Das Soziale des Affekts - Christian Helge Peters - E-Book

Das Soziale des Affekts E-Book

Christian Helge Peters

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Beschreibung

Der Affektbegriff hat in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Popularität erlangt. Christian Helge Peters erweitert die Affect Studies maßgeblich um eine sozialtheoretische Perspektive, indem er sich im Anschluss an Arbeiten von Gilles Deleuze und Brian Massumi dem Sozialen des Affekts zuwendet. Ausgehend vom Modulationsbegriff und einer Neukonzeption der deleuzeschen Prozessontologie wird das Soziale als Affektmodulation verstanden. Dadurch können längst überholte Dualismen von Affekt und Emotion, Affekt und Diskurs, Affekt und Repräsentation überwunden werden. Es entsteht eine gänzlich neue Sicht auf das Soziale des Affekts als produktive und positive Kraft.

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Christian Helge Peters

Das Soziale des Affekts

Eine Sozialtheorie der Modulationen nach Deleuze und Massumi

Campus Verlag Frankfurt / New York

Über das Buch

Der Affektbegriff hat in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Popularität erlangt. Christian Helge Peters erweitert die affect studies maßgeblich um eine sozialtheoretische Perspektive, indem er sich im Anschluss an Arbeiten von Gilles Deleuze und Brian Massumi dem Sozialen des Affekts zuwendet. Ausgehend vom Modulationsbegriff und einer Neukonzeption der deleuzeschen Prozessontologie wird das Soziale als Affektmodulation verstanden. Dadurch können längst überholte Dualismen von Affekt und Emotion, Affekt und Diskurs, Affekt und Repräsentation überwunden werden. Es entsteht eine gänzlich neue Sicht auf das Soziale des Affekts als produktive und positive Kraft.

Vita

Christian Helge Peters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Projekt »Gute Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt« und Koordinator für das Teilinstitut Halle im »Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt«. Er promovierte an der Universität Hamburg über Affektmodulation und arbeitet gegenwärtig besonders zum Verhältnis von Arbeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt.

Inhalt

Einleitung

Das Problem des Sozialen in der Affekttheorie

Deleuze und die Affect Studies

Modulationen als Ausgang

Lektürestrategie einer deleuzianischen Sozialtheorie

Argumentationsgang des Buches

Teil I: (ONTOLOGISCHE) GRUNDLAGEN DER AFFEKTTHEORIE – GILLES DELEUZE

1. Die Virtualität und Aktualität des Affekts

1.1Eine Ontologie der Differenz

1.1.1Der ontologische Status von Differenz und Wiederholung

1.1.2Einheit und Vielheit des Seins

1.1.3Die Immanenz von Differenz und Wiederholung

1.1.4Zwischenfazit: Der Ontologiebegriff von Deleuze

1.2Modulationen zwischen Virtualität und Aktualität

1.2.1Virtualität und Aktualität

1.2.2Deleuze weiter folgen, nicht Žižek oder Hallward

1.2.3Figuren der Modulation

Figur I: Die ewige Wiederkunft und Differentiation/zierung

Figur II: Das Kristallbild

Figur III: Das Haus mit den zwei Stockwerken

1.2.4Virtualität → Aktualität: Aktualisierung

1.2.5Aktualität → Virtualität: Virtualisierung

1.2.6Zwischenfazit: Virtualität und Aktualität

1.2.7Die Bedeutung der Ontologie für die Affekttheorie

1.3Körper und Assemblage

1.3.1Virtuelle und aktuelle Dimension

1.3.2Medium der Modulation

1.3.3Vermögen und Kräfte

1.4Affekte bei Deleuze

1.4.1Spinoza statt Psychoanalyse

1.4.2Affekt als Kraft

1.4.3Der Affektbegriff

Prozess und Produktion

Kein Gefühl

A-Signifikant

Ereignishaftigkeit

Deterritorialisierungen

Schaffung eines organlosen Körpers oder Immanenzplans

1.4.4Die Vielfalt intensiver Verbindungen und die Besonderheit des Affekts

1.4.5Zwischenfazit: Die Vermögen des Affekts

1.5Theoretisierungsversuche des Sozialen

1.5.1Die Notwendigkeit der Modulation

1.5.2Macht

1.5.3Modulation als Kontrolle

1.5.4Gesellschaft als Anti-Produktion

1.5.5Gesellschaft zwischen Kontrolle und Werden

2. Sozialtheoretische Problemstellungen einer deleuzschen Affekttheorie

2.1Ontologie und das Soziale

2.2Die Modulation von Virtualität und Aktualität: Aktualisierungen und Virtualisierungen

2.3Bestimmung des Aktuellen: Spezifika von Körpern, Relationen und Assemblagen

2.4Zwischenfazit: Einsatzpunkte einer Theoretisierung des Sozialen

Teil II: ELEMENTE EINER SOZIALTHEORIE DER AFFEKTE

3. Die Autonomie der Affekte und ihre A-Sozialität – Brian Massumi

3.1Zur Ontologie: Modulationen von Virtualität und Aktualität

3.2Die Unterscheidung Affekte – Emotionen

3.2.1Die Vermögen der Affekte

3.2.2Affekt – Gefühl – Emotion

3.3Theoretisierungen der Modulationen von Affekten durch exemplarische Fälle des Sozialen

3.3.1Hertha Sturm und ein Schneemann schmilzt

3.3.2Roland Reagans Sprache

3.3.3Ein Fußballspiel

3.3.4Die Terror-Farbskala

3.3.5Der zeitgenössische Kapitalismus

3.4Die A-Sozialität der Affekte

3.4.1Das Soziale als Relation

3.4.2Das Soziale als Ereignis …

3.4.3… und als Prozess der Quasi-Kausalität

3.4.4Folgerungen: Das Soziale im Werden

3.5Die Aktualitäten der Affekte: Das Soziale als Affektmodulation

3.5.1Die Singularität der Körper

3.5.1.1Topologie des Körpers

3.5.1.2Körper als Mediatoren

3.5.2Affizierungen als Intraaktionen

3.5.2.1Intraaktion statt Interaktion

3.5.2.2Emotionen als Techniken der Affektmodulation

3.5.3Rhythmen als Prozesse der Ordnungsbildung von Assemblagen

3.5.3.1Milieu, Atmosphäre oder Feld

3.5.3.2Rhythmen als Affektmodulationen

3.5.3.3Metastabile Muster

3.5.3.4Rhythmen der Emotionen

3.5.3.5Potentiale des Rhythmusbegriffs

3.6Zwischenfazit: Leerstellen und Potentiale des Modulationsbegriffs

4. Das Diskursnetz der Modulation: Von Emotionen und Affekten

4.1Emotionen als Affektmodulationen

4.2Produktivität und Positivität

4.3Virtualisierungen der Aktualität und Virtualität

4.4Synchronisation durch Muster

4.5Subjektivierung und Kollektivierung

4.6Rhythmen im Werden

4.7Transformationen

4.8Medialität

4.9Signifikation

4.10Zwischenfazit: Anschlusspunkte des Modulationsbegriffs

1.Emotionen als Affektmodulationen

2.Territorialisierung und Deterritorialisierung

3.Potentialisierung und Depotentialisierung

4.Signifikation

5.Rhythmen

Teil III: EINE DELEUZIANISCHE EMOTIONSTHEORIE

5. Die Emotionen der Affekttheorie: Emotionen als Affektmodulationen

5.1Das Primat der Emotion

5.2Virtualisierungen der Aktualität

5.3Virtualisierungen der Virtualität

5.4Zwischenfazit: Die Vermögen von Emotionen I

6. Affekt-Emotions-Modulationen

6.1Versuch einer Sozialtheorie des Affekts mittels eines Emotionsbegriffs

6.1.1Erste Möglichkeit: Integration des Affektbegriffs in die Emotionstheorie (verworfen)

6.1.2Zweite Möglichkeit: Integration des Emotionsbegriffs in die Affekttheorie (verfolgt)

6.2Rhythmen und Affektmodulationen in den Performance Studies

6.2.1Anschluss an Lefebvre

6.2.2Synchronisierungen

6.3Die Medialität von Affektmodulationen

6.3.1Übertragungen und das Problem des Vitalismus

6.3.2Informationsübertragungen

6.3.3Kann eine Emotion ein Medium sein?

6.4Emotionen als Medien

6.4.1Information oder/und Bedeutung

6.4.2Übersetzungen und Transformationen

6.4.3Die Grenzen der Mediation: Affekte als Noise

6.4.4Das Andere des Affekts: Dis-Affekt

6.5Dimensionen der Modulation

6.5.1Aktualisierung und Virtualisierung

6.5.2(De-)Potentialisierung der Intensität

6.5.3De- und Reterritorialisierung der Grenzen

6.5.4Signifikationen

6.6Zwischenfazit: Die Vermögen von Emotionen II

Konklusion: Das Soziale vom Ontologischen Denken

Das Problem des Sozialen und der Einsatz der Sozialtheorie

Die Konturen des Sozialen

Das Soziale als (Affekt-)Modulation

Relationalität und Assemblagen

Ereignis und Quasi-Kausalität

Topologie der Kräfte: Primat und Materialismus des Affekts

Medialität affektiver Relationen

Emotionen als Medien der Affektmodulation

Synchronisierungen durch Rhythmen

Die Grenzen der Modulation und die Grenze des Affekts: Noise und Dis-Affekt

Metastabilität und Losigkeit des Sozialen

Die Vielfalt von Affekt-Emotions-Modulationen

Eine ontologische Perspektive auf Affekte

Ausblick: Eine deleuzianische Sozialwissenschaft

Literatur

Einleitung

Das Problem des Sozialen in der Affekttheorie

In den gegenwärtigen Diskussionen der Affekttheorien im Anschluss an Gilles Deleuze erhält ein vermeintlich überkommenes Bild des Sozialen eine neue Aktualität. Hier lässt sich die Wiederkehr eines vor allem repressiven Verständnisses des Sozialen beobachten. Das Soziale wird zu einem umfassenden Unterdrückungsmechanismus. Die Diskussionen weisen eine Analogie zu dem negativen und einschränkenden Verständnis des Machtbegriffs auf, welches vor der Intervention Michael Foucaults überwog. Auch in den deleuzeschen Affekttheorien bedarf es eines ähnlichen Wandels im Verständnis des Sozialen. Das vorliegende Buch möchte ihn einleiten.

