Das Sozialgerichtsverfahren - Robert Horn - E-Book

Das Sozialgerichtsverfahren E-Book

Robert Horn

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Beschreibung

Wegweisender Leitfaden zum Sozialverfahrensrecht Das Buch rückt das Sozialverwaltungs- und das Sozialgerichtsverfahren in den Mittelpunkt. Proberichterinnen und -richter, aber auch Quereinsteiger, die aus anderen Gerichtsbarkeiten an ein Sozialgericht wechseln, können sich mit diesem praktischen Wegweiser schnell in die zahlreichen Sonderregelungen und die umfangreiche Rechtsprechung einarbeiten. Mit wichtigen Hinweisen zum elektronischen Rechtsverkehr Die umfassende Darstellung vermittelt sowohl fundierte Grundkenntnisse über Aufbau und Funktion der Sozialgerichte sowie über das Sozialverwaltungsverfahren als auch Detailwissen zum Klageverfahren. Der Schwerpunkt liegt dabei stets auf einer praxisgerechten Betrachtung der Materie. Zahlreiche Muster für die Antragstellung und anschauliche Praxisbeispiele helfen bei der täglichen Arbeit. Zunehmende Bedeutung gewinnt auch der elektronische Rechtsverkehr, worauf der Wegweiser ausführlich eingeht. Der Leitfaden wird durch einen Überblick über die im Sozialgerichtsverfahren zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe und nicht zuletzt durch die für Praktiker wichtige Darstellung der Kostenfrage abgerundet. Kompetentes Autorenteam Das Autorenteam ist langjährig in der Sozialgerichtsbarkeit tätig und arbeitet aus der Vielzahl der Verfahrensnormen und der sozialgerichtlichen Entscheidungen die bestimmenden Maßstäbe heraus, um eine solide und erfolgreiche Rechtsanwendung durch die Leserinnen und Leser zu gewährleisten. Grundstrukturen des SGB X und SGG Wer sich in das Gebiet des Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahrens (SGB X, SGG) einarbeiten will, muss sich mit den Grundstrukturen dieser wichtigen Verfahrensgebiete vertraut machen. Dabei zeigt sich, dass das Sozialrecht eine wichtige Querschnittsmaterie mit Ausstrahlungswirkung in das Arbeitsrecht, das Zivilrecht, das Gefahrenabwehrrecht und sogar in das Strafrecht ist. Aus dem Inhalt: Dezernatsarbeit und Verhandlungsführung in der Sozialgerichtsbarkeit Das Sozialverwaltungsverfahren Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) Das Klageverfahren Vorläufiger Rechtsschutz Die Revision Die Beschwerde Die Anhörungsrüge Die Erinnerung Die Verfassungsbeschwerde Empfehlenswert für: Der Leitfaden verschafft Sozialrichterinnen und -richtern die nötige Arbeitserleichterung beim Berufseinstieg. Darüber hinaus unterstützt er auch Rechtsanwenderinnen und -anwender in der Anwaltschaft, in der Sozialverwaltung und in Sozialverbänden bei der Arbeit.

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Das Sozialgerichtsverfahren

Leitfaden mit Musterbeispielen für die Praxis

Dr. Robert Horn

Ständiger Vertreter des Direktors des Sozialgerichts Gießen

Julia Pfeffer

Richterin an Sozialgericht Gießen

Prof. Dr. Henning Müller

Direktor des Sozialgerichts Darmstadt, Honorarprofessor der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

PRINT-ISBN 978-3-415-07570-2

EPUB-ISBN 978-3-415-07572-6

© 2024 Richard Boorberg Verlag –

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelfoto: © fotomowo – stock.adobe.com

E-Book-Umsetzung: abavo GmbH, Nebelhornstraße 8, 86807 Buchloe

Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Levelingstraße 6a | 81673 München

Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden

www.boorberg.de

Vorwort

Wer sich in das Gebiet des Sozialverwaltungs- und -gerichtsverfahrens (SGB X, SGG) einarbeiten will, wird sich anhand eines Lehrbuchs oder Praxiswerks an erster Stelle mit den Grundstrukturen dieser in der gesamten sozialgerichtlichen Fachpraxis außerordentlich wichtigen Verfahrensrechtsgebiete vertraut machen. Leider stellt das Sozialrecht auch weiter in der juristischen Ausbildung nur eine oft unbeachtete Nische dar. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Rechtsgebiet, das fast jeden betrifft oder jedenfalls betreffen kann, das Sozialrecht ist auch eine wichtige Querschnittsmaterie mit Ausstrahlungswirkung in das Arbeitsrecht, das Zivilrecht, das Gefahrenabwehrrecht und sogar in das Strafrecht.

Auch das Sozialverwaltungs- und -gerichtsverfahren gewinnt wie alle anderen Rechtsmaterien am konkret zu bearbeitenden Fall die notwendige Fassbarkeit und Lebensnähe. Demzufolge gilt es für die Rechtsanwenderin/den Rechtsanwender, sich sowohl in den großen Umfang an Verfahrensvorschriften als auch in die sozialgerichtliche Rechtsprechung, insbesondere des Bundessozialgerichts, die das Verfahrensrecht entscheidend mitprägt, einzuarbeiten. Dieses auf den ersten Blick unübersichtliche Geflecht von grundsätzlichen und speziellen Problemkreisen des Sozialverwaltungs- und -gerichtsverfahrensrechts hemmt den leichten Zugang zu dieser Rechtsmaterie. Dies zu ändern, sehen wir als Aufgabe des vorliegenden Referenzwerks für die verfahrensrechtliche Praxis und auch Lehre. Der Leitfaden arbeitet aus der Vielzahl der Verfahrensnormen und der sozialgerichtlichen Entscheidungen die bestimmenden Maßstäbe heraus. Damit wollen wir eine solide und erfolgreiche Rechtsanwendung gewährleisten.

Mit seinem Fokus auf allen wichtigen Fragen des Sozialverwaltungs- und -gerichtsverfahrensrechts, die der Leitfaden klar und verständlich zu beantworten versucht, wenden wir uns an die Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit, Fachanwältinnen und Fachanwälte für Sozialrecht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Versicherungsträger, Gewerkschafts- und Sozialverbandsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Zu ergänzen ist noch, dass wir das sozialverwaltungs- und -gerichtliche Verfahrensrecht weitgehend in seiner gesamten Komplexität erfassen wollten, sodass wir hoffen, Antworten auf alle zentralen Fragen zu geben.

Anregungen, weiterführende Hinweise und Kritik sind erwünscht. Sie erreichen uns unter unseren E-Mail-Adressen:

[email protected]; [email protected]; [email protected].

Gießen und Darmstadt, im März 2024

Dr. Robert Horn

Julia Pfeffer

Prof. Dr. Henning Müller

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

A. Die Stellung der Sozialgerichte im Gerichtswesen (Horn)

B. Aufbau und Funktion der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (Horn)

I. Die Sozialgerichte

II. Die Landessozialgerichte

III. Das Bundessozialgericht

C. Rechtsweg und Zuständigkeit (Horn)

I. Zulässigkeit des Sozialrechtswegs

II. Örtliche, sachliche und instanzielle Zuständigkeit

D. Dezernatsarbeit und Verhandlungsführung in der Sozialgerichtsbarkeit (Horn)

I. Rechtliche Grundlagen der Dezernatsarbeit

II. Dezernatsbeschreibung

III. Die Tätigkeit des Richters

E. Das Sozialverwaltungsverfahren (Pfeffer, außer VII)

I. Beginn des Verwaltungsverfahrens

II. Verfahrensgrundsätze

1. Untersuchungsgrundsatz

2. Anhörungspflicht

III. Ermessensentscheidungen

IV. Herstellungsanspruch

V. Mitwirkungspflichten des Antragstellers

VI. Vorschüsse und vorläufige Leistungen

VII. Elektronischer Rechtsverkehr im Verwaltungsverfahren, § 36a SGB I (Müller)

1. Geltungsbereich: Erstantrag, Amtsermittlung, Widerspruchsverfahren

2. Formfreiheit des Verwaltungshandelns

3. Schriftformersatz durch die elektronische Form

4. Der elektronische Posteingang der Behörde

a) Elektronische Übermittlungswege der Behörde

b) Eröffnung eines elektronischen Zugangs durch die Behörde

c) Technische Bereitstellung eines Übermittlungswegs

d) Widmung des Übermittlungswegs

e) Beschränkung des Zugangs

f) Sonderregelungen bei schriftformbedürftigen Schreiben

g) Prüfung von Formmängeln/„Herrin des Vorverfahrens“

5. Der elektronische Postausgang der Behörde

a) Widmung eines elektronischen Zugangs durch den Bürger

b) Das Onlinezugangsgesetz

c) Sonderregelungen für schriftformbedürftige Verwaltungsakte

d) Rechtsbehelfsbelehrungen der Behörde

VIII. Der Verwaltungsakt

1. Bekanntgabe

2. Rechtsbehelfsbelehrung

3. Bestandskraft

IX. Verfahrens- und Formfehler

F. Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) (Pfeffer, außer II)

I. Entscheidungen im Vorverfahren

II. Der elektronische Widerspruchsbescheid (Müller)

III. Ausnahmen vom Vorverfahrenserfordernis

IV. Kostenentscheidung im Vorverfahren

G. Das Klageverfahren (Pfeffer, außer II und III 1–7 und 9)

I. Die Klagearten und deren Tenorierung

1. Die Anfechtungsklage (Gestaltungsklage)

2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage

3. Die (isolierte Leistungsklage)

4. Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage

5. Die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage

6. Die Feststellungsklage

7. Sonderformen der Feststellungsklage

8. Die Untätigkeitsklage

9. Die Nichtigkeitsklage

II. Die Klageerhebung (Müller)

1. Klageerhebung bei einer unzuständigen Stelle

a) Klageerhebung beim unzuständigen Gericht

b) Klageerhebung bei einer anderen Stelle

2. Form der Klageerhebung

a) Schriftliche Klageerhebung

b) Klageerhebung mittels Telefax

c) Keine Schriftformwahrung durch Ausdruck elektronischer Dokumente

d) Erklärung zu Protokoll

e) Elektronische Klageerhebung

3. Klagefrist

a) Fristbeginn

b) Besonderheiten des elektronischen Rechtsverkehrs

4. Inhaltliche Anforderungen an die Klageschrift

III. Der Gang des Klageverfahrens (Horn, außer 8)

1. Beteiligte und Vertretungsbefugnis

2. Beiladung

3. Verfahrensgrundsätze und ihre Auswirkungen

a) Amtsermittlungsgrundsatz

b) Grundsatz des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens

c) Dispositionsmaxime

d) Mündlichkeitsprinzip

e) Beschleunigungsgrundsatz

4. Streitgegenstand

a) Grundsätzliches

b) Die Klagehäufung

c) Die Klageänderung

d) Einbeziehung von Bescheiden nach Klageerhebung

5. Fristen

a) Fristgebundene Verfahrenshandlungen

b) Richterliche Fristen

c) Berechnung von Fristen

d) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

6. Das vorbereitende Verfahren

a) Maßnahmen im vorbereitenden Verfahren

b) Verfahrensgestaltende Zwischenentscheidungen

7. Das Beweisverfahren

a) Die Beweisführung im sozialgerichtlichen Verfahren

b) Sachverständigengutachten

c) Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung und Befragung im Prozess

