Das Strahlen des Herrn Helios - Meike Stoverock - E-Book
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Das Strahlen des Herrn Helios E-Book

Meike Stoverock

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Beschreibung

In einer Welt voller ungewöhnlicher Phänomene, in der Tiere aufrecht gehen und Kleider tragen, stellt sich einer dem Verbrechen entgegen. Der Hase Skarabäus Lampe ist ein genialer Detektiv, analytischer Kopf und ganz nebenbei auch Hobby-Entomologe. Im Mittelpunkt seines ersten Falles steht ein grausames Verbrechen in einem kleinen Wanderzirkus. Die städtische Polizei stößt mangels ordentlicher Ausstattung und fehlender Weitsicht wie üblich an ihre Grenzen, so dass Skarabäus einmal mehr helfen muss, Licht ins Dunkel zu bringen. Der Löwe Helios, Direktor eines Wanderzirkus, wurde ermordet und die Umstände seines Todes sind so seltsam, dass Skarabäus Lampe schnell klar wird: Dahinter steckt mehr als die drohende Auflösung des Zirkus, wie die Polizei vermutet. Zwischen bunten Zelten und schummrigen Schaustellerwagen liegt vieles im Schatten und nach und nach findet der Meisterdetektiv heraus, dass jeden der »Freaks« eine ganz eigene Geschichte mit dem Direktor verband. Doch welche reicht für ein Mordmotiv? Bei seinen Ermittlungen wird der Detektiv unterstützt von seinem ehemaligen Kindermädchen Helene Pick, sowie dem kleinen Straßenkater Teddy, den Lampe wie einen Sohn liebt, was er aber nie zugeben würde. Als Teddy mitten in den Ermittlungen entführt wird, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit und der nüchterne Verstand des Detektivs gerät an seine Grenzen.

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Meike Stoverock

Das Strahlen des Herrn Helios

Ein Fall für Skarabäus Lampe

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung einer Abbildung von Max Meinzold

Karte: Thilo Corzilius

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-608-98666-2

E-Book ISBN 978-3-608-11924-4

Inhalt

Ein Anruf und viele Spuren

Bunte Gerüche und eine bärtige Dame

Ein Streit und ein erfolgloses Himmelfahrtskommando

Ein seltsamer Hund und eine Liebe im Krieg

Viele Meinungen und eine Nacht am Hafen

Verschwunden!

Fledermäuse mit Fähigkeiten und eine Feuersbrunst

Heilung und ein paar ausgelegte Köder

Ein Anruf und ein Geständnis

Eine Reise in die Vergangenheit und ein Mordanschlag

Das Ende einer Jagd

Abschiede

Epilog

Karte von Überstadt

Für Skarabäus Lampe

Den der Zufall in meinen Kopf warf,

Wo er sich aufrappelte,

Sich den Staub aus dem Mantel klopfte,

Mir seine Welt zeigte,

Und mir Gefährte und Alter Ego wurde,

Auch wenn er entschieden zu viel raucht.

Danke, mein Freund.

Ein Anruf und viele Spuren

Symmetrisch oder asymmetrisch?«

»Ich mag nicht! Hast du nicht etwas anderes? Schmetterlinge oder so? Fliegen sind langweilig!«

Der kleine dunkelbraune Kater, der so nachdrücklich gegen die ihm zugedachte Nachmittagsbeschäftigung protestierte, ließ das Vergrößerungsglas sinken, mit dem er eben noch ein Beweisstück aus der Gruppe der Insekten untersucht hatte, rutschte auf dem viel zu großen Schreibtischstuhl zurück und zog sich die karierte Schiebermütze über die Augen.

Skarabäus Lampe verdrehte die Augen. Da sich ein berühmter Meisterdetektiv aber nicht von den Launen eines Kindes den Nerv rauben ließ, atmete er tief ein und aus.

»Du weißt genau, dass das keine Fliegen, sondern Bremsen sind, und wenn du so werden willst wie ich, musst du lernen, wie man sie auseinanderhält.«

Er schob den Schaukasten mit den Vergleichsbremsen näher an den Kater. »Also – symmetrisch oder asymmetrisch?«

Widerwillig nahm der Junge die Lupe wieder in die Hand. »Als ich gesagt hab’, ich will so sein wie du, hab’ ich doch nicht das gemeint«, er machte eine verächtliche Kopfbewegung in Richtung der offenen Insektenkästen, »sondern das andere! Gangster! Verfolgungsjagden! Schießen!«

Und mit diesen Worten sprang er vom Stuhl, flitzte durch das Zimmer, wobei er Lampes Gehstock umwarf, der am Schreibtisch lehnte, und duckte sich hinter das Sofa. Von dort aus gab er mit der Lupe, die er mit beiden Händen wie eine Waffe hielt, mehrere Schüsse auf Lampe ab, die er akustisch untermalte. »Ähähähäh!«

Lampe sah ihm ausdruckslos zu und hob seinen Stock auf. »So wie du sie hältst, tippe ich auf Pistole, und die macht nicht ›Ähähähäh‹«, kommentierte er trocken. »Aber wenn du nicht so sein möchtest wie ich, kannst du natürlich deinen Lebensunterhalt auch weiter damit bestreiten, braven Bürgern, zum Beispiel mir, ihre Wertgegenstände, zum Beispiel goldene Füllfederhalter, zu stehlen und an die dubiosen Gentlemen, mit denen du zu verkehren pflegst, für ein Butterbrot zu veräußern.«

Der Kater ließ die Pistolen-Lupe sinken und kam hinter dem Sofa hervor. »Ich habe den Füllfederhalter nicht gestohlen, sondern du hast ihn liegengelassen und dann habe ich ihn gefunden!«

Lampe seufzte. »Ich habe ihn nicht liegengelassen, sondern ihn kurz abgelegt, um mir die Nase zu putzen. Das ist etwas anderes.« Er wies erneut auf den Insektenkasten. »Also, zum letzten Mal, Zacharias – symmetrisch oder asymmetrisch?« Wenn Lampe ihn bei seinem richtigen Namen nannte und nicht bei seinem Spitznamen Teddy wie sonst, wusste der Kater, dass die Stimmung zu kippen drohte. Er sah ein, dass ein strategischer Rückzug für dieses Mal klüger war. Maulend und mit hängenden Schultern kehrte er zum Schreibtisch zurück.