Das Soziale in den Affekttheorien von Gilles Deleuze und Brian Massumi und insbesondere in den Arbeiten, die an sie anschließen, ist wenig ausgearbeitet, und wenn es charakterisiert wird, dann als vor allem negativ und reaktiv: Das Soziale schränkt ein, unterdrückt, passt an, ordnet ein, trennt Kräfte und Körper voneinander und macht sie nutzbar für dieses Soziale – das Soziale ist mangelhaft und konservierend. Es ist das Gegenbild zum Affekt: Affekte sind – folgt man Deleuze und Massumi – positive und produktive körperliche Kräfte, sie sind schöpferisch, verbindend und eröffnen neue, freiheitliche Formen von Sozialität. Sie entziehen sich der Kontrolle des Sozialen und öffnen und verändern soziale Formen aller Art.

Paradigmatisch zeigt sich das Problem des Sozialen am deleuzschen Affektbegriff (Deleuze 1988) und Massumis (2002) Idee einer »Autonomie« der Affekte: Affekte sind bei Massumi eigenständige, unmediatisierte, unmittelbare und nicht bewusste körperliche Kräfte im Sozialen, die von Subjekten oder Kollektiven nicht kontrolliert werden können, weil Affekte deren Praktiken und (symbolischen) Ordnungen umgehen. Affekte sind kreative Schöpfungsprozesse und Differenzierungen. Subjekte und Kollektive werden von Affekten direkt in ihrer Körperlichkeit unterworfen. Die Beziehung zwischen Affekten und Sozialem folgt einem linearen und deterministischen Stimulus-Response-Modell, in dem das Soziale, Subjekte und Kollektive nur abgeleitet sind, ohne eigenes Vermögen, Affekte zu beeinflussen. Wenn Affekte eine solche Kraft sind, die sich dem Sozialen entziehen und dennoch körperliche Effekte im Sozialen haben, werden sie tendenziell zu einem natürlichen und biologischen und nicht zu einem sozialen Phänomen.

Gerade in affirmativen Anschlüssen an Deleuze wird das negative Bild des Sozialen deutlich. Besonders bei Michael Hardt und Antonio Negri (2002; 2004) wird die Gegenüberstellung zwischen einem repressiven Sozialen (dem Empire) und einer schöpferischen Kraft wie der Multitude offensichtlich. Die Multitude ist eine Art Vielheit unterschiedlicher Subjekte, die sich durch Differenzen und Affekte konstituiert und nicht auf der Grundlage von gemeinsamen Identitäten oder geteilten ökonomischen Bedingungen. Bei Hardt und Negri nimmt die Multitude die Rolle eines revolutionären Subjekts ein. Das Empire ist nicht produktiv und kann nichts hervorbringen. Nur die Multitude kann etwas erschaffen und gestaltet die sozialen Verhältnisse. Das Empire ist insofern ursprünglich von der Multitude hervorgebracht und unterdrückt sie nun. Dieses Verständnis des Sozialen findet sich auch bei Elizabeth Grosz (expl. 2005b; 2010). Sie versucht den Feminismus auf ontologische Grundlagen zu stellen, indem sie an Bergson und Deleuze anschließt. Sie verortet die Kräfte der Gleichheit und Freiheit im Leben als ontologischer und materieller Grundkraft. Das Leben selbst ist eine schöpferische Kraft der Differenzierung und Offenheit, die immer wieder neue Potentiale in Körpern oder Begehren entfalten. Die sozialen Bedingungen schränken diese Kräfte vor allem ein und unterdrücken sie. Das Ziel des Feminismus muss es dementsprechend sein, diese Kräfte bestmöglich zu steigern.

Ruth Leys (2011) und Margret Wetherell (2012; 2015) kritisieren die von Deleuze inspirierten Affekttheorien gerade dafür, das Soziale des Affekts nicht oder nur unzureichend mitzudenken. Dies zeige sich insbesondere in einem Affektbegriff, der als nicht-sozial gedacht wird und aus der daraus resultierenden Gegenüberstellung von Affekt und dem Sozialen. Sie kritisieren seine Theorie als reduktionistisch und simplifizierend. Deleuzes und Massumis Affekttheorien erscheinen aus ihrer Sicht deshalb unvereinbar mit einer Sozialtheorie, weil sie sich auf Metaphysik und eine philosophische Prozessontologie stützen. Beide entsprechen auf dem ersten Blick dem immer noch verbreiteten Argument einer Unvereinbarkeit von vitalistischer Prozessontologie und Sozialtheorie.1

In der Prozessontologie von Deleuze und Massumi und insbesondere in den Arbeiten, die an sie anschließen, zeigt sich das Problem des Sozialen, obwohl es ihr Ziel ist, gerade Dualismen zu überwinden, in einem neuen Dualismus zwischen Ontologie und der ontologischen Kraft des Affekts sowie dem Sozialen. Dieser Dualismus schreibt sich bei ihnen weiter fort in den Dualismen zwischen Virtualität und Aktualität, Produktivität und Reaktivität, Ursache und Effekt, Aktivität und Passivität, Offenheit und Kontrolle, Werden und Organisierung, Quantität und Qualität, Intensität und Signifikation. Der zentrale Grund liegt darin, dass die Kräfte des Sozialen zugunsten ontologischer Kräfte und ihres Ausdrucks im Sozialen aus dem Blick geraten. Wenn das Soziale als Effekt von ontologischen Kräften gedacht wird, sind nur die ontologischen Kräfte produktiv, ursächlich und aktiv, weil sie das Soziale konstituieren. Das Soziale ist demgegenüber reaktiv, ein Effekt und passiv. Aufgrund des spezifischen Affektverständnisses bei Deleuze und Massumi, die Affekte mit ontologischen Kräften, dem Werden und kreativen Differenzierungen verbinden, bestehen die Effekte von Affekten in der Offenheit des Sozialen. Da das Soziale auf diese ontologischen Kräfte reagiert und selbst keine ontologische Kraft ist, beschränken, organisieren und kontrollieren soziale Kräfte das durch Affekte ausgelöste Werden.

An dieser Stelle erscheint eine Leerstelle des Sozialen in Affekttheorien, die auf Prozessontologien wie denen von Deleuze und Massumi aufbauen. Prozessontologien denken die Realität von Ereignissen und Prozessen und nicht von Identitäten oder stabilen Entitäten aus.2 Es bleibt bei Deleuze und Massumi offen, wie sie das Soziale des Affekts denken, wenn das Soziale nicht primär negativ und der Affekt positiv und nicht-sozial verstanden werden sollen. Aus einer allgemeinen sozialtheoretischen Perspektive – einer Perspektive auf die allgemeinen Grundkräfte und Dynamiken des Sozialen – betrachtet, vernachlässigt ihre Konzeption von Ontologie und Affekt die Eigenständigkeit des Sozialen. Das Soziale wird auf die Effekte der ontologischen Kräfte reduziert, hat selbst aber nur einen nachträglichen Einfluss auf das Affektgeschehen. Dieser Effekt besteht darin, ontologische Kräfte einzuschränken oder zu unterdrücken.

Eine Unvereinbarkeit zwischen Affekttheorie und Sozialtheorie, wie sie Leys und Wetherell hervorheben, besteht aus Sicht der vorliegenden Untersuchung deshalb aber noch nicht beziehungsweise nur teilweise, und auch ein negatives Bild des Sozialen mit den Dualismen ist nach Deleuze und Massumi nicht zwingend – die Affekttheorie von Deleuze und Massumi bietet mehr Potential für die Sozialtheorie, welches aber erst noch erschlossen werden muss. In dem vorliegenden Buch wird deshalb herausgearbeitet, wie das Soziale im Anschluss an Deleuze und Massumi als positiv und produktiv verstanden werden kann und nicht nur der Affekt. Das Soziale ist nicht ausschließlich mangelhaft, unterwerfend, einschränkend und stabilisierend, sondern selbst auch aktiv, ermöglichend, schaffend, steigernd und öffnend. Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, im Anschluss an Deleuze und Massumi und in kritischer Weiterführung ihrer Gedanken ein anderes Bild des Sozialen auszuarbeiten, ein Bild, das sozialtheoretisch produktiver ist, weil es den Blick auf die Komplexität des Sozialen freigibt und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen der Gesellschaft angemessener erfasst.

Das vorliegende Buch ist theorieimmanent ausgerichtet und verbleibt im Kontext der neueren Affekttheorien, um aufzuzeigen, warum der Anschluss an die Ontologie und Affekttheorie von Deleuze und Massumi aus sozialtheoretischer Sicht produktiv ist. Aus der vorangegangen Problembestimmung ergeben sich folgende Zielstellungen: Das primäre Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht darin, die Sozialität des Affekts im Anschluss an Deleuze und Massumi zu bestimmen. Dazu müssen folgende Fragen beantwortet werden: Wie wird das Soziale bestimmt? Was sind die Kräfte und Wirkungsweisen des Sozialen? Was ist die spezifische Sozialität des Affekts? Auf diese Weise kann ein positives Bild des Sozialen entwickelt und die angesprochenen Dichotomien überwunden werden.

Zur Beantwortung vorstehehender Fragen ist es notwendig, den deleuzeschen Affektbegriff systematisch zu erarbeiten und ihm eine klare Kontur zu geben, die er durch die Omnipräsenz des Affektbegriffs in aktuellen sozialwissenschaftlichen und sozialtheoretischen Debatten oftmals verloren hat (siehe Hemmings 2005). Dabei ist es insbesondere produktiv, den ontologischen Grundlagen und dem Verhältnis von Affekt und Emotion im Werk von Deleuze und seiner Anschlüsse nachzugehen.

Auf diese Weise ergibt sich ein anderes, produktives Bild des Sozialen, welches das sozialtheoretische Potential der deleuzschen Affekttheorie aufzeigt. So eröffnet das vorliegende Buch Anschlusspunkte an die Sozialwissenschaften für kommende Studien, die mit dem Affektbegriff empirische Fallanalysen durchführen oder spezifische Gegenwartsdiagnosen entwickeln wollen.

