Das stille Kind ist das vergessene Kind - Franziska Florineth-Baatsch - E-Book

Das stille Kind ist das vergessene Kind E-Book

Franziska Florineth-Baatsch

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Beschreibung

Methodenvielfalt und Interdisziplinarität als Schlüssel zum Erfolg Therapeut*innen der Sprachtherapie-Logopädie und der Psychotherapie stellen in ihrer täglichen Arbeit fest, dass das Störungsbild des selektiven Mutismus immer noch zu wenig bekannt ist oder in seiner Bedeutung für Kinder und Eltern verkannt wird. Das stille, passive und angepasste Verhalten im Unterrichtskontext entspricht nicht dem mitteilsamen, aktiven, oft dominanten Verhalten zu Hause. Das löst große Irritationen aus – auf Seiten der Schule durch das beharrliche Schweigen des Kindes – auf Seiten der Eltern, die ein völlig anderes Kind zu Hause erleben. Die Autor*innen des Fachbuchs sehen sich in diesem Dreieck und auch in anderen Settings als Mediator*innen für Verständnis und Verstehen dieses Störungsbildes: Neben Fallbeschreibungen präsentieren sie aktuelle Zugänge und innovative Methoden für die Therapie des selektiven Mutismus und geben ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus ihrem Praxisalltag weiter. Nur eine in den Methoden vielfältige, innovative und interdisziplinäre Therapie wird Kinder mit diesem Störungsbild ermutigen, verbal in Interaktion zu treten. Teil 1: Der innovative Charakter des Buches begründet sich neben aktuellen Erkenntnissen und Aspekten wie z.B. dem Unsafe-Word Modell auch auf den Daten der Ergebnisse einer Befragung von Betroffenen, Angehörigen, Lehrpersonen und Therapeut*innen: Sie sind für alle therapeutischen Berufsgruppen relevant. Zudem werden im Buch drei in der Praxis neu entwickelte Ansätze vorgestellt: Gruppentherapie bei selektivem Mutismus, Beratung unter Berücksichtigung von Elementen aus der Soziokratie 3.0 und ein innovatives Onlinecoaching. Teil 2: Die Fallbeschreibungen und -analysen bilden die verschiedenen methodischen Ansätze ab, unter Berücksichtigung von Aspekten wie Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Migration. Mehrere Beiträge verweisen auf die Besonderheiten des Settings Schule mit kreativen und innovativen Zugängen. Teil 3: In repräsentativen Fallgeschichten der Angehörigen und Betroffenen zeigt sich die Vielfalt der Symptome. Sie betonen die Bedeutung maßgeschneiderter Interventionen.

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Das stille Kind ist das vergessene Kind

Franziska Florineth-Baatsch, Nitza Katz-Bernstein, Andrea Muchenberger-Gebauer

Programmbereich Gesundheitsberufe

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheitsberufe

Sophie Karoline Brandt, Bern; Jutta Berding, Osnabrück; Sinje Gehr, Göttingen; Heidi Höppner, Berlin; Heike Kubat, Feldbach; Christiane Mentrup, Zürich; Sascha Sommer, Bochum; Birgit Stubner, Regensburg; Ursula Walkenhorst, Osnabrück; Claudia Winkelmann, Berlin

Franziska Florineth-Baatsch

Nitza Katz-Bernstein

Andrea Muchenberger-Gebauer

Das stille Kind ist das vergessene Kind

Selektiven Mutismus interdisziplinär überwinden

Unter Mitarbeit von

Babette Bürgi Wirth

Danielle Cadruvi (Pseudonym)

Thomas Duttwiler

Nina Frunz

Ben Furman

Florin Heisenberg und Eltern

Imelda Jeker

Katharina Keller

Esther Marnelaki-Weber

Siebke Melfsen

Ali Samadi (Pseudonym)

Susanne Walitza

Salome Wyss

Franziska Florineth-Baatsch, eidg. anerkannte Psychotherapeutin, Coach, Supervisorin

Nitza Katz-Bernstein, Prof. Dr., Klinische Psychologin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (ASP, CH), Dipl. Logopädin

Andrea Muchenberger-Gebauer, Dipl. Logopädin, Systemische Coach, Systemische Supervisorin

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Hogrefe AG

Lektorat Gesundheitsberufe

z. Hd.: Barbara Müller

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Barbara Müller

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: fstop123; GettyImages.com

Umschlag: Daniel Berger

Satz: Matthias Lenke, Weimar

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag, Bern

Format: EPUB

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96321-1)

(E-PUB-ISBN 978-3-456-76321-7)

ISBN 978-3-456-86321-4

https://doi.org/10.1024/86321-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Dank

Vorwort

Teil 1: Grundlagen, Erkenntnisse und wichtige Aspekte

1 Definition und relevante AspekteFranziska Florineth-Baatsch, Nitza Katz-Bernstein, Andrea Muchenberger-Gebauer

1.1 Auswirkungen auf Partizipation sowie Schweregradbeurteilung

1.2 Ausschluss- und Differentialdiagnosen, Komorbiditäten und Risikofaktoren

1.3 Screening und Diagnostik

1.4 Bedeutung der Interdisziplinarität in der Therapie

2 „Safe Place“ und „Unsafe-World“-Modell als GrundlagenNitza Katz-Bernstein

2.1 Der therapeutische Raum als „Safe Place“Nitza Katz-Bernstein

2.2 Das „Unsafe-World“-Modell als VerständnisgrundlageSiebke Melfsen, Susanne Walitza

2.2.1 Das „Unsafe-World“-Modell

2.2.2 Wissenschaftliche Befunde zum „Unsafe-World“-Modell

2.2.3 Therapeutische Implikationen

3 Beratung und SupervisionNitza Katz-Bernstein

3.1 Begleitung und Beratung der Eltern

3.2 Besonderheiten in der Supervision für Fachpersonen

4 WirkfaktorenFranziska Florineth-Baatsch

4.1 Theorie der Wirkfaktoren

4.1.1 Wirkfaktoren in der Psychotherapie

4.1.2 Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

4.1.3 Wirkfaktoren in Logopädie, Pädagogik, Coaching und Beratung

4.1.4 Fazit

4.2 Viele Wege führen aus dem Schweigen – Eine Befragung

4.2.1 Befragung zu den Wirkfaktoren

4.2.2 Fazit – wichtige Erkenntnisse

Teil 2: Methodenvielfalt – Vielfalt als Methode: ein Gamechanger?

5 Die große Bedeutung der methodischen VielfaltNitza Katz-Bernstein, Franziska Florineth-Baatsch, Andrea Muchenberger-Gebauer

5.1 Allen eine Stimme geben – alle Stimmen hörenThomas Duttwiler, Andrea Muchenberger-Gebauer; Illustrationen: Madleina Jorina Muchenberger

5.1.1 Unser Verständnis von selektivem Mutismus

5.1.2 Eine kleine Geschichte der Soziokratie

5.1.3 Ablauf in Phasen

5.2 „Ich schaff’s“ – ein lösungsfokussierter Ansatz Andrea Muchenberger-Gebauer in Zusammenarbeit mit Ben Furman

