Das Souvenir des Mörders - Inspector Rebus 8 - Ian Rankin - E-Book
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Das Souvenir des Mörders - Inspector Rebus 8 E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

In den Sechzigern versetzte ein brutaler Frauenmörder namens »Bible John« Schottland in Angst und Schrecken. Er wurde nie gefasst. Nun mordet ein neuer Killer nach demselben Muster. Für die Medien ist er »Johnny Bible«, für die Polizei ist er ein Albtraum. Inspector Rebus, der aufgrund seiner unkonventionellen Ermittlungsmethoden von dem Fall abgezogen wurde, soll eigentlich in Aberdeen dem gewaltsamen Tod eines Ölarbeiters nachgehen. Doch lange kann er die Finger nicht von der spektakulären Mordserie lassen. Was niemand ahnt: Nicht nur die Polizei jagt den geheimnisvollen Killer. Auch der alte Bible John hat seinen »unwürdigen« Nachahmer ins Visier genommen ...

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Buch

»Johnny Bible«, so nennen die Medien den grausamen Serienmörder, der die schottische Polizei zurzeit in Atem hält. Benannt nach dem berüchtigten »Bible John«, der vor Jahren Frauen brutal zusammenschlug, sie vergewaltigte und schließlich erwürgte. Trotz einer der größten Fahndungsaktionen konnte Bible John damals entkommen; seine Identität ist bis heute ein Geheimnis geblieben. Die neuen Fälle sind bis auf wenige Einzelheiten den alten sehr ähnlich, doch genau diese kleinen Unterschiede überzeugen Detective Inspector John Rebus davon, dass es sich nicht um denselben Täter handeln kann: Johnny Bible ist nicht Bible John. Erste Vermutungen führen Rebus nach Glasgow und Aberdeen, doch ihm läuft die Zeit davon. Denn nach dem bisherigen Muster wird Johnny Bible bald wieder töten, und was Rebus nicht wissen kann: Auch der alte Bible John geht der Spur des neuen Mörders nach, denn einen Nachahmer kann sein krankhafter Stolz nicht dulden …

Autor

Ian Rankin, 1960 im schottischen Fife geboren, gilt als der »führende Krimiautor Großbritanniens« (Times Literary Supplement). Der internationale Durchbruch gelang Ian Rankin mit seinem melancholischen Serienhelden John Rebus, der aus den britischen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken ist. Rankin wurde bereits mit vielen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Krimipreis 2004 für »Die Kinder des Todes«. Der Autor lebt mit seiner Familie in Edinburgh.

Weitere John-Rebus-Romane sind bei Goldmann in Vorbereitung.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorLeere Hauptstadt
Kapitel 1Kapitel 2
Copyright

O hätt, eh ich den Tag erlebt, Da uns Verrat nahm alles, Ich meinen Kopf ins Grab gelegt Zu Bruce und William Wallace! Doch sackerlot, bis zu meinem Tod Erklär ich immer wieder: Die Treue hält es nur Englands Geld, Dieses Pack, meine schottischen Brüder!

Robert Burns, »Leb wohl, all unsre Schottenherrlichkeit«

Wenn ihr die Traute habt… zu sagen, dass ich die Geschichte nach meinen eigenen Vorstellungen umschreiben kann, lass ich’s euch durchgehen.

James Ellroy

Leere Hauptstadt

Beladen mit Jahrhunderten Schnaubt diese leere Hauptstadt wie ein großes Tier, Im Schlaf gefangen, das von Freiheit träumt, Ohne daran zu glauben …

Sydney Goodsir Smith, Kynd Kittock’s Land

1

»Erzählen Sie mir noch einmal, warum Sie sie getötet haben.«

»Hab ich doch gesagt, das ist einfach dieser Drang.«

Rebus sah in seinen Notizen nach. »Das Wort, das Sie benutzt hatten, war ›Zwang‹.«

Der auf dem Stuhl zusammengesackte Mann nickte. Er verströmte einen üblen Geruch. »Drang, Zwang, is doch alles eins.«

»Ach ja?« Rebus drückte seine Zigarette aus. Der Blechaschenbecher war so voll, dass ein paar Stummel auf den Metalltisch kullerten. »Reden wir mal vom ersten Opfer.«

Der Mann, der ihm gegenübersaß, stöhnte. Er hieß William Crawford Shand, genannt »Craw«. Er war vierzig Jahre alt, ledig und hauste allein in einer Sozialwohnung in Craigmillar. Er war seit sechs Jahren arbeitslos. Er fuhr sich mit zitternden Fingern durch das dunkle, fettige Haar, fand und bedeckte eine große kahle Stelle auf seinem Scheitel.

»Das erste Opfer«, sagte Rebus. »Erzählen Sie’s uns.«

»Uns«, weil sich noch ein anderer CID-Beamter in der »Keksdose«, dem Verhörraum, befand. Er hieß Maclay, und Rebus kannte ihn nicht besonders gut. Er kannte niemanden in Craigmillar besonders gut – noch nicht. Maclay stand mit dem Rücken zur Wand, die Arme verschränkt, die Augen zu Schlitzen verengt. Er sah wie eine ausgeschaltete Maschine aus.

»Ich hab sie erwürgt.«

»Womit?«

»’m Stück Seil.«

»Wo hatten Sie das Seil her?«

»Hab ich in irgendei’m Laden gekauft, weiß nich mehr, wo.«

Drei Herzschläge Pause. »Was haben Sie dann getan?«

»Wie sie tot war?« Shand ruckelte auf dem Stuhl ein wenig hin und her. »Ich hab sie ausgezogen und bin mit ihr intim geworden.«

»Mit einer Leiche?«

»Sie war noch warm.«

Rebus stand auf. Das Scharren seines Stuhls auf dem Fußboden schien Shand nervös zu machen. Gehörte nicht viel dazu.

»Wo haben Sie sie getötet?«

»In einem Park.«

»Und wo war dieser Park?«

»In der Nähe von wo sie wohnte.«

»Und das war wo?«

»Polmuir Road, Aberdeen.«

»Und was hatten Sie in Aberdeen zu tun, Mr. Shand?«

Er zuckte die Achseln und fuhr mit den Fingern die Tischkante entlang, auf der er Spuren von Schweiß und Fett hinterließ.

»Das würde ich lieber lassen«, sagte Rebus. »Die Kanten sind scharf, Sie könnten sich schneiden.«

Maclay schnaubte. Rebus machte ein paar Schritte auf ihn zu und starrte ihn an. Maclay nickte kurz. Rebus kehrte zum Tisch zurück.

»Beschreiben Sie den Park.« Er lehnte sich gegen die Tischkante, holte sich eine weitere Zigarette heraus und zündete sie an.

»Das war einfach so’n Park. Sie wissen schon, Bäume und Rasen, ein Kinderspielplatz.«

»War das Tor geschlossen?«

»Was?«

»Es war spätnachts, war das Tor geschlossen?«

»Weiß ich nich mehr.«

»Sie wissen’s nicht mehr.« Pause: zwei Herzschläge. »Wo hatten Sie sie kennen gelernt?«

Schnell: »In ’ner Disco.«

»Sie sehen nicht aus wie der typische Discogänger, Mr. Shand.« Ein weiteres Schnauben seitens der Maschine. »Beschreiben Sie mir das Lokal.«

Shand zuckte wieder die Achseln. »Wie so ’ne Disco eben aussieht: dunkel, flackernde Beleuchtung, ein Tresen.«

»Und Opfer Nummer zwei?«

»Selbe Prozedur.« Shands Augen waren dunkel, sein Gesicht ausgezehrt. Aber trotz allem fing er an, sich zu amüsieren, wieder in seine Geschichte reinzukommen. »Hab sie in ’ner Disco kennen gelernt, hab angeboten, sie nach Haus zu begleiten, hab sie umgebracht und sie gefickt.«

»Also keine Intimitäten diesmal. Haben Sie ein Andenken mitgenommen?«

»Hä?«

Rebus schnippte Asche auf den Fußboden, einiges davon landete auf seinen Schuhen. »Haben Sie irgendetwas vom Tatort mitgenommen?«

Shand dachte nach, schüttelte den Kopf.