Deleuze und die Affect Studies

Die Arbeiten von Deleuze und Massumi zum Affekt können in den Affect Studies verortet werden. Die neueren Affekttheorien teilen ein gemeinsames Grundverständnis eines relationalen und von Kräften bestimmten Sozialen, das Melissa Gregg und Gregory Seigworth in ihrer Einleitung zum »Affect Theory Reader« umreißen:

»Affect arises in the midst of in-between-ness: in the capacities to act and be acted upon. Affect is an impingement or extrusion of a momentary or sometimes more sustained state of relation as well as the passage (and the duration of passage) of forces or intensities. That is, affect is found in those intensities that pass body to body (human, nonhuman, part-body, and otherwise), in those resonances that circulate about, between, and sometimes stick to bodies and worlds, and in the very passage or variations between these intensities and resonances themselves. Affect, at its anthropomorphic, is the name we give to those forces – visceral forces beneath, alongside, or generally other than conscious knowing, vital forces insisting beyond emotion – that can serve to drive us toward movement, toward thought and extension, that can likewise suspend us (as if in neutral) across a barely registering accretion of force-relations, or that can even leave us overwhelmed by the world’s apparent intractability. Indeed, affect is persistent proof of a body’s never less than ongoing immersion in and among the world’s obstinacies and rhythms, its refusals as much as its invitations.« (Gregg/Seigworth 2010a: 1)

Affekte sind, grundsätzlich gesprochen, eine eigenständige Kraft, die zwischen, in und durch Körper wirksam sind und die die Vermögen3 der Körper sowie die Dynamiken ihrer Relationen und der involvierten Körper verändern und auf diese Weise neue Potentiale in ihnen und ihren Verbindungen entfalten. Affekttheorien geht es um die spezifische Relationalität von Affekten und damit um die Qualität von Relationen im Sozialen – Affekte sind eine Form der Konnektivität: die »operative dimension of relationality« (Tellmann/Opitz/Stäheli 2012: 210). Es geht weniger darum, was Affekte als abgeschlossene Entitäten sind – darum geht es hier zwar auch –, vor allem aber geht es darum, die Funktionsweise von Affekten und ihre Modulationen im Sozialen zu bestimmen. Affekte sind sowohl eine Kraft der Kollektivierung, die Körper zusammenbringt, als auch eine Kraft der Unterbrechung und Auflösung von Relationen – »[b]indings and unbinding, becomings and un-becomings, jarring disorientations and rhythmic attunements« (Gregg/Seigworth 2010a: 2) –, wodurch affektive Relationen permanenten Veränderungen unterworfen sind (vgl. ebd.: 2 ff.).4

Aus Sicht der Sozialtheorie ist eine Auseinandersetzung mit Affekten vielversprechend, weil Affekte und Affizierungen dem Sozialen eine weitere Dimension von Kräften hinzufügen. Auf diese Weise kann eine größere Vielfalt von Kräften im Sozialen berücksichtigt und Probleme bearbeitet werden, die tendenziell ausgeblendet wurden und werden. Das Interesse am Affekt entstand in den Sozialwissenschaften zusammen mit dem Interesse an der Materialität von Körpern und ihren vitalen Prozessen. Zeitgenössische Affekttheorien bilden sich in Abgrenzung zu Positionen aus der Philosophie, den Kultur- und Sozialwissenschaften, welche Materialität, Körperlichkeit und Gefühlsprozesse lange Zeit systematisch ausgeblendet haben. Diese Positionen verweisen auf menschliche Autonomie, Rationalität, Intentionalität sowie Kommunikations- und Verständigungsprozesse zum Verständnis des Sozialen. Sie vernachlässigen Körper entweder, weil diese einem subjektiven Geist unterworfen sind oder reduzieren sie auf Effekte von symbolischen und signifikanten Prozessen und Konstruktionen (vgl. hierzu Clough 2008: 1 ff.). Materialität ins Zentrum von Sozialtheorien zu stellen, verweist auf die Verwandtschaft von Affekttheorien mit der Körpersoziologie (expl. Gugutzer/Klein/Meuser 2017a, b), New Materialisms (expl. Coole/Frost 2010; Dolphijn/Tuin 2012; Löw u.a. 2017) sowie Akteur-Netzwerk-Theorien (expl. Belliger/Krieger 2006). Zudem ist den philosophischen Positionen mit einem Fokus auf menschliche Handlungsfähigkeit gemeinsam, dass sie zu individualistisch und subjektzentriert sind, wohingegen Affekttheorien, Akteur-Netzwerk-Theorien und viele New Materialisms relationale Ansätze sind, weil sie Verbindungen zwischen Körpern und Assemblagen als Grundlage des Sozialen ansehen (vgl. expl. Döring 2009; Solomon 2009).

In den sozialtheoretisch ausgerichteten Affect Studies wird Deleuze aber aufgrund der Probleme, die aus der unterbestimmten Sozialität des Affekts entspringen, wenig rezipiert. Ausnahmen bilden der Sammelband »Deleuze and the social« von Martin Flugsang und Bent Meier Sørensen (2006), Arbeiten von Steven Brown et al. (2019), die Versuche von Heike Delitz (2008) sowie Robert Seyfert (2008; 2011a; 2014) und der von ihnen mit Frithjof Nungesser herausgebrachte Sammelband zu »Soziologien des Lebens« (Delitz/Nungesser/Seyfert 2018). Sozialtheoretisch anschlussfähiger wird Deleuzes Affektbegriff über Massumi, wie die Arbeiten von Britta Timm-Knudsen und Carsten Stage (2015a; 2015b) oder Patricia Ticineto Clough (2009) zeigen. Weitere Anschlüsse beziehen sich auf die Gedanken von Deleuze, die sehr nah an Baruch de Spinozas Affekttheorie sind. Die Theorien von Laurent Berlant (2011) und Rainer Mühlhoff (2018) zum Beispiel verstehen Affekte primär als körperliche Prozesse, in denen Körper andere Körper affizieren und selbst von ihnen affiziert werden und dabei ihre Vermögen verändern. Diese Theorien schließen nicht direkt an die Ontologie und Affekttheorie von Deleuze an. Besonders produktiv erweisen sich Deleuze und Massumi in soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschungen zu neueren Sicherheitstechnologien, wie unter anderem Peter Adey (2008), Ben Anderson (2010a; 2014), Kevin Groove (2014) oder Sven Opitz (2015) belegen.

Das vorliegende Buch unterscheidet sich von den Versuchen einer Sozialtheorie des Affekts, die explizit oder implizit mit Deleuze und Massumi arbeiten. In diesen Sozialtheorien entsteht das bereits erwähnte Problem einer Überbetonung von Werden und Offenheit. Exemplarisch hierfür sind die Theorien der sozialen Affekte bei Robert Seyfert (2012) oder in dem von Nicholas Fox und Pam Alldred herausgegebenen Sammelband (2017). Seyfert arbeitet zwar mit Deleuzes und Massumis Affektbegriff, entwickelt seine Affekttheorie aber vor allem mit Jean Marie Guyau (1987) weiter. Die Überbetonung der Öffnungen und Differenzierungen durch Affekte führt dazu, dass das Soziale und seine Organisierungen vor allem nachträglich sind und als einschränkend verstanden werden. Dass das Soziale auch produktiv und eröffnend sein kann, gerät durch diese Überbetonung aus dem Blick. Diese Positionen folgen aber Deleuze insofern, als auch bei ihnen das Soziale aufgrund der ontologischen Kräfte wie dem Affekt und des Werdens niemals stabil und geschlossen ist, sondern sich permanent neu ausrichtet und verschiebt.

In den Affekttheorien, die die prozessontologischen Annahmen zurücknehmen und sich dadurch von Deleuze und affirmativen Anschlüssen an ihn abgrenzen, führt dies zu einer Überbetonung von Stabilität und Kontrolle im Sozialen. Das Soziale erscheint zwar als produktiv, aber zudem wie eine sehr erfolgreiche Kontrollinstanz. Offenheit und Schöpfungsprozesse durch Werden und Affekte im Sozialen geraten in den Hintergrund oder finden eigentlich gar nicht statt. Diese Theorien konzentrieren sich auf die Stabilität affektiver Verbindungen und nicht so sehr auf deren permanenten Wandel und sich verändernden Dynamiken, wie es Deleuze tut. Exemplarisch für dieses Problem sind die Arbeiten von Rainer Mühlhoff (2018). Andere Autor*innen sind Christian von Scheve (2018) und mit ihm Anna Lea Berg (2018). Im Gegensatz zu den Autor*innen, die im vorstehenden Absatz genannt sind, ist das Soziale bei ihnen äußerst stabil und kann Affekte umfänglich steuern und kontrollieren. Scheve und Berg kritisieren die deleuzianische Affekttheorie dafür, aufgrund ihrer Prozessontologie und Metaphysik nur schwerlich oder nicht sozialtheoretisch anschlussfähig zu sein (vgl. Scheve/Berg 2018: 36 ff.).

Deleuze für die sozialtheoretischen Affect Studies produktiv zu machen, ist also erklärungsbedürftig. Die wissenschaftlichen Diskussionen zu Deleuze und seinem Affektbegriff setzten in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum in der Philosophie sowie den Kunst- und Kulturwissenschaften ein; in der Sozialtheorie steht die Diskussion ihrer Ansätze noch am Anfang. Mit dem Modulationsbegriff wird eine Zwischenposition in den Affect Studies eingenommen, um Werden und Organisierung oder Kontrolle zusammen zu denken und nicht eine der beiden Seiten überzubetonen. Auf diese Weise werden neue Dichotomien oder zu starke Ungleichgewichtungen vermieden.

Deleuze und im Anschluss an ihn Massumi sind trotz ihrer Probleme produktive Anschlüsse für eine Sozialtheorie des Affekts: Deleuze argumentiert dezidiert (prozess-)ontologisch und reflektiert die ontologischen Bedingungen des Sozialen und des Affekts, die andere Theorien nur implizit voraussetzen. Seine Arbeiten werfen das Problem der Ontologie in der Sozialtheorie auf. Ontologie ist die Wissenschaft von den Prinzipien des Seins in Abgrenzung zu einer Phänomenologie der Dinge. Mit Deleuze kann die Rolle und Bedeutung explizit gemachter ontologischer Grundlagen analysiert und reflektiert werden. Deleuze argumentiert nicht nur epistemologisch, sondern er entwickelt ausgehend von seiner Ontologie sozialtheoretische Begriffe wie den des Affekts, wohingegen in der Sozialtheorie meist auf starke ontologische Vorannahmen verzichtet wird, weil sie zu substantialistisch und ahistorisch seien. In den Sozialwissenschaften ist die Ontologie oft nur ein blinder Fleck, obwohl jede Sozialtheorie gewisse ontologische Grundannahmen machen muss, um ihren Gegenstand bestimmen zu können. Sozialtheorien sollten ihre Grundprämissen aber reflektieren, weil sie bestimmen, was Teil des Sozialen ist. Aufbauend auf ihrer Ontologie, entscheiden Sozialtheorien darüber, welche Entitäten und welche Kräfte zentral für das Soziale sind und welche Wirkungen sie haben.