5.2.1 Die 15 Schritte

5.2.2 Ergebnisse aus der Forschung

5.2.3 Interview mit Ben Furman Andrea Muchenberger-Gebauer

5.3 Gruppentherapie mit selektiv mutistischen Kindern Babette Bürgi Wirth, Nina Frunz, Katharina Keller

5.3.1 Theoretischer Zugang – Einblick in bisherige Veröffentlichungen

5.3.2 Therapeutischer Zugang und Interventionsebenen

5.3.3 Organisation und Durchführung

5.3.4 Fazit

5.4 Online-Coaching für pädagogische und therapeutische FachkräfteFranziska Florineth-Baatsch

5.4.1 Rahmen des Online-Coachings

5.4.2 Amilas Entwicklung bis zum Coachingstart

5.4.3 Start des Online-Coachings – Befähigung im Team aufbauen

5.4.4 Prozess der Zwillingsschwestern Uma und Kala

5.4.5 Befragung zum Nutzen des Online-Coachings

5.4.6 Wichtige Voraussetzungen und Erfolgsfaktoren

5.4.7 Betrachtungen aus der Metaebene

Teil 3: Kasuistik des selektiven Mutismus

6 Mutismus in der SchuleFranziska Florineth-Baatsch, Andrea Muchenberger-Gebauer

6.1 Elif: Nur Mut – deine Stimme zählt! Salome Wyss

6.1.1 Die Kindergartenzeit

6.1.2 Die Einschulung

6.1.3 Vom kleinen Kätzchen zur mutigen Löwin

6.1.4 Vom Therapiezimmer der Logopädie ins Klassenzimmer

6.1.5 Das Schattentheater und der Verlust von Vertrautem

6.1.6 Reflexion

6.2 Leo: Gemeinsam aus dem SchweigenImelda Jeker

6.2.1 Vorgeschichte und erste diagnostische Erhebungen

6.2.2 Prüfen verschiedener Unterstützungsangebote

6.2.3 Dialogische Geräusche

6.2.4 Einsatz der Flüstersprache

6.2.5 Über das Räuberflüstern zur Sprechstimme

6.2.6 Reflexion und Fazit

6.3 Fabiana: lebenslustig, eigenwillig, fantasievoll, mutistisch

6.3.1 Die Sicht der Mutter: „Unser Kind doch nicht!“Danielle Cadruvi (Pseudonym)

6.3.2 Die Sicht der Psychotherapeutin: Intensives Coaching der LehrendenFranziska Florineth-Baatsch

6.3.2.1 Erstes Jahr der Therapie: Übergang vom Kindergarten in die erste Klasse

6.3.2.2 Zweites Jahr der Therapie: Übungen in Therapie und Schule intensivieren

6.3.2.3 Drittes Jahr der Therapie: In Riesenschritten zum Durchbruch

6.3.3 Reflexion

7 Mutismus, Mehrsprachigkeit und InterkulturalitätNitza Katz-Bernstein

7.1 Grundlage: Entwicklungspsychologie

7.2 Mehrkulturelle Identität

8 Fallgeschichten

8.1 Yasmina: verstummt zwischen zwei KulturenBabette Bürgi Wirth

8.1.1 Therapiephase 1: Erste Interventionen in Schule und Therapie

8.1.2 Therapiephase 2: Stimme der Therapeutin preisgeben

8.1.3 Therapiephase 3: Vom Einwortsatz zum freien Plaudern

8.1.4 Therapiephase 4: Das Sprechen in die Schule bringen

8.1.5 Therapiephase 5: Das Sprechen im Schulzimmer konsolidieren

8.1.6 Therapiephase 6: Soziale Kompetenzen in der Gruppentherapie aufbauen

8.1.7 Fazit

8.2 Lea: „Ja, man darf auch schweigen!“ Esther Marnelaki

8.2.1 Die Sicht der Logopädin

8.2.2 Die Sicht der Mutter

8.3 Florin Heisenberg: Therapiebericht, Rückblick und Interview Andrea Muchenberger-Gebauer

8.3.1 Kindergarten und Schule

8.3.2 Sprachheilschule und Internat

8.3.3 Logopädische Therapie

8.3.4 Transfer der Therapieinhalte in den Alltag

8.3.5 Wechsel in die Realschule

8.3.6 Ein retrospektiver Blick aus der Metaebene

8.4 Tilda Niemeyer: Die Geschichte einer heutigen HochschuldozentinAndrea Muchenberger-Gebauer

8.4.1 Die Zeit im Kindergarten und die Erkenntnis: „Ich bin anders!“

8.4.2 Die Schulzeit: facettenreich

8.4.3 Die größte Hürde – Das Ende der Schulzeit

8.4.4 Ein Blick aus der Metaebene – Erkenntnisse für die Praxis

8.5 Ali Samadi: Das Schweigen akzeptierenAli Samadi (Pseudonym)

9 Fazit, Forschungsfragen, AusblickFranziska Florineth-Baatsch, Nitza Katz-Bernstein, Andrea Muchenberger-Gebauer

9.1 Beziehung als wichtigster (Wirk-)Faktor

9.2 Forschungsfragen

10 Abschließende Betrachtungen

Anhang

Anhang: Fragebogen

Fragebogen Lehrende

Fragebogen Fachpersonen

Fragebogen Eltern

Fragebogen ehemals Betroffene

Sachwortverzeichnis

Autor*innen

Hinweise zu Zusatzmaterialien

|9|Dank

Das Buch hätte nicht geschrieben werden können, ohne all die Kinder, Jugendlichen, Eltern, Lehrenden und Fachkräfte, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten arbeiten durften. Wir haben so viel durch diese Begegnungen lernen dürfen. Wir sind auch den Erwachsenen mit selektivem Mutismus dankbar, dass sie ihre Erfahrungen und ihre Lebensgeschichten mit uns geteilt und uns erlaubt haben, diese zu veröffentlichen.

Wir durften viel von dem Wissen und den praktischen Erfahrungen guter Kolleginnen und Kollegen und von Fachpersonen profitieren, mit denen wir in verschiedenen Settings zusammengearbeitet haben oder die wir kennenlernen durften.

Nicht zuletzt möchten wir uns auch bei unseren Familienangehörigen und Freunden bedanken, dass sie uns emotional wie auch mit Taten unterstützt und uns während des ganzen Prozesses ermutigt und getragen haben.

Ein großer Dank geht auch an unsere Lektorin Frau Müller vom Hogrefe Verlag. Ihre Professionalität, ihr Fachwissen und ihre Unterstützung während des gesamten Lektoratsprozesses haben dazu beigetragen, dass unsere Ideen und Botschaften die Lesenden bestmöglich erreichen können.

Franziska Florineth-Baatsch

Nitza Katz-Bernstein

Andrea Muchenberger-Gebauer

|11|Vorwort

„Wenn du die Diagnose des Kindes genau kennst, der Therapieplan schon klar und vorstrukturiert ist und du vorhast, dich genau daran zu halten, dann hast du das Kind verlassen“.

(Heinz Stefan Herzka1, persönliche Mitteilung)

Wie dieses Buch entstanden ist

Das Buch „Mut zum Sprechen finden – Therapeutische Wege mit selektiv mutistischen Kindern“ (Katz-Bernstein et al., 2007), ging kürzlich in seine 5., aktualisierte Auflage. Es stellt geglückte und auch weniger geglückte Therapieverläufe aus Psychotherapie und Sprachtherapie ungeschönt vor. Eine Alltagsrealität, die wir in der Arbeit mit diesen Kindern immer wieder erleben.

Das Interesse der Leserschaft an der Kasuistik scheint ungebrochen zu sein. Aus Weiterbildungen, Beratungen und Supervisionen wissen wir, dass Fachpersonen daran interessiert sind, wie die konkrete therapeutische Arbeit nach der individuellen Prägung und Ätiologie der Betroffenen strukturiert wird, welche Prozesse und Verläufe dabei erlebt werden und wo dabei Hürden und Schwierigkeiten entstehen können. Wertvoll und gewinnbringend für die eigene Arbeit ist auch die Reflexion der Verläufe.

Wir sind motiviert, neben neuen Falldarstellungen auch aktuelle Zugänge und innovative Methoden für die Therapie des selektiven Mutismus vorzustellen sowie unsere Erfahrungen und wichtigen Erkenntnisse aus dem Praxisalltag weiterzugeben. Dies mit dem Ziel, die Leser*innen zu ermutigen und zu befähigen, ihre Neugier und ihr Interesse für die Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern und Jugendlichen zu wecken. Leitend ist dabei für uns die Methodenvielfalt sowie die interdisziplinäre Vernetzung.

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Berufsgruppen, die sich mit selektivem Mutismus befassen, wozu Psychotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ärzt*innen, Erzieher*innen, Lehrende und Heilpädagog*innen zählen. Es wird aber sicherlich auch für weitere verwandte Berufsfelder von Interesse sein. Hilfesuchende Eltern wie auch Selbstbetroffene werden in diesem Buch ebenfalls fündig und erhalten Anregungen für Unterstützungsmöglichkeiten.

Nach wie vor müssen wir in unserer täglichen Arbeit feststellen, dass dieses Störungsbild leider immer noch (zu) wenig bekannt ist oder nicht erkannt wird. Das stille, passive und angepasste Verhalten im Unterrichtskontext entspricht überhaupt nicht dem mitteilsamen, aktiven, oft dominanten Verhalten zu Hause. Selektiver Mutismus löst verständlicherweise große Irritationen aus – auf |12|Seiten der Schule durch das beharrliche Schweigen des Kindes – auf Seiten der Eltern, die ein völlig anderes Kind zu Hause erleben. Wir sehen uns in diesem Dreieck und auch in anderen Settings als Verständnis-Vermittlerinnen und Aufklärerinnen.

Es ist uns ein großes Herzensanliegen, selektiven Mutismus mit all seinen faszinierenden Facetten und Ausprägungen noch publiker zu machen. Aus Studien und auch aus der eigenen langjährigen Erfahrung wissen wir, dass Schul- und Lebenskarrieren von unerkannt gebliebenen oder spät erkannten mutistischen Menschen einen dramatischen und schwierigen Verlauf nehmen können. Einige wenige können sich aus eigener Kraft irgendwann aus dem engen Korsett des selektiven Mutismus befreien, mussten dafür aber viele Umwege, Hürden und seelische Schmerzen in Kauf nehmen. Der Beitrag über Tilda Niemeyer (Kapitel 8.4) zeigt dies eindrücklich auf, ebenso weitere Darstellungen von ehemals selbst Betroffenen (Kapitel 4.2, 8.3, 8.5). Es ist uns ein großes Anliegen und auch unsere Hoffnung, dass wir mit den folgenden Beiträgen und Erläuterungen ein Stück weit dazu beitragen können, dass folgenschwere Biografien verhindert werden und das Leben nicht zu einer Sackgasse wird.

Das vorliegende Buch gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der theoretische Teil baut auf aktuellen, evidenten Befunden und Forschungen auf. Hier werden Grundlagen, Erkenntnisse und Aspekte des selektiven Mutismus diskutiert.

Kinder mit selektivem Mutismus brauchen viel Sicherheit, um verbal in Interaktion treten zu können, weil sie bestimmte Kontexte als sehr unsicher wahrnehmen. Die aktuellen diesbezüglichen Forschungen werden in dem aufschlussreichen Beitrag von Melfsen & Walitza (Kapitel 2.2) abgebildet, die in ihrem „Unsafe-World“-Modell auf dieses eindrückliche Phänomen eingehen und gut verständlich erklären. In dem Artikel wird zudem einmal mehr das Thema der Klassifizierung des selektiven Mutismus als Angststörung valide diskutiert.

Aus dem „Unsafe-World“-Modell leitet sich die zentrale Bedeutung des „Safe Place“ (Kapitel 2.1) in der Therapie und im Umgang mit dem selektiven Mutismus ab. Besonders eindrücklich sind diesbezüglich die Ergebnisse der Befragung nach Wirkfaktoren (Kapitel 4.2), sowie die Darstellungen der Betroffenen.

Die Erklärungen zu den Besonderheiten bei selektivem Mutismus in der Elternberatung (Kapitel 3.1) und in der Supervision (Kapitel 3.2) finden ebenso ihre Erwähnung, wie eine Untersuchung zu den Wirkfaktoren (Kapitel 4.2). Mittels Fragebogen wurden ehemals Betroffene, Lehrenden, Fachpersonen und Eltern nach wirkungsvollen Interventionen befragt, die aus dem Schweigen geholfen haben. Die Ergebnisse sind hochinteressant, für alle Berufsgruppen relevant und für die Praxis sehr bedeutsam.

Teil 2 im theoretischen Teil geht auf verschiedene Methoden in der Therapie des selektiven Mutismus ein (Kapitel 5). Da selektiver Mutismus sehr facettenreich ist, verlangt er nach einer großen Methodenvielfalt, nach Innovation und Kreativität. Neben einem Phasenmodell zur Steuerung des Therapieprozesses (Kapitel 5.1) wird das lösungsfokussierte Konzept „Ich schaff’s“ (Kapitel 5.2) für die Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern vorgestellt, dann ein Konzept für die Gruppentherapie (Kapitel 5.3), sowie ein innovatives Online-Coaching von Fachpersonen und Lehrenden, für Fälle, in denen keine Mutismusspezialist*in vor Ort ist (Kapitel 5.4).

Im praktischen Teil 3 werden durch Falldarstellungen verschiedene methodische Herangehensweisen abgebildet unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte wie Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Migration – auf Grund der unruhigen politischen Weltlage ein sehr aktuelles Thema. Selektiver Mutismus im Setting Schule ist ebenfalls ein bedeutungsvolles Thema, insbesondere, da dort die Weichen für die weitere persönliche wie berufliche Laufbahn gestellt werden. In drei Beiträgen stellen wir verschiedene Ideen und konkrete Zugänge vor (Kapitel 6). Die Fallgeschichten, |13|in denen teilweise auch Angehörige und Betroffene zu Wort kommen, sind repräsentativ, veranschaulichen die Vielfalt der Symptome bei selektivem Mutismus und betonen die Bedeutung maßgeschneiderter Interventionen.

