er Standort und Witterungsverhältnisse fest. »Campbell Pier, Urquhart Bay. Sicht: gut.«

Sein Kugelschreiber schmierte und füllte den Kringel des »g« und das »u« mit schwarzer Tinte.

Er schaute wieder auf.

Hier am Anleger, vom Dach des Wohnmobils aus, konnte er mit bloßem Auge die einzelnen ockerfarbenen Steine der knapp eine Meile entfernten Burgruine auf der anderen Seite der Bucht erkennen. Noch eine Meile weiter weg, am anderen Ufer des Lochs, glaubte er fast, die einzelnen Ginsterblüten ausmachen zu können. Obwohl das mit bloßem Auge natürlich nicht möglich war, musste er sich verbessern: Die Sicht war sogar »sehr gut«. Er wischte die Mine an seinen Bluejeans ab und korrigierte die Aufzeichnung.

»Möchtest du Tee, Jamie?«

Tessa stand im Schatten der Moorbirken am Rand der Betonfläche. Dort hatte sie den Campingkocher aufgestellt, und in den Händen hielt sie einen dampfenden Becher Tee. Außerdem trug sie noch immer ihren Dufflecoat. War ihr etwa kalt? Wahrscheinlich hatte sie ihn nur wegen der großen aufgesetzten Taschen an. Aus einer ragte ein zerfleddertes Paperback.

»Nö, danke«, sagte Jim. »Hab drinnen schon einen getrunken.«

Er setzte eine frische 35-mm-Rolle ein und fädelte den Film durch die Zahnrädchen der Kamera. Er ließ ihn ein Stück vorlaufen und das Gehäuse zuschnappen. Dann blickte er am Objektiv entlang auf die Mitte der Wasseroberfläche. Aus dieser Perspektive wirkte sie graublau, aber nur, weil sich der Himmel darin spiegelte. Aus größerer Nähe sah sie schwarz aus – und ging man noch näher heran, wurde ihre wahre Farbe deutlich: ein tiefes Rotbraun.

Wieder spürte er dasselbe Herzklopfen wie früher, als ihm die Bilder seiner Dinosaurierbücher Schauer über den Rücken gejagt hatten; später waren es die Berichte darüber gewesen, dass vielleicht – nur vielleicht – eine Art der Riesenechsen überlebt haben könnte, gefangen in einem schottischen See. Sobald er alleine nach draußen gehen durfte, hatte er stundenlang heimlich mit dem Feldstecher seines Vaters auf Lake Windermere hinausgeschaut und sich vorgestellt, dass ja auch dieser See Geheimnisse bergen könnte. Noch während seiner Schulzeit und bis zu seinem Abschluss in Biologie an der Uni Manchester hatte ihn dieses Herzklopfen begleitet, und es war auch noch nicht ganz verschwunden, als er in Aberdeen seinen Master in Meeresbiologie machte und von einem langjährigen Mitglied der LNFG angesprochen wurde. Jetzt, drei Jahre danach, war das Herzklopfen so stark wie eh und je. Da spielte es keine Rolle, dass die Daten, die er und seine Kollegen bis jetzt zusammengetragen hatten, dagegensprachen. Schließlich würde ein einziger greifbarer Beweis ausreichen, um die Welt für immer zu verändern …

»Ziemlich ideales Wetter heute, oder?«, sagte Tessa.

Jim behielt den See im Blick. »Kommt drauf an.«

»Bitte?

»Kommt drauf an, welche Bedingungen man für das, was da draußen vielleicht unterwegs ist, als günstig annimmt.«

»Nun ja« – Tessas Fröhlichkeit klang gezwungen – »es wäre doch nur logisch, dass Sonnenschein ihr gefallen würde, oder?«

Jim wusste nicht, was das heißen sollte. Oder vielleicht doch, aber auf diese Diskussion wollte er sich gar nicht erst einlassen. Schließlich konnte das Wasser seit gestern nicht großartig wärmer geworden sein. Es hatte wahrscheinlich nicht mehr als vier, fünf Grad. Warum sollte sich der Plesio­saurier, der sich in ihren Träumen dort unten herumtrieb, darüber freuen?

In der Nähe krächzte eine Nebelkrähe, und ein Windstoß in den Bäumen klang wie Meeresbrandung.

»Also«, sagte sie schließlich, »ich mache mal einen Spaziergang. Bis gleich, bei der Frühstückspause.«

»In Ordnung, Tessa.«

Er drehte sich erst um, als sie bereits ein gutes Stück des Weges Richtung Inverness zurückgelegt hatte. Irgendwo konnte sie sicher in Ruhe ihren neuesten Quatsch lesen, ohne dass jemand sie mit irgendwelchen Überlegungen störte.

Jim klappte den Stuhl auf und ließ ihn in den Sicherheitsschienen einrasten. Er war froh, dass es mit der Arbeit weiterging, aber als er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, fühlte er sich auch ein bisschen einsam. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihm jemand Gesellschaft leistete? Ärgerlich, dass sie erst so spät anfingen, aber nach der Versammlung der LNFG-Jungmitglieder – zwei an der Zahl – gestern Abend an der Bar des Drumna­drochit ­Hotels, war ja nichts anderes zu erwarten. Viel zu früh waren sie nach einigen Pints McEwan’s Ale zum Whisky übergegangen, und Jim konnte gerade so das Schlimmste verhindern, indem er ab der erstbesten Gelegenheit nur noch halbe Pints bestellte und später nur einzelne Whisky Shorts. Sein Gefährte allerdings musste heute Morgen einen Mordskater haben …

Unter Jims Füßen schwankte der Boden, dann kam ein beängstigendes Quietschen von den Hecktüren des Wohnmobils. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Kerl auf nackten Füßen hinaus auf den moosbewachsenen Anleger stolperte.