Deleuze ist zudem interessant, weil er poststrukturalistische Argumente weiterführt und trotzdem die Eigenständigkeit von Körpern und Materialitäten als zentral für das Soziale erachtet, wohingegen sie in anderen Poststrukturalismen hinter Diskursen und symbolischen Ordnungen tendenziell zu verschwinden drohen beziehungsweise zu wenig beachtet werden. Wie für poststrukturalistische Theorien typisch, fokussiert Deleuze das Werden und die Offenheit aller Ordnungen. Zugleich gelingt es mit dem Modulationsbegriff, die Sozialität des Werdens (durch Affekte) in einem Verhältnis zu Prozessen der Organisierung und Stabilisierung zu verstehen. Beide Momente sind in den Modulationsbegriff eingeschrieben und stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander, wie im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt wird.

Wiederum vergleichbar mit poststrukturalistischen Ideen, interessiert sich Deleuze für das Andere des Sozialen wie das Andere der Ordnung, das Andere des Subjekts und das Andere des Sinns. Dieser Nicht-Sinn eines Affekts, den nur die deleuzianischen Affekttheorien berücksichtigen, verweist auf eine andere Dimension des Sozialen, außerhalb des Symbolischen und Signifikanten, und ist diesem zugleich immanent. Deleuze eröffnet eine Perspektive auf eine Sozialtheorie des Nicht-Sinns und emanzipiert sich von der Sinnfixierung der Sozialtheorie und verschiedener Ansätze in den Affect Studies, die dem Affekt einen Sinn zuschreiben. Deleuze radikalisiert den Blick auf das Andere des Sozialen, indem er sich von der Ontologie und vom Affekt herkommend dem Nicht- beziehungsweise A-Sozialen Grenzen und Ursprung des Sozialen zuwendet.

Dieser Nicht-Sinn eines Affektes ist ein weiterer Grund, warum sich sozialtheoretische Affekttheorien von Deleuze abwenden, weil sie Affekten ähnlich wie Emotionen auch eine symbolische und signifikante Dimension zuschreiben, anders also, als es Deleuze und Massumi tun. Bei ihnen haben nur Emotionen eine symbolische und signifikante Dimension und Qualität, Affekte hingegen sind asignifikant, intensiv und eine Quantität. Dies führt bei Deleuze und Massumi zu einer dichotomen Gegenüberstellung von Affekten und Emotionen und zu einem sehr reduzierten Begriff von Emotionen. Emotionen sind nicht nur signifikant, sondern auch persönlich und beschränken Affekte. Mit Hilfe des Modulationsbegriffs kann die Gegenüberstellung überwunden und Affekte und Emotionen können konstitutiv aufeinander bezogen werden. Es sind zwei unterschiedliche Kräfte im Sozialen, wobei Emotionen als eine Form der Affektmodulation konzeptualisiert werden können.

Modulationen als Ausgang

Der Begriff der Modulation bildet das zentrale Scharnier für ein Neudenken des Sozialen nach Deleuze und Massumi und das zentrale Narrativ des vorliegenden Buches. Anhand dieses Begriffs wird eine Sozialtheorie des Affekts entwickelt, in der das Soziale als Prozess der Modulation verstanden wird. Der Modulationsbegriff, wie er sich implizit bei Deleuze findet und wie ihn Massumi explizit weiterentwickelt, ist ein prozessontologischer Begriff, mit dessen Hilfe das Problem des Sozialen des Affekts bearbeitet werden kann. Er berücksichtigt das wechselseitige Verhältnis von Affekt und Sozialem. So eröffnet er ein anderes, produktives Verständnis des Sozialen des Affekts, das in einem Spannungsverhältnis von Kontrolle und Offenheit beziehungsweise Organisierung und Werden steht.

Aus der Perspektive von Deleuzes und Massumis Prozessontologien nimmt der Modulationsbegriff eine Zwischenposition zwischen zwei paradigmatisch zugespitzten und konträren Polen in der Sozialtheorie ein. Auf der einen Seite überbetonen klassische Sozialtheorien die Stabilität des Sozialen, wodurch sie Ordnung und Einheiten im Sozialen primär setzen und Offenheiten und Entwicklungen konzeptionell schwer fassen können. Soziale Ordnungen sind hier ziemlich stabil, einheitlich und geschlossen, wodurch sie gegenüber Veränderungen sehr widerständig sind. Die Möglichkeiten und Ursachen sozialer Entwicklungen selbst werden wenig thematisiert und bleiben oftmals erklärungsbedürftig. Exemplarisch stehen für diese Position die Arbeiten von Émile Durkheim (1988) oder Pierre Bourdieu (1987) und ihre Anschlüsse.

Prozessontologische Sozialtheorien auf der anderen Seite überbetonen das Werden des Sozialen, wodurch sie Differenzierungen, neue Entwicklungen und Veränderungen durch ontologische Kräfte, wie beispielsweise das Leben, primär setzen. Feste, einheitliche und geschlossene Ordnungen kann es aus dieser Sicht nicht geben. Mit dem Primat des Werdens wird aber gleichzeitig die Bedeutung des Sozialen, seine Organisierungen und Stabilisierungen vernachlässigt. Das Soziale ist hier vor allem eine nachträgliche Reaktion auf die Veränderungen durch ontologische Grundkräfte. Organisierungen und Ordnungen reagieren auf die Differenzierungen und versuchen durch die Verschiebungen ihrer Ordnungen die Abweichungen wieder zu integrieren. Im deutschen Kontext sind Heike Delitz (2014) und Robert Seyfert (2011a) exemplarische Autor*innen für diese Form der Sozialtheorie, die beide positiv an Deleuzes Arbeiten anschließen.

Obwohl Deleuze und im Anschluss an ihn Massumi zentrale Autoren einer prozessontologischen Sozialtheorie sind, bieten sie eine Perspektive zwischen diesen exemplarischen Polen in der Sozialtheorie – darin besteht beider Besonderheit und Potential. Die vorliegende Untersuchung nimmt diese Zwischenposition ein, indem sie den Begriff der Modulation zentral setzt. Er ist von einer Grundspannung zwischen Kontrolle und Offenheit oder auch Organisierung und Werden geprägt. Zwar setzen Deleuze und Massumi das Werden primär – es bildet den Ausgang ihrer Überlegungen –, aber durch den Modulationsbegriff wird das Moment der Organisierung eben jedes Werdens stets mitberücksichtigt. Werden und Kontrolle sind konstitutiv aufeinander bezogen und bestehen nicht unabhängig voneinander.

Wenn die Verbindungen von Werden und Kontrolle konstitutiv und letztlich notwendig sind, wird die negative Charakterisierung des Sozialen unplausibel. Das Soziale erhält durch den Modulationsbegriff eine aktive und produktive Rolle und bleibt nicht passiver Effekt ontologischer Kräfte wie des Affekts. Der deleuzsche Modulationsbegriff eröffnet eine prozessontologische Sozialtheorie, die nicht ausschließlich das »Anders-Werden« (Delitz 2014: 15) des Sozialen fasst, wie es Delitz im Anschluss an Bergson tut, sondern die Modulationen des Anders-Werdens im Sozialen. Werden und Affekte werden moduliert. Modulationen haben aufgrund des Werdens eine organisierende Funktion, ohne deterministisch zu sein oder geschlossene und einheitliche Verbindungen herzustellen. Das Soziale bleibt im Werden.

Mit dem Modulationsbegriff werden Probleme in den Affekttheorien von Deleuze und Massumi sowie ihrer Anschlüsse bearbeitet und ihre Theorien in drei zusammenhängenden Dimensionen weiterentwickelt: Ontologie, Affekt und Emotion. In jeder dieser Dimensionen eröffnet sich durch den Modulationsbegriff ein positives Bild des Sozialen mit seiner Grundspannung zwischen Werden und Organisation.

Die ontologische Differenz von Virtualität und Aktualität ist leitend für die Arbeiten von Deleuze und Massumi und sie strukturiert auch die Gegenüberstellung von Affekt und Sozialem.5 Die negative Charakterisierung des Sozialen bei Deleuze und Massumi hat einen ontologischen Ursprung, der an dieser Stelle bereits kurz eingeführt werden soll, um die Bedeutung des Modulationsbegriffs bereits an dieser Stelle besser nachzuvollziehen. Beide denken das Soziale von ihrer Ontologie der Virtualität aus. Sie konzipieren das Soziale primär als Effekt der Virtualität und als Reaktion auf diese und weniger als eigenständige, produktive und aktive Kraft. Das Soziale erhält in den Arbeiten von Deleuze und Massumi diese Merkmale, weil es mit der Aktualität von Welt gleichgesetzt wird, während ontologische Kräfte wie Affekte ihre Kraft aus einer ontologischen Dimension von Welt erhalten, der Virtualität. Die Aktualität ist die empirische Dimension der Welt, die sinnlich erfahren und wahrgenommen werden kann; sie ist also diejenige Dimension der Welt, die im Alltag als Realität bezeichnet wird. Die Virtualität hat eine andere ontologische Qualität; sie ist die nicht-phänomenale und nicht-körperliche Dimension, die nicht an sich empirisch ist. Wiederum vom Alltagsgebrauch des Begriffes her verstanden, wäre die Virtualität eigentlich nicht real. Bei Deleuze ist sie es aber an sich, weil auch sie in der Aktualität empirische Effekte hat. Die Virtualität ist aufgrund ihrer ontologischen Stellung die Ursache und Bedingung für die Veränderungen, Differenzierungen und genuin neuen Entwicklungen im Sozialen, die Deleuze und Massumi als Werden beschreiben. Die Virtualität ist in diesem Sinne eine Art von Energiespeicher oder Energiereservoir der Wirklichkeit und Welt, das zukünftige Entwicklungen bereits einschließt, die sich in der Aktualität entfalten können. Das heißt, dass die Aktualität ontologisch auf die Virtualität zurückzuführen ist, und dennoch sind sie wesensverschieden.