Wie beim Lesen der Beiträge zu erkennen ist, ist selektiver Mutismus komplex und vielschichtig. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, Blicke aus verschiedenen Perspektiven, ein enges, tragfähiges Netz sind daher besonders relevant, um diesem Phänomen in seiner Vielfalt gerecht zu werden. Je besser alle Beteiligten im System transparent zusammenarbeiten, auf Augenhöhe agieren und von einer hohen Motivation geleitet werden, desto höher ist die Chance, dass die betroffenen Kinder oder Jugendlichen das selektiv mutistische Verhalten überwinden können.

Die in diesem Buch beschriebenen Vorgehensweisen haben sich in unserer langjährigen Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern und Jugendlichen, deren Familien und in der Zusammenarbeit mit den pädagogischen und therapeutischen Fachkräften sehr bewährt. Manche Konzepte sind immer noch „work in progress“ und entwickeln sich weiter. Bei manchen Beiträgen kann die Weiterentwicklung auch mitverfolgt werden. Das ermöglicht uns eine zukünftige Flexibilität, die erwiesenermaßen und laut aktuellen Befunden bei der Arbeit mit diesem Störungsbild gerechtfertigt ist.

Die Herausgeberinnen wie die meisten Verfasser*innen der hier vorgestellten Beiträge gehören dem schweizerischen, interdisziplinären Zusammenschluss InterMut an. Dort sind Fachpersonen vereinigt, die auf selektiven Mutismus in Therapie, Beratung, Supervision und Lehre spezialisiert sind (www.mutismus-schweiz.ch).

Mit Blick auf die verschiedenen Leser*innen haben wir uns um einen Stil bemüht, der jede*n ansprechen soll. Wir hoffen, mit diesem Buch ein breiteres Verständnis, mehr Sicherheit und geeignete Instrumente für und im Umgang mit dem selektiven Mutismus zu vermitteln.

Anmerkung des Lektorats: In der Mediathek auf der Website des Hogrefe Verlags unter dem Link hgf.io/download und dem Code: B-Y8NICD stehen den Leser*innen ausgewählte Materialien zum Download bereit.

1

Heinz Stefan Herzka war ein bekannter Schweizer Kinderarzt, Kinderpsychiater und Professor an der Universität Zürich

|15|Teil 1: Grundlagen, Erkenntnisse und wichtige Aspekte

Im folgenden Teil werden zunächst die Definition des selektiven Mutismus sowie relevante Aspekte dieser Störung erörtert. Es werden Zusammenhänge aufgezeigt, wie das Therapie-Modell des „Safe Place“ und die Forschungsresultate des Risikofaktors „Unsafe-World“ zusammenhängen. Das „Unsafe-World“-Modell reflektiert die neueste Forschung und dient als Verständnisgrundlage für die Thematik.

Zudem werden Informationen zur Beratung von Eltern und Angehörigen sowie zu speziellen Aspekten der Supervision im Kontext des selektiven Mutismus bereitgestellt. Das Kapitel schließt mit einer theoretischen Einführung in die Wirkfaktoren und einer Befragung verschiedener Personengruppen zur Identifikation unterstützender Faktoren bei der Bewältigung des selektiven Mutismus.

|17|1  Definition und relevante Aspekte

Franziska Florineth-Baatsch, Nitza Katz-Bernstein, Andrea Muchenberger-Gebauer

Ein wesentliches Merkmal des selektiven Mutismus ist, dass die Betroffenen in bestimmten Situationen nicht oder nur wenig und in anderen Situationen ungehemmt und frei sprechen können. Das Initiieren von Interaktion ist in bestimmten Situationen nicht möglich. Der selektive Mutismus präsentiert sich in einer breiten Palette von Erscheinungsbildern: Manche Betroffene sprechen mit einem oder mehreren Erwachsenen, aber nicht mit Gleichaltrigen. Die anderen sprechen mit einzelnen Peers, aber mit keinem Erwachsenen oder auf dem Spielplatz, aber nicht im Klassenzimmer. Und es gibt Kinder oder Jugendliche, die mit dem Großvater sprechen, jedoch nie mit der Großmutter. Oder sie sprechen mit dem unbekannten Arzt, aber nicht mit der Lehrenden trotz des täglichen Kontaktes. Besonders eindrücklich ist, dass sich das Verhalten plötzlich von ganz entspannt zu völlig erstarrt verändern kann, z. B. dann, wenn eine fremde Person aus Sicht der Betroffenen unvermittelt erscheint.

Selektiver Mutismus wirkt sich nicht nur auf das Sprechen und die Sprache aus. Unter bestimmten Umständen können betroffene Personen möglicherweise so reagieren oder dissoziieren (Kapitel 1.3), dass ihre Muskeln so stark verspannen, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, zu zeigen, zu gehen, zu laufen oder mit Gegenständen zu hantieren. Selektiv mutistische Kinder und Jugendliche können in vielen Situationen zurückhaltend oder ängstlich sein, respektive wirken, auch wenn das nicht ihrer Art oder ihrem Charakter entspricht. Dies bestätigen viele Familien, die ihre Kinder zum Beispiel lebhaft oder sogar dominant und mitunter bestimmend erleben. Manchmal erscheinen Betroffene als „kontrollierend“. Sie brauchen in solchen Momenten die Kontrolle (über ihre Umwelt). Dies kann sich zumindest kurzfristig stabilisierend auswirken. Es geht also nicht, wie oft missverstanden wird, um Machtausübung oder Manipulation, sondern letztlich um Kompensation, der eine Not zugrunde liegt.

Definition nach ICD-11

„Selective mutism is characterized by consistent selectivity in speaking, such that a child demonstrates adequate language competence in specific social situations, typically at home, but consistently fails to speak in others, typically at school. The disturbance lasts for at least one month, is not limited to the first month of school, and is of sufficient severity to interfere with educational achievement or with social communication. Failure to speak is not due to a lack of knowledge of, or comfort with, the spoken language required in the social situation (e. g. a different language spoken at school than at home)“. (International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics, 11th Revision, v2023-01; World Health Organization (WHO), 2019)

|18|Deutsche Übersetzung der Autorinnen

„Selektiver Mutismus ist durch eine anhaltende Selektivität beim Sprechen gekennzeichnet, so dass ein Kind in bestimmten sozialen Situationen, typischerweise zu Hause, eine angemessene Kommunikationskompetenz zeigt, in anderen Situationen, meist im Kindergarten und in der Schule, aber konsequent nicht spricht. Die Störung hält mindestens einen Monat lang an, ist nicht auf den ersten Monat nach Einschulung beschränkt und ist so schwerwiegend, dass sie die schulischen Leistungen oder die soziale Kommunikation beeinträchtigt. Die Sprachstörung ist nicht darauf zurückzuführen, dass das Kind die in der sozialen Situation erforderliche Sprache nicht kennt oder nicht beherrscht (zum Beispiel, weil in der Schule eine andere Sprache gesprochen wird als zu Hause)“.

Obwohl der selektive Mutismus nicht auf eine Sprachstörung zurückzuführen ist, ist es wichtig zu beachten, dass er oft in Verbindung mit Sprachentwicklungsstörungen auftritt (Hartmann, 2006; Katz-Bernstein, 2019; Kristensen, 2000).

Trotz der Tatsache, dass der selektive Mutismus nach ICD-11 nicht aufgrund fehlender sprachlicher Kompetenzen durch Mehrsprachigkeit erklärt werden kann, zeigt sich in der Praxis, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder ein vierfach erhöhtes Risiko haben, einen solchen zu entwickeln (Elizur & Perednik, 2003). Eine Studie von Isensee et al. (1997) ergab, dass 21,4 Prozent der untersuchten selektiv mutistischen Kinder mehrsprachig waren. Starke (2014) zeigte in einer Längsschnittstudie den Zusammenhang zwischen selektivem Mutismus bei Kindern und eines mangelhaften Assimilationsprozesses der emigrierten Familie.

Nach dem aktuellen internationalen Klassifikationssystem ICD-11 (World Health Organization (WHO), 2019) wird der selektive Mutismus den Angststörungen zugeordnet. Die Frage, ob der selektive Mutismus tatsächlich in die Kategorie der Angststörungen eingeordnet werden sollte, beschäftigt die Fachwelt schon seit geraumer Zeit. Es gibt plausible Argumente, die diese Zuordnung in Frage stellen.

Das „Unsafe-World“-Modell von Melfsen und Kolleg*innen (2021) beschreibt das Schweigen beispielsweise als Stressreaktion (Kapitel 2.2) und nicht per se als Angststörung. Das impliziert, dass der selektive Mutismus nicht zwingend als Angststörung diagnostiziert werden kann. Allerdings kann eine Angststörung den selektiven Mutismus auslösen. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass sich aufgrund des selektiven Mutismus eine Angststörung entwickelt. Daher ist eine sorgfältige Differentialdiagnose durch erfahrene Fachpersonen wichtig, zumal sich das therapeutische und pädagogische Vorgehen dem jeweiligen Profil anpassen sollte.

1.1  Auswirkungen auf Partizipation sowie Schweregradbeurteilung

Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2012) entwickelte und in der Fachwelt etablierte Klassifikation. Die ICF basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell, wodurch sie nicht primär defizitorientiert ist. Stattdessen klassifiziert sie Komponenten der Gesundheit nach Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten, Partizipation und Umweltfaktoren. Dadurch wird die Klassifikation vor allem ressourcenorientiert. Der ICF liegt ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen diesen Komponenten zugrunde.

Das Phänomen des selektiven Mutismus bildet sich in der ICF-Klassifikation in den folgenden Bereichen ab, beziehungsweise wirkt sich auf viele verschiedene Lebensbereiche aus:

Lernen und Wissensanwendung (Beispiel: Ziffer „d133 Sprache erwerben“)

Allgemeine Anforderungen und Aufgaben (Beispiel: Ziffer „d240 Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen“)

|19|Kommunikation (Beispiel: „Kommunizieren als Sender (Ziffern d330–d349)“)

Selbstversorgung (Beispiel: Ziffer „d5500 Das Bedürfnis zu essen anzeigen“)

Häusliches Leben (Beispiel: Ziffer „d6200 einkaufen“ – Menschen, die von selektivem Mutismus betroffen sind, sind häufig eingeschränkt, zum Beispiel, wenn es darum geht, Beratung anzufordern, oder zu formulieren, was man kaufen möchte.)