»Und wo genau war das?«

»Warriston-Friedhof.«

»In der Nähe ihrer Wohnung?«

»Sie wohnte in Inverleith Row.«

»Womit haben Sie sie erdrosselt?«

»Mit dem Stück Seil.«

»Demselben Stück?« Shand nickte. »Was haben Sie damit gemacht? Es ständig in der Hosentasche mit sich rumgetragen?«

»Genau.«

»Haben Sie es jetzt auch bei sich?«

»Ich hab’s weggeschmissen.«

»Sie machen es uns nicht leicht, was?« Shand wand sich vor Vergnügen. Vier Schläge. »Und das dritte Opfer?«

»Glasgow«, sagte Shand. »Kelvingrove Park. Sie hieß Judith Cairns. Sie meinte, ich sollte sie Ju-Ju nennen. Ich hab sie genauso erledigt wie die anderen.« Er lehnte sich im Stuhl zurück, rutschte ein Stück höher und verschränkte die Arme. Rebus streckte eine Hand aus und legte sie ihm wie ein Gesundbeter auf die Stirn. Dann drückte er, nicht besonders fest. Aber er stieß auf keinerlei Widerstand. Shand und Stuhl kippten hintenüber auf den Boden. Jetzt kniete Rebus vor dem Mann und zerrte ihn am Hemd hoch.

»Sie sind ein Lügner!«, zischte er. »Was Sie wissen, haben Sie direkt aus den Zeitungen, und was Sie sich selbst ausdenken mussten, war der letzte Schrott!« Er ließ ihn los und stand auf. Seine Hände waren von Shands Hemd ganz feucht geworden.

»Ich lüge nicht«, beteuerte Shand, noch immer am Boden. »Das is’ die reine Wahrheit!«

Rebus drückte die zur Hälfte gerauchte Zigarette aus. Weitere Stummel kullerten aus dem Aschenbecher. Rebus hob einen auf und schnippte ihn auf Shand.

»Stellen Sie mich denn nicht unter Anklage?«

»Und ob wir das tun! Wegen Vergeudung unserer Zeit. Dafür wandern Sie für ein Weilchen nach Saughton, mit einem Arschficker als Zellengenossen.«

»Normalerweise lassen wir ihn einfach laufen«, sagte Maclay.

»Stecken Sie ihn in eine Zelle«, befahl Rebus und ging aus dem Zimmer.

»Aber ich bin’s!«, beharrte Shand, noch während Maclay ihn vom Boden hochzog. »Ich bin Johnny Bible! Ich bin Johnny Bible!«

»Da träumst du von, Craw«, sagte Maclay und brachte ihn mit einem Fausthieb zum Schweigen.

Rebus musste sich die Hände waschen, sich etwas Wasser ins Gesicht spritzen. Zwei von der Trachtengruppe vertrieben sich auf der Toilette etwas Zeit mit einer Geschichte und einer Zigarette. Als Rebus hereinkam, hörten sie auf zu lachen.

»Sir«, fragte der eine, »wen hatten Sie in der Keksdose?«

»Noch so’n Komiker«, sagte Rebus.

»Von denen wimmelt’s hier«, kommentierte der zweite Constable. Rebus wusste nicht, ob er das Revier meinte, Craigmillar selbst oder die Stadt als Ganzes. Nicht dass es auf dem Polizeirevier Craigmillar viel zu lachen gegeben hätte. Es war der aufreibendste Posten in ganz Edinburgh; Beamte taten dort maximal zwei Jahre Dienst, länger hielt das keiner aus. Craigmillar war so ziemlich das härteste Viertel, das man in der schottischen Hauptstadt finden konnte, und das Revier trug seinen Spitznamen – Fort Apache, Bronx – völlig zu Recht. Es lag am Ende einer Sackgasse hinter einer Reihe von Läden: ein niedriges, abweisendes Gebäude, hinter dem noch abweisendere Mietskasernen in die Höhe ragten. Seine Lage am Ende einer Sackgasse bedeutete, dass eine feindselige Menge es problemlos von der Außenwelt abschneiden konnte, und tatsächlich hatte das Revier schon mehrmals den Belagerungszustand erlebt. Ja, Craigmillar war schon ein heißes Pflaster.

Rebus wusste, warum er hier war. Er war ein paar Leuten auf die Füße getreten, wichtigen Leuten. Sie hatten ihn nicht endgültig abservieren können, also schickten sie ihn stattdessen ins Fegefeuer. Die Hölle konnte das nicht sein, da er wusste, dass es nicht ewig währen würde. Nennen wir es also eine Buße. Im Schreiben, das ihm seine Versetzung mitteilte, stand, er würde einen Kollegen vertreten, der im Krankenhaus lag. Es hatte außerdem geheißen, er werde die Schließung der alten Craigmillar-Wache beaufsichtigen. Alles wurde zusammengepackt und in ein nahe gelegenes brandneues Gebäude geschafft. Die Wache war schon jetzt ein einziges Durcheinander von Umzugskartons und leergeplünderten Schränken. Die Beamten rissen sich nicht gerade ein Bein aus, um laufende Fälle zu lösen. Ebenso wenig hatten sie sich ein Bein ausgerissen, um Detective Inspector John Rebus einen freundlichen Empfang zu bereiten. Man kam sich eher vor wie in einem Krankenhaus als wie auf einem Polizeirevier, und die Patienten schienen bis an die Kiemen mit Beruhigungsmitteln abgefüllt zu sein.

Er schlenderte in den CID-Raum – den »Schuppen« – zurück. Unterwegs kam er an Maclay und Shand vorbei, der, während er zum Zellentrakt geschleift wurde, lautstark seine Schuld beteuerte.

»Ich bin Johnny Bible! Kacke, verdammte, ich bin’s!«

Da träumst du von.

Es war einundzwanzig Uhr an einem Dienstag im Juni, und der einzige andere Mensch im »Schuppen« war Detective Sergeant »Dod« Bain. Er sah kurz von seiner Lektüre auf – Offbeat, dem amtlichen Mitteilungsblatt für die Verwaltungsgebiete Lothian und Borders –, und Rebus schüttelte den Kopf.

»Hatte ich mir schon gedacht«, sagte Bain und blätterte um. »Craw ist berüchtigt dafür, dass er sich immer selbst beschuldigt, deswegen habe ich ihn Ihnen überlassen.«

»Sie haben so viel Herz wie eine Büroklammer.«

»Aber ich bin auch genauso auf Draht. Vergessen Sie das nicht.«

Rebus setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte, ob er jetzt den Vernehmungsbericht schreiben sollte. Ein weiterer Witzbold, weitere vergeudete Zeit. Und Johnny Bible war weiterhin auf freiem Fuß.

Zuerst hatte es Bible John gegeben, der Glasgow in den späten Sechzigern in Angst und Schrecken versetzt hatte. Ein gut gekleideter junger Mann mit rötlichem Haar, der seine Bibel aus dem Effeff kannte und den Barrowland Ballroom frequentierte. Er gabelte dort drei Frauen auf, verprügelte sie, vergewaltigte sie, erdrosselte sie. Dann verschwand er, mitten in der größten Fahndungsaktion, die Glasgow bis dahin erlebt hatte, und tauchte nie wieder auf; der Fall war bis zum heutigen Tag nicht gelöst worden. Die Polizei hatte von der Schwester des letzten Opfers eine hieb- und stichfeste Personenbeschreibung bekommen. Sie war fast zwei Stunden lang in Bible Johns Gesellschaft gewesen, hatte sogar im selben Taxi mit ihm gesessen. Die beiden hatten sie abgesetzt; ihre Schwester hatte ihr zum Abschied durch das Heckfenster zugewinkt… Ihre Beschreibung hatte nichts genützt.

Und jetzt gab es Johnny Bible. Die Medien waren mit dem Namen schnell bei der Hand gewesen. Drei Frauen: verprügelt, vergewaltigt, erdrosselt. Mehr hatten sie nicht gebraucht, um die Verbindung herzustellen. Zwei Frauen waren in Nachtklubs, Discos angesprochen worden. Es gab vage Beschreibungen eines Mannes, den man mit den Opfern hatte tanzen sehen. Gut gekleidet, schüchtern. Das passte zum Original, Bible John. Bloß dass Bible John, falls er noch immer am Leben sein sollte, mittlerweile in den Fünfzigern gewesen wäre, während der neue Mörder als Mitt- bis Endzwanziger beschrieben worden war. Ergo: Johnny Bible, geistiger Sohn Bible Johns.

Natürlich gab es Unterschiede, aber die Medien hielten sich mit ihnen nicht auf. Zum einen hatten Bible Johns Opfer alle im selben Lokal getanzt; Johnny Bible dagegen klapperte ganz Schottland nach potentiellen Opfern ab. Das hatte zu den üblichen Theorien geführt: Er war Fernfahrer oder Vertreter. Die Polizei schloss keine Möglichkeit aus. Es konnte sogar sein, dass Bible John selbst nach fünfundzwanzigjähriger Abwesenheit zurückgekehrt war und die Beschreibung des Mitt-, Endzwanzigers einfach nicht stimmte – das hatte es bei scheinbar wasserdichten Augenzeugenaussagen durchaus schon gegeben. Die Polizei hielt außerdem ein paar Informationen über Johnny Bible zurück – genauso wie sie es seinerzeit mit Bible John getan hatte. Auf die Weise ließen sich die Dutzende falscher Geständnisse leichter aussieben.