Das Soziale wird in dem vorliegenden Buch formal als Modulationsgeschehen begriffen. Anstatt aber einen Dualismus oder ein monokausales Verhältnis zwischen Virtualität und Aktualität anzunehmen, verweist der Modulationsbegriff auf eine Topologie und die Faltungen zwischen Virtualität und Aktualität. Anders ausgedrückt umfasst der Modulationsbegriff die wechselseitigen Einflüsse von Virtualität und Aktualität. Sowohl die Virtualität als auch die Aktualität haben Effekte aufeinander. Das Soziale ist von den beiden Dimensionen und ihren wechselseitigen Effekten bestimmt. Den Begriff der Virtualität arbeiten beide Autoren aus, während der der Aktualität bei ihnen eigentlich keine Rolle spielt, für eine Sozialtheorie des Affekts aber zentral wird.6

Aufgrund der spezifischen Sozialität des Ontologischen selbst muss das Soziale nach Deleuze und Massumi von seinen Grenzen und Überschreitungen gedacht werden. Das Soziale ist nicht nur aktuell, sondern zweidimensional: Es ist virtuell und aktuell zugleich. Virtualität und Aktualität sind konstitutiv und wechselseitig aufeinander bezogen. Virtualität und Aktualität bedingen sich gegenseitig. Die Aktualität ist für die Virtualität notwendig, weil die Virtualität nur in der Aktualität materielle empirische Effekte hat; die Virtualität ist für die Aktualität notwendig, weil sie die Kraft des Werdens und genuin neuer Entwicklungen im Sozialen ist.

Durch dieses Verständnis von Ontologie eröffnen Deleuze und Massumi überhaupt erst die Möglichkeit einer Sozialtheorie des Affekts, weil die Aktualität des Sozialen ihre eigenen ontologischen und virtuellen Bedingungen moduliert. So ist die Virtualität nicht anti-sozial, wie es in Abgrenzung zum negativen Sozialen scheint, sondern a-sozial, weil sie in der Aktualität eingeschlossen ist und Effekte hat, zugleich aber wesensverschieden ist. Durch dieses Verständnis der Modulation kann das Verständnis der ontologischen Kräfte und des Affekts bei Deleuze und Massumi revidiert und erweitert werden. Affekte sind konstitutiv sozial und aktuell, also ein dezidiert soziales Phänomen und nicht nur ontologisch, biologisch oder naturalistisch. Sie werden durch die Aktualität immer moduliert, ohne in der Aktualität des Sozialen aufzugehen. Die Besonderheit der Sozialität des Affekts besteht in seiner A-Sozialität, weil Affekte zwar soziale Effekte haben, aber aufgrund ihrer Virtualität und ontologischen Differenz niemals im Sozialen aufgehen und immer mehr als ihre Effekte in der Aktualität sind. Für das Verständnis von Werden und Affekten folgt daraus, dass diese keine unmittelbaren und direkten Effekte im Sozialen haben, Modulationen sie aber auch nicht vollständig kontrollieren oder unterdrücken. Es gibt in der Aktualität des Sozialen zwar keine vollständige Kontrolle der ontologischen Kräfte durch Körper, Technologien, Subjekte oder Kollektive, doch als die Dimension, in der sich die Virtualität ausdrückt, bestimmt die Aktualität die Bedingungen von ontologischen Kräften wie Affekten mit.

Das Soziale ist über seine spezifischen Affektmodulationen zu verstehen. Für diese Untersuchung ist insbesondere der Emotionsbegriff relevant, der als zentrale Kraft der Affektmodulation im Verlauf dieses Buches ausgearbeitet wird. Er erhält dadurch eine andere Bestimmung als bei Deleuze und Massumi und wird zugleich im Anschluss an sie zu einer eigenständigen und produktiven Kraft. Das Verhältnis von Affekten und Emotionen erhält so eine neue Kontur. Beide sind nicht mehr dualistische Gegensätze, in denen Emotionen das Gegenteil des Affekts sind, sondern sie sind aufgrund ihrer Modulationen konstitutiv aufeinander bezogen und ineinander gefaltet. Während Affekte eine ontologische Kraft des Werdens sind, sind Emotionen eine Form der Organisierung eben dieses Werdens. Dabei können sie Affekte als Modulationen einschränken, aber auch stärken. Zugleich können mit diesem Emotionsbegriff weitere Dualismen wie Intensität und Qualifizierung, signifikante und symbolische Prozesse sowie Aktivität und Passivität überwunden werden.

Lektürestrategie einer deleuzianischen Sozialtheorie

Das Buch diskutiert die sozialtheoretischen Annahmen und Konsequenzen in den Affekttheorien nach Deleuze, um daran anschließend ein anderes Verständnis des Sozialen zu entwickeln. Mit Gesa Lindemann (2009) entspricht diese Untersuchung damit – bis auf die fehlenden anthropologischen Annahmen – einer Sozialtheorie. Was eine Sozialtheorie ist, bringt sie im folgenden Zitat auf den Punkt:

»Der Terminus Sozialtheorie bezeichnet diejenigen Teile einer sozialwissenschaftlichen Theorie, durch die festgelegt wird, was als ein soziales Phänomen zu begreifen ist und welche methodologischen Prinzipien bei der Datenerhebung und -auswertung zur Anwendung kommen. Eine Sozialtheorie enthält mithin auch die für eine Theorie relevanten anthropologischen Annahmen. Mit Bezug auf das hier verhandelte Problem folgt daraus, dass es unerlässlich ist, auch die grundlegenden sozialtheoretischen Konzepte in ihrer Bedeutung für die theoretische und empirische Forschung zu explizieren.« (Lindemann 2009: 1)

Die vorliegende Sozialtheorie ist eine Arbeit an Begriffen, insbesondere an dem des Sozialen und daran anschließend an den Begriffen der Modulation, des Affekts und der Emotion. Einen konkreten empirischen und anschaulichen Gegenstand hat dieses Buch nicht. Es ist auch keine Gegenwarts- oder Zeitdiagnose, sondern arbeitet sich an (Grund-)Begriffen der Philosophie und Sozialtheorie ab, die wiederum der (empirischen) Sozialforschung als Anleitung dienen können.

Um das Problem des Sozialen in der Affekttheorie herauszuarbeiten, werden die Texte von Deleuze und Massumi im Kontext ihrer affirmativen Anschlüsse gelesen und diskutiert und daher von ihren Anschlüssen her verstanden und rekonstruiert. Dazu werden die Positionen von Deleuze und Massumi zum repressiven Sozialen in ihren Folgen zugespitzt, um diejenigen Punkte besonders gut sichtbar zu machen, die mit ihrem negativen Bild des Sozialen für ihre Anschlüsse ausschlaggebend sind. Der Affektbegriff dient als Schlüsselbegriff, der das positive Gegenkonzept zum negativen Sozialen ausmacht. Dies ist eine Lektürestrategie, die nicht nur Deleuze und Massumi anwenden, um sich in der Philosophiegeschichte zu positionieren, sondern die beispielsweise auch in der französischsprachigen Auseinandersetzung mit Marx häufig angewendet wird (vgl. bspw. Ducange/Burlaud 2018). Dabei werden einzelne Momente herausgehoben und von diesen her werden die Arbeiten der Autor*innen umfassend rekonstruiert, um die Konsequenzen eines solchen Denkens aufzuzeigen. So finden sich in Deleuzes Arbeiten zu Spinoza, Nietzsche oder Bergson jeweils ein oder mehrere wenige zentrale Argumente, welche er bei ihnen aufgegreift und weiterführt. Andere Argumente oder Widersprüche ignorierend, versteht er ihr Werk von einzelnen Gedanken her. Das heißt aber auch, dass diese Lesart nicht die einzige und nicht unbedingt zwingend ist. In dem vorliegenden Buch wird stattdessen eine andere Lesart entwickelt, die die impliziten Elemente herausstellt und zugleich ein positives Bild des Sozialen neben ein negatives Bild stellt. Dabei werden auch Ambivalenzen und Differenzen, die sich bei Deleuze und Massumi ergeben, einbezogen.

Die Probleme des Sozialen in den Affekttheorien von Deleuze und Massumi werden in der ersten Hälfte des Buches immanent bearbeitet und in den letzten Kapiteln mit Hilfe anderer Theorien ergänzt. Im theoretischen Vorgehen orientiert sich dieses Buch dabei an Leys (1993): Ausgehend von der soziologischen Theorie George Herbert Meads, arbeitet sie Momente heraus, die darin unterbestimmt sind und zeigt Verbindungen zu anderen Theorien auf, ohne ihre jeweilige Spezifik auszublenden. Mit Hilfe von Schlüsselbegriffen, wie es hier der Modulations-, Affekt- und Emotionsbegriff sind, werden im vorliegenden Buch unterschiedliche Sozialtheorien zusammen diskutiert und weitergeführt.

Die Affekttheorien von Deleuze und Massumi sozialtheoretisch zu diskutieren, bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Die Arbeiten von Deleuze sind philosophisch und metaphysisch. Eine engere sozialtheoretische Diskussion führt Deleuze nicht, dennoch sind seine Begriffe für die Sozialtheorie anschlussfähig, ohne dass Deleuzes Probleme und Anschlüsse eins zu eins in die Sozialtheorie übertragbar sind. Steven Brown zeigt auf, dass Deleuze nicht in Beziehung zu den Sozialwissenschaften steht:

»At no point does Deleuze offer a positive determination for what ,social science‹ might mean as a practice in the way he does for philosophy, science and art. Social science falls between the three planes Deleuze and Guattari define. As I shall go on to describe in the next section, this creates real difficulties for social scientists who which to engage with his work. But this is not to say that Deleuze shuns social science. Quite the reverse!« (Brown 2010: 109)

Was Brown problematisiert, affirmiert Erin Manning (2015): die philosophische und unsozialwissenschaftliche und -sozialtheoretische Richtung von Deleuze. Deleuze leistet ihrer Einschätzung nach einen Beitrag zur Kunst, die andere Formen von Wissen hervorbringt, aber nicht für die Sozialwissenschaften und Sozialtheorie. Insofern folgt die vorliegende Arbeit Brown und wendet sich gegen Mannings Verständnis bezüglich der Anschlussfähigkeit an die Sozialwissenschaften und -theorie.

Für Deleuze (2000: 6 ff.) ist Philosophie die Erschaffung von Begriffen, daher seine vielen und teilweise merkwürdig anmutenden verbalen Neuschöpfungen. Weil es so viele sind, werden in dieser Untersuchung nicht alle aufgegriffen – nur jene, die zu spezifisch sind, um sie mit geläufigeren zu übersetzen. Es geht hier nicht um eine Reproduktion der deleuzschen Terminologie. Darüber hinaus wird in der vorliegenden Analsyse Konsistenz in seine Texte gebracht, worum er selbst nicht bemüht ist und was die Lektüre seiner Texte erschwert (vgl. Deleuze 2003a: 404). Deleuzes Begriffe zum Affekt sind nicht konsistent zusammenzubringen, denn er tauscht sein Vokabular aus. Eine weitere Schwierigkeit eines sozialtheoretischen Anschlusses an Deleuze besteht darin, dass er nicht an einer einheitlichen Theorie interessiert ist, sondern an den Ausdrucksvermögen seiner Texte, die Leser*innen zu affizieren und ein anderes Denken und Handeln hervorzubringen.