Missmutig nahm er die Nadel, auf der eine dicke braun-schwarze Bremse steckte, wieder in die Hand und untersuchte unter dem Licht der grünen Schreibtischlampe die Fühlerglieder des aufgespießten Insekts. »ImmernurdieblödenBremsenasimmtrischkannichjetztgehen?«

Lampe überhörte den erneuten Meutereiversuch.

»Asymmetrisch, richtig. Und das heißt was?«

Zacharias gab sich große Mühe, so gelangweilt wie möglich zu klingen, und zog jedes Wort in die Länge. »Tabanus sudeticus oder Tabanus bovinus. Genauer geht es nur mit Mikroskop. Kann ich jetzt gehen, bitte?«

Lampe lehnte sich zufrieden zurück.

Zacharias Bärlein gehörte zu der Art von unverwüstlichem Straßenkraut, deren besondere Fähigkeiten von normalen Personen weder erkannt noch gefördert werden konnten. Mit seinem beeindruckenden Repertoire an Widerborstigkeiten war er Waisenhäusern, Prinzipalen und Pflegeeltern so weit voraus, dass alle Institutionen ihre Erziehungsbemühungen nach kurzer Zeit aufgegeben hatten. Da er dadurch auf Umwegen in den Lichtkegel von Lampes Aufmerksamkeit geraten war, konnte man das Scheitern staatlicher Bildungseinrichtungen als glücklichen Zufall betrachten. Der kleine Kater war ein exzellenter Beobachter und hatte ein Gedächtnis, das sich die Beobachtungen in beinahe fotografischer Genauigkeit einprägen konnte. Nicht auszudenken, was aus diesen Begabungen unter dem Einfluss eines Lehrers geworden wäre, der Geschichtsdaten und Benimmregeln für Bildung hielt. Das Bestimmen der Bremsen war für den kleinen Kater nicht mehr als eine Fingerübung und sein Protest nichts als Theater gewesen.

»Na bitte«, sagte Lampe, »das hätten wir alle auch schneller haben können. Jetzt lass dir von Mamsy ein paar Krabben geben und dann läufst du zu Inspektor Sutten und sagst ihm, dass es entweder das Pferd oder der Stier war. Den Rest sollte selbst jemand wie er alleine schaffen, meinst du nicht auch?« Dabei zwinkerte er Teddy zu.

Als sei das das erwartete Stichwort, flitzte der Kater aus dem Zimmer und polterte durch das Treppenhaus. Unten sprach er kurz mit Helene und nur Sekunden später fiel die Haustür krachend ins Schloss.

Lampe verdrehte mit einem Seufzen die Augen. Tausendmal hatte er dem Jungen gesagt, er solle um Himmels willen lernen, leiser zu sein, wenn er jemals Gangster fangen wolle. Aber nun ja, Teddy war sieben und im Leben eines Siebenjährigen gab es nun einmal Dinge, gegen die auch ein genialer Meisterdetektiv nicht ankam.

Skarabäus Lampe steckte die Beweisbremse zurück in die kleine Beweistüte und legte sie in die Mappe mit den Fallunterlagen. Er räumte die Schachtel mit den Vergleichsbremsen in den großen Apothekerschrank, in dessen unzähligen Schubladen sich genug Exemplare für eine ganze Insektenzivilisation befanden. Alle tot und in penibel beschrifteten Kästen, Pappschachteln, Marmeladengläsern, Blechdosen, Briefumschlägen und Zigarrenkisten verstaut. Oh, und ein Puderdöschen war auch dabei, in dem er sein einziges Exemplar eines seltenen Lomechusa pubicollis aufbewahrte.

Als er sein silbernes Zigarettenetui suchte, das seelenruhig neben den Bremsen in der Schublade mit den Zweiflüglern auf seine Entdeckung wartete, klingelte das Telefon. Ohne ein Wort des Anrufers abzuwarten oder seine Suche zu unterbrechen, sagte er: »Herr von Oben! Was hat Sie aufgehalten?«, und kramte weiter auf dem Schreibtisch herum. Wie immer genoss er den kurzen Moment verblüfften Erstaunens am anderen Ende der Leitung, den solche Sätze bei Normalsterblichen für gewöhnlich erzeugten. Der Anrufer gab ein gurgelndes Geräusch von sich, das vermutlich ein Seufzen darstellen sollte.

»Wissen Sie«, sagte von Oben, »ich frage mich wirklich langsam, warum ich mir überhaupt noch die Mühe mache, Sie anzurufen. Wenn Sie schon wissen, dass ich Arbeit für Sie habe, kommen Sie doch einfach zu mir, und wir ersparen uns diese entwürdigenden Tricks.«

Der Detektiv gab sich entrüstet. »Aber lieber Freund! Wo bleibt denn da der Spaß? Ich mache den Zirkus doch nicht umsonst – auch nicht für Sie!«

Anstelle des Zigarettenetuis fand er in der untersten Schublade, unter einem Stapel Papier seine zerfledderte Ausgabe von Professor Redlichs Kompendium der rezenten Gliederfüßer« die er bei seinem letzten Fall schmerzlich vermisst hatte.

Von Oben knurrte leise. »Sie bekommen einhundert Gimmling für Ihre Arbeit, Lampe. Und jetzt hören Sie auf mit den Spielereien und kommen Sie in mein Büro. Es gibt zu tun.«

Skarabäus Lampe legte auf, nahm Stock und Mantel und verließ sein Arbeitszimmer. Stock, gesunder Fuß und fehlgebildeter Fuß erzeugten auf der Treppe einen Dreiklang, aus dem Helene, sein ehemaliges Kindermädchen, über die Jahre die feinen Nuancen seiner Launen heraushören konnte. Heute klang sein Schritt robust und gut gelaunt. Im Vorbeigehen rief er in die Küche, »Mamsy, mein Zigarettenetui ist verschwunden. Wenn du es findest, sag ihm, ich will es nicht mehr, es kann sich ein neues Zuhause suchen. Bis später!« Noch bevor Helene etwas antworten konnte, war der Detektiv zur Türe hinaus.

