Tod im Museum - Meike Stoverock - E-Book

Tod im Museum E-Book

Meike Stoverock

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Beschreibung

»Zwei tote Archäologen in so kurzer Zeit – das riecht fischig!« Überraschend stirbt der Vater von Skarabäus Lampe, ein bekannter Archäologe. Als es bei der Trauerfeier im Museum einen zweiten Toten gibt, ist das Misstrauen des Detektivs geweckt. Einmal mehr muss er ermitteln. Unterdessen wird die Stadt von einer Welle sozialer Aufwallung und Wut erfasst… Es gibt Unruhen! Nach einem Ausbruch der gefürchteten Arbeiterkrankheit und ausbleibender Hilfe vom Magistrat, gehen die Armen auf die Straße. Eine Welle der Wut, die Straßenbarrikaden, brennende Dreischnecks und fliegendes Gemüse mit sich führt, rollt durch Überstadt. Als der Vater von Skarabäus Lampe, berühmter Archäologe und Ehrenbürger der Stadt, plötzlich stirbt, ist der Detektiv nach Jahren der Entfremdung völlig überfordert. Er wird jäh aus seiner Gefühlsverwirrung gerissen, als auf der Trauerfeier zu Ehren seines Vaters der Vorsitzende der Archäologischen Gesellschaft während seiner Rede ebenfalls vor aller Augen stirbt. Der Detektiv lässt das Museum abriegeln und beginnt mit der Spurensuche.

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Seitenzahl: 301

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Cover for EPUB

Meike Stoverock

Tod im Museum

Ein Fall für Skarabäus Lampe

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2023 by J.  G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung einer Abbildung von © Max Meinzold

Karte: Thilo Corzilius

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98706-5

E-Book ISBN 978-3-608-12210-7

Inhalt

Unsichere Zeiten und Besuch vom Mond

Brennendes Petroleum und hohle Worte

Eine Trauerfeier für zwei Tote

Zuckerwatte, Schnittblumen und eine S.U.P.P.

Konzentrische Kreise

Aufruhr und der große Lausangriff

Gute alte Polizeiarbeit

Ausgleichende Gerechtigkeit

Ein neuer Tag, eine neue Zeit

Epilog

Unsichere Zeiten und Besuch vom Mond

Sorgfältig legte Skarabäus Lampe den schweren silbernen Schlagring neben den sechsschüssigen Revolver auf den Schreibtisch. Der Detektiv konnte zwar in fast allen Situationen improvisieren, aber es war ihm lieber, wenn er es nicht tun musste. Improvisation verschlang Zeit, selbst wenn es wie in seinem Fall meist nur Sekundenbruchteile waren, und diese Zeit konnte über Leben und Tod entscheiden. Deshalb kontrollierte er einmal wöchentlich die Dinge, die fest in seiner Manteltasche installiert sein sollten, um unangenehme Überraschungen in Gefahrensituationen zu vermeiden.

Lampe griff wieder in die Tasche und zog das ebenfalls silberne Zigarettenetui heraus. Nachdenklich betrachtete er es. Es war einer der wenigen Gegenstände, die er nicht dauerhaft in seinem Mantel aufbewahrte, weshalb es ihm immer wieder abhandenkam. Helene, sein ehemaliges Kindermädchen, hatte bereits ein Zweitetui für unterwegs vorgeschlagen, aber Lampe kannte sich selbst zu gut und wusste, dass er deshalb nicht seltener ohne Zigaretten und dafür öfter mit zwei Etuis in seinem Mantel dastehen würde.

Als Nächstes legte er das kleine Blechdöschen mit Gürteltier auf den Tisch. Für gewöhnlich hatte er auch immer einige fertig gerollte, mit der Droge versetzte Spezialzigaretten in seinem Etui.

Gürteltier war ein uraltes Heilkraut, das eine sowohl entspannende wie auch die Sinne schärfende Wirkung hatte. Wann immer Skarabäus Lampe es nahm – Helene fand: zu oft –, beruhigte und erregte es jeweils genau die richtigen Teile seines Gehirns, um ihm zu Höchstleistungen zu verhelfen. Ihren Namen hatte die Droge dem Umstand zu verdanken, dass exzessiver Konsum zu einer Verhärtung der Haut führte, was ihr Ähnlichkeit mit den Rückenpanzern von Gürteltieren verlieh. Lampe kontrollierte daher regelmäßig sowohl seinen Fellbestand als auch die Geschmeidigkeit seiner Haut.

Schließlich zog er noch Professor Redlichs Kompendium der rezenten Gliederfüßer und einen zerfledderten Notizblock nebst Bleistift aus seinem Mantel und legte beides vor sich auf den Tisch.