Für Brown sowie die folgende Untersuchung folgt daraus, dass selbst eine neue Ebene der deleuzschen Sozialwissenschaft – beziehungsweise genauer: der deleuzschen Sozialtheorie – erschaffen werden muss. Eine solche Sozialtheorie wird zu einem Konstruktionsprozess: Erstens müssen neue Begriffe geschaffen werden, die den Gegenstand der Sozialtheorie bezeichnen; zweitens müssen soziale Gegenstände als Ereignisse verstanden werden, durch die neue Relationen zwischen verschiedenen Kräften im Sozialen und Affekten entstehen; und drittens, wenn die Sozialtheorie eine eigene Ebene hat, dann stellt sich die Frage, wie ihre Ideen zirkulieren und mit anderen Ebenen und Wissenschaften verbunden werden können. Verschiedene Ebenen bleiben für sich jedoch singulär und sind nicht vollkommen kompatibel, sie können aber ihr Wissen austauschen (vgl. Brown 2010: 117 f.). »The singularity of a social science theory, then, arises from separating itself from science and philosophy without seeking to either integrate or oppose.« (ebd.: 118) Brown unterstreicht die Notwendigkeit, dass eine eigene Sozialtheorie nach Deleuze erarbeitet werden kann und muss. Über diese künftige Aufgabe hält er fest: »It is nothing other than what is currently withheld from social science by the event of ,Deleuzianism‹: the plane of social sciences itself. Which we must make« (ebd.: 118).

Argumentationsgang des Buches

Im 1. Kapitel werden die ontologischen Grundlagen für die Auseinandersetzung mit der Affekttheorie nach Deleuze gelegt. Der Zugang zur Affekttheorie von Deleuze erfolgt über seine immanente Ontologie der Differenz und deren zentrale Unterscheidung zwischen Virtualität und Aktualität. Bereits in seiner Ontologie ist der Modulationsbegriff angelegt, den Massumi aufgreift und weiterentwickelt und der das zentrale Narrativ des Buches bildet, um das Soziale des Affekts zu bestimmen. Das Soziale nach Deleuze ist zugleich sowohl virtuell als auch aktuell. Über den Modulationsbegriff kann das Verhältnis von Virtualität und Aktualität im Sozialen neu bestimmt werden. Zwischen Virtualität und Aktualität kommt es zu vielfältigen Modulationen, also gegenseitigen Faltungen, deren Prozesse als Aktualisierungen und Virtualisierungen verstanden werden. Von Deleuzes Ontologie her lassen sich die Prozesse und Grundphänomene des Sozialen bestimmen. Für die Untersuchung sind Körper und Affekte zentral: Der Körperbegriff ist grundlegend, weil die Effekte von Affekten immer körperlich sind und Affekte die primäre Kraft sind. In der gegenwärtigen Diskussion ist der Affektbegriff oftmals unbestimmt. Deshalb und um ein grundlegendes Verständnis des Affektbegriffs zu schaffen, werden seine zentralen Merkmale ausgeführt. Am Ende des Kapitels wird das negative Verständnis des Sozialen bei Deleuze als vielfältiger Prozess der Modulation angedeutet und beschrieben.

Wie das 2. Kapitel zeigt, sperrt sich Deleuze teilweise dagegen, das Soziale des Affekts weiter zu bestimmen, obwohl er die theoretische Möglichkeit darlegt, dies zu tun: Die Probleme liegen erstens darin, dass die ontologischen Kräfte bei ihm vor allem als allgemeine, ahistorische und unabänderliche Prozesse des Seins verstanden werden, obwohl er mit dem Modulationsbegriff einen Begriff hat, der auch die Einflüsse des Aktuellen und Sozialen auf die ontologische Dimension der Virtualität und deren ontologische Kräfte mitdenkt. Die Aktualität und das Soziale erscheinen gegenüber der Virtualität als abgeleitet und negativ, prekär und parasitär, weil sie die Dimension der Realität sind, in der Affekte Effekte haben, doch die Aktualität niemals alle Kräfte der Virtualität ausdrücken kann. Dieses Verständnis des Sozialen resultiert zweitens aus einem fehlenden Verständnis der Modulationen von Virtualität und Aktualität und damit verbunden den Prozessen der Aktualisierung und Virtualisierung. Da Deleuze primär die Aktualisierung im Sozialen fokussiert, konzipiert er Affekte wie determinierende und unmittelbar wirksame Kräfte im Sozialen, denen Körper und Assemblagen direkt und ohne jegliche Möglichkeit, selbst Affizierungen zu beeinflussen, unterworfen sind. Dass Affekte Körper und Assemblagen auf diese Weise beeinflussen, liegt drittens in der fehlenden Bestimmung der Aktualität in ihrem Verhältnis zur Virtualität. Dadurch eröffnet er einen sozialtheoretischen Anschluss, der die Aktualität und aktuelle Kräfte mit einbezieht, um die Frage nach dem Sozialen des Affekts zu beantworten.

Im 3. Kapitel werden die deleuzschen Grundlagen zum Verständnis der Sozialität des Affekts in der Auseinandersetzung mit Massumi weiterentwickelt. Massumi vertieft die ontologische Begründung und Herleitung des Affektbegriffs bei Deleuze und das Verständnis von Modulationen. Massumis produktiver Einsatz liegt erstens darin, das Soziale explizit vom Modulationsbegriff aus und als Modulation zwischen Virtualität und Aktualität und damit als unterschiedliche Effekte auf die Virtualität zu verstehen. Seine Ontologie eröffnet ein für das Buch grundlegenes Verständnis der Aktualität des Affekts. Dadurch ist das Soziale nicht mehr nur der Ausdruck von ontologischen Kräften wie dem Affekt, sondern erhält selbst einen aktiven und produktiven Einfluss auf Affizierungen.

Zweitens gibt Massumi dem Modulations- und Affektbegriff eine weitere Fundierung. Dabei reproduziert er die Probleme des Affektbegriffs, die sich bereits bei Deleuze finden. Die Probleme bestehen vor allem darin, dass er den Affekt als unmittelbare, direkte und determinierende Kraft fasst und damit die Bedeutung der Aktualität und des Sozialen zugunsten von ontologischen Kräften vernachlässigt.

Obwohl er diese Probleme reproduziert, liegt die Stärke von Massumi drittens darin, dass er Theoretisierungen des Sozialen vornimmt, also Elemente einer Sozialtheorie des Affekts ausarbeitet, die diese Probleme zugleich bearbeiten können. In unterschiedlichen Fallbeispielen zeigt er die Konsequenzen seines Zugangs auf, die Sozialität des Affekts über den Modulationsbegriff zu bestimmen.

Die spezifische Sozialität des Affekts versteht Massumi viertens grundlegend als a-sozial und nicht als nicht-sozial. Daraus folgt, dass ein Affekt keine unberührte, unmittelbare und nicht-soziale Kraft ist, die dichotom zur Aktualität steht, sondern selbst auf eine bestimmte Weise von der Aktualität moduliert ist. Das Soziale ist gerade ein vielfältiges Geschehen von Affektmodulationen. Ausgehend von seiner Prozessontologie und seinem Affektbegriff, entwickelt Massumi ein Verständnis des Sozialen als Relation und Ereignis, dessen Wirkungsweise er als quasi-kausal im Gegensatz zu einer linearen Kausalität bestimmt. Das Soziale ist aufgrund von Affekten niemals endgültig stabil, sondern einer permanenten Dynamik unterworfen und im Werden.

Massumi bestimmt fünftens die Aktualität des Affekts als Affektmodulation in drei unterschiedlichen Dimensionen: Singuläre Körper modulieren Affekte, und darüber hinaus ist ihre Relation eine Affektmodulation, die nicht als Interaktion, sondern Intraaktion zu verstehen ist. Intraaktion deshalb, weil Körper sich in ihren Relationen und gegenseitigen Affizierungen immer gegenseitig verändern und nicht als geschlossene und stabile Körper in affektive Relationen eintreten oder solche bleiben. Massumi diskutiert darüber hinaus verschiedene Begriffe der Ordnungsbildung, die ein besseres Verständnis davon ermöglichen, wie Modulationen affektive Relationen organisieren und stabilisieren. Hierbei erweist sich der Rhythmusbegriff als am vielversprechendsten. Andere Begriffe wie Strukturen oder Ordnungen sind problematisch, weil sie in eine Mikro-Makro-Unterscheidung eingebunden und zu stabil und undynamisch gedacht sind.

Der Modulationsbegriff wird im 4. Kapitel in seinem Diskursnetz diskutiert. Massumis Modulationsbegriff wird in Auseinandersetzung mit anderen Theorien aus dem erweiterten Feld der Affect Studies weiterentwickelt und von anderen Verständnissen abgegrenzt. Aus dieser Diskussion ergibt sich ein erweiterter Begriff von Affektmodulationen: Im Verlauf dieses Buches wird besonders relevant, dass im Diskursnetz des Modulationsbegriffs Theorien auftauchen, die Emotionen als Affektmodulationen einführen und Affektmodulationen als Rhythmen im Werden denken. Affektmodulationen sind eigenständige und produktive Virtualisierungen und Mikroprozesse der Angleichung und Abstimmung, die Affekte in eine bestimmte Richtung lenken. Sie synchronisieren durch die Implementierung bestimmter Muster, die Affekten eine bestimmte Intensität, Ausdruck und Richtung geben. Zudem sind Affektmodulationen sowohl Subjektivierungen als auch Kollektivierungen, weil sie Affekte an Subjekte oder Kollektive binden und sie letztere zugleich hervorbringen. Zudem zeigt sich, dass in einer Affektmodulation Affekte transformiert und mediatisiert werden, wodurch sie mit Signifikationsprozessen verbunden sind.

Diese Probleme und Potentiale des Modulationsbegriffs werden im 5. Kapitel anhand des Emotionsbegriffs aufgegriffen und weitergeführt. Er stellt eine spezifische Form der Affektmodulation dar. Deleuze und Massumi nutzenden Emotionsbegriff nur als zentrale Abgrenzungsfolie für ihren Affektbegriff, arbeiten ihn aber nicht für sich weiter aus. Über den Emotionsbegriff kann jedoch das (produktive) Soziale des Affekts exemplarisch und im Konkreten bestimmt werden. Es wird aufgezeigt, dass es nicht nur eine Affekt-, sondern nach Deleuze und Massumi auch eine Emotionstheorie geben kann: Emotionen sind produktive Affektmodulationen. Weil Deleuze und Massumi Emotionen direkt an Affekte binden, sind für sie Emotionen die primäre und wirkmächtigste Form der Affektmodulation.