Rebus hatte gerade mit seinem Bericht angefangen, als Maclay ins Zimmer gewankt kam. Das war seine normale Art zu gehen, wie ein schlingernder Kahn, aber nicht weil er betrunken oder zugedröhnt gewesen wäre, sondern weil er ziemlich übergewichtig war; irgendwie stoffwechselbedingt. Mit den Nebenhöhlen hatte er außerdem auch Probleme; seine Atmung war oft ein mühsames Keuchen, seine Stimme ein stumpfer Hobel, der gegen die Maserung scheuerte. Im Revier hieß er nur »Heavy« – der schwere Junge.

»Craw eingebuchtet?«, fragte Bain.

Maclay nickte in die Richtung von Rebus’ Schreibtisch. »Will ihn wegen Verplemperns unserer Zeit anklagen lassen.«

»Na also, das nenn ich Zeit verplempern.«

Maclay wankte in Rebus’ Richtung. Er hatte pechschwarzes Haar, das ringsum in angeklatschte Ringellöckchen auslief. Wahrscheinlich hatte er bei einigen Baby-Schönheitswettbewerben gewonnen, was allerdings schon einige Zeit zurücklag.

»Kommen Sie«, sagte er.

Rebus schüttelte den Kopf und tippte weiter.

»Ach, Scheiße.«

»Scheiß auf ihn«, sagte Bain und stand auf. Er zog sein Jackett von der Rückenlehne seines Stuhls. Zu Maclay gewandt: »’nen Drink?«

Maclay stieß einen Seufzer aus. »Genau, was ich jetzt brauche.«

Rebus hielt den Atem an, bis sie gegangen waren. Er hatte nicht erwartet, zum Mitgehen aufgefordert zu werden. War aber sowieso nur pro forma gewesen. Er hörte auf zu tippen und holte aus der untersten Schublade die Flasche Limonade heraus, schraubte den Deckel auf, schnüffelte dreiundvierzigprozentigen Malt und goss sich den Mund voll. Anschließend verstaute er die Flasche wieder in der Schublade und steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

Schon besser. I can see clearly now. Marvin Gaye.

Er riss den Bericht aus der Schreibmaschine und knüllte ihn zusammen, dann rief er vorne an und sagte, sie sollten Craw Shand noch eine Stunde dabehalten und ihn dann laufen lassen. Er hatte gerade aufgelegt, als es klingelte.

»DI Rebus.«

»Brian.«

Brian Holmes, Detective Sergeant, noch immer in St. Leonard’s stationiert. Sie blieben in Verbindung. Heute Abend klang seine Stimme tonlos.

»Probleme?«

Holmes lachte freudlos. »’ne ganze Wagenladung voll.«

»Dann erzählen Sie mir vom jüngsten.« Rebus öffnete das Zigarettenpäckchen einhändig, schob sich eine in den Mund und zündete sie an.

»Ich weiß nicht, ob ich darf, wo Sie selbst dermaßen in der Scheiße stecken.«

»Craigmillar ist gar nicht so übel.« Rebus sah sich im muffigen Büro um.

»Ich meinte die andere Sache.«

»Ach so.«

»Sehen Sie, ich… ich könnte mich in was reingeritten haben…«

»Was ist passiert?«

»Ein Verdächtiger, wir hatten ihn festgenommen. Er hat kübelweise Scheiße von sich gegeben.«

»Sie haben ihm eine geknallt.«

»Das behauptet er jedenfalls.«

»Beschwerde eingereicht?«

»Läuft. Sein Anwalt will das bis zu Ende durchziehen.«

»Ihr Wort gegen seins?«

»Genau.«

»Die Innere wird das schon ausbügeln.«

»Wahrscheinlich.«

»Oder bitten Sie Siobhan, Ihren Arsch zu decken.«

»Sie ist im Urlaub. Mein Vernehmungspartner war Glamis.«

»Dann sieht’s schlecht aus, der ist ’ne wandelnde Feigwarze.«

Eine Pause. »Fragen Sie mich nicht, ob ich’s getan habe?«

»Ich will’s gar nicht wissen, klar? Wer war der Verdächtige?«

»Macken-Minto.«

»Scheiße, dieser Junkie kennt sich im Gesetzbuch besser aus als der Staatsanwalt. Okay, gehn wir ein paar Takte plaudern.«

Es tat gut, aus der Wache raus zu sein. Er hatte das Autofenster runtergekurbelt. Der Fahrtwind war fast warm. Der Dienst-Escort schien seit einer Weile nicht mehr geputzt worden zu sein. Es lagen Schokoladenpapierchen, leere Chipstüten, zerknüllte Orangensaftkartons und Ribena-Flaschen herum. Das Herz der schottischen Ernährung: Zucker und Salz. Fehlte nur noch Alkohol, und man hatte Herz und Leber.

Minto wohnte in einer der Mietskasernen auf der South Clerk Street, im ersten Stock. Rebus war schon zu anderen Gelegenheiten, an die er sich durchweg ungern erinnerte, da gewesen. Der Bordstein war mit Autos zugestellt, also parkte er in zweiter Reihe. Am Himmel focht ein verblassendes Rosa einen aussichtslosen Kampf gegen das heraufziehende Dunkel. Und unter dem Ganzen: Halogenorange. Die Bürgersteige waren voller lärmender Passanten. Das Kino ein Stück weiter die Straße entlang leerte sich wahrscheinlich gerade, und die ersten Schnapsleichen in spe rissen sich von den noch offenen Pubs los. Die Luft roch nach fischigem Frittierfett, Pizza, indischen Gewürzen. Brian Holmes stand, die Hände in den Taschen, vor einem Wohltätigkeitsshop. Kein Auto. Er war von St. Leonard’s wahrscheinlich zu Fuß gekommen. Die zwei Männer nickten sich zu.

Holmes sah müde aus. Noch vor ein paar Jahren war er jung, frisch, eifrig gewesen. Rebus wusste, dass das Familienleben seinen Tribut forderte: Er hatte es an seiner eigenen, schon seit Jahren geschiedenen Ehe erlebt. Holmes’ Lebensgefährtin wollte, dass er den Dienst quittierte. Sie wollte einen Mann, der mehr Zeit mit ihr verbrachte, der, wenn er zu Hause war, an sie dachte und sich nicht ständig mit Fällen und Spekulationen, Gedankenspielen und Beförderungsstrategien beschäftigte. Als Polizeibeamter hatte man oft eine engere Beziehung zu seinem Schreibtischpartner als zu seiner Lebensgefährtin. Wenn man zum CID kam, erhielt man einen warmen Händedruck und ein Stück Papier.

Das Stück Papier war das vorläufige Scheidungsurteil.

»Wissen Sie, ob er zu Haus ist?«, fragte Rebus.

»Ich hab ihn angerufen. Er hat abgenommen. Klang halbwegs nüchtern.«

»Haben Sie irgendwas gesagt?«

»Bin ich blöd?«

Rebus hielt den Blick auf die Fenster des Mietshauses gerichtet. Im Parterre waren Läden; Minto wohnte über einer Schlosserei. Nicht unwitzig, wenn man einen Sinn für so was hatte.

»Okay, Sie gehen mit rauf, bleiben aber draußen im Treppenhaus. Kommen Sie nur rein, wenn Sie hören, dass es Ärger gibt.«

»Sicher?«

»Ich will mich mit dem Mann nur unterhalten.« Rebus berührte Holmes’ Schulter. »Entspannen Sie sich.«

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Sie stiegen schweigend die Wendeltreppe hinauf. Rebus drückte auf den Klingelknopf und atmete tief ein. Minto hatte die Tür kaum einen Spalt breit geöffnet, als sich Rebus mit der Schulter dagegenwarf und Minto und sich selbst in den trüb beleuchteten Flur katapultierte. Er knallte die Tür hinter sich zu.

Minto wollte handgreiflich werden, bis ihm klar wurde, mit wem er es zu tun hatte. Er stieß nur einen Knurrlaut aus und schlurfte ins Wohnzimmer zurück – ein winziger Raum, der auch noch zur Hälfte als Küche fungierte; ein schmaler bis zur Decke reichender Schrank enthielt, wie Rebus wusste, eine Dusche. Dann waren da noch ein Schlafzimmer und eine Toilette mit einem Puppenhaus-Waschbecken. Es gab durchaus geräumigere Iglus.