Interpersonelle Interaktion und Beziehungen (Beispiel: Ziffer „d71040 Soziale Interaktion initiieren“)

Bedeutende Lebensbereiche (Beispiel Ziffer „d8202 Vorankommen in einem Programm der Schulbildung“ – dies ist oftmals durch den selektiven Mutismus erschwert.)

Gemeinschafts-, soziales- und staatsbürgerliches Leben (Beispiel: Ziffer „d9205 Geselligkeit“).

Diese Bereiche umfassen ein breites Spektrum des täglichen Lebens. Dies verdeutlicht die erheblichen Einschränkungen der Partizipation, die die Betroffenen in wichtigen Lebensbereichen erfahren können und oft auch tatsächlich erleben.

Weitere Aspekte bezüglich der Schwere des selektiven Mutismus umfassen beispielsweise die Zeitspanne, über die die Störung anhält, da das Schweigen einen bedeutenden Einfluss auf das persönliche Selbstbild hat. Des Weiteren wird die Symptomatik umso schwerwiegender eingeschätzt, je weniger soziale Kontakte gepflegt werden können.

1.2  Ausschluss- und Differentialdiagnosen, Komorbiditäten und Risikofaktoren

Aufgrund gewisser Ähnlichkeiten in der Phänomenologie des Schweigens ist es bei der Diagnosestellung des selektiven Mutismus, wie bereits erwähnt, wichtig, eine differentialdiagnostische Abgrenzung vorzunehmen. Dadurch können andere Krankheitsbilder mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden:

Passagerer (selektiver) Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern

Schizophrenie

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Sprachentwicklungsstörung (SES)

Hördefizite – damit verbunden Formen des partiellen oder totalen Schweigens

(Sensorische) auditive Agnosie

Autismus

Störungen der kognitiven Entwicklung

Sozialphobie1

Sprechangst.2

Bei manchen Menschen mit selektivem Mutismus sind Komorbiditäten beobachtbar (Black & Uhde, 1994; Steinhausen & Juzi, 1996; Kristensen, 2000; Young et al., 2012; Yeganeh et al., 2006; Nowakowski et al., 2011). Im Folgenden seien die wichtigsten genannt:

Soziale Ängstlichkeit

Depressive Symptome

Regulationsstörung von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle

In der Fachliteratur werden Risikofaktoren genannt (Steinhausen et al., 2006; Elizur & Perednik, 2003; Starke, 2014), die der Bildung und Aufrechterhaltung des selektiven Mutismus zugrunde liegen oder sie begünstigen können. Dazu zählen:

Migration und Mehrsprachigkeit (28 Prozent)

Psychische Störungen, Persönlichkeitsstörungen der Eltern (10,5 Prozent)

|20|Mutistisch-anmutende Verhaltensweisen der engsten Angehörigen (72,2 Prozent), Isolationstendenzen und Schüchternheit der Eltern gelten als Risikofaktoren (Melfsen et al., 2006; Dobslaff, 2005)

Prä-, peri-, postnatale Komplikationen (75 Prozent)

Temperamentsmerkmale (Rückzug, Scheu, Ängstlichkeit, Schweigsamkeit)

Störung der pragmatisch-kommunikativen Kompetenz (Katz-Bernstein, 2019).

1.3  Screening und Diagnostik

Besteht der Verdacht auf selektiven Mutismus, sollte immer eine differenzierte Abklärung folgen. Diese ist aus verschiedenen Gründen anspruchsvoll: Die Kernsymptomatik variiert einerseits interindividuell sehr stark. Andererseits ist das Kind zu Hause meist völlig unauffällig. Die Eltern erklären sich das Schweigen mitunter außerhalb der Familie mit einem schüchternen Wesen oder sie vermuten eine Antipathie, zum Beispiel gegenüber der Erzieher*in oder der Lehrenden. Viele schweigende Kinder werden auch bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen nicht als Risikokinder für selektiven Mutismus identifiziert. Die Kinderärztinnen und Kinderärzte sind jedoch meist die erste Anlaufstelle. Umso wichtiger erscheint es, diese, aber auch das pädagogische Fachpersonal in den Kindergärten, Kindertagesstätten und in den Schulen für das Thema des selektiven Mutismus zu sensibilisieren, im Zweifel eine Abklärung in die Wege zu leiten. Je länger ein selektiver Mutismus besteht, desto hartnäckiger ist oftmals die Therapie.

Den Kinderärztinnen und Kinderärzten und dem pädagogischen Fachpersonal stehen Screenings zur Verfügung, die eine Einschätzung ermöglichen, ob eine Diagnostik indiziert ist oder nicht. Mit der 18-Item-Version des Dortmunder Mutismus-Screening DortMuS-Schule (Starke & Subellok, 2016) konnte erstmalig für den deutschen Sprachraum ein reliables und valides Screening-Instrument für den schulischen Primarbereich vorgelegt werden, das Lehrende bei der Identifizierung von Risikokindern für selektiven Mutismus unterstützt und ihnen Hilfestellungen für den Umgang mit schweigenden Kindern anbietet. Auch der Schweigekompass (Braun et al., 2014), die Frankfurter Skala zur Erfassung des selektiven Mutismus (FSSM) (Gensthaler et al., 2020) sowie der Deutsche Mutismus Test (Johannsen et al., 2016) sind Screenings, die die Grundlage für die Entscheidung bilden, ob eine differenzierte Diagnostik in die Wege geleitet werden sollte.

Aktuell existieren laut unserer Kenntnis keine standardisierten Testverfahren, mit denen die Diagnose selektiver Mutismus gestellt werden kann. Dennoch stehen diverse diagnostische Verfahren zur Verfügung, anhand derer die Kriterien zur Diagnosestellung erhoben werden können.

Der Prozess der Diagnostik sollte sich im Sinne der Autorinnen auf die folgenden drei Dimensionen beziehen:

1)

Symptomdiagnostik: Wo spricht das Kind, wo schweigt es? (Katz-Bernstein, 2019)

2)

Strukturdiagnostik: Welchen Lebens- und Bewältigungssinn hat das Schweigen?

3)

Systemdiagnostik: Welche Interaktionsmuster werden vom Kontext Familie und welche von der Kultur geprägt und beeinflussen das Schweigen? (Katz-Bernstein & Zaepfel, 2004).

Anhand dieser erhobenen Diagnosen können die nötigen individuellen und interdisziplinären Maßnahmen gezielt und prozesshaft organisiert und begleitet werden (Katz-Bernstein, 2023).

1.4  Bedeutung der Interdisziplinarität in der Therapie

Der selektive Mutismus kann in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Die Lebensumstände der Betroffenen können sich stark |21|voneinander unterscheiden. Einige haben einen Migrationshintergrund oder haben Kriegs- und Fluchterfahrungen gemacht. In anderen Fällen werden die Betroffenen zusätzlich mit Krisen, psychischen oder körperlichen Herausforderungen und Komorbiditäten konfrontiert. Es gibt auch Fälle, in denen der selektive Mutismus als einzige Problematik erscheint. Es ist wichtig anzuerkennen, dass der selektive Mutismus selten isoliert auftritt, sondern oft mit anderen Belastungen und Defiziten einhergeht, die die Entwicklung der Betroffenen beeinflussen. Angesichts dieses breiten Spektrums an Themen ist es unerlässlich, die Expertise und unterschiedlichen Methoden verschiedener Fachrichtungen wie Psychologie, Psychiatrie und Sprachtherapie/Logopädie einzubeziehen.

Migration und Mehrsprachigkeit stellen signifikante Risikofaktoren für selektiven Mutismus dar. Aus diesem Grund möchten wir betonen, dass neben fachspezifischem Wissen auch Kompetenzen in Bezug auf kulturelle Sensibilität und Interkulturalität für uns von großer Bedeutung sind.

Abermals erscheint durch empirische Befunde der Schluss untermauert, begründet und berechtigt zu sein, Betroffene bezüglich Diagnose und Therapie interdisziplinär zu begleiten.

Literatur

Black, B. & Uhde, T. W. (1994). Treatment of Selective Mutism With Fluoxetine: A Double-Blind, Placebo Controlled Study. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 33(7), 1000–1006. Crossref

Braun, W. G., Hunziker, F. & Iten, I. (2014). Schweigekompass. ICF-Orientierte Entscheidungshilfe. Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich. https://www.hfh.ch/shop/produkt/schweigekompass

Dobslaff, O. (2005). Mutismus in der Schule.Edition Marhold.

Elizur, Y. & Perednik, R. (2003). Prevalence and description of selective mutism in immigrant and native families: a controlled study. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 42(12), 1451–1459. Crossref

Gensthaler, A., Dieter, J., Raisig, S., Hartmann, B., Ligges, M., Kaess, M., Freitag, C. M. & Schwenck, C. (2020). Evaluation of a Novel Parent-Rated Scale for Selective Mutism. Assessment, 27(5), 1007–1015.

Hartmann, B. (Hrsg.). (2006). Gesichter des Schweigens – Die systemische Mutismus-Therapie/SYMUT als Therapiealternative.Schulz-Kirchner.

Isensee, B., Haselbacher, A. & Ruoß, M. (1997). Elektiver Mutismus. Ein Überblick zu Therapie und Praxis. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 25, 247–262.

Johannsen, K., Kramer, J. & Lukaschyk, J. (2016). Deutscher Mutimus Test (DMT-KoMut). Forum Logopädie, 30(1), 2–6.

Katz-Bernstein, N. (2023). Selektiver Mutismus bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie (6. Aufl.). Reinhardt.

Katz-Bernstein, N. (2019). Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie (5. Aufl.). Reinhardt.

Katz-Bernstein, N. & Zaepfel, H. (2004). Ali und sein Schweigen – aus der Gestalt Integrativen Arbeit in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. In M.Hochgerner, H.Hoffmann-Widhalm, L.Nausner & E.Wildberger. (Hrsg.), Gestalttherapie. Lehrbuch der Gestaltpsychotherapie (S. 369–390). Facultas.

Kristensen, H. (2000). Selective mutism and comorbidity with developmental disorder/delay, anxiety disorder, and elimination disorder. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 39, 249–256. Crossref

Melfsen, S., Walitza, S. & Warnke, A. (2006). The extent of social anxiety in combination with mental disorders. European Child & Adolescent Psychiatry, 15, 111–117. Crossref

Melfsen, S., Romanos, M., Jans, T. & Walitza, S. (2021). Betrayed by the nervous system: a comparison group study to investigate the “unsafe world” model of selective mutism. Journal of Neural Transmission, 128(9), 1433–1443. Crossref

Novakowski, M. E., Tasker, S. L., Cunningham, C. E., McHolm, A. E., Edison, S., Pierre, J. S., Boyle, M. H. & Schmidt, D. A. (2011). Joint attention in parent-child-dyads involving children with selective mutism: a comparison between anxious and typically |22|developing children. Child psychiatry and human development, 42(1), 78–92.