8. Die mündliche Verhandlung (Pfeffer)

a) Allgemeines

b) Die Anordnung des persönlichen Erscheinens der Beteiligten

c) Der Ablauf der mündlichen Verhandlung

d) Die Antragstellung mit Musterbeispielen

e) Die unstreitige Beendigung des Verfahrens

f) Die streitige Beendigung des Verfahrens

g) Die Kostenentscheidung

9. Der Erörterungstermin

a) Sinn und Zweck des Erörterungstermins

b) Besonderheiten im Vergleich zur mündlichen Verhandlung

H. Vorläufiger Rechtsschutz (Horn)

I. Gesetzessystematik

II. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 SGG

1. Sachentscheidungsvoraussetzungen

a) Sozialrechtsweg, § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG

b) Statthafte Antragsart

c) Antragsbefugnis, § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG analog

d) Antragsgegner, § 92 SGG analog

e) Frist

f) Antragsfähigkeit, §§ 69 ff. SGG analog

g) Ordnungsgemäßer Antrag, §§ 90, 92 SGG analog

h) Rechtsschutzbedürfnis

2. Notwendige Beiladung; § 75 Abs. 2 SGG analog

3. Begründetheit des Antrages

a) Vorschlag für Obersätze

b) (Hieraus ergibt sich folgender) Prüfungsaufbau für das Sozialgericht

c) Hinweise zu den einzelnen Prüfungspunkten der Begründetheitsprüfung

III. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG

1. Sachentscheidungsvoraussetzungen

a) Sozialrechtsweg, § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 51 Abs. 1 SGG

b) Statthafte Antragsart

c) Antragsbefugnis, § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG analog

d) Antragsgegner

e) Keine Frist

f) Allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzungen, §§ 69 ff. SGG

g) Rechtsschutzbedürfnis

2. Begründetheit des Antrages

a) Anordnungsanspruch

b) Anordnungsgrund

c) Glaubhaftmachung

d) Gerichtliches Ermessen hinsichtlich des „Wie“

IV. Zusammenfassung

I. Das Berufungsverfahren (Horn)

I. Allgemeines

II. Die Zulässigkeit der Berufung

III. Das Verfahren in der Berufungsinstanz

IV. Die Beendigung des Berufungsverfahrens

J. Die Revision (Horn)

I. Allgemeines

II. Zulässigkeit der Revision

1. Grundsatzrevision

2. Divergenz-Revision

3. Verfahrensrevision

III. Das Verfahren in der Revisionsinstanz

IV. Entscheidung

K. Die Beschwerde (Horn)

L. Die Anhörungsrüge (Horn)

M. Die Erinnerung (Horn)

N. Die Verfassungsbeschwerde (Horn)

O. Rechtsanwaltsgebühren im Überblick (Pfeffer)

I. Die Vergütung des Rechtsanwalts nach dem RVG

1. Gerichtskostenfreie Verfahren

2. Gerichtskostenpflichtige Verfahren

II. Bewilligung von Prozesskostenhilfe:

III. PKH- Überprüfungsverfahren:

Stichwortverzeichnis

A.Die Stellung der Sozialgerichte im Gerichtswesen (Horn)

Die Sozialgerichte sind nach der gesetzlichen Definition in § 1 SGG „besondere Verwaltungsgerichte“. Verfassungsrechtliche Grundlage der Vorschrift ist Art. 95 Abs. 1 GG i. d. F. vom 18.06.1968. Danach sind für die Gerichte der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit oberste Gerichtshöfe zu errichten. Alle fünf Zweige der Gerichtsbarkeit sind gleichwertig, gleichrangig und gleich bedeutsam.[1] Der Begriff Sozialgerichtsbarkeit geht auf Art. 96 Abs. 1 GG i. d. F. vom 23.05.1949 zurück. An dessen Stelle ist Art. 95 Abs. 1 GG getreten. § 1 SGG stellt als einfach gesetzliche, Verfassungsrecht wiederholende und konkretisierende Norm klar, dass die Sozialgerichtsbarkeit eine eigene Gerichtsbarkeit und somit Teil der Recht sprechenden Gewalt ist. Die Sozialgerichtsbarkeit ist durch organisatorische Unabhängigkeit von der Exekutive und Legislative gekennzeichnet. Die Spruchtätigkeit wird durch sachlich und persönlich unabhängige Richter ausgeübt. Die Sozialgerichtsbarkeit ist ein unabdingbares Kernelement des Rechtsstaats. Sie gewährleistet die Begrenzung und die Bindung staatlicher Macht und verhilft auf diese Weise den grundrechtlichen Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips und den Freiheiten der Bürger vor unberechtigter Eingriffsverwaltung zur Verwirklichung.

Die Bedeutung der Vorschrift ist untrennbar verbunden mit der geschichtlichen Entwicklung. Denn vor Inkrafttreten des SGG am 01.01.1954 gab es keine Sozialgerichte und keine im heutigen Sinne unabhängige und dem Grundsatz der Gewaltenteilung dienende Sozialgerichtsbarkeit. Mit der Schaffung der Reichsversicherungsordnung (RVO)[2] wurde das Rechtsschutzverfahren in den Bereichen Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung vereinheitlicht und das System 1927 auf den Bereich der Arbeitslosenversicherung erstreckt. In die RVO wurden die Sozialhilfe- und Fürsorgeangelegenheiten nicht einbezogen, weil es sich hierbei nicht um Versicherungsleistungen handelte. Es existierte ein rein verwaltungsinternes dreistufiges Rechtsschutzsystem, wo in erster Instanz die Spruchausschüsse bei den Versicherungsämtern, in zweiter Instanz die Spruchkammern der Oberversicherungsämter und in der letzten Instanz die Spruchsenate der Landesversicherungsämter oder des Reichsversicherungsamtes angerufen werden konnten. Eine Überprüfung der Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes oder der unteren Instanzen durch unabhängige Gerichte existierte nicht.[3] Zu dieser Zeit waren allein die Zivilgerichte unabhängige Gerichte im Sinne des Gewaltenteilungsgrundsatzes, woraus die bis heute gebräuchliche Bezeichnung der Zivilgerichtsbarkeit als ordentliche Gerichtsbarkeit folgt.

§ 1 SGG ist die einfach gesetzliche Umsetzung und Konkretisierung der Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 2, Art. 92, Art. 97 GG.[4] Demzufolge hat die Vorschrift lediglich deklaratorischen Charakter.[5] Sie setzt den in Art. 19 Abs. 4 GG begründeten Rechtsanspruch des Einzelnen, ihm zustehende Leistungen zu erhalten und sich im Falle der Eingriffsverwaltung gegen Akte der öffentlichen Gewalt gerichtlich zur Wehr setzen zu können, um. Die früher praktizierte Funktionseinheit von Verwaltung und gerichtlicher Kontrolle im Sinne eines verwaltungsinternen Rechtsschutzsystems ist durch das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) verfassungsrechtlich überholt; Art. 92 und Art. 97 GG legen fest, dass die Rechtsprechung unabhängigen Richtern anvertraut ist.

Die Sozialgerichtsbarkeit im Sinne des § 1 SGG umfasst „besondere“ Verwaltungsgerichte. Die Sozialgerichte sind nach der kompetenziellen Zuordnung alle auf dem nach § 51 SGG eröffneten Rechtsweg entscheidenden Gerichte. Somit sind die Gerichte nicht erfasst, für die der allgemeine Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 40 VwGO). Nach organisatorischem Verständnis umfasst die Sozialgerichtsbarkeit die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sowie deren Justizverwaltung.[6]

Gerichte sind zum einen staatliche Rechtsprechungsorganisationen und zum anderen Behörden der Gerichtsverwaltung. Als Rechtsprechungsorganisationen erfüllen sie durch die Richter, die ihnen nach Art. 92 GG übertragene Aufgabe der letztverbindlichen Klärung und Entscheidung der Rechtslage im Rahmen eines konkreten Streitfalles (Rechtsprechung). Träger der Rechtsprechungsgewalt sind nach Art. 92 GG die Richter und nicht die Gerichte.

Die Unabhängigkeit im Sinne des § 1 SGG umfasst die organisatorische Unabhängigkeit der Sozialgerichtsbarkeit sowie die persönliche, sachliche und innere Unabhängigkeit der Richter.

Unter die organisatorische Unabhängigkeit der Sozialgerichte fällt zunächst die Trennung von den Behörden und Leistungsträgern, wodurch auch jede Form der Ein- und Angliederung unzulässig ist. Dies folgt verfassungsrechtlich bereits durch das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG). Organisatorisch getrennt sind Gerichte und Verwaltungsbehörden, wenn sich in persönlicher und sachlicher Ausstattung keine Überschneidungen ergeben und die Gerichte außerhalb der Gerichtsverwaltung keine Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Die Ausübung eines Mandats in der kommunalen Vertretungskörperschaft führt jedoch nicht zur persönlichen Inkompatibilität, weil die Wahrnehmung von exekutiver Hoheitsgewalt hiermit nicht verbunden ist. Die Inkompatibilitätsvorschrift von § 4 DRiG sieht den Ausschluss eines Kommunalmandats nach h. M. nicht vor[7]. Des Weiteren umfasst die organisatorische Unabhängigkeit auch die Trennung von der Legislative (Art. 137 Abs. 1 GG, § 36 Abs. 2 DRiG, § 4 Abs. 1 DRiG). Ob die organisatorische Trennung von anderen Gerichtsbarkeiten, wie sie derzeit einfach gesetzlich vorgeschrieben ist, auch verfassungsrechtlich geboten ist, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.[8] Diese Frage betrifft das Problem der Einheitsgerichtsbarkeit, bei der keine organisatorische Trennung mehr vorhanden ist, sondern nur noch unterschiedliche Spruchkörper existieren. Aus Art. 19 Abs. 4 GG lässt sich lediglich ableiten, dass staatliches Verwaltungshandeln in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig gerichtlich überprüft wird, nicht aber, dass dies durch eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit zu erfolgen hat. Auch aus Art. 95 Abs. 1 GG lässt sich nichts gegen die Aufgabe der eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit und deren Zusammenlegung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit entnehmen.[9] Art. 95 Abs. 1 GG schließt nur die Errichtung eines einheitlichen obersten Bundesgerichts für die aufgeführten Gerichtszweige aus, trifft aber für die Länder keine Bestimmung.