»Was zum Teufel wollen Sie?« Minto griff nach einer Dose hochprozentigem Lager. Er leerte sie im Stehen.

»Zwei Takte plaudern.« Rebus sah sich scheinbar beiläufig im Zimmer um. Aber seine Hände waren einsatzbereit.

»Das ist unbefugtes Eindringen.«

»Kläff du nur weiter. Ich zeig dir schon, was unbefugtes Eindringen ist.«

Minto legte das Gesicht in Falten: nicht beeindruckt. Er war Mitte dreißig, sah aber fünfzehn Jahre älter aus. Er hatte schon die meisten gängigen Drogen durch: Horse, Speed, Crack. Jetzt war er auf Methadon. Zugedröhnt war er ein kleineres Problem, lediglich nervig; nüchtern taugte er nur für die Gummizelle. Völlig übergeschnappt.

»Was man so hört, sind Sie eh am Arsch«, sagte er jetzt.

Rebus trat einen Schritt näher. »Stimmt, Macke. Also frag dich selbst: Was habe ich zu verlieren? Wenn ich am Arsch bin, kann ich genauso gut Nägel mit Köpfen machen.«

Minto hob die Hände. »Nur die Ruhe, Mann. Was haben Sie für ein Problem?«

Rebus entspannte sein Gesicht. »Du bist mein Problem, Macke. Pisst einem Kollegen von mir ans Bein.«

»Er hat mich zusammengeschlagen.«

Rebus schüttelte den Kopf. »Ich war dabei, hab nix gesehen. Ich war mit einer Nachricht für DS Holmes reingeschickt worden. Ich bin dageblieben. Wenn er also auf dich losgegangen wäre, hätte ich’s ja wohl mitgekriegt, oder?«

Sie standen sich schweigend gegenüber. Dann wandte sich Minto ab und ließ sich in den einzigen Sessel des Zimmers plumpsen. Er sah so aus, als wollte er eine Runde schmollen. Rebus bückte sich und hob etwas vom Fußboden auf. Es war der vom Fremdenverkehrsamt herausgegebene Zimmernachweis.

»Bisschen blau machen?« Er blätterte rasch die Listen von Hotels, Pensionen, möblierten Zimmern durch. Dann hielt er die Broschüre in die Höhe. »Ein Bruch an einer dieser Adressen, und du bist der Erste, dem wir einen Besuch abstatten.«

»Schikane«, sagte Minto, aber leise.

Rebus ließ die Broschüre fallen. Jetzt sah Macken-Minto gar nicht mehr so verrückt aus, eher völlig erledigt, so als hätte sich das Leben in einen der Boxhandschuhe ein Hufeisen gesteckt. Rebus wandte sich ab. Er durchquerte den Flur und griff schon nach der Klinke der Wohnungstür, als Minto seinen Namen rief. Der kleine Mann stand am anderen Ende des Flurs, keine vier Meter von ihm entfernt. Er hatte sich sein ausgeleiertes T-Shirt bis zu den Schultern hochgezogen. Nachdem er ihm die Vorderseite gezeigt hatte, drehte er sich um und führte Rebus die Rückenpartie vor. Die Beleuchtung war dürftig – eine Vierzig-Watt-Birne unter einem fliegenschisstrüben Schirm –, aber Rebus sah es auch so. Tattoos, dachte er im ersten Moment. Aber es waren Blutergüsse: an den Rippen, Seiten, Nieren. Selbst zugefügt? Vielleicht. Das war immer möglich. Minto ließ das T-Shirt herunterfallen und starrte Rebus an. Der öffnete die Tür und verließ die Wohnung.

»Alles in Ordnung?«, fragte Holmes nervös.

»Die Story lautet: Ich bin mit einer Nachricht reingekommen. Ich war während des ganzen Verhörs dabei.«

Holmes atmete geräuschvoll aus. »Das war’s also?«

»Das war’s.«

Vielleicht war es der Ton seiner Stimme, der Holmes aufmerken ließ. Er begegnete John Rebus’ starrem Blick und sah als Erster weg. Draußen streckte er die Hand aus und sagte: »Danke.«

Aber Rebus hatte sich schon umgedreht und entfernte sich.

Er fuhr durch die Straßen der leeren Hauptstadt, links und rechts von Wohneigentum im sechsstelligen Preisbereich flankiert. Heutzutage kostete es ein Vermögen, in Edinburgh zu wohnen. Er versuchte, nicht daran zu denken, was er getan, was Brian Holmes getan hatte. In seinem Kopf der Kommentar der Pet Shop Boys: »It’s a Sin.« Überleitung zu Miles Davis: »So what?«

Er fuhr in die ungefähre Richtung von Craigmillar, überlegte es sich dann aber anders. Er würde stattdessen nach Hause fahren und darum beten, dass draußen keine Reporter kampierten. Wenn er nach Haus ging, nahm er die Nacht mit, musste sie sich dann ablaugen und abschrubben und fühlte sich dabei wie ein alter Pflasterstein, auf dem Tag für Tag herumgetrampelt wurde. Manchmal war es einfacher, auf der Straße zu bleiben oder auf der Wache zu schlafen. Manchmal gondelte er die ganze Nacht herum – nicht nur durch Edinburgh: runter nach Leith und an den Nutten und Strichern vorbei, den Hafen entlang, gelegentlich bis nach South Queensferry und dann rauf zur Forth Bridge, die M90 entlang durch Fife, an Perth vorbei, bis rauf nach Dundee, wo er meist, mittlerweile müde, wendete und zurückfuhr oder, wenn nötig, am Straßenrand hielt und im Auto schlief. Es brauchte alles seine Zeit.

Er erinnerte sich, dass er in einem Dienstwagen saß, nicht in seinem eigenen. Wenn sie die Karre brauchten, dann konnten sie sie sich ja holen. Als er Marchmont erreichte, war auf der Arden Street kein Parkplatz zu finden; und so hielt er schließlich im absoluten Halteverbot. Reporter waren keine zu sehen; irgendwann mussten die ja auch schlafen. Er ging die Warrender Park Road entlang zu seinem Lieblings-Fish-and-Chips-Shop – riesige Portionen, und Zahnpasta und Klopapier gab es bei Bedarf da auch. Er schlenderte langsam wieder zurück und war schon halb die Treppe hoch, als sein Piepser losging.

2

Er hieß Allan Mitchison, und er saß in einer Kneipe und trank – nicht à la »Was kostet die Welt«, aber doch mit einer Miene, die verriet, dass er sich um Geld keine Gedanken zu machen brauchte. Er kam mit zwei Typen ins Gespräch. Der eine von beiden erzählte einen Witz. Es war ein guter Witz. Sie spendierten die nächste Runde, und dann spendierte er seinerseits eine. Als er seinen einzigen Witz zum Besten gab, lachten sie Tränen. Sie bestellten noch mal drei. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl.

In Edinburgh hatte er nicht mehr viele Bekannte. Einige seiner einstigen Freunde nahmen ihm das viele Geld übel, das er immer noch verdiente. Familie besaß er keine, schon so lange er zurückdenken konnte. Er fühlte sich in Gesellschaft der zwei Männer wohl. Er wusste gar nicht so genau, warum er überhaupt noch nach Hause kam beziehungsweise warum er Edinburgh überhaupt sein »Zuhause« nannte. Er hatte eine Wohnung samt dazugehöriger Hypothek, aber sie war noch nicht mal tapeziert oder gestrichen, geschweige denn eingerichtet. Sie war bloß ein Gehäuse, nichts, wofür es sich gelohnt hätte zurückzukehren. Aber alle fuhren nach Hause, das war das Problem. Während der sechzehn Tage, die man am Stück arbeitete, dachte man an zu Hause. Das gehörte sich einfach so. Man redete darüber, erzählte, was man alles tun würde, wenn man erst mal da war – saufen, vögeln, einen draufmachen. Einige der Männer wohnten in oder in der Nähe von Aberdeen, aber etliche kamen von weiter her. Sie konnten es nicht erwarten, dass die sechzehn Tage endeten und die vierzehntägige Pause begann.

Das war die erste Nacht seiner vierzehn Tage.

Anfangs vergingen sie langsam, gegen Ende dann immer schneller, bis man sich fragte, warum man mit seiner Zeit nichts Besseres angefangen hatte. Diese, die erste Nacht, war die längste. Das war die eine Nacht, die man hinter sich bringen musste.