Lampe wohnte in der südlichen Weststadt, auf der bürgerlichen Grenze zwischen dem Arbeiterviertel im Norden und der Villengegend im Süden. Auf diese Weise konnte er alle für sein Metier relevanten Parteien gleichermaßen im Blick behalten. In der Weststadt waren die Wohnhäuser eine adrette Mischung aus Einfachheit und Vorzeigbarkeit. Die Straßen waren ohne besonderen Reiz, aber sauber, die städtische Infrastruktur funktionierte vorbildlich. Die Leute, die hier lebten, waren überwiegend rechtschaffen, aber einer Gelegenheit nicht grundsätzlich abgeneigt. Wenn sie das Wort aussprachen, schauten sie im Allgemeinen wie Zauberkünstler kurz vor der entscheidenden Pointe ihres Auftritts. Dennoch führten Lampes Fälle nur selten in seine eigene Gegend.

Der Detektiv steuerte mit langen Schritten den Brunnenplatz an, wo die Elektrische hielt. Sein Humpeln hatte ihn noch nie davon abgehalten, sich zügig zu bewegen, es war nur eine Frage der Humpeltechnik.

Das Büro des Anwalts lag im Finanzdistrikt am oberen Ende von Überstadt, auf den Hügeln hinter dem Fabrik- und Arbeiterviertel. Bei gutem Wetter ging Lampe gerne zu Fuß, auch wenn es länger dauerte, weil er dann mehr sah, roch und hörte von der Stadt und ihrer Bevölkerung. So viel wie möglich zu wissen, war das Fundament seiner Arbeit und ausgedehnte Spaziergänge halfen ihm dabei. Im Arbeiterviertel hatte er ein paar Wiesel-Springer: Extraaugen, -nasen und -ohren, die ihn bei zufälligen Begegnungen auf seinen Wanderungen unauffällig über neueste Entwicklungen informierten.

Doch heute war der Himmel grau und ein rauher Ostwind klappte ihm ständig die Ohren vor die Augen, also nahm er die Straßenbahn.

Während die Bahn die Weststadt ruckelnd hinter sich ließ, lösten schäbige Arbeiterquartiere und hastig zusammengenagelte Hütten die adretten Häuser der anständigen Leute, die zu Gelegenheiten nicht Nein sagten, ab. Auf den Straßen wimmelte es von zerrupften Gestalten. Fußputzjungen, Zigarettengeckos und andere Händler boten schreiend ihre Waren und Dienste feil. Dreischnecks krochen allerorts herum und waren meist irgendwem im Weg, der diese Zumutung mit lautem Geschrei quittierte. Mitunter schrien auch die Insassen der Dreischnecks, weil sie das Tempo zu langsam fanden, um als geldwerte Transportleistung zu gelten. Kleine Kinder, deren Kleidung nur noch von den Nähten zusammengehalten wurde, steckten sich am Gehsteig schmutzige Dinge in den Mund, und Lampe konnte nur hoffen, dass sich unter der dicken Schmutzkruste etwas von Nährwert verbarg. Aus Gullis und unterschiedlichsten Straßenküchen quoll Dampf und zog durch die Gassen. Die Luft war erfüllt mit Gerüchen von Armut und elastischer Moral. Hinter den Arbeiterquartieren lagen die Fabriken. Große Hallen mit turmhohen Schloten, wie das ganze Straßenbild für alle Zeiten vom Ruß geschwärzt. Was einmal farbig gewesen war, hatte den Kampf gegen Schlacke, Qualm und Staub schon vor Jahren verloren. Hier wurden aus Arbeitern Waren. Das Stampfen der großen Maschinen übertönte jeden stimmlichen Laut. Eigentlich sehr klug, dachte Skarabäus Lampe, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem jeglicher Protest gegen miserable Bezahlung im Keim ersticken musste, weil man ihn nicht hören konnte. Großformatige Burschen schulterten Säcke, Kisten, Taurollen. Sie steuerten Handkarren, luden Rohmaterialien ab und fertige Waren auf und die meisten von ihnen kauten unentwegt auf einem Priem Sbolut herum, um nicht zu viel über die knochenzersetzende Arbeit nachzudenken.

Weiter hinten, im Finanzdistrikt, wurden die Waren zu Geld. Die Elektrische folgte dem Weg der Wertschöpfung von der harten, schweißtreibenden Körperarbeit hin zu der wirklich anstrengenden Kopfarbeit, von den Muskeln zu den Geldscheinen.

Die Brutalität der aus modernstem Beton gefertigten Bauten wirkte wie eine Drohung gegen die Armut und den Dreck der vorherigen Viertel, eine robuste Phalanx, die dafür sorgte, dass der Wohlstand sich an die Stadtteilgrenzen hielt. Niemand nahm hier einen Dreischneck, um zur Arbeit zu kommen, nicht einmal die Sekretärinnen und sonstigen Bürogehilfen. Die Straßenbahn fuhr mitten hinein ins Wirtschaftsherz der Stadt und hielt so, dass alle großen Firmen bequem zu erreichen waren. Die ganz großen Fische freilich kamen mit dem eigenen Wagen zur Arbeit.

Etwas zurückgesetzt zwischen einem Bankgebäude und einer Kanzlei für Zehntberatung stand das Gebäude, das sich Anwalt Freiherr von Oben mit einer Wechselstube und einem Notar teilten musste, der vorwiegend die Aussagen von Eidhörnchen beglaubigte. Dessen Kundschaft kam nicht ganz so betucht daher wie die der renommierteren Kanzleien, aber von Oben brauchte Mitmieter, um sich überhaupt ein Büro im Finanzdistrikt leisten zu können. Zugegeben hätte er das freilich nicht, er behauptete, er hielte sich die bodenständige Bürogemeinschaft, um den Kontakt zur normalen Bevölkerung nicht zu verlieren, zu der er sich selbst nicht zählte.