Den Richtern[10] ist durch Art. 92 GG die Wahrnehmung der Rechtsprechung übertragen worden. Sie sind somit verfassungsunmittelbare Organe und nicht bloße Organwalter der Gerichte.[11] Die rechtsprechende Tätigkeit des Richters wird unmittelbar dem Staat als Gerichtsträger zugerechnet. Die Stellung des Richters ist durch organisatorische Selbstständigkeit, persönliche und sachliche Unabhängigkeit sowie Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten gekennzeichnet.

Dabei garantiert die persönliche Unabhängigkeit des Richters dessen Unabsetzbarkeit sowie Unversetzbarkeit (Inamovibilität).[12] Verfassungsrechtlich verankert ist dies durch Art. 97 Abs. 2 GG und Art. 33 Abs. 5 GG, weiter einfach gesetzlich durch das DRiG sowie die Richtergesetze der Länder. Nicht verfassungsrechtlich garantiert ist die derzeitige einfach gesetzlich geregelte Anstellung auf Lebenszeit (§ 10 DRiG). Einschränkungen für Richter auf Probe und kraft Auftrages (§ 11 Abs. 3 SGG) sind im Interesse der Schaffung richterlichen Nachwuchses verfassungsrechtlich und mit Blick auf Art. 6 EMRK zulässig.[13]

Unter der sachlichen Unabhängigkeit ist die Freiheit von allen Einflussnahmen und Weisungen gegenüber staatlichen Stellen zu verstehen, die die dem Richter zur unabhängigen Wahrnehmung übertragenen Bereiche beeinflussen. Dies soll gewährleisten, dass der Richter sich in seiner Entscheidungsfindung allein an Recht und Gesetz ausrichtet. Dem weisungsfreien Bereich ist nicht nur die Recht sprechende Tätigkeit im engeren Sinne zuzuordnen, sondern etwa auch die Geschäftsverteilung durch das Präsidium. Die Unabhängigkeit bezieht sich nicht auf das Mitwirken eines Richters in der Gerichts- und Justizverwaltung.[14]

Die Unterscheidung zwischen Kernbereich und äußerem Ordnungsbereich[15] dient der Abgrenzung zwischen unzulässigen und zulässigen Maßnahmen der Dienstaufsicht. Zum Kernbereich gehört all das, was die eigentliche Rechtsprechung sowie die sie vor- und nachbereitenden Sach- und Verfahrensentscheidungen ausmacht. Zum äußeren Ordnungsbereich gehört das, was der eigentlichen Rechtsprechung soweit entzogen ist, dass dafür die Garantie des Art. 97 Abs. 1 GG nicht in Anspruch genommen werden kann.[16] Die im Rahmen der persönlichen Unabhängigkeit zulässige Ausnahme für Richter auf Probe oder kraft Auftrags gilt nicht für die sachliche Unabhängigkeit. Jede Weisung würde einen Verstoß gegen Art. 97 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG darstellen.

Unter der inneren Unabhängigkeit ist die charakterliche Eignung für das Richteramt, die ihn zur Kontrolle staatlicher Gewalt befähigt, zu verstehen. Sie wird dadurch dokumentiert, dass der Richter sich gegen jede Form von Einflussnahme durch staatliche Stellen, Medien oder Dritte verwahrt und sich auch von eigenen Wünschen oder Motiven nicht leiten lässt.

Der Prüfungsumfang der Sozialgerichte ergibt sich aus der Bindung der Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG). Unter Gesetz sind alle gültigen Rechtssätze zu verstehen, insbesondere die formellen und materiellen Gesetze des Bundes und der Länder, wie Parlamentsgesetze, Verordnungen, Satzungen.[17] Verwaltungsvorschriften sind keine Gesetze.

Bei Auslegung und Anwendung der Gesetze sind die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu beachten.[18] Aus Art. 100 Abs. 1 GG folgt, dass die Verwerfungskompetenz von formellen Gesetzen des Bundes nur durch das Bundesverfassungsgericht möglich ist.[19]

Die Gesetzesbindung steht der Fortbildung des Rechts nicht entgegen.[20] Die Vielfältigkeit der Lebenswirklichkeit und die Unzulänglichkeit umfassender gesetzlicher Regulierungen macht es erforderlich, auch auf neuartige Problemkreise oder lückenhafte Gesetzeslagen zu reagieren. Der Richter kann die Streitentscheidung nicht mit Hinweis auf solche Problemstellungen ablehnen. Die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung ist nur dann überschritten, wenn auf diese Weise gewonnene Erkenntnisse im Widerspruch zu den sichtbaren Wertungen des jeweiligen Rechtsgebietes stehen.[21] Die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung wird durch die innere Ordnung des jeweiligen Regelungsgebietes gezogen.[22]

Als Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG) sind die allgemeinen völkerrechtlichen Regeln vom Gericht zu berücksichtigen. Schließlich gehören zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab auch die Unionsnormen, die weder Bestandteil des bundesdeutschen noch des Völkerrechts sind, sondern Ausfluss einer eigenständigen Rechtsordnung.[23] Die innerstaatliche Verbindlichkeit folgt aus Art. 23 GG. Kollidiert nationales Recht und Unionsrecht, hat das Unionsrecht Anwendungsvorrang. Die Unionsrecht entgegenstehende nationale Vorschrift bleibt unanwendbar. Das Gericht prüft dies selbstständig.[24]

B.Aufbau und Funktion der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (Horn)

Der Gerichtsaufbau innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit gliedert sich im Einzelnen wie folgt:

I.Die Sozialgerichte

Die Sozialgerichte werden als unterste Instanzen von den Ländern errichtet (§ 7 SGG). Die Errichtung und Aufhebung eines Gerichts und die Verlegung eines Gerichtssitzes werden durch Gesetz angeordnet. Eine Änderung in der Abgrenzung der Gerichtsbezirke kann auch durch Rechtsverordnung bestimmt werden. Außerhalb des Sitzes eines Sozialgerichts kann das Land Zweigstellen errichten. Die Sozialgerichte entscheiden im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht. Bei den Sozialgerichten werden Kammern gebildet, die in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig werden (§§ 10 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGG). Das Sozialgericht besteht danach aus der notwendigen Zahl der Vorsitzenden (Berufsrichtern) und aus den von der Landesbehörde auf fünf Jahre berufenen ehrenamtlichen Richtern (§§ 9 Abs. 1 und 13 SGG). Die Kammereinteilung erfolgt nach § 10 SGG nach den einzelnen der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Sachgebieten. Es bestehen danach Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitsförderung einschließlich der übrigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit, für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende, für Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes sowie für Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts. Hinzu treten nach Bedarf Kammern für Angelegenheiten der Knappschaftsversicherung einschließlich der Unfallversicherung für den Bergbau. Für das Vertragsarztrecht – Streitigkeiten aufgrund der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Vertragsärzten, Psychotherapeuten, Vertragszahnärzten einschließlich ihrer Vereinigungen und Verbände – sind nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGG eigene Kammern zu bilden, weil nur solche Personen im Spruchkörper mitwirken sollen, die sachkundig und mit der besonderen Materie sowie den tatsächlichen Verhältnissen in der vertragsärztlichen Versorgung vertraut sind.[25] § 10 Abs. 3 SGG eröffnet schließlich die Möglichkeit, den Bezirk einer Kammer auf Bezirke anderer Sozialgerichte desselben Landes zu erstrecken, womit die gleichmäßige Auslastung von Fachkammern mit kleinen Sachgebieten bezweckt wird.[26] Nach § 10 Abs. 3 Satz 2 SGG ist es durch Staatsvertrag zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland möglich, dass der Bezirk einzelner Kammern auf die Bezirke anderer Sozialgerichte erstreckt werden kann.[27]

Die ehrenamtlichen Richter werden jeweils innerhalb des Sozialgerichts für ein Geschäftsjahr auf die Kammern verteilt. Auch hier erfolgt die Aufteilung nach den jeweiligen Sachgebieten und somit aus den Reihen der Organisationen und Vereinigungen, von denen die ehrenamtlichen Richter nach § 14 SGG der zur Berufung zuständigen Landesbehörde benannt worden sind. Nach § 12 Abs. 2 SGG gehört in den Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Grundsicherung für Arbeitsuchende einschließlich der Streitigkeiten aufgrund des § 6a des Bundeskindergeldgesetzes und der Arbeitsförderung je ein ehrenamtlicher Richter dem Kreis der Versicherten und der Arbeitgeber an. Dabei sollen, sofern für einzelne Zweige der Sozialversicherung eigene Kammern gebildet sind, die ehrenamtlichen Richter in diesen Kammern an dem jeweiligen Versicherungszweig beteiligt sein. Das bedeutet, dass bei gesonderten Kammern der Rentenversicherung, der Krankenversicherung oder der Unfallversicherung die ehrenamtlichen Richter jeweils innerhalb der einzelnen Kammern diesen gesonderten Versicherungszweigen angehören sollen. In den Kammern für Streitigkeiten aufgrund der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Vertragsärzten (Vertragsarztrecht iwS) wirkt je ein ehrenamtlicher Richter aus den Kreisen der Krankenkassen und der Vertragsärzte, Vertragszahnärzte und Psychotherapeuten mit.[28] In den Kammern für Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts wirken zum einen ehrenamtliche Richter aus dem Kreis der mit dem sozialen Entschädigungsrecht oder dem Recht der Teilhabe behinderter Menschen vertrauten Personen mit, zum anderen wirkt je ein ehrenamtlicher Richter aus dem Kreis der Versorgungsberechtigten, der behinderten Menschen im Sinne des SGB IX und der Versicherten mit. Dabei sollen Hinterbliebene von Versorgungsberechtigten in angemessener Zahl beteiligt werden. In den Kammern für Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes wirken ehrenamtliche Richter aus den Vorschlagslisten der Kreise und der kreisfreien Städte mit, was der Regelung zur Auswahl der ehrenamtlichen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 28 Satz 1 VwGO) entspricht. Diese ehrenamtlichen Richter müssen keine besonderen gruppenbezogenen Voraussetzungen erfüllen, sondern das gesamte Staatsvolk repräsentieren. Grund hierfür ist, dass es sich um Angelegenheiten handelt, in denen es um steuerfinanzierte Leistungen geht.[29]

Die bei den Sozialgerichten errichteten Kammern entscheiden als Gerichte erster Instanz. Organisatorisch sind bei jedem Sozialgericht Präsidien zu bilden. Diese bestehen aus dem Präsidenten oder Aufsicht führenden Richter als Vorsitzenden und nach §§ 6 SGG, 21a Abs. 2 GVG einer weiteren Zahl von Mitgliedern des Präsidiums abhängig von der Anzahl der Richterplanstellen des Gerichts an dem Tag, der dem Tag des Beginns des Geschäftsjahres um sechs Monate vorhergeht. Maßgeblich ist dabei die Zahl der zugewiesenen, nicht der tatsächlich besetzten Planstellen. Als Geschäftsjahr gilt das Kalenderjahr. Maßgeblicher Stichtag ist deshalb der 30.06. eines jeden Jahres. Die Größe des Präsidiums wird auf höchstens 11 Mitglieder begrenzt, was zwar zu einem geringeren Repräsentationsgrad der Richterschaft führt, aber im Interesse der effektiven Arbeit des Gremiums geboten ist.