»Alan?« Jim traute seinen Augen nicht. »Du hast doch nicht etwa im Wagen gepennt?«

Alan blinzelte ihm aus winzigen Äuglein entgegen, sein Gesicht hatte die Form und Farbe einer Schüssel Haferschleim. Er trug die gleichen Bluejeans wie gestern Abend, sonst hatte er nichts am Leib. Sein mehr als gut gepolsterter Oberkörper leuchtete rosa und wirkte erhitzt.

»Morgen, Jamie.« Er hustete, rotzte einen Klumpen hoch und ließ ihn zwischen seine Füße fallen. »Besser als der Schuppen« – offenbar schlief es sich im Wagen bequemer als in der Hütte mit dem geteerten Dach, ein paar Schritte vom Anleger entfernt – »und auf der Cally wär’s mir sicher hochgekommen.«

Die Cally, mit vollem Namen die Caledonian, war das knapp sieben Meter lange Motorboot der LNFG, das gut vertäut auf den sanften Wellen schaukelte.

Ihre rechteckige Kabine verlieh ihr einen staunenden Gesichtsausdruck mit hochgezogenen Brauen und bot dem Steuermann selbst an stürmischen Tagen ausreichend Schutz, aber nicht im Traum wäre Jim eingefallen, auf ihr zu übernachten. Was die Cally für die Forschergruppe so wertvoll machte, war ihr breites Deck, denn vom Bug wie vom Heck aus konnte man nahezu unbeeinträchtigt fotografieren. Sie gehörte zwar dem Sprecher der LNFG, doch für Jim war sie eigentlich schon immer Alans Baby gewesen.

»Und wie geht’s dir jetzt?«, fragte Jim.

Alan hatte die Hände in die Hüften gestemmt, atmete langsam ein und schaute hinaus aufs Wasser des Lochs. »Schon besser, bei der Aussicht«, sagte er. »Trotzdem beschissen.« Er klopfte die Taschen seiner Jeans ab. »Keine Scheißkippen.«

Jim fiel etwas ein. »Deine Kamera hast du jetzt sowieso nicht dabei, oder? Dann brauchst du auch nicht rauszufahren. Du musst zuerst zurück zum Hof.«

»Alles schon geklärt, Kumpel.« Alan drehte sich um und verschwand wieder hinter dem Wagen. »Sandra kommt mit dem Alvis rübergefahren und bringt sie mit. Haben wir gestern so abgemacht, dafür, dass ich hier schlafe.«

Jim fluchte in sich hinein. Sandra war die Letzte, die er hier gebrauchen konnte. Ja, der Gedanke, dass Alans Frau jeden Moment hier aufkreuzen konnte, im Gepäck nicht nur die Kamera, sondern auch den ganzen Groll, der sich bei ihr aufgestaut haben musste, seit sie ihren Mann zum Schlafen in diese Hundehütte auf Rädern geschickt hatte, war Grund genug, alle Pläne für heute über Bord zu werfen. Zwangsläufig würde Jim zwischen die Fronten geraten, von der einen Seite als Leumundszeuge aufgerufen werden und von der anderen als Mitverräter angeklagt. Sandra war anders als Tessa – kurz angebunden sein und sich taub stellen genügte nicht, um sie zu verscheuchen.

»Sie fand das alles gar nicht gut«, sagte Alan. Der Wagen schwankte ein wenig; wie Jim vermutete, saß er gerade in der geöffneten Hecktür und zog sich fertig an. »Was hat uns da bloß geritten, Mann? Bescheuert!«

»Was weiß ich, Alan.« Jim nahm das neue Logbuch und strich alles, was er unterhalb der Überschrift notiert hatte, wieder durch. »Aber unsere Lektion haben wir gelernt, was?«

»Oh, ay«, sagte Alan, und es klang, als meinte er es tatsächlich ernst. »Nie wieder.«

Jim packte Heft und Stift ein und löste den Stuhl aus seinen Schienen. Alan tauchte neben dem Wohnmobil auf und pfiff irgendeine bekannte Melodie. Außer den Jeans trug er nun auch das Hemd und die Schuhe von gestern Abend.

»Bleibst du nicht hier?«, fragte er, als er Jim zusammenpacken sah. »Ich dachte, du übernimmst die ganze Woche Urquhart Bay.«

»Spontane Planänderung«, sagte Jim und klappte den Stuhl zusammen. »Ich glaub, ich versuch’s mal an der Landstraße bei Lewiston. Wollte ich immer schon mal machen.«

»Bei der starken Steigung?« Alan nahm Jim den Stuhl ab, als er ihn herunterreichte. »Dann drück ich mal die Daumen, dass die Grüne Göttin das mitmacht.«

Jim warf sich den Gurt der Tragetasche über die Schulter und kletterte die Leiter hinunter. Wieder pfiff Alan seine Melodie, doch erst als Jim den Stuhl verstaut und die Hecktür zugeknallt hatte, erkannte er sie.