Starke, A. (2014). Selektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern. Eine Längsschnittstudie zum Einfluss kindlicher Ängste, Sprachkompetenzen und elterlicher Akkulturation auf die Entwicklung des Schweigens (Dissertation). http://hdl.handle.net/2003/​34084

Starke, A. & Subellok, K. (2016). Dortmunder Mutismus Screening-DortMus-Schule.https://www.dortmus.tu-dortmund.de/dortmus/DortMuS-Schule.pdf

Steinhausen, H. C. & Juzi, C. (1996). Elective mutism: an analysis of 100 cases. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 35(5), 606–614. Crossref

Steinhausen, H. C., Wachter, M., Laimböck, K. & Winkler Metzke, C. (2006). A long Term Outcome Study of Selective Mutism in Childhood. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 47, 751–756. Crossref

World Health Organization (WHO). (2012). International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF).https://www.who.int/publications/m/item/implementing-the-merger-of-the-icf-and-icf-cy---background-and-proposed-resolution-for-adoption-by-the-who-fic-council

World Health Organization (WHO). (2019). ICD-11: International classification of diseases (11th revision). https://www.who.int/standards/classifications/classification-of-diseases

Yeganeh, R., Beidel, D. C. & Turner, S. M. (2006). Selective mutism: more than social anxiety?Depression and anxiety, 23(3), 117–123. Crossref

Young, B. J., Bunnell, B. E. & Beidel, D. C. (2012). Evaluation of Children With Selective Mutism and Social Phobia: A Comparison of Psychological and Psychophysiological Arousal. Behavior Modification, 36(4), 525–544. Crossref

1

Furcht und Angst führen dazu, dass verschiedene soziale Kontexte vermieden werden.

2

Als Sprechangst wird die bewusste Angst, vor anderen Menschen zu sprechen, bezeichnet, zum Beispiel vor Publikum.

|23|2  „Safe Place“ und „Unsafe-World“-Modell als Grundlagen

Nitza Katz-Bernstein

In den folgenden Beiträgen werden die Konzepte des „Safe Place“ sowie das „Unsafe-World“ Modell als Grundlagen im System erläutert. Zunächst werden Theorien und Studien präsentiert, die die Bedeutung des Gefühls eines sicheren Ortes bei Angststörungen und Traumata von Kindern und Jugendlichen untermauern. Im Anschluss wird daraus das Therapiekonzept des „Safe Place“ abgeleitet und ausführlich erörtert – ein Konzept, auf dem das gesamte Buch basiert. Das „Unsafe-World“-Modell wird im darauffolgenden Kapitel 2.2 vertieft vorgestellt und erklärt. Dieses Modell verdeutlicht, weshalb das Konzept des „Safe Place“ insbesondere im Kontext des selektiven Mutismus, von so großer Bedeutung ist.

Zahlreiche Autor*innen, Forschungsergebnisse, Weiterbildungen und supervisorische Begleitungen haben dazu beigetragen, den „Safe Place“ als therapeutisch-methodischen Zugang bei Kindern und Jugendliche mit selektiven Mutismus zu etablieren, aber auch als generelle Haltung, sowie als Grundlage im gesamten System (Katz-Bernstein, 1996, 2004, 2008).

Ein grundlegender Artikel dazu erschien in Resonanzen: „Der „Safe Place“ oder „geschützter Ort“ hat in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Psychotherapie-, Beratungs- und Betreuungssettings in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, insbesondere in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen.“ (Gahleitner et al., 2013, S. 165)

Die Anerkennung, dass Kinder und Jugendliche mit Angststörungen zunächst das Erleben eines sicheren Ortes bedürfen, um zur Ruhe, Besonnenheit, Wachheit, Aufnahmebereitschaft und Weiterentwicklung zu gelangen, ist heute sowohl neurologisch, entwicklungspsychologisch, pädagogisch als auch therapeutisch evident (Melfsen et al., 2021; Kearney & Rede, 2021).

„Die Idee des „Safe Place“ (Katz-Bernstein, 1996), am ehesten zu übersetzen mit „geschützter Raum im Therapieraum“, begann in der Arbeit mit Kindern mit Angststörungen, insbesondere Kinder, die Kommunikation und Sprache verweigerten und/oder die die Fremdheit von Orten, Personen oder neuen Umständen nicht zu überwinden vermochten, aber auch Kinder, die kämpfend, flatternd und abwehrend durch das Leben gingen, weil sie eine Reihe schlechter Erfahrungen im Gepäck hatten. Basierend auf Winnicotts (1973, 1976) „potenziellem Raum“ und von Oaklander (1981) dargestelltem „Safe Place“ entstand ein konkretes Interventionskonzept, das in seinem symbolischen Gehalt einen Kernaspekt der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verkörpert. Das Konzept zeigt auf, welche Bedingungen junge Menschen brauchen, um kommunizieren und explorieren zu können, um Raum für Veränderung zu gewinnen, frei zu sein für den „Gegenwartsmoment“ (Gahleitner et al., 2013, S. 166).

Von Winnicott (1973, S. 65) lernen wir, wie wichtig dieser freie Raum des Spielens für die |24|Entwicklung von Kindern ist, als Zwischenraum zwischen Fantasie und Realität. Spielen sei „schöpferisches Handeln und die Suche nach dem Selbst“. Dieser Effekt kann nur an einem freien, sicheren, sogenannten „potenziellen“ Ort entstehen, laut Winnicott (2006).

Oaklander (1981, S. 79) sagt über Kinder: „Kinder versuchen, sich auf die eine oder andere Weise zu schützen. Um nicht verletzt zu werden, ziehen sich manche Kinder zurück“. Dies erklärt den Sinn des selektiven Mutismus als Reaktion auf bedrohliche Ansprüche und Fremdheitsgefühle, um intakt zu bleiben. Oaklander zeigt einen Weg, um durch Fantasiereisen einen Ort zu finden, „der der meine ist“, ihn zu malen, zu fantasieren, auf ihm wohnhaft zu werden.

„Die Gefühle eines Kindes sind sein eigentlicher Kern. Spiegelt man ihm seine Gefühle wider, wird es selbst sie kennen- und akzeptieren lernen“ (Oaklander, 1981, S. 84).

Als Intervention entwickelte sie die kreative Symbolisierung des „sicheren Ortes“.

Im Jahre 1986 konnte die Verfasserin ein dreitägiges Seminar bei Oaklander besuchen, wo sie die geführte Imagination kennengelernt und erfahren hat und die Wirkung erproben konnte.

Bekannt sind auch die entwicklungspsychologisch-fundierten Konzepte der „sicheren Orte“ von Streeck-Fischer. Sie schreibt:

„Primäre Reaktionsformen führen zu habitualisiertem Verhalten mit Flight-/Fight-Mechanismen … Die Behandlung solcher Störungen erfordert besondere Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen auf Seiten des Therapeuten. Hierzu gehören u. a. die Entwicklung sicherer Orte, das Erkennen und Bearbeiten inszenierter und gehandelter Botschaften, die Arbeit an der Sprachverwirrung und die Entwicklung von Räumen des Denkens und Spielens“ (Streeck-Fischer, 2003, S. 53).

Damit drückt sie genau unsere sich wiederholende Erfahrung im therapeutischen Setting mit selektiv-mutistischen Kindern aus, nämlich, dass das Gefühl der Kinder, in einer unsicheren Umgebung zu sein, sie zum Rückzug und Schweigen führt.

In ähnlicher Weise schildert Reddemann (2001) vergleichbare Verhaltensmuster bei Kindern und Jugendlichen mit Traumaerfahrungen. Ebenso beschreibt Jakob (2022) ein passiv-aggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen als mögliche Folge von traumatischen Erfahrungen.

Eine evidente Bereicherung in der Bedeutung des „Safe Place“ in den therapeutischen Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus, stellt die Studie dar, die Melfsen et al. 2021 vorgelegt haben. In ihrem „Unsafe-World“-Modell verdeutlichen die Autorinnen, wie das autonome Nervensystem durch das Gefühl einer unsicheren und fremden Welt beeinflusst wird, was wiederum zur Entwicklung von selektivem Mutismus führen kann (Kapitel 2.2).

Folglich stellt die Etablierung eines „sicheren Ortes“ in der Therapie die erste und zentrale therapeutische Maßnahme dar. Dieser sichere Ort ermöglicht freies Spielen, Denken, Erproben und die Entwicklung von Strategien gegenüber bedrohlichen Situationen (Pellegrini, 2009).

Es ist ebenso wichtig, einen systemischen, abgestimmten und koordinierten „Safe Place“ zu etablieren, in dem Eltern, Fachpersonen und Lehrende vernetzt sind und die Entwicklung des Kindes gemeinsam verfolgen und unterstützen können. Dieser Ansatz wird als „Interdisziplinarität“ bezeichnet.

Wie oben bereits hingewiesen, wäre noch der Forschungsbericht von Melfsen und Walitza (2010), zu erwähnen, der auf dieses grundlegende Phänomen hinweist und der die Grundlagen des „Safe Place“ im System evident belegt.

|25|2.1  Der therapeutische Raum als „Safe Place“

Nitza Katz-Bernstein

Was bedeutet es nun grundsätzlich, einen solchen Raum in der Therapie zu gestalten? In der Folge werden die Eigenschaften, die einen solchen Raum ermöglichen, aufgezählt:

abgegrenzter Raum im Raum

kein Leistungsdruck

kein Anspruch von außen

nicht im Kontakt sein müssen, aber können

eigene Kontrolle und Entscheidung gewährleisten

klare Trennung zwischen ICH und DU

freie Aufmerksamkeit

Kontakt mit sich herstellen und zugleich äußere Realität wahrnehmen

Kontaktaufnahme selbst steuern können.

Mit der Schaffung eines solchen „Safe Place“ wird die Verbindung zwischen innen und außen hergestellt, um nicht – wie bei einer Angststörung – in eine reaktive Abhängigkeit von der Umgebung zu geraten und dort zu verharren.

Wie empfindet das Kind einen solchen potenziellen, sicheren Raum und welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch?

Zeit, um mich spüren zu dürfen, Raum, um zu merken, was ich wollen könnte. Wie: necken, herausfordern, toben, lachen, sich verweigern, schreien … aber ich darf entscheiden!

Zeit, um herauszufinden, was entstehen kann.

Zeit, meine Gedanken und Fantasien entstehen zu lassen und diesen nachzugehen.