§ 21b GVG und die auf der Grundlage von § 21b Abs. 5 GVG erlassene Wahlordnung vom 19.09.1972[30] enthalten die maßgebenden Wahlvorschriften. Das Präsidium wird durch Wahl gebildet, wobei alle zwei Jahre Teilwahlen stattfinden. Für jeweils die Hälfte der Mitglieder gelten deshalb zeitlich versetzte Wahlperioden. § 21b GVG trifft Bestimmungen über die Wahl in Verbindung mit den Wahlordnungen für die Präsidien der Gerichte. Die Wahlberechtigung findet sich in § 21b Abs. 1 Satz 1 und 3 GVG und zieht eine Wahlpflicht nach sich. Die Teilnahme an der Wahl gehört zu den richterlichen Amtsgeschäften.[31] Bei der unentschuldigten Wahlverweigerung handelt es sich um ein Dienstvergehen, das Maßnahmen der Dienstaufsicht rechtfertigt.[32] Die Verletzung der Wahlpflicht hat keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Wahl selbst. Durch die Wahl wird die Mitgliedschaft im Präsidium begründet, eine Wahlannahme ist nicht notwendig. Die Wahl kann nicht abgelehnt und die Zugehörigkeit zum Präsidium auch nicht aufgegeben werden.[33] § 21b Abs. 1 Satz 2 und 3 GVG regelt die Wählbarkeit. Der Präsident kann als geborenes Mitglied nicht gewählt werden, weil sich die Bestimmungen auf die zu wählenden Richter, nicht auf den Präsidenten beziehen. § 21b Abs. 3 Satz 2 GVG regelt ein reines Mehrheitswahlsystem als Wahlverfahren. Nach Satz 3 der Vorschrift sind die Länder ermächtigt, andere Wahlverfahren, insbesondere ein Verhältniswahlsystem für die Wahl zum Präsidium durch Landesgesetz zu bestimmen. Die Wahlanfechtung ist nach § 21b Abs. 6 GVG mit der Behauptung einer objektiven Gesetzesverletzung möglich. Das Gesetz nennt keine Anfechtungsfrist. Zuständig ist in Bezug auf das Präsidium eines SG oder eines LSG ein Senat des BSG, in Bezug auf das BSG ein Senat des BSG. Nach § 21b Abs. 6 Satz 4 GVG gelten für das Verfahren der Wahlanfechtung ergänzend die Vorschriften des FamFG sinngemäß. Beteiligte sind das Präsidium und der Anfechtende. Berechtigt zur Anfechtung sind nach § 21b Abs. 6 Satz 1 GVG alle in § 21b Abs. 1 Satz 1 GVG bezeichneten wahlberechtigten Richter, erfasst sind deshalb auch Richter, die nach § 21b Abs. 1 Satz 3 GVG vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, an eine Verwaltungsbehörde oder für mehr als drei Monate an ein anderes Gericht abgeordnet oder beurlaubt sind. Für das Bestehen des Anfechtungsrechts ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21b Abs. 1 Satz 1 GVG am Wahltag maßgebend, sodass auch ein später versetzter Richter anfechtungsberechtigt sein kann. Ist bei der Wahl ein Gesetz verletzt worden und kann die Verletzung das Wahlergebnis beeinflusst haben, hat die Wahlanfechtung sachlichen Erfolg. Die Wahl wird dann mit der Folge der Notwendigkeit ihrer Wiederholung für ungültig erklärt. Eine rechtskräftige Ungültigkeitsvoraussetzung hat die Auflösung des bisherigen Präsidiums zur Folge, sodass bis zur Bildung eines neuen Präsidiums die Notkompetenz des Präsidenten nach § 21i Abs. 2 GVG gilt. Nach § 21b Abs. 6 Satz 3 GVG führt die Ungültigkeitserklärung der Wahl zum Präsidium nicht zur Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung unter dem Aspekt des Verstoßes gegen die Garantie des gesetzlichen Richters.[34] Scheidet ein Mitglied des Präsidiums aus, tritt nach § 21c Abs. 2 GVG an seine Stelle der oder die durch die letzte Wahl Nächstberufene. Maßgebend ist die letzte Teilwahl, auch dann, wenn das ausgeschiedene Mitglied in der der letzten Teilwahl vorangegangen Teilwahl gewählt worden ist.[35]

Das Präsidium entscheidet in Sitzungen, zu denen der Vorsitzende die Mitglieder einlädt. Auch die Teilnahme an den Sitzungen gehört zu den Dienstpflichten der Richter. Sofern die Beschlussfähigkeit des Präsidiums gefährdet sein könnte, geht die Pflicht zur Teilnahme anderen Dienstpflichten vor.[36] In geeigneten Fällen kann ein Präsidiumsbeschluss auch im Umlaufverfahren gefasst werden.[37] Ein Ergebnisprotokoll über die vom Präsidium gefassten Beschlüsse mit einer die Richtigkeit des Protokolls bestätigenden Unterschrift des Vorsitzenden und des Protokollführers ist erforderlich, aber auch ausreichend.[38] Bezüglich Beratung und Abstimmung sind die Sitzungen grundsätzlich nicht öffentlich; der Vorsitzende leitet die Präsidiumssitzung. Die Präsidiumsmitglieder können weder von der Mitwirkung ausgeschlossen noch können sie abgelehnt werden. Das Präsidium entscheidet durch Beschluss und ist nach § 21i Abs. 1 GVG beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte seiner gewählten Mitglieder (ohne den Präsidenten) anwesend sind. Beschlüsse werden mit Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder gefasst. Ob Stimmenthaltung zulässig ist, ist umstritten.[39]

Kernaufgabe des Präsidiums ist die Geschäftsverteilung, deren Vornahme eine richterliche Tätigkeit ist, sodass die Unabhängigkeitsgarantie von Art. 97 Abs. 1 GG gilt.[40] Den Inhalt des Geschäftsverteilungsplans regelt § 21e Abs. 1 Satz 1 GVG, wonach das Präsidium die Besetzung der Spruchkörper mit Berufsrichtern einschließlich ihrer Vertretung (personelle Geschäftsverteilung) bestimmt und die Geschäfte verteilt (sachliche Geschäftsverteilung). Der Begriff Geschäftsverteilung ist dabei umfassend zu verstehen. Er umfasst auch die Besetzung der Spruchkörper und die Regelung der Vertretung für den Fall der Verhinderung eines oder mehrerer ihrer Mitglieder.

Für die Geschäftsverteilung in der Sozialgerichtsbarkeit gelten im Wesentlichen folgende Grundsätze:

1. Abstraktionsprinzip

Die Geschäftsverteilung unterliegt dem Abstraktionsprinzip. Die Zuständigkeit der Fachkammern muss sich im Voraus aus abstrakt-generellen Regeln bestimmen lassen. Darüber hinaus müssen die Besetzung der Spruchkörper und die Vertretung im Vorfeld nach abstrakt-generellen Regelungen festgelegt sein. Das Präsidium bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, nach welchen Merkmalen die Verteilung der Streitsachen und die Zuweisung der Richter zu den Fachkammern erfolgt. Eine Verteilung nach Sachgebieten ist zulässig, eine solche nach Anfangsbuchstaben des Klägers kann zu Manipulationen führen und ist deshalb unzulässig.[41]

§ 21e Abs. 4 GVG macht eine Ausnahme vom Abstraktionsprinzip. Danach kann das Präsidium für bereits anhängige Verfahren bestimmen, dass ein Richter oder Spruchkörper, der in einer Sache tätig geworden ist, für diese nach einer Änderung der Geschäftsverteilung weiterhin zuständig bleibt.