Sie zogen in eine andere Bar. Einer seiner neuen Freunde trug eine altmodische Adidas-Tasche, rotes Plastik mit einem Seitenreißverschluss und einem zerrissenen Schulterriemen. Auf der Schule, mit vierzehn, fünfzehn, hatte er genauso eine gehabt.

»Was hast du denn da drin«, scherzte er, »deine Sportsachen?«

Sie lachten und klopften ihm auf den Rücken.

Im nächsten Lokal gingen sie zu Hochprozentigem über. Der Pub kochte, Mösen, so weit das Auge reichte.

»Du musst doch ununterbrochen daran denken«, sagte einer seiner Freunde, »da auf der Bohrinsel. Also, ich würde glatt durchdreh’n.«

»Oder Rückenmarksschwund kriegen«, sagte der andere.

Er grinste. »Ich komm schon auf meine Kosten.« Kippte einen weiteren Black Heart. Früher hatte er keinen dunklen Rum getrunken. Ein Fischer in Stonehaven hatte ihn mit dem Zeug bekannt gemacht. OVD oder Black Heart, aber am liebsten hatte er Black Heart. Der Name gefiel ihm.

Sie brauchten was zum Mitnehmen, damit die Party weitergehen konnte. Er war müde. Die Zugfahrt von Aberdeen hatte drei Stunden gedauert, und davor war noch der Flug mit dem Heli gewesen. Seine Freunde waren eifrig am Bestellen: eine Flasche Bell’s und eine Black Heart, ein Dutzend Dosen, Chips und Kippen. So über den Tresen kostete das Zeug ein Vermögen. Aber sie teilten die Zeche durch drei, also waren sie offenbar nicht auf sein Geld aus.

Sie hatten Mühe, ein Taxi zu finden. Jede Menge unterwegs, aber alle schon besetzt. Sie mussten ihn von der Fahrbahn zerren, als er versuchte, eins zum Stehen zu bringen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf ein Knie. Sie halfen ihm wieder auf.

»Also, was tust du eigentlich genau auf der Bohrinsel?«, fragte einer von ihnen.

»Sorg dafür, dass sie nach Möglichkeit nicht absäuft.«

Ein Taxi hatte angehalten und ließ ein Pärchen aussteigen.

»Ist das Ihre Mutter, oder sind Sie bloß verzweifelt?«, fragte er den männlichen Fahrgast. Seine Freunde empfahlen ihm, die Klappe zu halten, und schoben ihn in den Fond. »Habt ihr die gesehen?«, fragte er. »’n Gesicht wie ein Sack voll Murmeln.« Sie fuhren nicht in seine Wohnung, da war nichts.

»Wir fahren zu uns«, hatten seine Freunde gesagt. Also brauchte man nichts weiter zu tun, als sich zurückzulehnen und die ganzen bunten Lichter anzugucken. Edinburgh war genau wie Aberdeen – eine Kleinstadt, ganz anders als Glasgow oder London. Aberdeen hatte mehr Geld als Stil, und unheimlich war es auch. Mehr als Edinburgh. Die Fahrt schien überhaupt nicht enden zu wollen.

»Wo sind wir?«

»Niddrie«, sagte einer. Er konnte sich an ihre Namen nicht erinnern, und es war ihm peinlich zu fragen. Schließlich blieb das Taxi stehen. Die Straße war stockdunkel, sah so aus, als hätte die ganze Siedlung schon seit Ewigkeiten die Stromrechnung nicht mehr bezahlt. Das sagte er auch.

Mehr Gelächter, Heiterkeitstränen, Schulterklopfen.

Dreigeschossige Mietshäuser, Kieselrauputz. Die meisten Fenster waren mit Stahlblechplatten verrammelt oder mit Ytongblöcken zugemauert.

»Ihr wohnt hier?«, fragte er.

»Kann sich nicht jeder eine Hypothek leisten.«

Wie wahr, wie wahr. Er war in vielerlei Hinsicht ein Glückspilz. Sie drückten fest gegen die Haustür, und sie gab nach. Er trat ein, links und rechts von ihm je ein Freund mit einer Hand auf seinem Rücken. Drinnen war es feucht und modrig, die Treppe halb zugerümpelt mit aufgeschlitzten Matratzen und Klosettbrillen, Rohren und zerbrochenen Fußleisten.

»Richtig gemütlich.«

»Oben ist es schon ganz okay.«

Sie stiegen zwei Treppen hinauf. Zwei Wohnungstüren, beide offen.

»Hier rein, Allan.«

Also ging er hinein.

Es gab keinen Strom, aber einer seiner Freunde hatte eine Taschenlampe dabei. Die Wohnung war ein einziger Saustall.

»Ich hätt euch nicht für Penner gehalten, Jungs.«

»Die Küche ist okay.«

Also führten sie ihn dorthin. Er sah einen Holzstuhl, der früher mal gepolstert gewesen war. Er stand auf den Überresten des Linoleumfußbodens. Die Alkoholdämpfe verzogen sich schnell, aber nicht schnell genug.

Sie drückten ihn auf den Stuhl. Er hörte, wie Klebeband von einer Rolle gerissen wurde, spürte, wie es ihn an den Stuhl fesselte, immer rundherum. Dann um den Kopf herum, ihm den Mund zuklebte. Als Nächstes seine Beine, bis runter zu den Knöcheln. Er versuchte zu schreien, würgte am Klebeband. Ein Schlag gegen die Schläfe. Augen und Ohren versagten vorübergehend. Die Schläfe tat ihm weh, als wäre sie mit einem Stahlträger kollidiert. Hektische Schatten huschten über die Wände.

»Sieht aus wie ’ne Mummje, nich?«

»Ja, und in ’ner Minute schreit er nach seiner Mami.«

Die Adidas-Tasche lag offen vor ihm auf dem Fußboden.

»Jetzt«, sagte der eine von beiden, »hol ich meine Sportsachen raus.«

Zange, Tischlerhammer, Presslufttacker, elektrischer Schraubenzieher und eine Säge.

Nachtschweiß, Salzwasser, das ihm in den Augen brannte, hinein- und wieder heraussickerte. Er wusste, was mit ihm geschah, glaubte es aber immer noch nicht. Die Männer sprachen kein Wort. Sie breiteten eine schwere Plastikplane auf dem Fußboden aus. Dann trugen sie ihn und den Stuhl auf die Plane. Er wand sich, versuchte zu schreien, kniff die Augen zu, kämpfte gegen seine Fesseln an. Als er die Augen wieder öffnete, sah er eine durchsichtige Plastiktüte. Sie stülpten sie ihm über den Kopf und schnürten sie mit Klebeband luftdicht um den Hals zu. Er atmete durch die Nase ein, und die Tüte zog sich zusammen. Einer der beiden nahm die Säge in die Hand, legte sie dann wieder hin und nahm stattdessen den Hammer.

Von blankem Entsetzen getrieben, schaffte es Allan Mitchison irgendwie, noch immer an den Stuhl gefesselt, auf die Füße zu kommen. Vor ihm war das Küchenfenster. Es war mit Brettern vernagelt gewesen, aber jemand hatte die Bretter wieder herausgerissen. Der Rahmen war intakt, aber von der Fensterscheibe waren nur noch ein paar Zacken erhalten. Die zwei Männer waren mit ihrem Werkzeug beschäftigt. Er stolperte zwischen ihnen hindurch und kippte aus dem Fenster.

Sie sahen nicht zu, wie er unten aufschlug. Sie sammelten lediglich ihr Werkzeug ein, falteten die Plastikplane unordentlich zusammen, packten alles wieder in die Adidas-Tasche und zogen den Reißverschluss zu.

»Warum gerade ich?«, hatte Rebus gefragt, als man ihn zurückgerufen hatte.

»Weil Sie neu sind«, hatte sein Chef gesagt. »Sie sind noch nicht lang genug da, um sich in der Siedlung Feinde gemacht haben zu können.«

Und außerdem, hätte Rebus hinzufügen können, kannst du Maclay oder Bain nicht erreichen.

Ein Anwohner, der seinen Windhund Gassi führte, hatte die Sache gemeldet. »Hier wird alles Mögliche auf die Straße geschmissen, aber so was doch nicht.«

Als Rebus ankam, standen ein paar Streifenwagen herum und bildeten so etwas wie eine Absperrung, die die Anwohner allerdings nicht davon abgehalten hatte, sich zum Gaffen zu versammeln. Jemand grunzte wie ein Schwein. In dieser Gegend stand Originalität nicht hoch im Kurs; Traditionen waren schwer auszurotten. Die Mietshäuser waren größtenteils leer und warteten auf den Abriss. Die Familien hatte man umquartiert. Hier und da wohnten noch ein paar Leute. Rebus wäre da nicht geblieben.