»›I’m Getting Married in the Morning‹?«, fragte er mit spöttischem Grinsen. »Warum ausgerechnet das?«

»Keine Ahnung, Mann.« Alan schlenderte in Richtung Cally. Dann lachte er. »Oh, ay, jetzt weiß ich’s. Weißt du noch, worüber die gestern im Drum geredet haben? Dass Stanley Holloway hier vielleicht aufkreuzt und so?«

»Stanley Holloway?«

»Ay, kennst du doch – lustiger Typ, Schauspieler. Hat ›Albert and the Lion‹ gesungen.«

»Ich weiß, wer Stanley Holloway ist«, sagte Jim.

»Eben, und in My Fair Lady singt er halt diesen Song. Eins von Sandras Lieblingsmusicals. Das musste ich mir mal komplett antun, genau wie The Sound of Music …«

Ganz vage erinnerte sich Jim an das vorherrschende Thema gestern Abend an der Bar. Er hatte sich zu sehr darauf konzentrieren müssen, den ganzen Alkohol bei sich zu behalten und zu versuchen, Alan für seine neue Theorie über wandernde Tierarten zu begeistern, und deshalb kaum zugehört. In den nächsten Tagen wurde tatsächlich ein Trupp Schauspieler im Hotel erwartet. Und nicht nur Schauspieler: Kameraleute, Beleuchter und Tontechniker, Kostümleute und Maskenbildnerinnen … Sie würden den ganzen Sommer über im Drum wohnen und ihren Film drehen.

»O Gott!« Erst jetzt wurde ihm klar, was das bedeutete. »Hat eigentlich auch jemand gesagt, wo genau die drehen wollen?«

»Na, hier«, Alan deutete an der Cally vorbei auf den See hinaus, als könnte der tatsächlich als Drehort taugen.

»Und was ist das für ein Film?«, fragte Jim.

»Ein Sherlock-Holmes-Streifen«, sagte Alan. »Sherlock Holmes in den Highlands. Jedenfalls glaub ich, das war der ­Titel, von dem alle geredet haben.«

Ja, klar, der Hotelbesitzer und die Säufer aus dem Ort. Was konnten die schon wissen?

Jim hob seinen Pullover auf. Im gleichen Augenblick hörte er das hektische Dröhnen eines Autos, das im zweiten Gang den Feldweg herunterkam. »Okay, fertig«, sagte er. »Ich bin mal weg.«

»Viel Glück, Mann«, sagte Alan, obwohl er es war, der etwas Glück gebrauchen konnte.

Jim setzte gerade zurück, als das weiße Auto im Seitenspiegel auftauchte. Nachdem er gewendet hatte, war die Zufahrt zum Anleger frei. Er winkte der nebligen Erscheinung aus rotem Haar und Zigarettenrauch zu – mehr konnte er durch die Windschutzscheibe des Alvis von Sandra nicht erkennen.

Das letzte Mal war er zu Fuß hier gewesen, damals, als er sich mit dem Gelände gerade erst vertraut machte. Zuerst schien es gar kein guter Aussichtspunkt zu sein, aber sobald er an den dichter stehenden Haselsträuchern und Birken und dann an der Nadelbaumschonung vorbei war, hatte sich ein Panorama vor ihm ausgebreitet, das er seither die ganze Zeit genauer in Augenschein hatte nehmen wollen.

Alan hatte recht gehabt, die Steigung war eine echte Herausforderung, doch sobald sie hinter ihm lag, fuhr er mit einem Funken Vorfreude weiter. Er fand die Stelle wieder, wo man an den Bäumen vorbeikam, und stellte den Wagen ein Stück von der Straße entfernt ab. Auf dem Dach richtete er die Kamera so ein, dass er seitlich nach unten filmen konnte. Er machte es sich in dem Klappstuhl bequem, der erneut sicher in seinen Schienen befestigt war. An der perfekten Sicht hatte sich nichts geändert, und der Himmel war eine einzige kobaltblaue Fläche mit nur wenigen hohen Schäfchenwolken, die sich zitternd unten auf der Oberfläche des Lochs spiegelten. Auch von hier aus sah er gelbe Flecken in den gegenüberliegenden Hügeln, und im Laubwald darunter blühten weiß die Kirschbäume.

Er blätterte in der Zeitung und überschlug die düsteren Geschichten über den Krieg, den die Amerikaner in Vietnam führten. Nicht dass ihm das egal war, aber mehr darüber zu wissen änderte schließlich auch nichts. Es gab einen Bericht über die Apollo 10, und in einem weiteren stand, dass die Astronauten nach ihrer Rückkehr vom Mond wegen möglicher Viren aus dem All in Quarantäne müssten. »Viren aus dem All …« Da musste selbst Jim sofort an Professor Quatermass aus dem Fernsehen denken …

Über den Rand der Zeitung hinweg sprang ihm etwas ins Auge.

So war es immer – gerade auffällig genug, um ihn beim Lesen zu stören. Normalerweise passierte das nicht so bald. Er legte die Zeitung weg und starrte auf den dunklen Streifen, der sich wie eine Wunde durch die schillernde Wasseroberfläche zog.

Eine Oberflächenstörung.