Als Skarabäus Lampe schließlich das Büro des Anwalts betrat, schaute der noch immer grimmig drein. Das verlieh ihm einen etwas blöden Ausdruck, denn der Mimik von Fischen waren von Natur aus gewisse Grenzen gesetzt.

Von Oben saß an seinem viel zu großen Schreibtisch und angelte vergeblich nach einem Blatt Papier auf der gegenüberliegenden Seite, das sich außerhalb der Reichweite seiner kurzen Flossenärmchen befand. Lampe hatte ihm einmal zu helfen versucht, indem er das Benötigte über den riesigen Tisch schob. Aber von Oben war dadurch nur wütend geworden, weil es ihn demütigte, wie er fand. Also blieb der Detektiv reglos stehen und wartete. Der Anwalt fluchte, ließ sich vom ebenfalls zu großen Schreibtischstuhl rutschen, watschelte um den Schreibtisch herum und nahm immer noch fluchend das Blatt.

Er trug die gleiche Atemvorrichtung, die es allen Fischen erlaubte, an Land zu leben: einen Briser. Er bestand aus einer flüssigkeitsgefüllten Blase, die den Hinterkopf umschloss und in die eine kleine Pumpe eingebaut war, die den Sauerstoff aus der Umgebung ins Blaseninnere leitete. Filter verhinderten, dass dabei Staub oder Schmutz in den Briser geriet. Schläuche führten das Wasser von der Blase zu fest auf den Kiemen installierten Kuppeln. Auf diese Weise merkten die Kiemen gar nicht, dass der Fisch, an dem sie hingen, nicht im Wasser war, denn sie waren es die ganze Zeit.

Der Grundaufbau dieser Briser war immer gleich, doch unterschieden sich die Ausführungen je nach Geldbeutel der Träger erheblich. Die hochpreisigen Markengeräte der ersten Generation waren Kunstwerke, für die Ewigkeit gemacht. Die späteren Briser-Generationen waren etwas weniger ausladend und mehr auf Zweckmäßigkeit und Tragbarkeit gestaltet. Handwerklich begabte Geschäftsleute hatten sich schließlich über das Patent hinweggesetzt und den Markt in den folgenden Jahren mit deutlich billigeren Nachbauten aus Gummi, Glas und wassergefüllten Hammelblasen geflutet.

Der Briser des Anwalts war eine hochwertige Arbeit aus hauchdünn geschliffenem Amethyst und goldenen Gewinden. Er war eine Einzelanfertigung und ein Familienerbstück, wie von Oben einmal erzählt hatte. Sein Großvater war während der großen Besiedelungswelle unter zwielichtigen Umständen zu Reichtum gekommen, indem er wertlose Landgrundstücke an reiche, aber mit festem Boden vollkommen unerfahrene Fische verhökert hatte. Seitdem wurde der Briser mit einer Mischung aus Stolz und Scham unter den männlichen Familienmitgliedern der von Obens von einer Generation an die nächste weitergereicht.

Jetzt kletterte von Oben wieder auf seinen Stuhl – Skarabäus Lampe beschäftigte sich derweilen angestrengt mit den Flusen auf seinem Mantel, um nicht an Teddy Bärlein zu denken, der heute ebenfalls in kindlicher Würdelosigkeit mehrmals den großen Stuhl in Lampes Arbeitszimmer hinauf und hinunter geklettert war – und drehte das Ventil an seiner Briser-Pumpe auf, um den Wasserdurchlauf an seinen Kiemen zu erhöhen. Dann wandte er sich immer noch etwas kurzatmig dem Detektiv zu.

»Also schön, Lampe, wie?«, schnappte er und verschränkte die Flossenfinger vor seinem für seine geringe Größe beachtlichen Bäuchlein. Skarabäus Lampe ließ sich auf den – deutlich kleineren – Besucherstuhl fallen und holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Manteltasche, das er wegen des verschwundenen Etuis hatte kaufen müssen. Er steckte sich ein Stäbchen zwischen die Lippen und tastete in seinen Taschen nach Streichhölzern, fand jedoch keine.

»Ach, von Oben, schmollen Sie etwa immer noch? Sie kennen doch meine Methoden! Ich habe in der Frühausgabe vom Mord in dem Wanderzirkus gelesen und auch davon, dass man bereits einen Verdächtigen verhaftet und Ihnen die Pflichtverteidigung übertragen hat. Das bedeutet, dass der Delinquent entweder zu arm ist, um sich einen normalen Anwalt zu leisten, oder dass den Fall niemand übernehmen will.«

Lampe drehte die Zigarette zwischen den Fingern. Den Anwalt musste er gar nicht erst um Feuer bitten: Fische begegneten Feuer mit einem natürlichen Misstrauen und die meisten waren daher Nichtraucher.

»In dem Artikel stand, dass der Verdächtige über einiges Vermögen verfügt, also wollte wohl keiner Ihrer geschätzten Kollegen sich seiner annehmen. Und da Ihr Berufsstand für gewöhnlich kaum eine Möglichkeit ausschlägt, Geld zu verdienen, ging ich davon aus, dass die Situation für den Verhafteten derart erdrückend aussieht, dass seine freiwillige Verteidigung der Verbrennung der eigenen Anwaltsreputation gleichkäme. Bei einer so schwierigen Beweislage habe ich spätestens um zwölf mit Ihrem Anruf gerechnet.«

Der Detektiv nahm einen tiefen Zug von seiner nicht brennenden Zigarette, blies nicht vorhandenen Rauch an die Decke und lächelte von Oben an.

Der saß mit steif durchgedrücktem Rücken da und schaute ihn mit starrem Blick an, also mit noch starrerem Blick, als es Fische für gewöhnlich tun. Ein Muskel zuckte neben seinem lippenlosen Mund. Dann wurde sein Rücken weich und sein ausdrucksloses Gesicht zerlief wie geschmolzene Butter, er fuhr sich seufzend mit der Hand über den von der Muschel unbedeckten Teil seines Kopfes und klappte mutlos die vor ihm liegende Akte auf.