Der Aufgefundene war für tot, die Umstände für – milde ausgedrückt – verdächtig erklärt worden, und jetzt machten sich Spurensicherung und Fotografen an die Arbeit. Ein Vizestaatsanwalt unterhielt sich gerade mit dem Pathologen, Dr. Curt. Curt sah Rebus und nickte ihm zu. Aber Rebus hatte nur Augen für die Leiche. Das Mietshaus war von einem altmodischen Eisengitter umgeben, und die noch immer blutende Leiche hatte sich auf den eisernen Stäben aufgespießt. Im ersten Moment dachte er, die Leiche sei schwer entstellt, aber als er näher trat, sah er, was es war: ein Stuhl, beim Aufprall zur Hälfte zertrümmert. Er war mit silberfarbenem Klebeband an der Leiche befestigt. Der Kopf des Toten steckte in einer Plastiktüte. Die ehemals durchsichtige Tüte war jetzt halb voll mit Blut.

Dr. Curt kam herübergeschlendert. »Ich bin neugierig, ob wir eine Orange in seinem Mund finden werden.«

»Soll das jetzt witzig sein?«

»Ich wollte mich eigentlich melden. Hat mir Leid getan, das mit Ihrer… na ja…«

»Craigmillar ist gar nicht so übel.«

»Das hatte ich nicht gemeint.«

»Das ist mir klar.« Rebus sah nach oben. »Wie viele Stockwerke ist er runtergefallen?«

»Wie es aussieht, ein paar. Aus dem Fenster da oben.«

Hinter ihnen waren Geräusche zu hören. Einer der Trachtengruppler kotzte auf die Straße. Ein Kollege hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt und half ihm dabei, sich zu erleichtern.

»Holen wir ihn da runter«, sagte Rebus. »Dass die arme Sau in den Leichensack kann.«

»Kein Strom«, sagte jemand und reichte Rebus eine Stablampe.

»Kann man dem Fußboden trauen?«

»Bis jetzt ist noch niemand durchgekracht.«

Rebus tappte durch die Wohnung. Er hatte schon Dutzende solcher Bruchbuden gesehen. Gangs hatten sich da breit gemacht und die Wände mit Graffiti und Urin verunstaltet. Andere hatten alles rausgeschafft, was auch nur den Anschein eines materiellen Wertes besaß: Fußbodenbeläge, Innentüren, Kabel, Stuckverzierungen. Ein Tisch, dem ein Bein fehlte, war im Wohnzimmer auf den Kopf gestellt worden. Darin lagen eine zerknüllte Decke und ein paar Blätter Zeitungspapier. Trautes Heim. Das Badezimmer war völlig leer, lediglich Löcher verrieten, wo einst Armaturen und Installationen angebracht waren. In der Wand des Schlafzimmers klaffte ebenfalls ein großes Loch. Man konnte direkt in die Nachbarwohnung durchsehen und eine identische Szene bewundern.

Die Beamten von der Spurensicherung konzentrierten sich auf die Küche.

»Was haben wir?«, fragte Rebus. Jemand leuchtete mit seiner Stablampe in eine Ecke.

»Tüte voll Schnaps, Sir. Whisky, Rum, auch ein paar Bierdosen und Knabberzeug.«

»Party, hm?«

Rebus ging ans Fenster. Ein Trachtengruppler stand da und sah hinunter auf die Straße, wo vier Leute mit vereinten Kräften versuchten, die Leiche von den Gitterstäben loszubekommen.

»Knüller als das kann man ja wohl nicht werden.« Der junge Constable wandte sich zu Rebus. »Was meinen Sie, Sir? Alki begeht Selbstmord?«

»Gewöhn dich langsam an deine Uniform, mein Sohn.« Rebus wandte sich vom Fenster ab. »Tüte und Inhalt sollen nach Fingerabdrücken untersucht werden. Wenn sie von einem Schnapsladen stammen, werdet ihr wahrscheinlich Preisaufkleber finden. Andernfalls könnten sie aus einem Pub sein. Wir suchen nach einer, wahrscheinlicher zwei Personen. Wer immer ihnen den Sprit verkauft hat, kann sie vielleicht beschreiben. Wie sind sie hergekommen? Mit eigenem Fahrzeug? Bus? Taxi? Das müssen wir herausfinden. Woher wussten sie von dieser Wohnung? Kannten sie sich hier aus? Wir müssen die Nachbarn befragen.« Er ging jetzt im Zimmer auf und ab. Er erkannte ein paar junge CID-Beamte von St. Leonard’s, dazu einige Uniformierte aus Craigmillar. »Wir werden die Aufgaben später aufteilen. Das könnte ein fürchterlicher Unfall sein oder ein blöder Spaß, der in die Hose gegangen ist, aber wie auch immer – allein war das Opfer hier nicht. Ich will wissen, wer mit ihm hier war. Danke und gute Nacht.«

Draußen machten sie gerade letzte Aufnahmen vom Stuhl und dem darum gewickelten Klebestreifen, bevor sie Stuhl und Leiche voneinander trennten. Der Stuhl würde gleichfalls, mit sämtlichen auffindbaren Splittern, eingetütet werden. Komisch, wie ordentlich es auf einmal wurde; Ordnung aus dem Chaos. Dr. Curt sagte, er würde die Obduktion am nächsten Morgen vornehmen. Rebus hatte keine Einwände. Er setzte sich wieder in den Streifenwagen und wünschte sich, es wäre seiner: Unter dem Fahrersitz des Saab lag eine halbe Flasche Whisky. Viele Pubs wären bestimmt noch offen gewesen: Schanklizenz bis Mitternacht. Stattdessen fuhr er wieder ins Revier. Maclay und Bain sahen so aus, als seien sie gerade erst reingekommen, aber die Neuigkeit wussten sie schon.

»Mord?«

»Was in der Art«, antwortete Rebus. »Er war an einen Stuhl gebunden, mit einer Plastiktüte über dem Kopf und zugeklebtem Mund. Vielleicht hat man ihn gestoßen, vielleicht ist er gesprungen oder gefallen. Wer immer bei ihm war, hatte es eilig zu verschwinden – hat seine ganzen Vorräte liegen lassen.«

»Junkies? Penner?«

Rebus schüttelte den Kopf. »Allem Anschein nach neue Jeans und an den Füßen neue Nikes. Brieftasche mit jeder Menge Barem, Bankcard und Kreditkarte.«

»Dann haben wir also einen Namen?«

Rebus nickte. »Allan Mitchison, wohnhaft Nähe Morrison Street.« Er rasselte mit einem Schlüsselbund. »Möchte jemand mit?«

Bain begleitete Rebus und überließ es Maclay, »die Festung zu halten« – eine in Fort Apache überstrapazierte Metapher. Bain meinte, er tauge als Beifahrer nicht viel, also ließ Rebus ihn ans Steuer. DS »Dod« Bain hatte einen Ruf als knallharter Bursche; er war ihm von Dundee nach Falkirk und von da nach Edinburgh gefolgt. Dundee und Falkirk waren auch nicht gerade Kurorte. Er hatte eine Narbe unter dem rechten Auge – ein Souvenir von einer Messerstecherei. Alle naselang strich sein Finger über die Stelle; es geschah ganz unbewusst. Mit eins achtundsiebzig war er ein paar Fingerbreit kleiner als Rebus und vielleicht zehn Pfund leichter. Er hatte früher in der Amateurliga geboxt, Mittelgewicht, Rechtsausleger, mit dem Resultat, dass ihm jetzt ein Ohr tiefer als das andere saß und seine Nase das halbe Gesicht einnahm. Sein kurz geschorenes Haar war grau meliert. Verheiratet, drei Söhne. Rebus hatte in Craigmillar noch nicht viel mitbekommen, was Bains Ruf gerechtfertigt hätte; er war ein unauffälliger, gewissenhafter Typ, der brav seine Formulare ausfüllte und stur nach Lehrbuch ermittelte. Rebus war gerade eine Nervensäge losgeworden – DI Alister Flower, auf irgendeinen Außenposten in den Borders versetzt, wo er fürderhin Schafeficker und rasende Traktorfahrer jagen konnte – und nicht scharf darauf, die Stelle neu zu besetzen.

Allan Mitchisons Wohnung lag in einem Designerblock im so genannten Financial District. Ein Stück Brachland in der Nähe der Lothian Road war in ein Konferenzzentrum und »Apartments« umgewandelt worden. Ein Hotel war geplant, und eine Versicherungsgesellschaft hatte ihre neue Zentrale an das Caledonian Hotel angebaut. Und es gab noch genügend Platz für weitere Betonklötze und Straßen.