In der Zeit, die er brauchte, um die Kamera anzuschalten, durch den Sucher zu schauen und darin die Stelle wiederzufinden, war Jim bereits das halbe Dutzend Störungstypen durchgegangen, die bereits im Katalog der LNFG erfasst waren: ein Haubentaucher, Kormoran oder anderer Wasservogel beim Tauchen. Ein Reh, das vom anderen Ufer herüberschwamm – unwahrscheinlich, aber möglich. Ein treibender Baumstamm, den ein Bach voller Schmelzwasser bergab transportiert hatte. Wahrscheinlich waren es die auslaufenden Bugwellen eines vorbeifahrenden Motorboots, aber dann liefen diese hier ungewöhnlich lang aus, denn nirgendwo auf der weiten Oberfläche war die geringste Spur eines solchen Fahrzeugs zu sehen.

Ach du Scheiße.

Etwas Schwarzes, ansatzweise Ovales. Glatt. Viel zu groß für den Kopf eines Kormorans und die falsche Form für ein Reh.

Genau nach Plan, schärfte er sich ein. Jetzt genau nach Plan vorgehen.

Er nahm Heft und Kugelschreiber zur Hand und schaute auf die Uhr. »9:28 BST«, notierte er. »Neuer Störungstyp.« Dann fügte er ein Fragezeichen hinzu. So riesig, dass es die halbe Seite füllte – wieso eigentlich? Er hob den Feldstecher gerade rechtzeitig, um zu erkennen, wie neben dem Objekt etwas anderes durch die Wasseroberfläche stieß.

Eine Hand – eine menschliche Hand. Jetzt begriff er: Das runde Objekt war ein Kopf, ein Kopf mit einer schwarzen Badekappe.

»Ach, verdammte …!«

Jim schmiss das Heft samt Stift zu Boden, es rutschte glatt vom Dach und landete mitten in einem Ginsterstrauch. Als er wieder durch den Feldstecher schaute, hatte sich die Schwimmerin auf den Rücken gedreht, schlug mit den Armen wie ein Schaufelraddampfer und wirbelte mit den Füßen das Wasser auf. Außer der Badekappe trug sie einen Bikini mit gelben Blümchen, der vielleicht für einen Strandurlaub geeignet war, aber nicht für hier. Ihr musste saukalt sein! Er versuchte, ihr Gesicht genauer zu erkennen, aber sie kniff wegen der Sonne und dem aufspritzenden Wasser die Augen zusammen.

Er kletterte vom Dach und schob den Arm durch das ­offene Fenster der Fahrertür.

»Blöde Zicke«, brüllte er gegen die Hupe an. »Pass auf die Strömung auf! Du holst dir noch den Tod, bei der Kälte …«

Doch sie konnte weder ihn noch die Hupe hören, höchstens als weit entfernte Geräusche, die nichts mit ihr zu tun hatten. Als er zurück auf dem Dach war, hatte sie wieder zum Brustschwimmen gewechselt und näherte sich dem Ufer. Er stoppte die Kamera. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war Filmmaterial von irgendeiner blöden Kuh, die ohne Grund ihr Leben riskierte. Er musste warten, bis sie weg war, und wieder von vorn anfangen.

Schon früh hatte Jim herausgefunden, dass Douglas sich als Sprecher der LNFG von zwei Dingen leiten ließ. Erstens war er überzeugt, dass Führung immer auch eine Art elterlicher Erziehung war und dass es ihm oblag, den Mitgliedern der Gruppe die gleiche Fürsorge zukommen zu lassen wie ein Vater seinen erwachsenen Söhnen. Zweitens fühlte sich Douglas – im Einklang mit Punkt eins – ganz den homerischen Idealen der Gastfreundschaft verpflichtet. Und weil die LNFG ihren Sitz praktischerweise in seinem Haus hatte, durften sich bei ihm alle wie zu Hause fühlen.

Wie üblich traf Jim ihn in der Küche an. Er saß an dem massiven Block aus Birkenholz, der nicht nur als Esstisch, sondern auch als Schreibtisch und Werkbank diente, und schnitt Zwiebeln. Nach jedem vierten oder fünften Schnitt ließ er einen frischen Zwiebelring auf den Boden fallen, wo ein Baummarder – ein schokoladenbraunes wieselartiges Tier mit schmutzig gelber Brust und so lang wie eine Katze – schon darauf wartete und ihn aufschnappte. Es schüttelte sich wegen der Schärfe, zerkaute ihn aber dennoch und schluckte ihn herunter.

»Ach ja«, sagte Douglas, »das Filmteam.«

Trotz der schmalen Falte über seiner klassisch römischen Nase und den abwärtsgerichteten Winkeln des breiten Mundes klang er unbesorgt. Sein grau meliertes Haar war vielleicht etwas zerzauster als gewöhnlich, doch wie viele ältere Männer hatte er die neuen Freiheiten dankbar angenommen und sich über die nahezu uneingeschränkte Pflicht zum Standard-Herrenschnitt aus seiner Jugend hinweggesetzt. Er trug sogar überraschend üppige Koteletten.