»Ach, mein guter Lampe, was soll ich nur tun? Ich habe heute Mittag den Bericht der Beamten vom Tatort bekommen und es sieht dunkelschwarz aus. Wenn Sie mich fragen: Er war es. Punktum. Alles, aber auch alles deutet auf ihn als Täter. Er hat nicht gestanden, aber er wird dem Galgen auch ohne Geständnis kaum entgehen können. Und ich muss bis Freitag die Verteidigungsschrift aufsetzen. Tun Sie etwas, Lampe. Ohne Sie bin ich verloren!«

Skarabäus Lampe zog eine Augenbraue hoch.

»Er. Sie meinen, ohne mich ist der Verdächtige verloren.«

Mit einer unwirschen Handbewegung wischte der Anwalt den vermeintlichen Versprecher vom Tisch. Er hob an, um dem Detektiv die wichtigsten Fakten des Falles zu erläutern, doch Lampe griff sich die Akte und stand auf.

»Lassen Sie gut sein, von Oben. Alles, was ich wissen muss, steht in der Akte. Ich nehme sie mit und bis heute Abend kriegen Sie etwas.« Der Fisch wollte kurz protestieren, winkte dann aber resigniert ab.

Skarabäus Lampe verließ das Büro und ließ sich von der Vorzimmerdame Fräulein Pantanananarabi Feuer geben. Fräulein Pantanananarabi war ein malwesisches Fingertier, was bedeutete, dass sie erstens nachtaktiv und zweitens von gewöhnungsbedürftigem Äußeren war. Fingertiere waren wache Geister, konnten tagaktive Arbeiten aber in der Regel nur mit Hilfe von Unmengen Kaffee und Tabak bewältigen.

Was die Natur bei Fräulein Pantanananarabis Aussehen eingespart hatte, hatte sie bei ihrer Stimme doppelt ausgezahlt. Sie war tief und warm, und die Zigaretten hatten Tiefe und Wärme zur Vollendung gebracht. Wenn Anrufer, die noch nie persönlich in dem Anwaltsbüro gewesen waren, zum ersten Mal ihren fremd klingenden Namen und ihre schmeichelnde Stimme hörten, verfielen sie regelmäßig in eine Art Fernverliebtheit, wie Fräulein Pantanananarabi Skarabäus Lampe einmal amüsiert erzählt hatte. Traten sie ihr dann persönlich gegenüber, erlitten die Ärmsten regelmäßig einen romantischen Schock. Aus irgendeinem Grund verknüpfte jeder eine exotische Frau mit erotischer Ausstrahlung. Die meisten Anrufer stellten sich wohl einen rassigen Papagei vor oder eine geheimnisvolle Eidechse, nicht aber ein unansehnliches Äffchen, an dem kein Körperteil so recht zum anderen passen wollte und in dessen Gesicht vor Müdigkeit stets eine Reihe von Muskeln zuckten.

Lampe hatte Fräulein Pantanananarabi gleich in Person kennengelernt und sich daher, von ihrem Äußeren völlig unbeeindruckt, vollumfänglich ihren anderen unschätzbaren Vorteilen widmen können. Sie war aufmerksam, viel aufmerksamer als von Oben, und sie hatte vollen Zugriff auf seine Klientenakten und Kalender. Der Anwalt vertraute ihr völlig, weshalb sie in seinem Büro uneingeschränkt ein- und ausgehen konnte, selbst wenn er sich gerade in einem Gespräch befand. Sie versorgte den Detektiv selbstständig und ohne dass er danach fragen musste, mit zusätzlichen Informationen und das machte sie zu einer wertvollen Verbündeten im Kampf gegen das Verbrechen. Er betrachtete sie insgeheim eher als seine Mitarbeiterin als als die des Anwalts. Außerdem hatte Fräulein Pantanananarabi immer Feuer.

Im Laufe der Zeit hatten sie beide ein tiefes Vertrauensverhältnis entwickelt und sie war die Einzige, die ihn bei seinem Spitznamen aus Kindertagen – Skar wegen der großen Narbe auf seiner rechten Wange – nannte. Dass er überdies hin und wieder nach dem Verlassen der Kanzlei neben ihrer stets offen stehenden Bürotür innehielt, um ihrer wunderbaren Stimme zuzuhören, die dem nächsten Anrufer geduldig erklärte, das von Oben keine Zeit habe, musste sie ja nicht wissen.

Die Elektrische brachte ihn wieder nach Hause, diesmal dem umgekehrten Weg des Geldes folgend; vom Reichtum in die Armut. Wie in einer umgekehrten cinematografischen Aufnahme verwandelten sich die edlen Anzüge und aufwändigen Briser zurück in schäbige Lumpen und ungepflegte Gesichter.

Zu Hause legte Lampe die Akte auf den schlanken Teetisch neben dem Sessel am Fenster, wand sich aus seinem Mantel und warf ihn achtlos über den Kleiderständer unter der Dachschräge. Er erinnerte sich daran, dass sein Zigarettenetui nebst dem darin befindlichen Feuerzeug nach wie vor verschollen war, und die neugierige Vorfreude auf das Lesen der Akte bei einer guten Zigarette wich einer leisen Verärgerung. Er holte Luft und riss die Tür auf, um nach Helene zu rufen, doch das Huhn stand bereits mit einem Teetablett vor seiner Tür und hatte die Hand zur Türklinke erhoben. Für gewöhnlich klopfte sie nicht, wenn sie sein Arbeitszimmer betrat; als sein ehemaliges Kindermädchen gab es nichts an ihm, das sie über die Jahre nicht hatte mitwachsen sehen. Lediglich wenn Klienten bei ihm waren, verwandelte sie sich auf geradezu unheimliche Weise in eine zurückhaltende und rundherum vorbildliche Hausangestellte.

Jetzt runzelte Mamsy allerdings missbilligend die Stirn über einige schmutzige Fußabdrücke, die den dicken Fransenteppich zierten.