2. Bestimmtheitsgebot

Die Verteilung der Streitsachen muss eindeutig, also hinreichend bestimmt sein. Bei Zweifeln entscheidet das Präsidium.[42]

3. Vollständigkeitsprinzip

Es sind sämtliche Streitsachen auf die Spruchkörper zu verteilen. Weder einzelne noch eine Gruppe von Streitsachen darf unverteilt bleiben. Jeder dem Gericht zugewiesene Richter ist auch einem Spruchkörper zuzuteilen. Richter können nach § 21e Abs. 1 Satz 4 GVG zu ordentlichen Mitgliedern in mehreren Spruchkörpern bestimmt werden.[43]

4. Jährlichkeitsprinzip

Nach § 21e Abs. 1 Satz 2 GVG trifft das Präsidium die Anordnungen vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer. Geschäftsjahr ist das jeweilige Kalenderjahr. Aus dem in § 21e Abs. 1 Satz 2 GVG festgelegten Jährlichkeitsprinzip folgt, dass der auf ein Geschäftsjahr bezogene Geschäftsverteilungsplan nach dessen Ablauf außer Kraft tritt. Die mit Beginn des Geschäftsjahres noch anhängigen und künftig eingehenden Verfahren werden alljährlich auf die Spruchkörper verteilt.[44]

5. Richterliche Aufgaben des Präsidenten

Der Präsident bestimmt nach § 21e Abs. 1 Satz 3 GVG selbst über die von ihm auszuführenden richterlichen Tätigkeiten. Zweck der Regelung ist es, dem Präsidenten die Entscheidung zu überlassen, welche Arbeitsbelastung durch richterliche Aufgaben sich mit Justizverwaltungsangelegenheiten und den Pflichten als Vorsitzender des Präsidiums vereinbaren lassen.[45]

6. Änderungen während des Geschäftsjahres

Nach § 21e Abs. 1 GVG dürfen die Anordnungen während des Geschäftsjahres nach § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG nur geändert werden, wenn dies wegen Überlastung oder ungenügender Auslastung eines Richters oder Spruchkörpers oder in Folge des Wechsels oder dauerhafter Verhinderung einzelner Richter erforderlich wird. In dem das Gesetz von „den Anordnungen nach Abs. 1“ spricht, macht es deutlich, dass die notwendigen Änderungen auf die „Verteilung der Geschäfte“ und auch auf die Besetzung der Spruchkörper oder die Vertretungsregelung bezogen sind. Eine Änderung in diesem Sinne ist gegeben, wenn einem Spruchkörper die Zuständigkeit für Verfahren zugewiesen wird, für die er bisher nicht zuständig war, wenn ihm die Zuständigkeit entzogen wird, wenn ihm Richter zugewiesen werden, die bisher nicht Mitglied des betreffenden Spruchkörpers waren, wenn Richter den Spruchkörper verlassen oder wenn andere Richter als bisher zur Vertretung berufen werden. Das Präsidium hat pflichtgemäß zu beurteilen, ob eine Überlastung oder mangelnde Auslastung vorliegt; die Beurteilung muss sachlich vertretbar sein, was der Fall ist, wenn nur auf diese Weise dem Verfassungsgebot eine Gewährleistung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit nachzukommen ist.[46]

Ein Richter wechselt bei seinem Eintritt in den Ruhestand, Tod sowie bei sonstigem Ausscheiden etwa im Wege der Versetzung, Beförderung oder Abordnung. Außerdem liegt ein Wechsel vor, wenn ein weiterer Richter in das Gericht eintritt. Dem steht die Einrichtung eines weiteren Spruchkörpers gleich, auch wenn dies nicht durch das Hinzukommen weiterer Richter oder Überlastung bedingt ist.[47]

Fehler in der Geschäftsverteilung können die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzen, wobei die Verletzung auf einem fehlerhaften Geschäftsverteilungsplan einerseits und andererseits darauf beruhen kann, dass die Besetzung dem Geschäftsverteilungsplan widerspricht. Deshalb können Fehler im Geschäftsverteilungsplan oder fehlerhafte Präsidiumsbeschlüsse zur nicht ordnungsgemäßen Besetzung des Spruchkörpers führen und zu einem wesentlichen Verfahrensmangel nach § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG. Voraussetzung hierfür ist, dass die Verletzung der Geschäftsverteilung willkürlich erfolgt ist. Willkür liegt nur dann vor, wenn die Annahme der Zuständigkeit bei objektiver Betrachtung unverständlich und offensichtlich unhaltbar ist.[48]

Neben den Richtern sind in den Sozialgerichten nicht richterliche Beamte und Angestellte tätig. Bei jedem Gericht wird nach § 4 SGG eine Geschäftsstelle eingerichtet, die mit der erforderlichen Zahl von Urkundsbeamten besetzt wird. Diese Regelung gilt für alle Instanzen, also sowohl für die Sozialgerichte wie auch für die Landessozialgerichte und das Bundessozialgericht.

II.Die Landessozialgerichte

Die Landessozialgerichte sind als Berufungs- und Beschwerdeinstanzen ebenfalls von den Ländern zu errichten. Wie bei den Sozialgerichten werden die Errichtung und die Aufhebung eines Gerichts sowie die Verlegung eines Gerichtssitzes durch Gesetz angeordnet (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine Änderung in der Abgrenzung der Gerichtsbezirke kann durch Rechtsverordnung erfolgen (§ 28 Abs. 1 Satz 3 SGG). Mehrere Länder können ein gemeinsames Landessozialgericht errichten. Hiervon haben die Länder von Berlin und Brandenburg sowie von Niedersachsen und Bremen Gebrauch gemacht, sodass nur 14 statt 16 Landessozialgerichte bestehen.

Das Landessozialgericht besteht nach § 30 Abs. 1 SGG aus dem Präsidenten, den vorsitzenden Richtern, weiteren Berufsrichtern und den ehrenamtlichen Richtern. Was die Verwaltung und den inneren Aufbau anbetrifft, so gilt auch hier die Präsidialverfassung der Gerichte nach §§ 21a ff. GVG. Das Präsidium besteht aus dem Präsidenten als Vorsitzenden und einer näher bestimmten Anzahl gewählter Richter als weiteren Mitgliedern. Für das Präsidium gelten die Vorschriften wie bei den Sozialgerichten entsprechend. Als richterliche Institution bestehen bei den Landessozialgerichten Senate, die ebenfalls nach Fachgebieten aufgegliedert sind. Nach § 31 SGG sind daher Senate für Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitsförderung einschließlich der übrigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit, für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende, für Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes sowie für Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts zu bilden. Ein eigener Senat muss für das Vertragsarztrecht und für Antragsverfahren nach § 55a Abs. 2 SGG gebildet werden (§ 31 Abs. 2 SGG). Es besteht für die Länder die Möglichkeit, den Bezirk eines Senats auf die Gebietsteile mehrerer Länder durch Staatsvertrag auszudehnen.[49]

Jeder Senat wird in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Aufschlüsselung und Aufteilung der ehrenamtlichen Richter in den Senaten erfolgt in derselben Weise wie bei den Sozialgerichten. § 12 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2–5 SGG gilt entsprechend.

Im Senat führt der Präsident des Landessozialgerichts oder ein Vorsitzender Richter den Vorsitz. Nach § 21 f. GVG führt den Vorsitz bei Verhinderung des Vorsitzenden das vom Präsidium bestimmte Mitglied des Spruchkörpers. Ist auch dieser Vertreter verhindert, führt das dienstälteste, bei gleichem Dienstalter das lebensälteste Mitglied des Spruchkörpers den Vorsitz. Eine weitreichende Veränderung brachte das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und der Gerichte vom 22.12.1999[50], mit dem zur Effizienzsteigerung der Justiz die richterliche Selbstverwaltung gestärkt, überkommene Privilegien innerhalb der Richterschaft beseitigt und die Eigenverantwortlichkeit der Rechtsprechung gestärkt werden sollten.[51] So wurde u. a. das Vorsitzenden-Quorum in § 21a Abs. 2 Satz 2 GVG a. F. abgeschafft und die früher dem Vorsitzenden obliegende Entscheidung über die spruchkörperinterne Geschäftsverteilung auf alle dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter übertragen.

III.Das Bundessozialgericht

Das Bundessozialgericht entscheidet über das Rechtsmittel der Revision (§ 39 SGG). Es hat nach § 38 SGG seinen Sitz in Kassel und besteht aus dem Präsidenten, den Vorsitzenden Richtern, weiteren Berufsrichtern und den ehrenamtlichen Richtern. Während bei den Sozialgerichten neben den fachlichen Voraussetzungen keine weiteren Bedingungen an die Ernennung zum Berufsrichter in der Sozialgerichtsbarkeit geknüpft sind, müssen die Berufsrichter bei dem Bundessozialgericht nach § 38 Abs. 2 SGG das 35. Lebensjahr vollendet haben. Im Übrigen gelten hier die Vorschriften des Richterwahlgesetzes. Allgemeine Dienstaufsichtsbehörde ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das Gesetz verweist wegen der Besetzung und Bildung der Senate in § 40 SGG auf die entsprechenden Vorschriften über die Bildung und Besetzung der Senate bei den Landessozialgerichten (§§ 31 Abs. 1, 33 SGG). Neben die Fachsenate tritt als eine Besonderheit der große Senat nach § 41 SGG. § 41 Abs. 5 SGG stellt sicher, dass alle Senate des BSG unabhängig von der konkreten Betroffenheit angemessen repräsentiert sind. Der große Senat besteht deshalb stets aus dem Präsidenten (Vorsitzenden des 1. Senats), je einem Berufsrichter aller anderen Senate, je zwei ehrenamtlichen Richtern aus dem Kreis der Versicherten und der Arbeitgeber, je einem weiteren ehrenamtlichen Richter aus dem sozialen Entschädigungsrecht/Teilhabe behinderter Menschen und dem Kreis der Versorgungsberechtigten/behinderten Menschen (Abs. 5 Satz 1). Zu dieser Stammbesetzung treten bei Betroffenheit des Vertragsarztsenats darüber hinaus je ein ehrenamtlicher Richter aus dem Kreis der dortigen ehrenamtlichen Richter (Abs. 5 Satz 2), bei Betroffenheit des Sozialhilfesenats oder Senats in Angelegenheiten des Asylbewerberleistungsgesetzes zusätzlich zwei der von der Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände vorgeschlagenen ehrenamtlichen Richter (Abs. 5 Satz 3) hinzu. Den Vorsitz im großen Senat führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstältesten Mitglied (§ 41 Abs. 6 Satz 2 SGG).

Die Aufgabe des großen Senats am BSG ist es, die Rechtsprechung der einzelnen Senate untereinander zu koordinieren. Will in einer Rechtsfrage ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats oder einer bereits früher getroffenen Entscheidung des großen Senats abweichen, so muss der große Senat angerufen werden (Divergenzvorlage).[52] Dieser in § 41 Abs. 2 SGG geregelte Fall verpflichtet die Senate zur Anrufung des großen Senats. In Fragen grundsätzlicher Bedeutung kann ein erkennender Senat die Entscheidung des großen Senats herbeiführen, wenn nach der Überzeugung dieses Senats die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordert (§ 41 Abs. 4 SGG). Die Anrufung des großen Senats ist in diesem Falle nicht zwingend vorgeschrieben[53], sodass es von der Entscheidung des Senats – also von der Mehrheit der Senatsmitglieder – abhängt, ob der große Senat angerufen werden soll oder nicht. Die Besetzung des großen Senats ist bei Vorlagen nach § 41 Abs. 2 und Abs. 4 SGG gleich. Der große Senat prüft die Zulässigkeit seiner Anrufung für die Divergenzvorlage nach Abs. 2 und 3 und für die Grundsatzvorlage nach Abs. 4. Soweit die Vorlage unzulässig oder die Entscheidungserheblichkeit einer Rechtsfrage durch eine Rechtsänderung entfallen ist und der anrufende Senat die Vorlage nicht zurücknimmt, beendet der große Senat das Vorlageverfahren „in der nach Rechtslage geeigneten Form“, etwa durch Feststellung der Erledigung.[54] Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellt § 41 Abs. 7 Satz 2 SGG in das Ermessen des großen Senats; er kann von einer mündlichen Verhandlung auch ohne Zustimmung der Beteiligten absehen.[55] Der große Senat teilt den Beteiligten des Verfahrens die Absicht, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, mit und gibt ihnen Gelegenheit, sich zum Verfahren und den zu entscheidenden Rechtsfragen zu äußern.[56] Die Entscheidung des großen Senats erfolgt durch Beschluss, in dem er nur die ihm gestellte Rechtsfrage beantwortet. Die Rechtsansicht des großen Senats ist für den erkennenden Senat, der abschließend über die Revision zu befinden hat, bindend, wobei sich die Bindungswirkung nur auf das anhängige Verfahren erstreckt und erkennende Senate nicht daran hindert, in anderen Verfahren eine vom großen Senat beantwortete Rechtsfrage erneut vorzulegen.