Dazu gehören auch Grenzen, die die therapeutische Fachperson zu gewährleisten vermag. Aber auch die Gewissheit, dass ich zulassen kann, was kommt, ich bekomme hier, wenn nötig, klare Grenzen, Struktur, Dosierung, Schutz vor eigenen Aggressionen und Ausbrüchen. (Nelson, 2006; Jakob, 2022).

Was wird erworben, wenn das gelingt? Was wird nachgeholt?

Erworbene Eigenschaften der Mentalisierung und Sozialisierung

Vertrauen: Die Welt als zuverlässigen Ort empfinden. Eigene Bedürfnisse und ihre äußere Regulierung nach Schutz, Beachtung und Bindung sind dabei zentral.

Neugier: Auf die Welt zugehen und sie erkunden können, auch wenn das Fremde noch nicht verlässlich ist. Bewältigung durch Beobachtung, Einschätzung und Erprobung (Wie zuverlässig ist die Welt?)

Vorstellung: Muster von Interaktionen, sogenannten Scripts, (wie Menschen etwas tun und wozu, Intentionen erkennen und verstehen) können erkannt werden. Soziale Absichten, Rhythmen, Rituale und Regeln, die Teil dieser Muster sind, werden erkannt. Es entsteht der Wunsch, als „sozialer Akteur“ daran teilhaben zu wollen.

Spielen: Wahrscheinlichkeiten und Rollen erproben, Unregelmäßigkeiten und Unverständliches simulativ inszenieren können, Lösungen finden und integrieren.

Bewerten: Soziale Handlungen haben Konsequenzen: Was ist gut? Was nicht (für mich, für andere)? Was ist das Risiko dabei? Dementsprechend können Entscheidungen getroffen werden. Aufschub und allmähliche Impulskontrolle können entstehen.

Initiative: Was will ich? Was nicht? Anpacken, wagen? Lassen, schützen? Wollen zu können, ist laut Tomasello (2020) – soziale Teilhabe! (vgl. auch Oerter, 2001).

Sozialisation: Peers als Erweiterung des Ichs: Mit ihnen kann man die Welt gestalten. Ich will ein wichtiger Akteur sein. Wie kann ich das schaffen?

Ich-Konstruktion: Das, was mich ausmacht: alle Rollen, Bezüge, Vorlieben, Ressourcen und Beziehungen, Scripts, Erfahrungen und Gewohnheiten.

So kann allmählich eine kohärente Identität entstehen.

|26|Um eine solche Entwicklung beim Therapiekind zu fördern, bedarf es seitens der therapeutischen Fachperson bestimmter Merkmale des „gerüstgebenden Verhaltens“ („Scaffolding“) (Bruner, 2008).

Attunement (sensibles Anpassungsvermögen) und Responsivität

Positives „Reframing“ (Neubewertung), ressourcenorientierte Unterstellung

Sprachliche Begleitung, Deutung und Strukturierung von möglichen Initiativen sowie von aufgenommenen und vollzogenen Handlungen

„Approximales“ Vorgehen: Annäherung an den Entwicklungsstand und die individuellen Möglichkeiten

„Als-ob-Ebene“ und Humor pflegen

Ermutigung zur Erweiterung der Frustrationstoleranz

Wecken von Neugier und Motivation

Förderung und Stärkung von Eigeninitiative und Eigenwirksamkeit

Zuversicht in Bezug auf Ziele, Vorhaben und Veränderungen (Es braucht dabei oft viel Geduld und Beharrlichkeit!)

Etablierung von Ritualen und Markierung von Übergängen

Gemeinsames Aushandeln von Grenzen und Entscheidungen, mit Klarheit und Wohlwollen einhalten helfen

Störungen, Verweigerungen und Widerständen spielerisch und humorvoll begegnen

Was soll dadurch ermöglicht werden?

Durch diese Herangehensweise wird ermöglicht, dass sich ein individuelles Selbst entwickeln kann, das sowohl sozial eingebunden als auch auf persönliche Bezüge ausgerichtet ist. Es ermöglicht, dass das Ich als eigenständige Identität entsteht, die mich als einzigartige Person definiert und von anderen Menschen unterscheidet.

Es soll hier nochmals betont werden, dass es oft eine ausdauernde Zuversicht der therapeutischen Fachperson auf Entwicklung und Erfolg braucht. Bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus besteht die Gefahr einer sogenannten „Gegenübertragung“, bei der Ängste und Resignationstendenzen des Kindes und seiner Bezugspersonen dazu führen können, dass der Therapeut/ die Therapeutin ähnliche Resignationsgefühle entwickelt.

Sehr bewährt hat sich der Bau eines „Safe Place“, innerhalb des Therapieraumes, in Form einer Höhle, eines Häuschens oder eines sonstigen Verstecks. Dies ermöglicht dem Kind, sich zurückzuziehen und sich zu verstecken, und durch gezielte Angebote allmählich wieder daraus hervorgelockt zu werden. Es ist von großer Bedeutung, dass das Kind das Gefühl hat, dass es seine eigene Entscheidung ist, selbst aus dem Versteck zu kommen und sich immer wieder zurückziehen zu dürfen. Wie bereits erwähnt, braucht es viel Geduld und Zuversicht, damit das Kind Vertrauen fassen und eine flexible Balance zwischen Bezugnahme, Kommunikation und Rückzug entstehen kann.

2.2  Das „Unsafe-World“-Modell als Verständnisgrundlage

Siebke Melfsen, Susanne Walitza

Der selektive Mutismus wird sowohl im DSM-5 (American Psychological Association (APA), 2013) als auch in der ICD-11 (World Health Organization (WHO), 2019) als Angststörung klassifiziert. Eine Reihe von Befunden und Beobachtungen lassen sich jedoch nur schwer im Rahmen einer Angststörung erklären. Im Folgenden wird ein Modell vorgestellt, das den selektiven Mutismus als eine unwillkürliche Stressreaktion beschreibt: Das „Unsafe-World“-Modell.

Es gibt viele unterschiedliche Arten des Schweigens und aufgrund ihrer unterschiedlichen Motive können sie bei einem Gesprächspartner gänzlich unterschiedliche Gefühle hervorrufen: Es gibt ein Schweigen, weil keine Worte der Situation angemessen erscheinen, weil die Gefühle so intensiv sind, dass sie nicht |27|in Worte gefasst werden können, ein Schweigen, um über das Gesagte nachzudenken, ein gemeinsames Schweigen, um den Moment zu genießen oder eine belastende Situation zu teilen, ein quälendes Schweigen, während eine Antwort erwartet wird, ein Schweigen wie eine Mauer, um nichts preiszugeben, u. v. m. Die Motive des Schweigens sind vielzählig. Entsprechend unterschiedlich motivierte Schweigephasen gibt es auch im Rahmen psychischer Störungsbilder. Im Folgenden geht es um das Schweigen bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus, die situativ in eine andere Welt abgetaucht und nicht mehr erreichbar sind.

Fallgeschichte

Michi ist ein achtjähriger Junge mit selektivem Mutismus, der in der Schule und seit kurzem auch bei seinen Großeltern schweigt. Mit starrer Mimik und Gestik wirkt er wie eingefroren. Es ist kaum Blickkontakt möglich. Seinen Eltern berichtet er, dass er in diesen Situationen seine eigene Stimme verändert wahrnimmt, weder Hunger noch andere körperliche Bedürfnisse hat. Zuhause hingegen gibt es viel Streit mit seinem Bruder und die Eltern berichten heftige, fast tägliche Wutanfälle. Sie haben meistens viel Verständnis für ihn, manchmal gibt es aber Momente, wo das Schweigen sie einfach wütend macht: „Das sind doch deine Großeltern, du kennst sie, du hast immer mit ihnen gesprochen, warum jetzt nicht mehr?“ Seine Lehrende macht sein Schweigen zunächst hilflos, dann ärgerlich: „Willst du nicht sprechen oder kannst du es nicht? Warum sprichst du bei der Mathematiklehrenden, aber nicht bei mir? Ist das deine Form, um Ablehnung zu zeigen?“ Er selbst kann sein Verhalten nicht erklären, wirkt auf seiner Suche nach einer Erklärung ebenso hilflos wie die fragenden Erwachsenen. Könnte das Angst sein? Wie fühlt sich Angst an? Was aber sollte es sonst sein? Gibt es überhaupt eine Alternative, um dieses Gefühl zu beschreiben, sich nicht mehr zu spüren, nicht mehr sprechen zu können und die Welt wie aus der Ferne zu beobachten?

2.2.1  Das „Unsafe-World“-Modell

Im Zentrum des beobachtbaren Verhaltens beim selektiven Mutismus steht neben der Unfähigkeit des Sprechens eine erschwerte oder fehlende soziale Kontaktaufnahme. Dazu zählen u. a. ein veränderter Blickkontakt, eine eingeschränkte Mimik und Gestik, eine verminderte Bewegungsfähigkeit und eine veränderte Stimmwahrnehmung. Um diese Reaktionen im Rahmen des selektiven Mutismus zu verstehen, ist es notwendig, die Voraussetzungen für eine normale soziale Kontaktaufnahme zu berücksichtigen.

Evolutionsbedingt ist die empfundene Sicherheit von entscheidender Bedeutung zur sozialen Kontaktaufnahme (Porges, 2003, 2011). Sie bildet nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Säugetieren im Allgemeinen, die Grundlage für die Bereitschaft, sozialen Kontakt aufzunehmen oder – bei ihrem Fehlen – für ein Kampf- oder Fluchtverhalten den Körper zu mobilisieren oder zu immobilisieren (z. B. Dissoziation). Der Wahrnehmung von Sicherheit liegen subliminale neurobiologische Prozesse zugrunde, d. h. die Schwelle des Bewusstseins wird nicht überschritten. Unterschwellige Wahrnehmungen ermöglichen in Stresssituationen ein schnelleres Handeln als bewusste Wahrnehmungsprozesse. Diese subliminalen Prozesse haben das Überleben der Säugetiere in einer feindlichen Umwelt gesichert.

Bei der Bewertung einer Situation als „nicht ausreichend sicher“ handelt es sich nicht um einen objektiven, sondern um einen subjektiven Prozess. Die auslösende Situation muss somit nicht tatsächlich unsicher sein, um als solche bewertet zu werden. Ein Faktor, der diesen Bewertungsprozess maßgeblich mitbestimmt, ist die sensorische Verarbeitungssensitivität, durch die endogene wie exogene Reize verstärkt wahrgenommen werden. Das Nervensystem reagiert damit bereits auf sehr schwache Unsicherheitssignale und ruft eine Stressreaktion hervor, die unter objektiven Gesichtspunkten keine Stressreaktion erforderlich machen |28|müsste. Zu diesen Auslösern kann eine geringe physische Distanz zu anderen Personen oder geringe Vertrautheit mit einer Situation zählen. Als sicher eingestufte Situationen lösen hingegen keine Schutzreaktion aus, das Sprechen und die soziale Kontaktaufnahme bleiben möglich.