»Näh, und wieder mit den dreckigen Füßen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir die Füße unten abtreten sollst, Skarabäus Lampe.«

Sie stellte das Tablett so heftig auf die Akte, dass die Teetasse auf dem Unterteller klirrte und etwas Tee aus dem Hals der Kanne schwappte.

»Und hier«, sie zog das Zigarettenetui aus ihrer Schürzentasche und warf es ihm beiläufig zu, »hab ich wieder bei dem Ungeziefer gefunden. B wie Bremsen.«

Lampe fing es erfreut auf und tat das, was er immer tat, wenn Helene ihn wegen seiner Unordnung schalt: Er beschuldigte Teddy. Doch Helene wollte nichts davon wissen.

»Ach was, lass das unschuldige Kind da raus. Du lässt das Etui ständig bei den toten Käfern, ständig. Letztes Mal war es erst in der letzten Schublade, bei den Zikaden, das war eine schöne Sucherei, sag ich dir. Du denkst wohl, nur weil ich ein Huhn bin, krame ich gerne in dem Kroppzeug herum. Näh! Eine Schublade ekliger als die andere! Und dieser muffige Geruch! Nächstes Mal kannst du deine Sachen selber aus den staubigen, stinkenden Kästen holen.«

Der Detektiv gab ihr einen Kuss auf die Wange, hustete eine kleine, weiße Feder aus und sagte »Danke, Mamsy, du bist die Beste!«, doch da schlug die Tür bereits hinter ihr zu. Er ließ sich in den Sessel am Fenster fallen, zog vorsichtig die Akte unter dem Teetablett hervor, biss genüsslich in eines von Mamsys vielen Küchenwundern – ein Bananenmais-Plätzchen – und begann zu lesen.

Freiherr von Oben hatte nicht zu viel versprochen: Der Verhaftete – ein Gorilla namens Dante – war angesichts der Indizienlage nahe daran, durch den Strang vom Leben zum Tod befördert zu werden. Der Direktor des kleinen Wanderzirkus Helios, der jedes Jahr im Herbst nach Überstadt kam und seit einer Woche wieder hier war, war ermordet worden. Das Opfer, ein Löwe, war an einen Stuhl gefesselt und danach mit einer sehr dünnen Schnur oder einem Draht erdrosselt worden. Allem Anschein nach hatte man ihm vor seinem Tod den Kopf rasiert und ihm einen Spiegel vorgehalten.

Zahlreiche Spuren wiesen auf den Gorilla als Täter hin. Die Polizeibeamten hatten Zigarettenkippen von Drahid & Falut, der bevorzugten Marke des Gorillas, sowohl vor dem als auch im Wohnwagen gefunden. Außerdem hatten sie einen starken Gorillageruch und an den Krallen des Toten einige Affenhaare festgestellt. Des Weiteren hatten einige andere Artisten den Gorilla am Vorabend mit dem Direktor streiten gehört. Alle Hinweise schienen glasklar. Allerdings wurden die Ermittlungen von Inspektor Sutten geleitet, und das bedeutete, dass die Hinweise nicht viel bedeuteten.

Resfaldo Sutten war wie die meisten Polizisten ein Hund, verließ sich wie die meisten Hunde nur auf seinen Geruchssinn und übersah deshalb meist das Allerwichtigste. Wer keinen Geruch hinterließ oder sich hinter dem Geruch eines anderen verbarg, war für Inspektor Sutten nicht wahrnehmbar. Er würde an der Schuld eines geständigen Mörders zweifeln, nur weil der Tatort nicht befriedigend nach ihm gerochen hatte. Sein Geruchssinn war hervorragend, aber es mangelte ihm an der Kreativität und Fantasie, sich Tathergänge vorzustellen. Von den schummrigen Wandelgängen der Seele hatte er keine Ahnung. Die Indizien, die auf Dante als Mörder hinwiesen, betrachtete Skarabäus Lampe daher als nichtig.

Der Spiegel lag noch auf dem Boden vor dem Stuhl, als Zirkusmitarbeiter den toten Direktor am Morgen gefunden hatten. Ebenso das Rasiermesser, mit dem man Helios seiner Mähne beraubt hatte. Neben dieser auffälligen Häufung von Spuren machte ihn aber auch die Mordmethode skeptisch. Warum sollte ein Kraftprotz wie ein Gorilla, der Hände wie Bratpfannen hatte, der mühelos die dicksten Ketten sprengte und die schwersten Gewichte hob, auf eine dünne Schnur zurückgreifen? Würde er nicht eher seine Hände eingesetzt haben, die dem Zirkusdirektor ebenso zuverlässig das Lebenslicht gelöscht hätten?

Lampe sah sich die Liste mit den Zirkusartisten an. Alle trugen blumige Namen, vermutlich Bühnennamen:

Dame Avalea, Schwertschluckerin

Pavo, Fakir

Florence, Bärtige Dame

Polonius, der Junge mit der Menschenhaut

Monsieur Coteau, Messerwerfer

Dr. Johnson, Wunderheiler

Miniko, der Tätowierte Tod

Madame Rosalie, Hellseherin

Außerdem gab es einige Hilfskräfte. Ein junges Kaninchen namens Millie besorgte je nach Wetter Eiswagen oder Popcornstand und ein Rabe erledigte alle sonstigen Hilfsarbeiten, er war eine Art Faktotum und hieß Sal.

Der Detektiv griff zum Telefon und rief den Inspektor an.

»Lampe, Sie Pestbeule! Der Fall ist wasserdicht, den krempeln Sie mir nicht um! Der Kerl wird hängen!«

Der Inspektor versuchte, seiner Sicherheit durch Lautstärke Nachdruck zu verleihen. Es war immer das gleiche Spiel. Jedes Mal gab es diese überflüssigen und vollkommen aussichtslosen Verhandlungen, in denen er um seinen Sieg rang.

»Er war es nicht.« Lampe blieb ganz ruhig, während sich die Stimme von Inspektor Sutten fast überschlug.

»Nein! Nein, nein, nein und nein! Diesmal nicht, diesmal nicht! Er war es, er ist gesehen worden, Lampe!«

Zum dritten Mal heute verdrehte der Detektiv halb belustigt und halb genervt die Augen.