»Wenn das stimmt, sind die uns doch sicher im Weg«, sagte Jim. »Das könnte verheerend sein. Ich finde, wir sollten beim Drumnadrochit Hotel noch mal genau nachfragen und dann der Uni Bescheid geben. Sicher können wir irgendwie Einspruch einlegen. Jedenfalls sollten wir Vorrang haben.«

Die Furche auf Douglas’ Stirn war tiefer geworden. »Ich verstehe nicht, warum sie uns behindern sollten.«

»Alan hat gesagt, die haben vor, mitten auf dem Loch zu drehen«, beharrte Jim. »Wie sollen wir denn mit der Überwachung weitermachen, wenn das stimmt?«

Douglas schnitt weiter Zwiebeln. »Die Wasserfläche ist groß. Bestimmt reicht sie für beide Parteien aus.«

»Aber was ist denn mit der Tiefenrecherche? Der Knackpunkt ist doch, dass wir den Loch komplett absuchen.«

Douglas legte das Messer weg und schaufelte die Zwiebelwürfel mit beiden Händen in eine Tonschüssel. »Nicht den ganzen Loch auf einmal«, sagte er. Der Marder kletterte so locker an ihm hoch, als wäre er ein Baum, und schon saß er auf dem Tisch. »Nein, Autolycus, das ist nicht für dich.« Douglas packte das Tier unterm Bauch, bevor es die Schüssel erreichte, und setzte es zurück auf den Boden. »Hör mal, Jamie, ich glaube, ich muss dir etwas erzählen. Ich weiß über die Filmleute Bescheid, weil einer von ihnen schon mit mir Kontakt aufgenommen hat.«

Jim begriff nicht ganz. Was hieß denn »Kontakt aufgenommen«? Per Brief, per Telefon, per Winkeralphabet …?

»Sie wollten den Anleger nutzen«, sagte Douglas und verschwand in der Speisekammer, Autolycus blieb ihm auf den Fersen. Aus dem Sack hinter der Tür suchte er vier große Kartoffeln heraus. »Ich habe ihnen gesagt, prinzipiell gebe es keine Einwände, aber ich wüsste gern das genaue Datum, weil der Anleger von unserer Gruppe ständig genutzt wird.« Offenbar machte Jim ein langes Gesicht, denn Douglas zog die Mundwinkel hoch. »Der Mensch hat sich bedankt, aber danach habe ich von denen nichts mehr gehört. Wahrscheinlich war der Besitzer vom Temple Pier aufgeschlossener.« Er legte die Kartoffeln ins Spül­becken und wusch sie mit kaltem Wasser ab. »Du weißt, worum es in dem Film geht?«

Jim zuckte mit den Schultern. »Ein Sherlock-Holmes-Streifen, hat Alan gesagt.«

»Sherlock Holmes gegen das Ungeheuer von Loch Ness.« Douglas trug die gesäuberten Knollen zum Tisch und setzte sich. »Irgendwas in der Art, glaube ich.«

»Aber das macht es ja noch schlimmer«, sagte Jim. »Das wird doch die reinste Parodie.« Er stellte sich gerade vor, wie ein schlecht gestaltetes Modell, irgendeine unwissenschaftliche Vorstellung von einem Dinosaurier, aus einem Wasserbecken ragte, während ein Haufen Vollidioten in Tweed und Gamaschen es anstarrten. »Das senkt das ganze Niveau«, sagte er. »Unser Projekt wirkt auf einmal lächerlich. Und« – sicher nicht Jims schwächstes Argument – »am Ende wirkt sich das auch auf unsere Förderung aus.«

Douglas sagte nichts dazu, dafür besaß er Talent. Er hatte die erste geschälte Kartoffel halbiert, nun widmete er sich der nächsten. Zu seinen Füßen kaute Autolycus beherzt auf einem dicken Reststück herum.

»Wie gesagt, wir müssen Vorrang haben«, beharrte Jim. »Wir sollten einen Antrag bei der County-Verwaltung stellen oder vor Gericht gehen und versuchen, das Ganze verbieten zu lassen …«

»Wir sind hier in Schottland«, sagte Douglas, »nicht im Lake District. Bei uns gelten nicht die gleichen Gesetze gegen unerlaubtes Betreten.«

»Dann vergraulen wir sie eben.« Aufgeben kam nicht infrage. »Wir gehen an die Presse. Wir legen klar dar, dass sie die Forschung behindern. Zumindest sollen sie sich überlegen, ob sie nicht woanders drehen können. Wenn es denn unbedingt ein echter schottischer Loch sein muss, dann gibt es doch reichlich Auswahl.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Douglas, aber er klang nicht überzeugt. »Was meint denn Alan?«

Die Frage ärgerte Jim. Wen interessierte schon, was Alan meinte? »Ich bin mir sicher, er ist meiner Meinung. Das alles bedeutet ihm doch genauso viel wie uns allen.«

»Immerhin ist das wohl eine internationale Filmproduktion« sagte Douglas, während er die Kartoffelstücke in kleine Würfel schnitt. »Da steckt sicher viel Geld dahinter. Und außerdem ist ein Film ja auch gut für den Tourismus.«

Jim zuckte die Schultern. »Ach ja?«

»Bestimmt. Hast du Die Herrin von Thornhill gesehen?«

Nein, Jim hatte den Film nicht gesehen.