»Jammervoll«, sagte Bain, während er den Wagen parkte.

Rebus versuchte, sich zu erinnern, wie es da früher mal ausgesehen hatte. Er brauchte lediglich ein, zwei Jahre zurückzudenken, aber selbst das bereitete ihm Schwierigkeiten. War da bloß ein großes Loch gewesen, oder hatten die irgendwas abgerissen? Sie waren gerade mal knapp einen halben Kilometer von der Wache am Torphichen Place entfernt. Rebus hatte geglaubt, das ganze Revier zu kennen. Aber jetzt musste er feststellen, dass dem nicht so war.

Am Kettchen hingen ein halbes Dutzend Schlüssel. Mit einem davon ließ sich die Haustür öffnen. In der gut beleuchteten Eingangshalle war eine ganze Wand mit Briefkästen bedeckt. Sie fanden den Namen Mitchison – Wohnung 312. Rebus suchte den passenden Schlüssel und holte die Post aus dem Briefkasten. Einiges an Werbung – »Sofort öffnen! Sie könnten schon jetzt den Jackpot geknackt haben!«  – und eine Kreditkartenabrechnung. Er öffnete die Abrechnung. Aberdeen HMV, ein Sportgeschäft in Edinburgh – 56,50 Pfund, die Nikes – und ein Curry-Haus, ebenfalls in Aberdeen. Nicht ganz zwei Wochen lang nichts, dann wieder das Curry-Haus.

Sie fuhren mit dem engen Lift in den dritten Stock (Bain schattenboxte während der Fahrt vor dem wandhohen Spiegel) und fanden Apartment Nr. 12. Rebus schloss auf, sah, dass an der Wand des kleinen Flurs die Kontrolltafel einer Alarmanlage blinkte, und schaltete sie mit einem weiteren Schlüssel aus. Bain fand den Lichtschalter und schloss die Tür. Die Wohnung roch nach Farbe und Putz, Teppichboden und Lack – neu, unbewohnt. Keinerlei Möbel; nur ein Telefon auf dem Fußboden neben einem aufgerollten Schlafsack.

»Das schlichte Leben«, bemerkte Bain.

Die Küche war vollständig eingerichtet – Waschmaschine, Herd, Geschirrspüler, Kühlschrank –, aber die Tür des Wasch-Trockenautomats war noch mit einem Klebestreifen versiegelt, und der Kühlschrank enthielt lediglich die Bedienungsanleitung, eine Ersatzglühbirne und Einlegeböden. In dem Schrank unter der Spüle befand sich ein Mülleimer. Wenn man die Tür öffnete, klappte der Deckel automatisch auf. Drinnen lagen zwei zerdrückte Bierdosen und ein rot verschmiertes Einpackpapier, das dem Geruch nach Kebab enthalten haben musste. Das einzige Schlafzimmer der Wohnung war völlig kahl, auch der Einbauschrank enthielt nichts, nicht einmal Kleiderbügel. Aber Bain schleifte gerade etwas aus dem winzigen Bad. Es war ein blauer Rucksack, ein Karrimor.

»Sieht so aus, als wäre er nach Haus gekommen, hätte sich rasch gewaschen und umgezogen und wäre dann sofort wieder abgehauen.«

Sie fingen an, den Rucksack auszuleeren. Abgesehen von Kleidungsstücken fanden sie einen Walkman und ein paar Kassetten – Soundgarden, Crash Test Dummies, Dancing Pigs – und eine Kopie von Ian Banks Whit.

»Die hatte ich mir auch kaufen wollen«, sagte Rebus.

»Bedienen Sie sich. Wer sieht’s schon?«

Rebus sah Bain an. Dessen Blick wirkte unschuldig, aber er schüttelte trotzdem den Kopf. Er konnte es sich nicht leisten, wem auch immer weitere Munition zu liefern. Er zog aus einer der Seitentaschen eine Einkaufstüte heraus: neue Kassetten – Neil Young, Pearl Jam, noch mal die Dancing Pigs. Der Kassenbon war von HMV in Aberdeen.

»Ich würde mal tippen«, sagte Rebus, »er arbeitete in Aberdeen.«

Aus der anderen Seitentasche zog Bain eine Broschüre. Er faltete sie auseinander, öffnete sie und ließ Rebus mit hineinsehen. Außen war ein Farbfoto von einer Ölbohrinsel, darüber die Überschrift: »T-BIRD OIL STEUERT GOLDENEN MITTELWEG AN« und der Untertitel: »Stilllegung von Offshore-Einrichtungen – ein bescheidener Vorschlag«. Innen waren außer ein paar Absätzen Text farbige Tabellen, Diagramme und Statistiken zu sehen. Rebus las den ersten Satz: »Am Anfang waren mikroskopische Organismen, die vor vielen Millionen Jahren in den Flüssen und Meeren lebten und starben.« Er sah zu Bain auf. »Und sie gaben ihr Leben hin, auf dass wir, Millionen von Jahren später, in Autos herumbrettern könnten.«

»Ich werd das Gefühl nicht los, dass Mr. Fleischspießchen möglicherweise für eine Erdölfirma arbeitete.«

»Er hieß Allan Mitchison«, sagte Rebus ruhig.

Als Rebus endlich nach Haus kam, wurde es schon langsam hell. Er schaltete die Hi-Fi-Anlage ein, ganz leise, spülte dann in der Küche ein Glas aus und goss sich zwei Finger breit Laphroaig ein und ließ dazu ein paar Tropfen Wasser aus dem Hahn rinnen. Manche Malts verlangten Wasser. Er setzte sich an den Küchentisch und warf einen Blick auf die Zeitungen, die darauf ausgebreitet lagen: Ausschnitte über den Johnny-Bible-Fall, Fotokopien vom alten Bible-John-Material. Er hatte einen ganzen Tag in der National Library zugebracht und am Mikrofilmleser einen Schnelldurchlauf der Jahre 1968–1970 gemacht. Aus den verschwommenen Bildern waren ihm einzelne Meldungen ins Auge gestochen. Der Flottenstützpunkt Rosyth sollte seinen Royal Navy Commander verlieren; in Invergordon wurde ein petrochemischer Komplex geplant, geschätzte Kosten fünfzig Millionen Pfund; im ABC lief Camelot.

Eine Anzeige warb für eine Broschüre – »Wie Schottland regiert werden sollte« –, und mehrere Leserbriefe äußerten sich zum Thema Selbstverwaltung. Ein Unternehmen suchte einen Verkaufs- und Marketingmanager, Jahresgehalt zweitausendfünfhundert Pfund. Ein neues Haus in Strathalmond kostete siebentausendneunhundertfünfundneunzig Pfund. Froschmänner suchten in Glasgow nach Spuren, während Jim Clark den Großen Preis von Australien gewann. Derweil wurden in London Mitglieder der Steve Miller Band wegen Drogenbesitzes festgenommen, und in Edinburgh waren die Parkmöglichkeiten allmählich restlos erschöpft…

1968.

Rebus besaß Originalausgaben der entsprechenden Zeitungen  – bei einem Händler für erheblich mehr als die ursprünglichen Sixpence pro Stück erstanden. Die Berichte gingen weiter bis August 69. Am Wochenende, als Bible John sich sein zweites Opfer holte, erreichte in Ulster die Kacke den Siedepunkt und ließen sich in Woodstock dreihunderttausend zugedröhnte Popfans volldröhnen. Ein netter Kontrast. Das zweite Opfer wurde von der Schwester in einer verlassenen Wohnung aufgefunden… Rebus versuchte, nicht an Allan Mitchison zu denken, und konzentrierte sich ausschließlich auf die alten Meldungen, lächelte über eine Schlagzeile vom 20. August: »Downing Street Declaration«. Fischerstreiks in Aberdeen… eine amerikanische Filmgesellschaft suchte sechzehn Dudelsäcke… Robert »Medienmogul« Maxwells Pergamon Press stellte vorübergehend die Zahlungen ein. Eine weitere Schlagzeile: »Gewaltverbrechen gehen in Glasgow drastisch zurück.« Erzählt das mal den Opfern. Und schon im November wurde berichtet, dass in Schottland doppelt so viel Morde verübt wurden wie in England und Wales zusammengenommen – rekordverdächtige zweiundfünfzig Anklagen im laufenden Jahr. Die Todesstrafe wurde heftig diskutiert. In Edinburgh fanden Antikriegsdemos statt, während Bob Hope die in Vietnam stationierten Truppen zum Lachen brachte. Die Stones gaben in Los Angeles zwei Konzerte – mit einundsiebzigtausend Pfund der bis dahin lukrativste Gig in der Geschichte der Popmusik.