Wegen der Bildung des Präsidiums, der Vertretung des Präsidenten und der übrigen mit der Verwaltung des Bundessozialgerichts zusammenhängenden Bestimmungen kann auf das bei den Sozial- und Landessozialgerichten Gesagte verwiesen werden. Als Besonderheit ist hervorzuheben, dass das Präsidium des BSG unter Hinzuziehung der beiden der Geburt nach ältesten Bundessozialrichter eine Geschäftsordnung beschließt, die den Geschäftsgang am Bundessozialgericht regelt.

C.Rechtsweg und Zuständigkeit (Horn)

I.Zulässigkeit des Sozialrechtswegs

Wie bereits erwähnt sind die Sozialgerichte besondere Verwaltungsgerichte. Ihnen sind durch § 51 SGG bestimmte öffentlich-rechtliche, in Sachen der gesetzlichen Kranken- und der gesetzlichen – sozialen und privaten – Pflegeversicherung auch privatrechtliche Streitigkeiten zugewiesen. Der Zweck von § 51 SGG besteht darin, die sozialversicherungsrechtlichen Streitverfahren bei besonderen Verwaltungsgerichten mit darauf abgestellter Gerichtsverfassung und gerichtlichem Verfahren zu konzentrieren.

§ 51 Abs. 1 Nr. 1–5 SGG umfassen in erster Linie Angelegenheiten der Sozialversicherung, was ebenso wie in Art. 95 Abs. 1 GG nur die klassischen Zweige der Sozialversicherung meint, ergänzt um die Pflegeversicherung (§ 4 Abs. 2 SGB I). § 51 Abs. 1 Nr. 5 SGG („in sonstigen Angelegenheiten der Sozialversicherung“) dehnt den Sozialrechtsweg auf solche Ansprüche aus, die zwar materiell sozialversicherungsrechtlicher Art, aber nicht in den zugehörigen Büchern selbst, sondern etwa im SGB I, IV oder X oder wie die Künstlersozialversicherung in besonderen Gesetzen geregelt sind oder die weitere Durchführung der Sozialversicherung betreffen.[57] Streitverfahren um die Förderung der Einstellung landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit sind Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 18 Abs. 4 FELEG). Für Streitverfahren der Pflegeversicherung um die Anwendung des SGB XI sind die Sozialgerichte zuständig, für die Anwendung darüber hinaus erreichender Bestimmungen des Landesrechts die Verwaltungsgerichte. Angelegenheiten um Investitionsförderung für Pflegeeinrichtungen gehören vor die Verwaltungsgerichte[58], Streitigkeiten um Zustimmung der Aufsichtsbehörde zur gesonderten Berechnung von Investitionsaufwendungen gegenüber den Heimbewohnern fallen in die Zuständigkeit der Sozialgerichte.[59] Für eine landesrechtliche Umlage und der Pflegeeinrichtungen zum Ausgleich von Ausbildungslasten sind wiederum die Verwaltungsgerichte zuständig.[60] Auch über Rechtsstreitigkeiten mit den Versorgungswerken der freien Berufe entscheiden die Verwaltungsgerichte.[61] Weder die Insolvenzversicherung noch Klagen gegen Entscheidungen der Schiedsstellen nach den Rettungsdienstgesetzen der Länder wegen Festsetzung der Krankentransportleistungen fallen unter § 51 Abs. 1 SGG.[62]

§ 51 Abs. 1 Nr. 1–5 SGG erfasst alle Streitigkeiten, die aus Anlass der Durchführung der öffentlichen Aufgabe der Sozialversicherung entstehen, d. h. Streitigkeiten zwischen dem Bürger als Versichertem und einem Träger der Sozialversicherung und Streitigkeiten zwischen Sozialversicherungsträgern oder zwischen Sozialversicherungsträgern und einem Leistungserbringer oder der Aufsichtsbehörde.[63] Auch die Entscheidung über die Durchführung einer Nachversicherung obliegt den – beamtenrechtlichen – Versorgungsbehörden.[64] Die dienstrechtlichen Angelegenheiten der bei den Trägern der Sozialversicherung Beschäftigten zählen nicht zu den Angelegenheiten der Sozialversicherung.[65] Schließlich betrifft die Verwaltungsvollstreckung keine besonderen Fragen des materiellen Sozialrechts und gehört dementsprechend auch in Angelegenheiten der Sozialversicherung und der Sozialhilfe nach § 66 Abs. 3 SGB X vor die Verwaltungsgerichte.[66]

Die Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung in § 51 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 SGG erfassen auch die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern (Ärzte und Zahnärzte, Krankenhäuser, nichtärztliche Leistungserbringer wie Erbringer von Heil-, Hilfs- oder Arzneimitteln). Hierzu zählt die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (Vertragsarztrecht) oder zur Belieferung Versicherter mit Arznei- und Hilfsmitteln, ebenso wie Vergütungsklagen, auch eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse, selbst wenn Pflegesatzrecht im Vordergrund steht.[67] Die Zuständigkeit der Sozialgerichte schließt auch Streitigkeiten zwischen den Kassen und den Vereinigungen und Verbänden von Leistungserbringern ein, auch über Rahmenvereinbarungen über die Versorgung Versicherter, auch wenn diese aus Gründen des ärztlichen Berufsrechts in Streit gerät.[68] Weiter gehören vor die Sozialgerichte auch Streitigkeiten wegen Entscheidungen gemeinsamer Gremien auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung sowie des Großgeräteausschusses oder des Gemeinsamen Bundesausschusses, etwa über Arzneimittelrichtlinien.[69] Nach § 51 Abs. 2 Satz 1 SGG besteht eine ausdrückliche Zuständigkeit der Sozialgerichte, als durch die genannten Angelegenheiten Dritte betroffen werden. § 51 Abs. 3 SGG nimmt Streitigkeiten wettbewerbsrechtlicher Art, die Rechtsbeziehungen nach § 69 SGB V betreffen, von der Zuständigkeit der Sozialgerichte aus.

§ 51 Abs. 1 Nr. 4 SGG weist den Sozialgerichten die Zuständigkeit für die Angelegenheiten der Arbeitsförderung zu (SGB III). Im Übrigen ist der Rechtsweg für alle übrigen Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit eröffnet hinsichtlich Streitigkeiten auf Rechtsgebieten, deren Vollzug der BA durch Rechtsvorschrift übertragen ist. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG sind die Sozialgerichte für die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zuständig, also nicht nur für die unmittelbare Leistungserbringung, sondern auch für organisatorische Vorfragen.

§ 51 Abs. 1 Nr. 4a und Nr. 6a SGG erstreckt die Zuständigkeit der Sozialgerichte auch auf Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes, was etwa dann auch für die Klage auf Einweisung in ein städtisches Übergangsheim für Flüchtlinge gilt.[70] Gleiches gilt für Erstattungsstreitigkeiten wegen Sozialhilfekosten.[71]

Außerdem sind die Sozialgerichte nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 SGG für sämtliche Angelegenheiten des Sozialen Entschädigungsrechts mit Ausnahme der Kriegsopferfürsorge nach §§ 25–27 lBVG, nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 SGG für Streitigkeiten um die Feststellung einer Schwerbehinderung und den diesbezüglichen Ausweis nach § 152 SGB IX zuständig. § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG als Schlussregelung hält ältere bundesgesetzliche Sonderzuweisungen aufrecht, während die Vorschrift für jüngere Zuweisung nur deklaratorisch ist. Sie erlaubt, den Sozialgerichten durch besonderes Landesgesetz weitere landesrechtliche Streitigkeiten zuzuweisen.[72] Bundesrechtliche Zuweisungen bestehen für das Kindergeld (§ 15 BKGG), für das Eltern- und Erziehungsgeld (§ 13 BEEG), für Teile der Häftlingshilfe (§ 10 Abs. 3 HHG), für bestimmte Ansprüche wegen Impfschäden (§ 68 IfSG) bei mehreren Berufsgruppen spezifischen Sozialgesetzen und für mehrere Wiedergutmachungsansprüche (z. B. § 16 Abs. 2 VwRehaG).

II.Örtliche, sachliche und instanzielle Zuständigkeit

Die sachliche Zuständigkeitbestimmt, welches erstinstanzliche Gericht das Verfahren seiner Art wegen zu erledigen hat. Sie ist von der instanziellen und der örtlichen Zuständigkeit abzugrenzen und betrifft die Trennung zwischen erster Instanz und den Rechtsmittelinstanzen. Das Sozialgericht ist ausschließlich Gericht erster Instanz (§ 8 SGG), während das Landessozialgericht sowohl Rechtsmittelgericht (§ 29 Abs. 1 SGG) als auch Gericht erster Instanz (§ 29 Abs. 2 SGG) ist, dies gilt auch für das Bundessozialgericht (§ 39 Abs. 1 und Abs. 2 SGG).