»Als Tessa und ich aus dem Kino kamen, haben wir gleich überlegt, ob wir nicht nach Dorset ziehen wollen. Natürlich glaube ich nicht, dass das West Country den Highlands im Entferntesten das Wasser reichen kann, aber während des Films war ich mir gar nicht mal so sicher.«

Als ihm plötzlich sein Erlebnis vom Morgen einfiel, kam Jims Wut wieder in Schwung. »Herrgott«, sagte er, »noch mehr Touristen ist doch das Letzte, was wir hier gebrauchen können. Erst heute Morgen hat irgend so ein dummes Weibsbild ihr Leben riskiert, weil sie unbedingt im Loch schwimmen musste.«

Er erzählte von dem verschwendeten Filmmaterial, und Douglas schüttelte den Kopf. »Ach je«, sagte er, »hoffentlich ist ihr nichts passiert. Das kommt aber auf jeden Fall ins Archiv, und du schreibst einen Bericht. Eine Störung ist immerhin eine Störung.«

Natürlich hatte er recht, und Jim ärgerte sich noch mehr, als ihm klar wurde, dass er nützliche Daten um ein Haar als wertlos abgetan hätte.

»Aber weißt du«, fuhr Douglas fort, »wahrscheinlich sehen unsere Nachbarn das alles ganz anders als du. Aus ihrer Sicht ist ein Hollywoodfilm womöglich gut fürs Geschäft.«

»Aber das ist ein Sherlock-Holmes-Film«, sagte Jim, dessen rechtschaffener Zorn wieder aufloderte, »keine Thomas-­Hardy-Verfilmung. Wetten, die bringen irgendwie die Atombombe ins Spiel oder Marsmenschen oder so was …«

Douglas lachte laut auf. Es war das typische Wiehern, das der Oberschicht vorbehalten war. Normale Leute gaben solche Geräusche nicht von sich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, Jamie. Hast du schon mal eine Sherlock-Holmes-Geschichte gelesen?«

Jim gefiel nicht, dass er jetzt offenbar als ungebildet dastand.

»Wenn nicht, sind deine Eltern und Lehrer ziemlich nachlässig gewesen.« Inzwischen war Douglas dabei, die Kartoffeln in den Topf zu schichten und damit die Zwiebeln und das Lammfleisch zu bedecken, das er zuvor in Würfel geschnitten hatte. »Ich kann dir versichern, es kommen weder radioaktive Katastrophen noch kleine grüne Männchen darin vor. Klar, das ist Unterhaltung, aber gute, rationale viktorianische Unterhaltung. Ich glaube sogar, die Storys wären ganz nach deinem Geschmack.«

Und in seinen umgekehrt lächelnden Mundwinkeln lag just genug Ironie, dass Jim verstand, wie sehr er gerade aufgezogen wurde.

Zweites Kapitel

Jim bekam die Leute vom Filmteam zum ersten Mal am Urquhart Castle zu Gesicht, fast einen Monat nachdem er im Drumnadrochit Hotel den Klatsch um Stanley Holloway mitbekommen hatte.

Als er mit dem Wagen von Lewiston her um eine Kurve bog, standen ein paar von ihnen gelangweilt vor dem Burgtor, die Hände in die Hüften gestemmt oder die Arme verschränkt. Ein älterer Mann mit kurz geschorenen ­Haaren, Pilotensonnenbrille und kurzärmeligem Pilotenhemd sah so sehr nach Yankee aus, dass Jim sofort klar war, wer das sein musste. Ein paar Kerle mit zotteligen Haaren in ­T-Shirt und Jeans wirkten genauso gelangweilt. Außerdem war eine junge Frau dabei, die zwar ähnliche Kleider, aber eine kürzere, eher jungenhafte Frisur trug. Sie war es auch, die begeistert aufschaute und Jim mit ihrem Klemmbrett ein Zeichen zum Bremsen gab.

»Hallo«, rief sie, als Jim das Fenster herunterkurbelte, »sind Sie die Hunde?« Sie hatte einen schottischen Akzent, aber keinen aus der näheren Gegend.

»Nein, ich bin nicht die Hunde.«

»Oje.« Sie lächelte gequält, während sie das Papier auf ihrem Klemmbrett überflog. »Und wer sind Sie?«

Fast hätte er gesagt: »›Albert und der Löwe‹, was dachten Sie denn?« Stattdessen erwiderte er: »Nur ein Steuerzahler, der seinen rechtmäßigen Geschäften nachgeht und dabei ungern gestört wird.«

Das Lächeln wurde unsicher. »Dann entschuldigen Sie bitte, wenn wir Sie belästigt haben sollten.«

Auch die anderen schauten komisch. Alle drei hatten den Blick auf das Dach von Jims Fahrerkabine gerichtet. Natürlich: Bestimmt verwirrte sie die Kamera. Gut so, dachte er und gab wieder Gas.

Als er hinter dem Hügel außer Sicht war, fuhr er links ran und parkte bei einem Tor im Weidezaun. Dahinter lag nur ein schmaler Grasstreifen, auf dem ein paar zottelige Rinder weideten, aber schon bald hatte er eine geeignete Stelle gefunden, wo er durch den Zaun und den Ginster am Straßenrand schlüpfen konnte, um zu seinem Ziel zu gelangen. Die Kinder von Lewiston und Drumnadrochit spielten in der Ruine gern »König von Urquhart Castle« und, wenn sie bereits etwas älter waren, auch weniger unschuldige Spiele im Verborgenen. Vorsichtig schob Jim sich durch die Dornen, überquerte das freie Feld in Richtung der Burg und kletterte den mit Gestrüpp bewachsenen Hügel hoch, bis zu einer niedrigen Mauer. Dort ließ er sich wie ein Scharfschütze auf seinem Posten auf den Bauch fallen und sondierte das Gelände weiter unten.