Um Emotionen als Affektmodulation zu verstehen und nicht auf das ontologisch ganz Andere des Affekts zu reduzieren, ist es notwendig, neben Deleuze und Massumi weitere Affekttheorien heranzuziehen, um einen anderen, Emotionsbegriff auszuarbeiten, der jedoch von Deleuze und Massumi inspiriert ist. Emotionen sind dann nicht ausschließlich individueller und symbolischer Ausdruck von Affektionen, sondern eigenständige, aktive sowie produktive Kräfte, relationale Mikroprozesse der Organisierung und Stabilisierung durch Muster, die sich anpassen und flexibel auf Affekte reagieren. Emotionen sind strategisch, insofern sie durch Muster Affekte in bestimmte Handlungsverläufe einordnen, sie also mit bestimmten Handlungen, Erfahrungen, Intensitäten oder Wirkungen einhergehen. Zugleich sind sie Formen der Subjektivierung und Kollektivierung, weil sie Subjekten und Kollektiven zugeordnet werden. Emotionen organisieren Affekte, indem sie durch Rhythmen affektive Relationen stabilisieren und angleichen.

Indem Deleuze und Massumi Emotionen vernachlässigen, ignorieren sie den Prozess der Virtualisierung. Als Form der Virtualisierung modulieren Emotionen sowohl die aktuellen Effekte von Affekten als auch ihre Intensität und Virtualität. Emotionen modulieren die ontologischen Bedingungen von Affekten, ohne sie vollständig zu kontrollieren; dadurch verändern sie aber die Wahrscheinlichkeit von Affekten und ihre Intensität. Eine umfassende Modulation ist aber aufgrund der Ereignishaftigkeit von Affekten nicht möglich, sie bleiben eine a-soziale Kraft, die nicht in ihrer Aktualität und Sozialität aufgeht, sondern zugleich ein außersoziales Moment darstellt.

Das 6. Kapitel arbeitet weiter am Emotionsbegriff als Virtualisierung. Nachdem die Vermögen von Emotionen im 5. Kapitel aus den Affekttheorien entwickelt wurden, wird hier der Anschluss an die Performance Studies und Medientheorien gesucht, die Affizierungen untersuchen und Modulationen ebenfalls prozessual verstehen. Die Rhythmen von Emotionen synchronisieren, sie sind stabilisierend und organisierend, bringen aber keine stabilen, einheitlichen und geschlossenen affektiven Relationen hervor. In der Auseinandersetzung mit den Ansätzen aus den Performance Studies und Medientheorien wird die konstitutive Medialität von Affekten deutlich. Direkte und unmittelbare körperliche Affektionen, wie Deleuze und Massumi sie tendenziell verstehen, kann es nicht geben. Affekte müssen immer die Distanz zwischen Körpern überbrücken, um Effekte zu haben und sich in anderen Körpern auszudrücken – dadurch sind affektive Relationen mediatisiert.

Emotionen werden als Medien der Affizierung eingeführt, die über eine Distanz Affekte zwischen Körpern zirkulieren lassen. Diese Medialität von Affekten eröffnet erstens ein Verständnis von Affekten im Sozialen, das die Dimension von Signifikations- und Symbolisierungsprozessen wieder einholt, indem Affekte und Emotionen in Modulationen konstitutiv aneinander gebunden werden und so ihre Gegensätzlichkeit verlieren. Für Deleuze und Massumi sind Signifikations- und Symbolisierungsprozesse ausschließlich das ganz Andere des Affekts, sodass sie sich nicht ineinander falten. Zweitens unterstreicht der Medienbegriff, dass diese Modulationen von Affekten nicht wie eine lineare Input-Output-Relation zu verstehen sind, sondern im Gegenteil, dass mediale Prozesse mit Transformationen von Affekten einhergehen. Zugleich ermöglicht die Medialität in affektiven Relationen drittens einen Blick auf die Grenzen von Affektmodulationen. Effekte und Intensitäten von Affekten, die nicht von Emotionen moduliert werden, bilden das Andere oder den Rest von Modulation und können Modulationen als Noise stören, unterbrechen, aber auch verstärken und beschleunigen.

Indem Affekte und Emotionen konstitutiv aufeinander bezogen werden, lassen sich Affektmodulationen anhand von vier Dimensionen differenzieren und systematisieren. Deleuze und Massumi würden anders unterscheiden, weil sie ausschließlich die einschränkende und unterdrückende Funktion von Virtualisierungen berücksichtigen. Allen weiteren Dimensionen liegt die Unterscheidung zwischen Aktualisierung und Virtualisierung zugrunde: Emotionen sind Virtualisierungen, die potentialisierend oder depotentialisierend sein können, also die Virtualität von Affekten im Sozialen für zukünftige Aktualisierungen und ihre Intensität stärker öffnen oder beschränken; Virtualisierungen von Emotionen sind zudem reterritorialisierend, wenn sie Affizierungen zwischen Körpern beschränken, sowie deterritorialisierend, wenn sie die Ausbreitung von Affekten und zwischen Körpern im Sozialen fördern. Darüber hinaus geben Emotionen affektiven Relationen bestimmte Bedeutungen, wodurch sie als Angst, Liebe, Freude, Zorn oder Hass differenzierbar werden. Jede dieser Formen kennzeichnet ein bestimmtes Set an Aktualisierungen und Virtualisierungen, De- und Potentialisierungen sowie De- oder Reterritorialisierungen.

In der Konklusion werden die zentralen Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und die Konsequenzen der Diskussion für die Sozialtheorie und das Verständnis des Sozialen nach Deleuze und Massumi erläutert. Im Fokus steht die Rekapitulation des Problems des Sozialen und daran anschließend die Frage nach dem Sozialen des Affekts: also, wie das Soziale, Affekte und Emotionen vom Ontologischen und der Modulation zwischen Virtualität und Aktualität her gedacht werden können. Dadurch wird der Mehrwert der eingeschlagenen Untersuchung sowohl für die Sozialtheorie, Affekttheorien als auch für die Forschungen zu Deleuze hervorgehoben. Das Verständnis des Sozialen in den deleuzschen Affekttheorien hat sich gewandelt: Es ist selbst positiv und produktiv und nicht mehr primär negativ und einschränkend. Abschließend werden erste Überlegungen vorgestellt, wie ein sozialwissenschaftlicher Anschluss an dieses Buch aussehen könnte. Das vorliegende Buch eröffnet auf diese Weise die Möglichkeit einer weitergehenden Soziologisierung der Affekttheorie: indem sie Begriffe bereitstellt, um mit Deleuze und Massumi empirische Sozialforschung zu betreiben.

Teil I: (ONTOLOGISCHE) GRUNDLAGEN DER AFFEKTTHEORIE – GILLES DELEUZE

1. Die Virtualität und Aktualität des Affekts

Deleuzes Theorie bildet den Ausgang der Auseinandersetzungen über den Affekt. Gemäß dem Ziel des vorliegenden Buches, eine Sozialtheorie der Affekte zu entwickeln, ist auch die hier vorgeschlagene und eingeschlagene Lesart von Deleuze von einem dezidiert sozialtheoretischen und nicht von einem philosophischen Interesse geleitet. Die Lesart orientiert sich besonders an Brian Massumi und John Protevi, die aus dem Kontext der französischen Philosophie kommen.

Deleuze entwickelt seinen Affektbegriff aus seiner immanenten Ontologie heraus. Seine Ontologie zeigt sich ganz grundsätzlich darin, dass er Prinzipien und Grundkräfte des Seins und der Realität annimmt und einen Wesensunterschied zwischen diesen Prinzipien und Kräften einerseits und der empirisch beobachtbaren, sinnlich erfahrbaren Welt andererseits macht, die im Alltag meist nur undifferenziert als Realität verstanden wird. Die Grundkräfte des Seins und die empirisch beobachtbare und erfahrbare Welt bilden bei Deleuze zwei unterschiedliche Dimension der Realität. Deleuze selbst verwendet den Begriff des »Empirischen« im Unterschied zu den ontologischen Kräften (siehe bspw. Deleuze 2007a: 13, 186 f.). Die ontologischen Grundkräfte haben zwar empirische Effekte, sind aber nicht auf die empirische Realität beschränkt. Sie gehen über diese hinaus, transzendieren sie auf eine Weise, die später ausgeführt wird. Da Deleuze sich für diese ontologischen Kräfte und ihre empirischen Effekte interessiert, bezeichnet er seine Philosophie auch als »transzendentalen Empirismus« (ebd.: 186; ausführlich Rölli 2003).7

Deleuze hat keinen expliziten Begriff des Sozialen. Ihm geht es um die Wirklichkeit, Realität oder Welt als solche. Die ontologischen Annahmen und Grundkräfte, die aller Wirklichkeit zugrunde liegen und sie prägen, müssen auch für ein deleuzianisches Verständnis des Sozialen vorausgesetzt werden. Diese Annahmen werden im Unterkapitel zu Deleuzes eigenen Versuchen, das Soziale zu theoretisieren, plausibilisiert (Kap. 1.5). Die folgenden ontologischen Ausführungen treffen grundsätzlich ebenso auf das Soziale zu. Der Zugang zur Affekttheorie in diesem Buch kreist primär um die ontologische Unterscheidung zwischen Virtualität und Aktualität und deren Modulation in der Affekttheorie von Deleuze. Darin liegt die Spezifik des vorliegenden Buches im Unterschied zu anderen Affekttheorien, wie zum Beispiel im deutschsprachigen Raum zu Michaela Ott (2010), die Affizierungen vor allem als »ästhetisch-epistemische Figur« diskutiert und sich von einem ontologischen Verständnis von Deleuze abgrenzt und sowohl die Unterscheidung von Virtualität und Aktualität als auch die Bestimmung des Affekts nicht an die Ontologie, sondern eine Zeittheorie rückbindet.

Dieses Kapitel hat einerseits die Funktion, die für die Untersuchung zentralen Begriffe Deleuzes Affekttheorie zu klären und dabei anderseits die bereits vorhandenen sozialtheoretischen Argumente in seiner Theorie herauszuarbeiten. Es werden erste Momente eines sozialtheoretischen Anschlusses an Deleuzes Affekttheorie markiert sowie ihr Mehrwert angedeutet. Die Diskussion kreist um die Modulation zwischen Virtualität und Aktualität, die sich durch die verschiedenen Kapitel zieht.