§ 8 SGG bestimmt, dass die Sozialgerichte erster Instanz für alle Streitigkeiten zuständig sind, für die der Sozialrechtsweg nach § 51 SGG offensteht. Diese Zuständigkeit besteht dann nicht, wenn das SGG oder besondere Gesetze eine spezielle Zuweisung vornehmen. Die Zuweisungen in den §§ 29 Abs. 2 und 55a SGG, durch die die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landessozialgerichts begründet wird, und die Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 39 Abs. 2 SGG für das Bundessozialgericht haben daher gegenüber § 8 SGG Vorrang. Dies gilt auch für sondergesetzliche Zuweisungsnormen, wie z. B. § 81b Abs. 1 Satz 1 SGB X und Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

Die sachliche Zuständigkeit ist eine Sachurteilsvoraussetzung, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat. Ist bereits der Rechtsweg nicht gegeben, erfolgt eine Verweisung des Rechtsstreites nach §§ 202 Satz 1 SGG, 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Sofern der Rechtsweg eröffnet ist, sind die sachliche und örtliche Zuständigkeit zu prüfen. Bei sachlicher Unzuständigkeit verweist das Sozialgericht den Rechtsstreit nach §§ 98 Satz 1 SGG, 1a Abs. 2 Satz 1 GVG an das zuständige Landessozialgericht oder das Bundessozialgericht. Umgekehrt verweist das Bundessozialgericht die Streitsache bei Nichteröffnung des Sozialrechtswegs an das Sozialgericht, das über die Nichteröffnung gemäß § 8 SGG zu entscheiden hat. Bejaht das Sozialgericht seine sachliche Zuständigkeit, ist das Rechtsmittelgericht hieran gemäß §§ 88 SGG, 17a Abs. 5 GVG gebunden. Die erste Instanz entscheidet also abschließend.

Die sachliche Zuständigkeit des Sozialgerichts ist eine ausschließliche und der Parteidisposition entzogen, kann also weder durch Parteivereinbarung noch durch rügelose Einlassung begründet, geändert oder beseitigt werden. Die §§ 38, 39 ZPO sind nicht über § 202 SGG anwendbar. Diese Unterscheidung zwischen Sozialgerichts- und Zivilprozess folgt daraus, dass nach dem System des SGG die Zuständigkeit des Sozialgerichts den Grundsatz und diejenige des Landessozialgerichts oder des Bundessozialgerichts die Ausnahme darstellt.

Nach § 57 SGG ist das Sozialgericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Wohnsitz (§ 30 Abs. 1 SGB I) oder Aufenthaltsort (§ 30 Abs. 3 SGB I) hat, örtlich zuständig. Darüber hinaus kann der Kläger auch an dem für seinen Beschäftigungsort (nicht Ausbildungs- oder Studienort) zuständigen Sozialgericht klagen, wenn er in einem Beschäftigungsverhältnis steht. Das Wahlrecht ist „verbraucht“, wenn der Kläger an einem der Gerichtsorte Klage erhoben hat. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach dem Sitz des Beklagten, wenn der Kläger im Ausland seinen Wohnsitz hat. Bei Klagen juristischer Personen ist der Sitz der Zentralverwaltung maßgebend. Ist die erstmalige Zahlung einer Hinterbliebenenrente im Streit, kommt es auf den Wohnsitz der Witwe oder des Witwers an, nicht auf den Wohnsitz der „geschiedenen Witwe“, § 57 Abs. 2 Satz 1 SGG. In Vertragsarztangelegenheiten können sich Besonderheiten ergeben, § 57a SGG. In Statusangelegenheiten (§ 7a SGB IV) ist nach § 57 Abs. 7 SGG das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Nach § 59 SGG sind auch hier Zuständigkeitsvereinbarungen unbeachtlich.

D.Dezernatsarbeit und Verhandlungsführung in der Sozialgerichtsbarkeit (Horn)

I.Rechtliche Grundlagen der Dezernatsarbeit

„Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen“ (§ 103 Satz 1 1. Halbsatz SGG). Dezernatsarbeit dient damit zum einen prinzipiell der Herstellung von Entscheidungsreife und zum anderen der Wahl der angemessenen Art und Rechtsform der Verfahrensbeendigung. § 106 SGG zeigt den Weg auf, wie das Gericht der Pflicht aus § 103 Satz 1 SGG, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, nachkommt und stellt die Rechtsgrundlage für den Richter dar, auf welcher die einzelnen Aufklärungsanordnungen erlassen werden.

Ist die Entscheidungsreife herbeigeführt, stellt sich die Frage, welche die dem Einzelfall angemessene Entscheidungsart unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Sachangemessenheit bei gleichzeitiger Herstellung materieller Gerechtigkeit zu wählen ist.

In Betracht kommen:

im Hauptsacheverfahren die Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) im Einverständnis mit den Beteiligten sowie der Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) nach Anhörung der Beteiligten, auch ohne deren Einverständnis sowie schließlich die Entscheidung durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung (§§ 124 Abs. 1, 125 SGG);

im Eilverfahren Beschlüsse ohne mündliche Verhandlung (§§ 86 a, 86b SGG) sowie Beschlüsse aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Beweiserhebung ist auch im Eilverfahren zulässig und steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.

[73]

Bei der Auswahl der aufgezeigten Entscheidungsarten ist zu berücksichtigen, dass die Gerichtsbesetzung jeweils unterschiedlich ist. Soweit nicht der Richter als „Einzelrichter“, d. h. nicht in Kammerbesetzung entscheidet (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG), muss er unter dem Gesichtspunkt der Effizienz bedenken, dass die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung wie auch durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 124, 125 SGG) auch die Ladung und Anwesenheit zweier ehrenamtlicher Richter erfordert. Dagegen wirken bei Gerichtsbescheiden ehrenamtliche Richter nicht mit (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG). Es liegt auf der Hand, dass das Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung die zeitaufwendigste Art des Verfahrensabschlusses für den Richter und die Kammer ist. Außerdem ist hier der höchste Verwaltungsaufwand für die Serviceeinheiten (Ladungen, ggf. Reservierung von Sitzungssälen, Abrechnung mit den ehrenamtlichen Richtern). Im Übrigen handelt es sich dabei um den kostenintensivsten Verfahrensabschluss.

Auch im Eilverfahren wird der Richter zu erwägen haben, ob eine mündliche Verhandlung mit dem Erfordernis der Ladung ehrenamtlicher Richter (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGG) angezeigt ist; bei Beschlüssen ohne vorangegangene mündliche Verhandlung wirken die ehrenamtlichen Richter ohnehin nicht mit (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG). Soweit ein Richter zur Entscheidung eines Eilrechtsstreits die Durchführung einer Beweisaufnahme für erforderlich hält, wird er ebenfalls zu überlegen haben, wie der entscheidende Spruchkörper besetzt sein muss. Aus § 117 SGG, wonach das Gericht Beweis in der mündlichen Verhandlung erhebt, folgt, dass grundsätzlich auch durch mündliche Verhandlung entschieden werden muss, d. h. dann in der Besetzung von einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG). Wenn ausnahmsweise das Gericht gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 4 SGG „in geeigneten Fällen“ „bereits vor der mündlichen Verhandlung“ Beweis erhebt, folgt aus Wortlaut und Sinn der Regelung, dass dieser Beweisaufnahme eine mündliche Verhandlung nachzufolgen hat. Es gilt der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht Umfang und Art der Tatsachenermittlung nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt.[74]

II.Dezernatsbeschreibung

Regelmäßig übernimmt ein Richter bei Übertragung eines Dezernats auch eine Anzahl von Altfällen. Hier wird – ohne dass die Dienstaufsicht sich zu belastbaren Angaben bewegen lassen dürfte – vorausgesetzt, dass die Zahl der übernommenen und erledigten Fälle insgesamt dem unteren unausgesprochen erwarteten Erledigungspensum des erstinstanzlichen Richters pro Jahr entspricht. Die Streuung reicht von drei bis fünf Jahre alten Verfahren bis hin zum Gegenwartseingang. Zielsetzung muss nun der Abbau der Altverfahren sein um idealerweise nicht auf „Halte“ arbeiten zu müssen, keinen unnötigen Aktenumlauf durch Wiedervorlagen zu verursachen und – wichtig für den Berufseinsteiger – sich durch aktuelles Handeln die Freude an der richterlichen Tätigkeit und den Prozessbeteiligten das Vertrauen in die befriedende Funktion der dritten Gewalt zu bewahren.

III.Die Tätigkeit des Richters

Unabhängig davon, ob der Richter sein erstes Dezernat in der Sozialgerichtsbarkeit übernimmt, das Dezernat wechselt oder durch Umverteilung der Geschäfte innerhalb des Gerichts (vgl. § 21e Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 GVG) zusätzliche Altverfahren übernimmt, muss er sich zunächst einen Überblick über den Verfahrensbestand und die Neuzugänge verschaffen. Sinn und Zweck dessen ist weniger, die zu entscheidenden materiellen Rechtsfragen bereits jetzt zu klären, als vielmehr die Entscheidung über die Auswahl und Reihenfolge der Bearbeitung zu treffen. Es bietet sich an, dass der Bestand umgehend aufgelistet und nach Jahrgängen getrennt betrachtet wird. Nicht effizient ist es, auf die vom Vorgänger verfügten Wiedervorlagen zu warten. Dessen Wiedervorlagen sind nach seiner eigenen Arbeitsweise und eigenen individuellen Gesichtspunkten bestimmt worden. Wie akribisch der Richter die Akten beim ersten Durchgang durchgeht und in welchem Umfang er sich unmittelbar mit den Problemkreisen befasst, hängt nicht zuletzt von der Zahl der übernommenen Verfahren ab.

Dezernatsarbeit ist in erster Linie – hierauf wurde eingangs bereits hingewiesen – Herbeiführung der Entscheidungsreife, damit die Streitsachen möglichst effektiv erledigt werden können. Grundsätzlich hat der Richter die Auswahl

in welcher

zeitlichen Reihenfolge

er die Streitsachen zur Entscheidung oder sonstigen Beendigung bringt,

welche

Entscheidungsform

er wählt, um möglichst schnell und effizient zur Verfahrensbeendigung zu gelangen.

Bezüglich der zeitlichen Reihenfolge sind dem Verfasser in mehr als 35 Dienstjahren im Kern drei grundlegende Auswahlmethoden begegnet:

Vorgehen nur nach Zeitpunkt der Klageerhebung,

Zufallsauswahl (damit ist das Vorgehen nach Kriterien, die den Prozessbeteiligten nicht zugänglich oder nicht nachvollziehbar sind, zu verstehen) sowie

eine Mischform bestimmt nach zeitlichem Eingang und Sachkriterien.