Gut zwanzig Leute standen zwischen den Mauerresten oder saßen auf Klappstühlen. Überall waren Gerüste aufgebaut – aus Holz, anstelle moderner Aluminiumstangen. Gehörten sie zur Filmkulisse? Neben dem Burgturm verstellte auch eine Reihe großer weißer Zelte mit spitzen Dächern die sagenhafte Aussicht auf den dahinterliegenden Loch Ness. Offenbar passierte gerade nichts, und selbst aus der Entfernung konnte Jim die gleiche angespannte Langeweile wie am Eingang des Geländes spüren. Er sah hauptsächlich Männer in Hemdsärmeln oder ­T-Shirts, doch vier Personen trugen eindeutig Kostüme. Ein kräftiger Kerl mit Vollbart in kompletter Highland-Montur – Kilt mit Sporran, Jacke und Glengarry-Mütze – stand etwas abseits bei einem steinernen Torbogen und starrte auf seine Schnallenschuhe. Zwei weitere Männer in Westen hockten auf Klappstühlen auf der anderen Seite des grasbewachsenen Hofs bei einem abgebrochenen Stück Mauer mit einem Fenster ohne Glas. Beide trugen altmodische Hüte: der größere, schmalere einen Filzhut, der stämmigere eine Melone. Das mussten die Darsteller von Holmes und Watson sein – aber sollte Holmes nicht seinen typischen Deerstalker tragen? Neben Watson saß eine Frau in einem langen grün-weißen Rüschenkleid und einem riesigen Hut. Jim hob sein Fernglas. Auch sie erkannte er nicht. So viel zu dem Hollywood-Spektakel, das Pete Leith versprochen hatte. Vom Format eines Stanley Holloway war hier niemand zu sehen …

Er ließ den Blick weiterschweifen. Einige rundliche Männer mittleren Alters warteten bei einer mächtigen, auf einem Stativ montierten Kamera mit dem Aufdruck »Pana­vision«. Auch Tonausrüstung war zu erkennen: ein Mikrofon an einer Stange mit einem dieser flauschigen Überzüge, der wirkte, als könnte einem auch in ­Douglas’ Haus so etwas über den Weg laufen. In einem baufälligen Torbogen stand ein etwa sechzigjähriger Mann, um die Hüften breiter als an den Schultern, in kurzärmeligem Hemd und Schiebermütze, und an seiner Seite eine junge Frau, erst die dritte, die Jim bisher entdeckt hatte. Zuerst wandte sie ihm den Rücken zu, doch als sie sich umdrehte – weil der Mann in Richtung Kamera zeigte –, war er sich einen Augenblick lang sicher, dass sie der eigentliche Star des Films war. Bestimmt hatte er sie in irgendeiner Sendung gesehen, aber Gesichter oder Namen von Fernsehschauspielern konnte er sich einfach nicht merken. Dann wurde ihm klar, dass sie gar nicht die richtige Kleidung trug. T-Shirt und Bluejeans passten natürlich nicht zu den viktorianischen Klamotten der anderen Schauspieler, ebenso wenig die praktischen Zöpfe und die riesige modische Sonnenbrille. Er beobachtete, wie sie zu dem nickte, was der Mann mit der Mütze sagte. Irgendetwas an ihrer Haltung – das Gewicht auf ein Bein verlagert wie eine griechische Statue – begeisterte Jim. Dann zeigte ihr Begleiter zum Himmel, und sie nahm die Sonnenbrille ab.

Beinahe hätte Jim laut »Irre!« gerufen, wie Sidney James.

Wenn er diesen Augen schon einmal irgendwo begegnet wäre, er hätte noch ganz genau gewusst, wo und wann. Selbst durchs Fernglas, das er kaum ruhig halten konnte, sahen sie fantastisch aus. Mandelförmig mit etwas dunklem Lidstrich und Pupillen so blau wie die tropischen Meere, die er hoffte, eines Tages für seine Doktorarbeit zu erforschen … Jetzt ging sie mit langen Schritten zu den Kostümierten hinüber. Die drei erhoben sich und hörten ihr aufmerksam zu – offenbar hatte sie hier etwas zu sagen. Dann zog der Schauspieler mit dem Filzhut eine Cordjacke an – den Dingern nicht unähnlich, die früher Jims Dozenten getragen hatten –, während der Mann mit der Melone ein einfaches schwarzes Jackett überstreifte. In der Zwischenzeit spielte die Schauspielerin mit ihrem Sonnenschirm herum und öffnete und schloss ihn wieder und wieder. Schließlich folgten sie der jungen Frau mit den umwerfenden Augen zu einem abseitsstehenden Mauerstück, an dem ebenfalls ein Gerüst aufgebaut war, und überall wurde es still.