Auf dieser Basis lässt sich das selektiv mutistische Verhalten als eine unwillkürliche Stressreaktion in Situationen beschreiben, die subliminal als „nicht ausreichend sicher“ eingestuft wurden, ohne es tatsächlich sein zu müssen. Statt einer Aktivierung des Kampf- oder Fluchtmodus folgt eine weitere Schutzreaktion: ein Erstarren. Das Sprechen ist nicht mehr möglich, aber auch andere Reaktionen erfolgen, wie eine eingeschränkte Mimik und Gestik, eine veränderte Hörfunktion, die die eigene Stimme und die Stimmen anderer verändert wahrnehmen lassen.

Außerdem senkt sich als adaptive Schutzreaktion die Schwelle für einen dissoziativen Bewusstseinszustand. Die Betroffenen wirken abwesend und sind nicht mehr erreichbar. Gewöhnungsprozesse können dann im weiteren Verlauf diese Reaktionen zunehmend schneller auslösen. Eine normale vorübergehende Dissoziation gilt als relativ häufig im Kindes- und Jugendalter. Der Dissoziation müssen somit keine traumatischen Erfahrungen zu Grunde liegen, sondern sie kann als Bewältigungsmechanismus für Stress oder als überwältigend erlebte Emotionen erfolgen (Putnam, 1997). Verstärkt werden die Reaktionen durch Gewöhnungsprozesse an das Nicht-Sprechen, durch die die Auslösung des selektiv mutistischen Verhaltens zunehmend schneller erfolgt.

Sekundär kann es auch durch die Erfahrung, in bestimmten, nicht immer vorhersehbaren Situationen nicht mehr sprechen zu können, zur Entwicklung sozialer Ängste kommen. Entsprechend des vorgestellten Modells (Abbildung 2-1) sind sie eine mögliche Folge, nicht aber Ursache des selektiven Mutismus.

In Abhängigkeit des jeweiligen Stresslevels, ausgelöst durch fehlende Sicherheitssignale der Umgebung, erfolgt entsprechend des Modells eine autonome Unteraktivierung, der in sicheren Situationen dann eine gegenregulierende Überaktivierung folgen kann. Beide Zustände bedingen sehr unterschiedliche Symptome des selektiven Mutismus. Weil die Symptome, die diese gegenläufigen Prozesse hervorrufen, sich so stark voneinander unterscheiden, werden diese beiden Zustände von Betroffenen häufig wie zwei verschiedene Welten empfunden (z. B. Thorpe, 2011).

Es gibt zahlreiche Symptome, die sich aus einer physiologischen Unteraktivierung herleiten lassen: Kinder und Jugendliche mit selektivem Mutismus zeigen ein abweisendes Kontaktverhalten und können gleichgültig und nicht erreichbar wirken (Garbani Ballnik, 2009; Nowakowski et al., 2011). Erklärbar sind diese Beobachtungen dadurch, dass in Stresssituationen das Nervensystem mit Dissoziation reagieren kann, was sich in einer Studie an Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus auch zeigen ließ (Melfsen et al., 2021). Die betroffene Person wirkt abwesend, nimmt keinen Blickkontakt auf, zeigt weder Mimik noch Gestik und bleibt stumm – wie ein „Phantom“, zu dem kein Kontakt aufgebaut werden kann. Verschiedene physiologische Studien belegen diesen Prozess der Unteraktivierung. Kinder mit selektivem Mutismus zeigen eine geringere physiologische Erregung während einer sozialen Interaktionsaufgabe als die Kinder mit sozialer Angststörung (z. B. Young et al., 2012; Heilmann et al., 2012). Die Beobachtung einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Stimme (Arie et al., 2007; Bar-Haim et al., 2004; Thomas et al., 1985) kann als Folge von Muskelkontraktionen im Innenohr erklärt werden, die mit Stressreaktionen einhergehen. Diese Kontraktion dämpft die Wahrnehmung menschlicher Stimmen (Porges, 2009).

Betroffene selbst schildern eine Blockierung im Sprechen und Denken. Sie erleben sich in den auslösenden Situationen als passiv, können ihren Körper nicht mehr spüren, die Handlungskontrolle fehlt, und sie können nicht spre|29|chen, weil sie keinen Zugriff mehr auf Denkinhalte haben (Bahrfeck-Wichitill & Kuhn, 2015; Melfsen et al., 2021). Auf Kommunikationspartner kann diese nicht willkürlich erfolgende, dissoziative Abwesenheit teilweise provokativ wirken, da sie als gleichgültig oder trotzig fehlinterpretiert werden kann (Bahr, 2004; Katz-Bernstein, 2005).

Abbildung 2-1:  „Unsafe-World“-Modell

Auch das in der Regel als besonders belastend erlebte Schweigen bei vertrauten Personen, bei Elternteilen oder Familienangehörigen (Steinhausen & Juzi, 1996) kann als Folge eines übersensiblen Shutdown-Prozesses im Rahmen des Stress-Programms betrachtet werden. Auslöser können z. B. der Stresslevel oder Anspannungsgrad eines Familienmitglieds sein. Wenn beim betroffenen Kind eine Stressreaktion mit Dissoziation folgt, so kann diese Reaktion durch Gewöhnungsprozesse zunehmend verstärkt werden und damit ein Verhalten aufrechterhalten werden, das auch in der Kommunikation mit vertrauten Personen auftritt, mit denen sie zuvor noch sprechen konnten.

Den Symptomen, die im Zusammenhang mit einer physiologischen Unteraktivierung stehen, lassen sich Symptome gegenüberstellen, die durch eineÜberaktivierung erklärbar sind, da sie einen Gegenpol zum Rückzugsverhalten darstellen. So werden heftige und häufige Geschwisterstreitigkeiten vielfach von den Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus geschildert. Sie beschreiben ihr Kind im vertrauten Elternhaus vielfach als dominant gegenüber Geschwistern, schildern ausgeprägte Geschwisterrivalität und heftige Wutanfälle (McHolm et al., 2005). Diese Verhaltensweisen lassen sich mit Überaktivierung in Zusammenhang bringen. Auch „Redeattacken“, bei denen die vom |30|selektiven Mutismus betroffenen Kinder und Jugendliche ihr Sprechverhalten als Kontrollverlust erleben, lassen sich dadurch erklären ebenso wie das von vielen Betroffenen geschilderte starke Bedürfnis nach körperlicher Aktivität im Anschluss an eine Schweigephase.

2.2.2  Wissenschaftliche Befunde zum „Unsafe-World“-Modell

Der selektive Mutismus korreliert hoch mit der sozialen Angststörung (z. B. Muris & Ollendick, 2015; Schwenck et al., 2020). Auf Basis einer Metaanalyse zur Komorbidität beider Störungsbilder kamen Driessen et al. (2020) jedoch zu dem Schluss, dass sich die aktuelle Konzeptualisierung des selektiven Mutismus als Angststörung nicht zwangsläufig aus der hohen Korrelation ergebe. Derzeit wird die Klassifikation des selektiven Mutismus als Angststörung dementsprechend kontrovers diskutiert. Zu beiden Ansätzen gibt es eine gute Studienlage. Im Folgenden gehen wir nur auf die Basis unseres Modells ein.

Eine zugrundeliegende Angststörung allein kann viele Symptome des selektiven Mutismus nicht ausreichend erklären. Heilman et al. (2012) beobachteten in einer psychophysiologischen Studie, dass Kinder und Jugendliche mit selektivem Mutismus während einer Mobilisierungsphase eine verringerte autonome Reaktivität zeigten. Auch Young et al. (2012) beobachteten, dass Kinder und Jugendliche mit selektivem Mutismus während einer sozialen Interaktionsaufgabe im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen mit sozialer Angststörung ein geringeres Erregungsniveau aufwiesen. Betroffene selbst beschreiben einen Zustand der Abwesenheit, geringe Handlungskontrolle und geringe Körperwahrnehmung. Das Kontaktverhalten von Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus ist nicht vorsichtig, sondern abweisend: Sie vermeiden Kontakt und können teilweise auch aggressiv im Kontakt mit anderen reagieren (z. B. Garbani Ballnik, 2009). Kommunikationspartner von Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus fühlen sich teilweise provoziert und hilflos (Bahr, 2004; Hartmann, 2006; Katz-Bernstein, 2005), während typische Reaktionen auf ängstliche Kinder als fürsorglich und beschützend beschrieben werden (Nowakowski et al., 2011). Eine Studie von Nowakowski et al. (2011) zeigte, dass sich Kinder mit selektivem Mutismus – nicht aber mit anderen Angststörungen – während gemeinsamer Aufgaben aus Interaktionen mit ihren Eltern zunehmend zurückzogen und weniger auf sie reagierten. Im Rahmen des „Unsafe-World“-Modells lassen sich die geschilderten Symptome und Beobachtungen als Stressreaktion mit Unter- und Überaktivierung erklären (s. o.).

Eine erste Studie unserer Arbeitsgruppe (Melfsen et al., 2021) untermauert Aspekte des „Unsafe-World“-Modells. Wir verglichen 28 Kinder und Jugendliche mit selektivem Mutismus (durchschnittliches Alter: 12,66 Jahre, 18 Mädchen) mit 33 Kontrollkindern ohne selektivem Mutismus (durchschnittliches Alter: 12,45 Jahre, 21 Mädchen). Ihre Mütter und sie selbst wurden gebeten, verschiedene Fragebögen auszufüllen, darunter die Highly Sensitive Person Scale (HSPS) (Aron, 2008), die Adolescent Dissociative Experience Scale (A-DES) (Armstrong et al., 1997; Carlson & Putnam, 1993) und das Sozialphobie und -angstinventar für Kinder (SPAIK; Beidel et al., 1995; Melfsen et al., 2001). Die Studie zeigte zum einen eine hohe sensorische Verarbeitungssensitivität bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne selektiven Mutismus, zum anderen zeigte sich ebenfalls eine stärkere Dissoziationsneigung im Vergleich zur Kontrollgruppe. Eine noch nicht veröffentlichte Replikationsstudie bestätigt diese Befunde.

2.2.3  Therapeutische Implikationen

Das „Unsafe-World“-Modell beinhaltet verschiedene Therapieimplikationen für die Psychoedukation, das Therapieziel, die Gestaltung der therapeutischen Beziehung, die Gestaltung |31|der therapeutischen Umgebung und die therapeutischen Interventionen.