Die Auswahlmethode „Zufall“ ist objektiv nicht sachdienlich und kann daher nicht weiterverfolgt werden. Der beiden anderen Methoden dürfte sich jeder Richter, auch der Verfasser, im Laufe seiner Dienstzeit schon bedient haben. Die Auswahl in der zeitlichen Reihenfolge des Eingangs stellt nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche Dienstaufsichtsbeschwerden einen unangreifbaren Gerechtigkeitsmaßstab dar und fördert das wichtige Ziel des Abbaus von Altverfahren. Dieser Bearbeitungsmaßstab dürfte auch angezeigt sein, wenn der Richter ein Dezernat übernimmt, das wenige Verfahren hat, die älter als etwa zwei Jahre alt sind. Wenn der Richter dann nicht übermäßig durch die Bearbeitung von Eilverfahren[75] belastet ist, ist der zeitliche Eingang der geeignete grundsätzliche Auswahlmaßstab. Allerdings kann es durch Dezernatswechsel oder Umverteilungen innerhalb des Gerichts immer wieder zu Verwerfungen in Bezug auf die Anzahl der abzuarbeitenden Altverfahren kommen. Deshalb ist die Methode Mischverfahren die erfahrungsgemäß geeignetste. Bei Übernahme ist zu differenzieren nach Alter und nach weiteren Auswahlkriterien. Unabhängig von der Richtzahl, die sich der Richter zur Eigenkontrolle und zur Motivation für die monatliche Erledigung setzt, ist ein gewisser Anteil von Altverfahren unvermeidbar. So könnte das eigendefinierte Ziel lauten, einen Dezernatsbestand zu erreichen, in dem sich nur noch bis zu zwei Jahre alte Streitsachen befinden. Danach richtet sich der jährliche Abbau der älteren Verfahren. Idealerweise gelingt es, die Neuzugänge nicht zu zukünftigen Altbeständen werden zu lassen und die Eilverfahren daneben zeitgerecht zu erledigen. Es bietet sich deshalb an, die Neuzugänge sogleich nach „einfachen Erledigungsmethoden“ oder – damit zusammenhängend – nach umgehender Entscheidungsreife durchzuarbeiten. Dies gilt auch für den Altverfahrensbestand außerhalb der Fixjahrgänge, d. h. der bestimmt zu erledigenden Jahrgänge.[76]

Sofort oder innerhalb des laufenden Geschäftsjahres können, weil inhaltlich einfach gelagert, erledigt werden:

fehlende örtliche Zuständigkeit. Ist das SG örtlich unzuständig, muss es den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 98 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG von Amts wegen durch Beschluss an das örtlich zuständige SG verweisen. Der Beschluss kann gemäß § 98 Satz 2 SGG nicht mit der Beschwerde angefochten werden und ist für das SG, an das verwiesen worden ist, bindend.

fehlende sachliche Zuständigkeit. Die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte ist in § 8 SGG geregelt.

Klagen, bei denen das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

[77]

Klagegegenstände, für die es eine ständige Kammerrechtsprechung gibt oder die ähnliche Probleme wie vielleicht vor Kurzem entschiedene Streitverfahren aufweisen. Beispiel: Im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird ein Fall abschließend bearbeitet, in dem es um die Frage geht, ob die Bedarfe für Unterkunft und Heizung angemessen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Angemessenheit der zu berücksichtigenden Unterkunftskosten unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle. Er eröffnet dem Leistungsträger keinen Beurteilungsspielraum. Die sachgerechte Bestimmung der im Einzelfall zu prüfenden Angemessenheit zum Bedarfszeitpunkt hat im Rahmen eines schlüssigen Konzepts die reale Lage auf dem maßgebenden örtlichen Wohnungsmarkt ebenso zu berücksichtigen wie Größe und Zusammensetzung der die Unterkunft nutzenden Bedarfsgemeinschaft. Weiterhin wird die Angemessenheit bestimmt durch den Wohnstandard, der Leistungsberechtigten zuzubilligen ist. Maßstab sind Unterkünfte, die in Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen grundlegenden Bedürfnissen genügen und keinen gehobenen Wohnungsstandard aufweisen.

[78]

Sinnvollerweise überprüft der Richter die bei Aktenübernahme erstellte Dezernatsliste auf vergleichbare Verfahren und zieht diese vor.

Des Weiteren zählen zu dieser Gruppe Verfahren, bei denen ständig Schriftsätze eingehen, die den Fall verworrener machen, bis hin zu sogenannten querulatorischen Klagen.

[79]

Je schneller hier entschieden wird, umso mehr Arbeit in der Zukunft wird erspart.

Schließlich sollten Verfahren, bei denen im Laufe der Zeit eine Veränderung des Klagegegenstandes droht, in der Bearbeitung vorgezogen werden.

Dies können nur Beispiele sein. Bei der Bestimmung der Vorzugskriterien verbleibt selbstverständlich Spielraum für jeden Richter, eigene Kriterien zu entwickeln. In jedem Fall besteht eine enge Wechselwirkung zwischen sachlichen Auswahlkriterien einerseits und der Wahl der Erledigungsart andererseits. Dies führt zu dem Problem der Wahl der der Streitsache angemessenen Entscheidungsform.

Die Wahlmöglichkeiten wurden bereits dargestellt. Ersichtlich sind die Streitverfahren, die bei der skizzierten Mischmethode nach Sachkriterien vorgezogen und das Dezernat quantitativ entlasten sollen, nicht zum Kammertermin zwecks Anberaumung einer mündlichen Verhandlung geeignet. Hier bietet sich vielmehr der Gerichtsbescheid an, dessen Einzelheiten in § 105 SGG geregelt sind. Manch eine Gerichtsbescheidsanfrage, die zudem mit einem rechtlichen Hinweis verbunden ist, führt zur unstreitigen Erledigung des Verfahrens. Insgesamt sollte der Richter immer so viele Gerichtsbescheidsfälle mit durchgeführter Anhörung im Dezernat haben, dass damit die selbst gesetzte monatliche Erledigungszahl ohne Weiteres erreicht werden kann, falls andere Erledigungsarten nicht ausreichen. Streitsachen, die demgegenüber rechtlich schwierig sind, weil ein Sachverhalt komplex ist und der Beurteilung unter zahlreichen rechtlichen Kriterien bedarf wie der angeführte Fall zur Frage der Rechtmäßigkeit des schlüssigen Konzepts, eignen sich nicht für den Gerichtsbescheid, sondern zur Entscheidung nach § 124 Abs. 1 SGG aufgrund mündlicher Verhandlung oder mit Einverständnis der Beteiligten auch ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG). Auch hier sollte stets eine Anzahl von Fällen im Dezernat vorhanden sein, bei denen der Richter vorsorglich das Einverständnis der Beteiligten zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung eingeholt hat. Oft fällt eine für die mündliche Verhandlung terminierte Sache so kurzfristig aus, dass die entstehende Lücke im Sitzungsplan nur mit einem solchen Verfahren – die ehrenamtlichen Richter wirken hier mit – gefüllt werden kann.

Streitsachen, deren Sachverhalt noch der Klärung bedarf, oder bei denen keine klaren Anträge gestellt sind, erfordern demgegenüber eine Erörterung mit den Beteiligten. Diese kann im Termin zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer oder auch in einem Erörterungstermin (§ 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG) vor dem Vorsitzenden erfolgen. Welche dieser gesetzlich vorgesehenen Erörterungsformen gewählt wird, hängt in erster Linie damit zusammen, in welchem Stadium der Entscheidungsreife sich eine Streitsache befindet und ob von den Möglichkeiten des § 106 Abs. 3 Ziffern 2–6 SGG bereits Gebrauch gemacht ist oder ob diese Handlungsmöglichkeiten im Einzelfall als nicht geeignet eingestuft werden.

Zur Herbeiführung der Entscheidungsreife sind die in § 106 SGG genannten Möglichkeiten einzusetzen, falls die Mittel des § 104 SGG, die schriftsätzliche Darlegung des Beteiligtenstandpunktes, vom Vorsitzenden als nicht ausreichend zur Aufbereitung des Prozessstoffes angesehen werden. Ob der Vorsitzende nun sofort einen Erörterungstermin anberaumt (§ 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG) oder zunächst nach den Ziffern 1–5 vorgeht, liegt in seiner eigenverantwortlichen Entscheidungsfreiheit. Der Verfasser selbst setzt auf umfassende sachliche Vorbereitung der Erörterung mit den Beteiligten und arbeitet mit Aufklärungsverfügungen, holt im Zweifelsfall Auskünfte ein und ordnet im Bedarfsfall die Vorlage von Urkunden an. Dies spart im Vergleich zu einem Erörterungstermin Zeit, weil die Angelegenheit durch vorbereitende Verfügungen oder auch Telefongespräche oft ebenso geklärt werden kann. Manche dieser Maßnahmen führt bereits eine unstreitige Erledigung vor Durchführung eines ins Auge gefassten Erörterungstermins herbei. Ist dies nicht der Fall, kann jedenfalls auf Grundlage der bisher durchgeführten Aufklärung das Beteiligtenvorbringen im Termin besser eingeschätzt und sein Gehalt zutreffender beurteilt werden. Der Verfasser geht regelmäßig mit einem Konzept in den Erörterungstermin, um die zur Entscheidung stehenden Rechtsfragen vorher abzuklären. Möglicherweise folgt hieraus bereits ein fundierter und rechtlich gut begründbarer Vergleichsvorschlag, den der Vorsitzende gerade in den ersten Jahren seiner richterlichen Tätigkeit nicht immer in der aktuellen Situation parat hat. Nicht zuletzt dokumentiert ein solches Konzept die größere Souveränität des Richters und befähigt zu größerer Überzeugungskraft entweder bei dem Zureden zur Klagerücknahme (§ 102 Abs. 1 SGG) oder dem Abringen eines Zugeständnisses durch die Beklagtenseite, die dann im Wege des § 101 SGG prozessual eingekleidet werden kann. Im Übrigen kann so häufig doch noch ein Vergleich zustande kommen, der die Beteiligten ihr Gesicht wahren lässt. In schwierigen Fällen hat es sich als sinnvoll erwiesen, vor dem Erörterungstermin telefonischen Kontakt mit beiden (!) Beteiligten aufzunehmen, um Informationen zu erhalten, die jeweils in Gegenwart der Gegenseite so nicht gegeben würden. Der Umfang der Vergleichsbereitschaft kann vorher ausgelotet werden, wenn die Motive und Hintergründe, die zum Streit[80] geführt haben, bekannt sind. Der Vorsitzende kann die Verhandlungstaktik danach ausrichten und tritt den Beteiligten im Termin nicht als eine Art weiterer, wenn auch vielleicht zunächst neutraler Gegner entgegen. Der Verfasser erinnert sich z. B. an ein Eilverfahren