»Sie haben den Falschen, Sutten.«

Der Polizist schrie fast. »Seine Haare und Zigaretten waren am Tatort!«

Lampe besah sich seine Fingernägel, stellte stirnrunzelnd fest, dass er mal wieder eine Maniküre brauchte, und schwieg. Sutten tobte weiter.

»Der ganze Wohnwagen hat nach ihm gestunken!«

Der Detektiv blieb bei seinem Schweigen und überlegte sich, dass er bei der Gelegenheit auch seine Füße putzen lassen würde, damit Mamsy nicht wieder schimpfen musste.

Die Stimme des Inspektors bekam einen flehentlichen Klang.

»BITTE!«

Als der Detektiv immer noch nichts sagte, seufzte er geschlagen. »Sie sind ein Nagel zu meinem Sarg, Lampe.«

Gut gelaunt straffte Skarabäus Lampe sich und sagte mit seiner fröhlichsten Stimme »Prima! Nachdem wir das also geklärt haben, würde ich sagen, Sie holen mich morgen früh ab. Passt es Ihnen gegen acht Uhr dreißig?«

Statt einer Antwort hörte er nur ein Klicken in der Leitung, Sutten hatte einfach aufgelegt.

Skarabäus Lampe beschloss, die geplanten Besorgungen sofort zu erledigen, und als Helene ihm am Abend sein Essen brachte, entdeckte sie seine sauberen Füße. »Nah, wurde auch Zeit«, brummte sie, aber er wusste, dass sie sich freute, weil er von selbst darauf gekommen war, sie putzen zu lassen.

Sie schob das Chaos auf dem Schreibtisch ein wenig zur Seite, um Platz für den Teller Gelbwurz-Ragout zu machen. Sie mochte es nicht, wenn Lampe in seinem Arbeitszimmer aß. Unten gab es ein wunderbar geräumiges Esszimmer, in dem sie manchmal mit Teddy zu dritt speisten. Wie eine Familie. Aber wie immer, wenn der Detektiv einen neuen Fall hatte, nahm er sich heute nicht die Zeit dafür. Das Kindermädchen von Skarabäus Lampe, dem Meisterdetektiv, ermahnte ihn wie ein kleines Kind, nicht zu kleckern, und wandte sich missmutig zum Gehen.

»Nicht böse sein, Mamsy«, sagte er zu ihr. »Aber diesmal geht es um Leben und Tod. Wenn ich nichts tue, stirbt ein Unschuldiger.«

Sie drehte sich um, sah ihn mit einem ungewohnt warmen, leicht nachdenklichen Blick an, kam zu ihm herüber und zupfte eine Staubfluse von seinem linken Ohr. Er hatte es sich achtlos über die Schulter nach hinten geworfen, damit es nicht ins Ragout hing.

»Du bist ein guter Junge, Skarabäus«, sagte sie. »Du bist der nervigste Ziehsohn, den ich je hatte, vermutlich sogar auf der ganzen Welt, aber du bist ein guter Junge.« Und damit strich sie ihm über den Haarwirbel auf seiner Stirn, wünschte ihm guten Appetit und verließ das Zimmer.

Skarabäus sah ihr überrascht und auch ein wenig berührt hinterher. Manchmal kam es ihm vor, als hätte Helene genauso viele Geheimnisse vor ihm wie er vor ihr. Er schob sich den Löffel Gelbwurz-Ragout in den Mund, das wie immer köstlich schmeckte, und dachte kauend nach.

Bunte Gerüche und eine bärtige Dame

Am nächsten Morgen war Skarabäus Lampe gerade damit beschäftigt, seine Schnurrhaare zu kämmen, als die Türglocke ging. Er hörte, wie Helene öffnete, und verfluchte sich, weil er den Inspektor so früh herbestellt hatte. Dann brüllte er durch den Türspalt, er sei gleich unten, knöpfte sein Hemd zu, ließ die Hosenträger darüberschnalzen und griff sich seinen Stock. In der Küche, wo ihn Sutten erwartete, kippte er noch rasch einen Schluck Tee hinunter. Sutten wartete für gewöhnlich mit seinen Vorhaltungen, bis Helene nicht mehr in der Nähe war, seitdem er einmal miterlebt hatte, wie sie Partei für Lampe ergriffen hatte.

Auf dem Fahrersitz des Polizeiautos lehnte sich der Inspektor zurück und schaute Lampe von der Seite an. »Also, Lampe, jetzt mal unter uns. Was war los gestern? Sie können das am Telefon nicht ernst gemeint haben. Waren Sie betrunken? Haben Sie wieder Gürteltier genommen? Sagen Sie es einfach, ich werde Sie auch nicht verknacken.«

Der Detektiv lachte und ignorierte Suttens Frage. »Hat Zacharias Ihnen gestern die Nachricht überbracht? Wissen Sie schon, wer es war?«

»Wir haben den Stier gestern festgenommen. Er hat gestanden, seine Mutter im Schlaf ermordet zu haben.«

»Sehr gut. Fahren Sie, Sutten, ich habe einen weiteren Fall zu lösen.«

Unterwegs ließ er sich von dem Inspektor erzählen, was noch nicht in der Akte stand. Der Direktor hatte ein lukratives Übernahmeangebot einer Varietéshow erhalten und beabsichtigte, den Jahrmarkt zu verkaufen. Weil im Varieté aber keine Freaks, sondern fast nur Hupfdohlen auftraten, hätte diese Übernahme faktisch das Ende des Zirkus bedeutet. Die Angestellten wären mit einem Schlag arbeitslos geworden. Sie hatten versucht, dem Direktor ein Gegenangebot zu machen, sich quasi selbst einzukaufen, aber gegen den Betrag, den das Varieté bot, waren sie chancenlos. Der Gorilla Dante verfügte über einiges Vermögen und war deshalb in den Verhandlungen als Redeführer aufgetreten. Am Vorabend des Mordes hatte er nochmals versucht, den Direktor zu überzeugen.