Als Basis für die Psychoedukation kann es zu einem besseren Verständnis der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen, so dass das Unvermögen, in selektiven Situationen zu sprechen, nicht als willentliche (Trotz-)Reaktion erlebt wird. Ein besseres Verständnis wiederum ist entscheidend, um der Verunsicherung entgegenwirken zu können, die dieses Störungsbild oftmals bei den Betroffenen selbst, den Bezugspersonen und dem Umfeld auslösen kann. Denn wesentlich für eine erfolgreiche Therapie sollte unserem Modell nach die Vermittlung von Sicherheit sein. Diese Sicherheit ist wichtig zur Beruhigung des autonomen Nervensystems und damit Ausgangsbedingung, um Zugang zum Kind oder Jugendlichen zu ermöglichen.

Im Zentrum der Therapieziele sollte die Fähigkeit zum sozialen Kontaktaufbau stehen, die nicht nur die verbale Kommunikation, sondern auch die nonverbale Kommunikation einschließt. Von großer Bedeutung ist die Förderung von Kontakten zu Gleichaltrigen ebenso wie zur Restfamilie, um Modellverhalten zu ermöglichen. Damit ist der Fokus der Therapie nicht speziell und ausschließlich auf das Sprechen gelegt, sondern umfassender auf die soziale Kontaktgestaltung. Die Kommunikation sollte aufrechterhalten werden, auch wenn das vorübergehend nur mit anderen als lautsprachlichen Mitteln möglich ist, allerdings ohne einen falschen Schonraum zu schaffen. Der Abbruch jeglicher Kommunikation führt das Kind weiter in die kommunikative Passivität, deshalb ist zu Beginn nicht-lautsprachliche Kommunikation in der Regel zugelassen.

In der Therapie sind sowohl Interventionen zur Beeinflussung der Unteraktivierung als auch der Überaktivierung notwendig. Betroffene und ihre Familien erleben nicht nur das Schweigen, sondern auch den kaum zu stoppenden Redefluss, nicht nur das Erstarren, sondern auch die Wutanfälle. Die Konzentration auf das Sprechen allein in der Therapie ist nicht ausreichend, um eine stärkere Balance zwischen beiden Zuständen zu schaffen.

Auch wenn der Aufbau der therapeutischen Beziehung sehr individuell ist, lassen sich aus dem „Unsafe-World“-Modell Prinzipien ableiten, die der Gestaltung der Beziehung eine Richtung weisen kann: Essenziell für eine Therapie ist es, eine als sicher empfundene Atmosphäre zu schaffen. Prinzipiell sollte sie emotional unterstützend, respekt- und verständnisvoll sein. Für den Therapeuten ist es im Umgang mit dem selektiven Mutismus wichtig, keine Angst vor dem Schweigen zu zeigen, sondern eine Beziehung aufzubauen, in der vermittelt wird, dass er das mutistische Verhalten mit Beharrlichkeit und Geduld aushält und somit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen die Botschaft sendet: Du wirst nicht allein gelassen, ich halte das Schweigen aus.

Die Prinzipien der defokussierten Kommunikation (Oerbeck et al., 2014) unterstützen das Ziel, dem betroffenen Kind oder Jugendlichen Sicherheit zu vermitteln. In den Gesprächssituationen empfehlen die Autor*innen, neben dem Kind zu sitzen, statt ihm gegenüber und die Aufmerksamkeit dabei auf ein gemeinsames Spiel zu richten statt auf das Kind. Es kann auch zum Beispiel eine Handpuppe angeboten werden, um das Kind zu entlasten. Statt dem Kind Fragen direkt zu stellen, wird empfohlen, laut zu denken und dem Kind genug Zeit zum Antworten zu geben. Der Dialog sollte auch dann fortgesetzt werden, wenn das Kind nicht verbal antwortet. Entsprechend empfehlen auch Johnson und Wintgens (2017) beim „commentary talk style“ rhetorische statt direkte Fragen, das Einlegen von Pausen, die Vermeidung von Druck, nonverbal Freundlichkeit zu signalisieren und den Aufmerksamkeitsfokus auf das Spielmaterial zu richten.

Oerbeck et al. (2014) empfehlen außerdem, anstelle von Lob eine verbale Antwort des betroffenen Kindes oder Jugendlichen neutral entgegenzunehmen. Lob müsse so gestaltet und dosiert werden, dass das Kind das Lob ertragen könne. Deshalb sei es wichtig, das Kind nicht |32|dafür zu loben, dass es spreche, sondern dafür, was es gesprochen habe. Nicht der Akt des Sprechens, sondern der Inhalt dessen, was gesagt wurde, verdiene Aufmerksamkeit. In der Regel fürchten betroffene Kinder zu große Aufmerksamkeit, wenn sie zu sprechen beginnen. Die Frage, ob Druck aufgebaut wird, indem man lobt, wird kontrovers diskutiert. Anerkennung anstelle von Lob und das gemeinsame Erleben von Freude wirken ohne Einschränkung unterstützend.

Bahr (2004, S. 89) nennt Beispiele für Vorgehensweisen bei der Begrüßung und emotionalen Unterstützung von betroffenen Kindern und Jugendlichen, die den oben genannten Prinzipien entsprechen: „Schön, dass du da bist, schau dich erst einmal um“, anstelle eines, eine Antwort erwartenden „Hallo!“

Sehr wichtig in der Therapie ist das gemeinsame Lachen, es nimmt die Spannung und kann Nähe erzeugen. Mit dem gemeinsamen Lachen ist aber kein Vermeidungsverhalten gemeint, sondern eine Form, ein Thema zu verarbeiten, statt sich mit ihm zu identifizieren.

Eine unterstützende Beziehung zu den Eltern ist bedeutsam, da diese sich oftmals durch die Verschlossenheit des Kindes verunsichert fühlen, mit Versagensängsten zu kämpfen haben und immer wieder mit Schuldvorwürfen konfrontiert werden.

Bei der Frage der therapeutischen Umgebung lässt sich beobachten, dass eine Kinderumgebung häufig eine vorteilhafte Wirkung hat. Eine Kinderumgebung kann Sicherheit signalisieren aufgrund des geringeren Erwartungsdrucks und kann aufgrund des spielerischen Umgangs erleichternd wirken.

Auch die Einrichtung eines Schutzraumes, eines sogenannten „Safe Place“ (Winnicott, 2006; Katz-Bernstein, 2005) lässt sich gut mit dem „Unsafe-World“-Modell vereinbaren: Die Errichtung und Einrichtung eines eigenen Hauses im Therapieraum, insbesondere begleitend und ergänzend in der Initialphase bei Kindern, die nicht auf die Zuwendung des Therapeuten reagieren und wo keine Kommunikation möglich ist, kann Sicherheit erzeugen. Der „Safe Place“ dient als Abschirmung vor Überflutung, setzt Grenzen, indem das betroffene Kind selbstregulierte Beziehungs- und Handlungsangebote machen kann. Dadurch kann die Fremdheit überwunden und Kontrollverlust vermieden werden. Für Jugendliche kann eine geführte Imagination zum „Safe Place“ (Katz-Bernstein, 2005) hilfreich sein, indem sie sich einen schönen und geschützten Ort vorstellen.

Eine besondere Feinfühligkeit ist im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die vom selektiven Mutismus betroffen sind, bedeutsam. Außerdem sollte immer die Zuversicht vermittelt werden, dass das Kind es schaffen kann, sein Schweigen zu überwinden. Andere vertraute Personen in die Therapie einzubeziehen, kann Sicherheit vermitteln. Auch das Berichten von Therapieverläufen anderer Kinder oder das Spielen von Regelspielen sowie gemeinsames Puzzeln bieten Sicherheit, da wenig Freiraum zur Gestaltung vorhanden ist. Auch Bewegung kann hilfreich sein, da sie körperliche Verkrampfungen lösen kann.

Auch wenn Therapie prinzipiell Veränderung bedeutet, ist sie insbesondere in der Therapie des selektiven Mutismus eine Gratwanderung zwischen Fördern und Rücksichtnahme und damit eine Therapie der kleinen Schritte.

Literatur

Aron, E. N. (2008). Das hochsensible Kind: Sie sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen.mvg.

American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed. revised). American Psychiatric Association.

Arie, M., Henkin, Y., Lamy, D., Tetin-Schneider, S., Apter, A., Sadeh, A. & Bar-Haim, Y. (2007). Reduced auditory processing capacity during vocalization in children with Selective Mutism. Biological Psychiatry, 61(3), 419–421. https://www.biologicalpsychiatryjournal.com/article/S0006-3223​(06)00238-1/fulltextCrossref

|33|Armstrong, J. G., Putnam, F. W., Carlson, E. B., Libero, D. Z. & Smith, S. R. (1997). Development and validation of a measure of adolescent dissociation: the Adolescent Dissociative Experiences Scale. Journal of Nervous and Mental Disease, 185(8), 491–497. Crossref

Bahr, R. (2004). Schweigende Kinder verstehen. Kommunikation und Bewältigung beim selektiven Mutismus (4. Aufl.). Universitätsverlag Winter GmbH.

Bahrfeck-Wichitill, K. & Kuhn, M. (2015). „Kannst du überhaupt sprechen?“ Eine Informationsstunde über selektiven Mutismus in der 7. Klasse der Realschule. Sprachförderung und Sprachtherapie, 4, 18–24.

Bar-Haim, Y., Henkin, Y., Ari-Even Roth, D., Tetin-Schneider, S., Hildesheimer, M. & Muchnik, C. (2004). Reduced auditory efferent activity in childhood selective mutism. Biological Psychiatry, 55, 1061–1068. Crossref

Beidel, D. C., Turner, S. M. & Morris, T. L. (1995). A new inventory to assess childhood social anxiety and phobia: The Social Phobia and Anxiety Inventory for Children. Psychological Assessment, 7(1), 73–79. Crossref

Bruner, J. S. (2008). Wie das Kind sprechen lernt. Huber.

Carlson, E. B. & Putnam, F. W. (1993). An update on the Dissociative Experiences Scale. Dissociation: Progress in the Dissociative Disorders, 6(1), 16–27.

Driessen, J., Blom, J. D., Muris, P., Blashfield, R. K. & Molendijk, M. L. (2020). Anxiety in children with selective mutism: A meta-analysis. Child Psychiatry & Human Development, 51(2), 330–341. Crossref

Gahleitner, S. B., Katz-Bernstein, N. & Pröll-List, U. (2013).