1.1Eine Ontologie der Differenz

Ausgangspunkt der deleuzschen Ausführungen zum Affekt ist die Stellung der »Differenz und Wiederholung« (Deleuze 2007a). Deleuze gibt dem Verhältnis zwischen Differenz und Wiederholung einen ontologischen, einen Seins-Status. Über seinen Affektbegriff bindet er seine Ontologie an die Lebendigkeit und Körperlichkeit sowie die Verbindungen und Assemblagen aus Körpern. Ausgehend von seiner Ontologie entwickelt Deleuze seinen Affektbegriff sowie sein Verständnis des Sozialen.

1.1.1Der ontologische Status von Differenz und Wiederholung

Deleuze räumt dem Spiel von Differenz und Wiederholung einen ontologischen Status ein. Weil sie die Welt und das Soziale konstituieren, haben Wiederholung und Differenz für ihn eine »positive […] Kraft« (ebd.: 33, Herv. C.H.P.) oder ein »produktive[s] Vermögen« (ebd.: 65). Er fasst sie als ihre »ontologische Ursache« (ebd.: 374). Deleuze begreift diesen ontologischen Status von Differenz und Wiederholung jedoch nicht als eine Begründung oder einen »Grund« (ebd.: 340), weil er als erster Ursprung die »höchste Identität« (ebd.: 340) hätte, dem andere Elemente ähnlich sein könnten, womit er einer repräsentativen Logik verhaftet bliebe. Der Grund selbst wird unterlaufen von Differenzen, die sich hinter oder unter der Identität befinden (vgl. ebd.: 343). Es gibt keinen Ursprung oder etwas Unwiederholtes der Wiederholung selbst, das von ihr abgetrennt werden könnte, die erste Wiederholung ist selbst schon eine Wiederholung (vgl. ebd.: 34 f.). Die Wiederholung mit ihren Differenzierungen ist das »ursprüngliche Prinzip« (ebd.: 37) der Realität, es ist »tiefer[…]« und »primär« (beide ebd.: 76 f.). Damit ist gemeint, dass alle Wirklichkeit und mithin auch alle Entitäten wie Körper, Ideen, Dinge oder das Soziale von dem ontologischen Sein der Wiederholungen und Differenzen bestimmt werden; das heißt, dieses ontologische Sein Effekte in allen Entitäten hat.

Deleuze grenzt zwei beziehungsweise drei Formen der Wiederholung voneinander ab, die jedoch nicht unabhängig voneinander bestehen. Alle Formen der Wiederholung sind verschiedene Modi des Funktionierens von Welt, Wirklichkeit, Realität oder dem Sozialen und gehören zu anderen Dimensionen der Realität. Deleuze unterscheidet hier bereits zwei Formen der Wiederholung mit »anderer Natur« (ebd.: 360), anderem Wesen oder anderer »Dimension« (ebd.: 361). Die erste ist »aktuell« und die zweite ist »virtuell« (beide ebd.: 117). Die ontologische Unterscheidung zwischen virtuell und aktuell ist für die vorliegende Untersuchung zentral, wird aber erst im nächsten Kapitel genauer ausgeführt werden. Die aktuelle Wiederholung ist eine »Wiederholung des Selben« und Gleichen der Repräsentation; die virtuelle Wiederholung hingegen ist eine der »Differenz« und »Ungleichheit«. Sie ist »singulär«, »intensiv«, »evolutiv«, »dynamisch« und ein »Überschuss« (alle ebd.: 42 f., vgl. auch ebd.: 357 f.) Es zeigt sich, dass die beiden Wiederholungen, obwohl sie nicht dieselbe Dimension oder das gleiche Wesen haben, miteinander »koexistieren« (ebd.: 361). Die virtuelle »wahre« (ebd.: 44) Wiederholung »verbirgt« sich in der aktuellen »mangelhaften«. Die virtuelle Wiederholung ist die »geheime, die tiefste Wiederholung«, die die andere »konstituiert, in die sie sich einhüllt« (alle ebd.: 43) und damit bildet. Die virtuelle Wiederholung der Differenz konstituiert die aktuelle Wiederholung der Identität, Negativität und Repräsentation. Die Differenz liegt zwischen diesen zwei Formen von Wiederholungen (vgl. ebd.: 357), an oder in ihren Übergängen, also immer dort, wo die virtuelle Dimension Effekte in der aktuellen hat oder wenn es, wie im nächsten Unterkapitel (1.2) aufgezeigt wird, zu Aktualisierungen kommt. Zu diesen zwei Formen der Wiederholung, der aktuellen und der virtuellen, ergänzt Deleuze noch eine dritte, die tiefste Form. Alle Formen der Wiederholung koexistieren, auch wenn sie sich in ihrer ontologischen Stellung unterscheiden. Neben der »begründeten«, aktuellen Wiederholung und der »begründenden«, virtuellen Wiederholung bestimmt Deleuze auch eine »ontologische Wiederholung«, die »[j]enseits« (alle ebd.: 364) der anderen Wiederholungen besteht. Ausgehend von der ontologischen »reine[n] Form« der dritten Wiederholung betrachtet, sind die anderen beiden Wiederholungen jedoch »bereits Wiederholungen an sich selbst« (beide ebd.: 365). »[D]ie [ontologische] Wiederholung bezieht sich zwingend auf Wiederholungen, auf Modi oder Typen von Wiederholungen, […] [w]as sich wiederholt, ist die Wiederholung selbst.« (ebd.: 367) Als ontologische Wiederholung ist sie die Bedingung der anderen Wiederholungen, durch sie »erhalten« die anderen beiden Wiederholungen ihr Moment der Differenz. Mit anderen Worten: Sie ist die immanente »Ursache« oder der »Grund« dafür, dass sich in die anderen Wiederholungen ein Moment der Differenz »einschreibt« und wirksam wird.

Seinen Begriff von Wiederholung grenzt Deleuze von der Allgemeinheit, dem Gesetz und der Repräsentation ab, die vielfach Prinzipien der Sozialtheorie sind. In diesen Abgrenzungen unterstreicht er, dass Wiederholungen mit (singulären) Differenzen einhergehen. Die erste Abgrenzung zieht er zur Allgemeinheit, die die »qualitative Ordnung der Ähnlichkeiten« und die »quantitative Ordnung der Äquivalenzen« geltend mache. Das heißt, dass in einer Wiederholung eben nicht ein Element mit einem anderen ausgetauscht oder ersetzt werden könnte. Die Wiederholung hat ein »Verhältnis zum Unersetzbaren«, zur »untauschbare[n], unersetzbare[n] Singularität« oder etwas »Einzigartigem«. Wiederholt werden kann damit nur alles Singuläre oder genuin Neue, nicht aber etwas Allgemeines oder Ähnliches. Zwar lasse sich die Wiederholung als Ähnlichkeit oder Äquivalenz »›repräsentieren‹«, doch bleibt zwischen einer Wiederholung und einer Repräsentation eine »Wesensdifferenz« (alle ebd.: 15 f., Herv. C.H.P.) bestehen, weil sie sich auf unterschiedliche Dimensionen der Welt beziehen. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass es keine Originalität oder Ähnlichkeit, die eine Wiederholung repräsentiert, ohne Wiederholung gibt.

Der zweite Gegensatz besteht gegenüber der »Ordnung der Gesetze«, zu dessen Ordnung die Allgemeinheit gehört. Ein gesetzmäßiger Wandel mit seinen bestimmten und feststehenden Variablen, die ihn vorhersehbar und kalkulierbar machen, verhindert die Wiederholung mit singulären Differenzen. Eine Wiederholung steht als »Wunder«, »Überschreitung« oder »Ausnahme« »gegen das Gesetz« (alle ebd.: 16 ff.). »Die Wiederholung verweist in ihrem Wesen auf eine einzigartige Macht [»d. h. Potenz, Macht, Fähigkeit, im Sinne von lat. potentia«, siehe ebd.: 18, FN 3], deren Natur von der Allgemeinheit abweicht« (ebd.: 18). Die Macht der Wiederholung zeigt sich darin, dass sie das Gesetz stürzen kann, indem sie die »Ordnung des Gesetzes als sekundär, abgeleitet, entlehnt, ›allgemein‹ an[ficht]; […] das eine ursprüngliche Kraft verfälscht oder eine ursprüngliche [ontologische] Macht usurpiert.« (Deleuze 2007a: 20) Die Wiederholung »behauptet immer eine Singularität gegen« (ebd.: 20) das Gesetz.

Drittens grenzt Deleuze die Repräsentation ebenfalls von der Wiederholung ab. Eine repräsentative Beziehung zwischen einem Begriff und seinem Objekt besteht dann, wenn sich ein bestimmter Begriff nur auf ein bestimmtes Ding bezieht. Ein Begriff hat einen unendlichen Inhalt, weil der gleiche Begriff sich auf unendlich viele besondere und konkrete Dinge bezieht und dabei keinem Ding als Einzelnem genau entspricht. Ein Begriff stellt Ähnlichkeiten zwischen den Dingen her und lässt gleichzeitig Differenz zu (vgl. ebd.: 28). Das Wiederholte kann aber nicht repräsentiert werden, weil es durch seine Differenz nicht in einer gemeinsamen Repräsentation aufgehen oder gefasst werden kann (vgl. ebd.: 35).

1.1.2Einheit und Vielheit des Seins

Nicht nur schreibt Deleuze der dritten Wiederholung einen ontologischen Status zu, er sagt sogar: »Die Wiederholung aber ist die einzige verwirklichte Ontologie, das heißt: Die Univozität des Seins.« (ebd.: 376) Auf den ersten Blick klingt die Rede von einer Univozität (Einheitlichkeit) eines Seins, da es durch Differenzen und Wiederholungen bestimmt ist, irreführend. Doch im Anschluss an Spinozas (1994) Ethik und Nietzsche führt Deleuze fort, dass sich die »Univozität als Wiederholung in der ewigen Wiederkunft verwirklichte« (ebd.: 376). Diese Univozität besitzt

»zwei gänzlich entgegengesetzte Aspekte, denen zufolge sich das Sein ›auf jede Weise‹ in ein und demselben Sinn (sens) aussagt, sich so jedoch vom Differierenden aussagt, von der Differenz, die selbst immer im Sein beweglich ist und verschoben wird. […] Univok [einheitlich] ist das Sein selbst, und äquivok [different] ist das, wovon es sich aussagt. […] Das Sein wird Formen zufolge ausgesagt, die die Einheit seines Sinns nicht brechen […]. Dasjenige aber, wovon es sich aussagt, differiert, ist die Differenz selbst.« (ebd.: 376)