Es war bereits der 22. November, als die Zeitungen eine Phantomzeichnung von Bible John veröffentlichten. Mittlerweile war er Bible John; den Namen hatten sich die Medien ausgedacht. Seit dem dritten Mord waren schon drei Wochen vergangen: Die Spur war so kalt wie ein toter Fisch. Auch schon nach dem zweiten Opfer hatte es eine Phantomzeichnung gegeben, aber mit fast einmonatiger Verspätung. Große, große Verspätungen. Rebus fragte sich nach dem Grund…

Er konnte sich selbst nicht recht erklären, warum Bible John ihm so zu schaffen machte. Vielleicht benutzte er einen alten Fall, um einen anderen zu verdrängen – den Spaven-Fall. Aber er hatte das Gefühl, dass doch mehr dahinter steckte. Bible John hatte für Schottland das Ende der Sechzigerjahre bedeutet; er hatte das Ende eines Jahrzehnts und den Anfang eines anderen vergiftet. Für viele Menschen hatte er das dürftige bisschen Frieden und Liebe, das so weit nach Norden gelangt sein mochte, so gut wie getötet. Rebus wollte nicht, dass das zwanzigste Jahrhundert auf die gleiche Weise endete. Er wollte, dass Johnny Bible geschnappt wurde. Aber irgendwo auf halber Strecke hatte sein Interesse an dem aktuellen Fall eine unerwartete Wendung genommen. Er hatte angefangen, sich auf Bible John zu konzentrieren, und das ging so weit, dass er alte Theorien wieder hervorkramte und wiederkäute und ein kleines Vermögen für bald dreißig Jahre alte Zeitungen ausgab. In den Jahren 68 und 69 war Rebus beim Militär gewesen. Man hatte ihm beigebracht, wie man Menschen kampfunfähig macht und tötet, und ihn dann auf Tournee geschickt – zuletzt nach Nordirland. Er hatte das Gefühl, einen wichtigen Teil jener Zeit verpasst zu haben.

Aber zumindest war er noch am Leben.

Er zog mit Glas und Flasche ins Wohnzimmer um und ließ sich in einen Sessel fallen. Er wusste nicht, wie viele Leichen er schon gesehen hatte; er wusste nur, dass es mit der Zeit nicht leichter wurde. Irgendjemand hatte ihm was von Bains erster Leichenschau erzählt, oben in Dundee: Der Pathologe war Naismith gewesen, an seinen besten Tagen ein grausamer Dreckskerl. Er hatte wahrscheinlich gewusst, dass es Bains Premiere war, und sich an der Leiche so richtig ausgetobt, wie ein Schrotthändler, der ein Auto ausschlachtet; hatte Organe herausgeholt, den Schädel aufgesägt, ein schleimig glitzerndes Gehirn in beiden Händen gehalten – heutzutage ging man mit dem Zeug nicht mehr ganz so sorglos um: Angst vor Hepatitis C. Als Naismith angefangen hatte, die Genitalien zu pellen, war Bain umgekippt. Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Er war dageblieben, hatte weder gekniffen noch gekotzt. Vielleicht konnten Rebus und Bains ja doch zusammenarbeiten, wenn sie sich erst einmal die Kanten aneinander abgestoßen hatten. Vielleicht.

Er sah durch das Erkerfenster hinunter auf die Straße. Sein Auto stand noch immer im absoluten Halteverbot. In einer der Wohnungen gegenüber brannte Licht. Irgendwo brannte immer Licht. Er nippte an seinem Drink, ohne sich zu beeilen, und hörte den Stones zu: Black and Blue. Schwarze Einflüsse, Blues-Einflüsse, kein großes Stones-Album, aber vielleicht ihr entspanntestes.

Allan Mitchison lag in einem Kühlschrank in Cowgate. Er war an einem Stuhl festgezurrt gestorben. Rebus wusste nicht, warum. Pet Shop Boys: »It’s a Sin«. Überleitung zu den Glimmer Twins: »Fool to Cry«. Mitchisons Apartment hatte sich in mancher Hinsicht gar nicht so sehr von Rebus’ Wohnung unterschieden: wenig benutzt, eher ein Stützpunkt als ein Zuhause. Er kippte seinen Drink hinunter, goss sich einen neuen ein, kippte auch den hinunter und zog die Steppdecke vom Boden hoch, bis unters Kinn.

Wieder ein Tag rum.

Er wachte ein paar Stunden später auf, blinzelte, stand auf und ging ins Bad. Duschen und rasieren, frische Sachen anziehen. Er hatte von Johnny Bible geträumt und dabei alles mit Bible John durcheinander gemischt. Am Tatort Bullen in knackengen Anzügen, schmalen schwarzen Schlipsen, weißen Nylonhemden, Deckeln wie Gene Hackman in French Connection. 1968, Bible Johns erstes Opfer. Für Rebus bedeutete das Van Morrison, Astral Weeks. 1969, Opfer zwei und drei; die Stones, Let It Bleed. Die Jagd setzte sich bis 1970 fort. John Rebus wäre gern zum Festival auf die Isle of Wight gefahren, schaffte es aber dann doch nicht. Aber natürlich war Bible John mittlerweile verschwunden gewesen … Er hoffte, Johnny Bible würde sich einfach verpissen und krepieren.

In der Küche gab es nichts zu essen, nichts als Zeitungen. Der nächste Tante-Emma-Laden hatte dichtgemacht; zum nächsten richtigen Lebensmittelgeschäft war es auch nicht viel weiter zu laufen. Nein, er würde irgendwo unterwegs halten. Er sah aus dem Fenster, und da parkte ein hellblauer Kombi in zweiter Reihe und blockierte gleich drei Autos. Im Fond alles mögliche Gerät, auf dem Bürgersteig zwei Männer und eine Frau, die Kaffee aus Pappbechern schlürften.

»Scheiße«, sagte Rebus, während er sich den Schlips band.

Rein ins Jackett, raus auf die Straße und in die Fragestunde. Der eine der Männer wuchtete sich gerade eine Fernsehkamera auf die Schulter. Der andere Mann redete los.

»Inspector, hätten Sie einen Augenblick Zeit? Redgauntlet Television, The Justice Programme.« Rebus kannte den Typ: Eamonn Breen. Die Frau war Kayleigh Burgess, die Produktionsleiterin der Sendung. Breen war Autor und Moderator, selbstverliebt, OBS: Oberarsch, wie er im Buche steht.

»Der Spaven-Fall, Inspector. Nur ein paar Minuten, um mehr bitten wir Sie gar nicht, nur um unsere Zuschauer ins Bild zu setz –«

»Da bin ich schon.« Rebus sah, dass die Kamera noch nicht aufnahmebereit war. Er drehte sich rasch um, dass er fast Nase an Nase mit dem Reporter stand. Er dachte an Macken-Minto, und wie er »Schikane« geflüstert hatte, ohne überhaupt zu wissen, was das war – jedenfalls nicht so, wie es Rebus wusste.

»Sie werden denken, Sie liegen im Kreißsaal«, sagte er.

»Bitte?«

»Wenn die Chirurgen Ihnen diese Kamera wieder aus dem Arsch rausholen.« Rebus riss einen Strafzettel von seiner Windschutzscheibe, schloss den Wagen auf und stieg ein. Die Fernsehkamera war endlich soweit, aber alles, was sie aufs Band bekam, war ein ramponierter Saab 900, der sich im Rückwärtsgang mit Vollgas entfernte.

Rebus hatte an dem Morgen eine Besprechung mit seinem Chef, Chief Inspector Jim MacAskill. Das Büro des Chefs sah genauso chaotisch aus wie die ganze Wache: Umzugskartons, die noch darauf warteten, voll gepackt und beschriftet zu werden, halb leere Regale, uralte grüne Aktenschränke, in deren aufgezogenen Schubfächern Raummeter von Schriftstücken lagerten, die man in einem Anschein von Ordnung würde wegschaffen müssen.

»Das schwierigste Puzzle der Welt«, sagte MacAskill. »Dass alles seinen Bestimmungsort unversehrt erreicht, ist ebenso

Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Black & Blue« bei Orion Books Ltd., London

3. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2005

Copyright © 1997 by Ian Rankin Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Wolf Huber Redaktion: Irmgard Perkounigg Satz: Uhl + Massopust, Aalen KvD · Herstellung: Sebastian Strohmaier

eISBN 978-3-641-10233-3

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