»Sie sehen, Lampe, es ist klar. Für das Zirkusvolk geht es um die Existenz, ohne den Zirkus landen sie entweder bei der Wohlfahrt oder in der Gosse. Ohne den Direktor ist die Übernahme allerdings hinfällig und die Gefahr beseitigt.«

Der Detektiv nickte nachdenklich. »Aber das wäre ein Mordmotiv für alle Artisten, nicht nur den Gorilla. Was ist mit der Mordwaffe? Und haben Sie überprüft, woher Seil, Rasiermesser und Spiegel stammen?«

Suttens Miene hellte sich auf. »Selbstverständlich! Halten Sie uns für Dilettanten?!« Skarabäus Lampe antwortete nicht.

»Der Spiegel gehört der Hellseherin und das Rasiermesser der Bärtigen Dame. Die Seilfasern überprüfen wir noch, wahrscheinlich stammt es aus der Kiste des Fakirs. Die Mordwaffe ist bis jetzt unauffindbar.«

Eine kleine Verstimmungsfalte erschien zwischen den Augen des Detektivs. »Sie haben also keine Mordwaffe, mit den Hilfskräften fast ein Dutzend Leute, die von dem Mord profitieren, finden eine ganze Reihe von Gegenständen am Tatort, von denen keines dem verdächtigten Gorilla gehört, und halten diesen Fall für eindeutig? Sutten! Das ist selbst für Sie eine unübersichtliche Situation.« Er fixierte den Beagle.

Der hielt seinem Blick einen Moment stand, blaffte dann aber: »Was?! Wir waren eben noch nicht fertig mit der Beweisaufnahme!«

Lampe rollte mit den Augen.

Beide schwiegen, der Detektiv genervt, der Inspektor beleidigt. An einer Ampel hupte er wütend, weil der Dreischneck vor ihm sich nicht schnell genug in Bewegung setzte, als das Zeichen auf Beine umsprang. Bei nächster Gelegenheit überholte Sutten das Gefährt und hupte nochmals. Die Schnecke, die seinem Auto am nächsten war, zog erschrocken ihr Auge ein, wodurch das Vehikel vom Kurs abkam. Lampe ahnte, dass die Leitschnecke für die Kurskorrektur mindestens eine Dreiviertelstunde benötigen würde, und entschuldigte sich in Gedanken bei den Insassen des Gefährts.

Sie mussten bis ans andere Ende der Stadt. Der Wanderzirkus hatte seine Zelte in den Hügeln am Rand der Oststadt aufgeschlagen.

Die Magistratur hatte dem Zirkus nur eine größere Industriebrache im Nirgendwo zugestanden, nachdem es in der Vergangenheit immer wieder Zusammenstöße zwischen den Carnies, wie sich das Zirkusvolk nannte, und der Bevölkerung gegeben hatte. So weit draußen konnten wenigstens keine Dreischnecks in Flammen auf- oder Fensterscheiben zu Bruch gehen, wenn es Uneinigkeiten über die Qualität der gebotenen Show gab. Hier gab es außer der Straße nur Schutt, eine vergessene Baustelle, deren Reichtümer längst von der hiesigen Halbwelt geplündert worden waren, und Waldrand, viel Waldrand. Es nieselte seit gestern Abend ununterbrochen und der Boden rund um das Festgelände war matschig. Der an klaren Tagen durchaus beeindruckende Blick über die Stadt versank in einer dichten Suppe aus Luftfeuchte. Immer noch übelgelaunt parkte der Inspektor den Wagen genau so, dass Skarabäus Lampe beim Aussteigen in eine große Pfütze trat, was der mit einem ärgerlichen Blick quittierte.

»Der Eingang ist dort drüben«, sagte Sutten, und der Detektiv fragte sich, wie viele Leute es wohl gab, denen das Schild »Zirkus Helios Eingang« als Hinweis nicht ausgereicht hätte. Unter dem Schild befand sich ein Kassenhäuschen und daneben eine Schranke, an der ein rauchender Rabe lehnte. Da es für die Dauer der polizeilichen Ermittlungen keine Vorstellungen gab, war das Kassenhäuschen geschlossen. Auf eine beiläufige Begrüßungsgeste Suttens hin schnippte der Rabe seine Kippe weg und öffnete die Schranke, die die normale Welt von der Magie des Zirkus trennte, um sie einzulassen.

Hüfthohe Pfosten zwischen denen man eine Girlande mit bunten Lichtern gespannt hatte, umgaben das Zirkusgelände. Banner und Plakate wiesen auf die gebotenen Sensationen hin, aus einfachen Brettern zusammengenagelte und weiß lackierte Wegweiser den Weg dorthin. Von den Vordächern tropfte es und die bunten Wimpel, die sonst im Wind flatterten, hingen nass und schwer herab. Der Jahrmarkt, der in voller Beleuchtung ein Sinnbild farbenfrohen Amüsements war, wirkte unter der Last der herbstlichen Diesigkeit verwaschen und heruntergekommen. Zwischen den blau-gelb gestreiften Zelten lockten ein Popcornstand, der jetzt allerdings leer und kalt war, ein Eiswagen und ein kleiner Ausschank, der verdächtig nach schwarzgebranntem Schnaff aussah. Lampe tippte darauf, dass man Sutten, sollte er nach einer Schanklizenz fragen, sicher eher einen Fünfziger als eine Lizenz aushändigen würde. Hinter den kleinen Bühnen und Auftrittszelten standen die Wagen der Artisten, jeweils kenntlich gemacht durch ein Namensschild.

Auf den ersten Blick wirkten die Laufwege wirr und ohne System angelegt, doch was aussah wie der Heimweg eines Einäugigen, der eine lange Nacht mit Schnaff und Gürteltier verbracht hatte, war in Wirklichkeit das Schutzsymbol des fahrenden Volkes. Zumindest, wenn man dieser Art von Überzeugungen anhängig war. Skarabäus erkannte das im Kreuz angelegte Zickzackmuster sofort. In diesem Fall hatte das Zeichen offenbar seinen Dienst versagt.