Der Mann mit der Schiebermütze hob ein Megafon und rief: »Und … bitte!«

Jim hörte nichts von dem, was der Sherlock-Holmes-Darsteller zu Watson sagte, doch das flauschige Mikrofon nahm sicher alles auf. Watson faltete die Hände, erst vor der Brust, dann, nach Holmes’ weiteren Instruktionen, auf Kniehöhe. In diese Trittstufe setzte Holmes einen stiefelbewehrten Fuß und stemmte sich so weit hoch, dass er eine der hölzernen Streben zu fassen bekam. Er kletterte so weit hinauf, bis er über den Rand der Mauer und über die Zeltdächer hinweg hinaus auf den Loch schauen konnte.

Im nächsten Moment jedoch drehte er sich um und rief etwas, das nicht an seine Mitschauspieler gerichtet war.

Auch andere laute Stimmen waren nun zu hören. Der Mann mit der Schiebermütze rief »Cut!« durch das Megafon, aber was da vor sich ging, konnte Jim nicht erkennen. Dann hörte er ein Geräusch: ein hohes Brummen wie von einem Bootsmotor. Schauspieler und Crew liefen zur uferseitigen Mauer, und Jim fokussierte sein Fernglas aufs Wasser. Durch die Lücken im brüchigen Mauerwerk sah er, wie die Caledonian in tollkühner Geschwindigkeit auf die Burg zuhielt.

Jim musste laut lachen. »Na prima, Alan.«

Unten wurden Arme geschwenkt, und die Rufe wurden lauter, auch wenn die Worte durch den Wind und das Motor­geräusch nicht zu ihm durchdrangen. Dann drehte die Cally im allerletzten Moment bei, und eine große schaumgekrönte Welle schleuderte den Protestierenden ihre Gischt entgegen.

Wieder musste Jim kichern. »Braver Junge.«

»Entschuldigung, Freundchen.«

Die Stimme klang schroff, und der Sprecher kam ganz sicher aus der Gegend. Jim schaute auf und erblickte einen Riesen, der nicht nur groß war, sondern auch so breit wie die steinernen Säulen der Burg.

»Und was machst du hier, wenn ich fragen darf?«

Jim hatte die Bar im Drum noch nie so voll erlebt. Der Ziga­rettenqualm war so dicht, dass er sich unwillkürlich an den Hals fasste. So war es nun mal in vollen Pubs, und genau deshalb hielt Jim sich immer von ihnen fern. Alle Leute von der Burg und noch einige andere waren da. Die Darsteller von Holmes und Watson standen in Zivil an der Bar, doppelt ausgeleuchtet von den Wandlampen und dem Licht, das die dahinter montierten Spiegel zurückwarfen. Holmes trug einen gelben, unter dem Kinn zu einem Knoten gebundenen Seidenschal und schien noch immer geschminkt zu sein. Seine Gesichtsfarbe jedenfalls hatte einen unnatürlichen Grünstich, und die Lippen waren lippenstiftrot. Sein dunkler Haarschopf wirkte fast kastanienbraun. Er lachte misstönend über alles, was Watson ihm erzählte, und trank jedes Bier in drei, vier Schlucken aus. Auch Watson trug seinen Hemdkragen offen, aber keinen Schal, und seine Haut hatte eine natürlichere Blässe. Neben ihm lehnte der riesige Highlander an der Bar, diesmal ohne Kilt, dafür aber Gott sei Dank mit Hose. Auch die Ton- und die Kameraleute waren da und die junge Frau mit dem Klemmbrett; sie lächelte, als ein junger Kerl mit Sonny-Bono-Frisur ihr etwas ins Ohr flüsterte. Alle schienen gerade ihren Spaß zu haben und waren vermutlich froh, einmal nicht tatenlos herumstehen und warten zu müssen. Nur die Gorillas, die Jim zurück zu seinem Wagen geleitet hatten, fehlten.

Pete Leith, der Hotelbesitzer, war gerade mit seinen Zapfhähnen beschäftigt, als er Jim erblickte, und grinste zur Begrüßung wie eine zynische Putte. Doch keine Spur von Stanley Holloway, was?, dachte Jim und nickte ihm zu.

Ein schriller Pfiff auf zwei Fingern ließ ihn herumfahren. Durch den Urwaldnebel hindurch winkte ihm ein bloßer Arm wie eine weiße Flagge, gekrönt von einer Embassy Filter. Sie leitete ihn zu einem Tisch in der entgegengesetzten Ecke ihres Stammplatzes am Kamin. Irgendwelche langhaarigen Fremden hatten ihre Lieblingssessel besetzt und es sich neben der leeren Feuerstelle gemütlich gemacht.

»Ich hab dir ein Pint besorgt«, sagte Alan und schob das Bier zu dem freien Platz neben Douglas.

»Du wusstest doch gar nicht, ob ich komme.«

Alan zuckte mit den Schultern. »Wär schon nicht schlecht geworden.«

»Wo sind denn die Mädels?«

»Sicher kommen sie gleich«, sagte Douglas. »Sie sind kurz nach Inverness gefahren.«

»Oh, ay«, sagte Alan, »ganz plötzlich ist ihnen nämlich klar geworden, dass ihre Klamotten nicht grade der letzte Schrei von der Carnaby Street sind.«

Ob Alan sein T-Shirt bereits als unförmigen Fetzen in ranzigem Buttergelb gekauft hatte, war nicht eindeutig zu ermitteln. Douglas in seinem karierten Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln war natürlich seriöser gekleidet, doch Haute Couture