Das Kompendium war ebenso ein Sorgenkind wie das Zigarettenetui. Es existierte in der vollständigen Bibliotheksausgabe mit siebenhundertdreiundachtzig beschriebenen Arten und der schlanken Taschenedition mit nur einhundertsiebenundvierzig Arten. Lampe fand die Taschenausgabe vollkommen ungenügend für seine Arbeit, bei der er es oft mit exotischeren Insekten zu tun bekam oder mit Larvalstadien, die in ihr nicht gelistet waren. Aber die Bibliotheksedition wog beinahe drei Kilo und der Detektiv konnte sie schlecht in einem Handkarren hinter sich herziehen, wenn er Verbrecher verfolgte.

Zufrieden betrachtete er seine Grundausstattung, nahm dann den Schlagring und begann, ihn zu polieren. Er mochte das Gewicht in seiner Hand. Es war wie ein eigener Gravitationspunkt. Dann prüfte er, ob die Trommel des Revolvers voll mit Patronen bestückt war, und steckte bis auf das Zigarettenetui und das Döschen Gürteltier alles wieder in seinen Mantel.

Auf die Schnelle fand er sein Zigarettenpapier nicht und riss vorsichtig einen Streifen von der Tageszeitung des Vortags ab. Die Druckerschwärze gab den Spezialzigaretten immer einen unangenehmen Geschmack, aber er hatte jetzt keine Lust, nach dem Zigarettenpapier zu suchen. Er legte Tabak auf dem Zeitungsschnipsel aus und wollte gerade die roten Gürteltierkrümel darüberstreuen, als Helene in sein Arbeitszimmer trat.

Sie klopfte nie an, weil es keinen Zustand gab, in dem sie Skarabäus Lampe noch nicht gesehen hatte. Dass er in einigen dieser Zustände lieber keine Zeugen gehabt hätte, überging sie. Lediglich wenn Klienten zu Besuch waren, wurde sie schlagartig zu einer zurückhaltenden, diskreten Haushälterin.

Er saß mit dem Rücken zu ihr und schaffte es gerade noch, die Zeitung über seine Drogen zu ziehen, bevor sie ein Tablett mit Tee, Keksen und der neuesten Morgenzeitung vor ihn hinstellte.

»Hier, dein Vormittagstee. Und gib mir die Zeitung von gestern, ich brauche sie zum Anheizen.«

»Die … die habe ich noch nicht durch«, sagte der Detektiv und legte eine Hand auf die Zeitung.

Helene verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn misstrauisch an.

»Solange ich hier lebe, hast du noch nie länger als zwei Stunden gebraucht, um jeden Buchstaben und jedes Satzzeichen der Zeitung zu lesen. Gib sie mir.«

Und noch bevor Skarabäus Lampe es verhindern konnte, zog sie die Zeitung einfach vom Tisch und seine im Bau befindliche Drogendosis lag offen vor ihr. Helene schnaufte.

»Näh! Wusste ich es doch! Eins sage ich dir: Bevor ich dabei zuschaue, wie du dich in meinem Haus mit diesem Teufelszeug zugrunde richtest, kündige ich, deine Entscheidung.«

»Das ist mir bewusst, aber da es sich nicht um dein, sondern um Archibalds Haus handelt, bleibst du mir sicher noch eine Weile erhalten. Was gibt es Neues in Überstadt?«

Das weiße Huhn schnaufte empört und hielt ihm die aktuelle Zeitung hin. Statt sie zu nehmen, fuhr er fort, sich seine Spezialzigarette zu rollen. Also fasste sie kurz die Titelseite für ihn zusammen.

»Das meiste ist über die Aufstände. Vor dem Magistraturpalast gab es einen Verletzten, der im Gedränge des Protestes von einer Mauer gefallen ist. Polizei rund um die Uhr im Einsatz. Im Villenviertel wurden Häuserfassaden mit Farbe beschmiert. Das Hospital der Kundigen Frauen hat eine Sanitätssondereinheit ins Arbeiterviertel geschickt. Und der Stadtrat will nicht von seinen Museumsplänen abweichen.«

»Lies vor, das über den Stadtrat«, unterbrach Lampe sie.

»Das ist nicht gut, Helene, gar nicht gut«, sagte Skarabäus Lampe, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zündete sich die Spezialzigarette an.

Der Ausbruch der Arbeiterkrankheit war vor allem der mangelnden Hygiene in den Arbeiterquartieren geschuldet. Die Kanalisation in diesem Teil der Stadt war uralt, und in den engen Wohnungen drängten sich oft ganze Großfamilien auf engstem Raum zusammen. Die Krankheit brach dort immer mal wieder aus, vor allem in der kalten Jahreszeit, aber weil sie in der Regel nicht sehr schwer verlief und daher nur wenige Tote forderte, konnten die Stadtoberen das Problem bisher immer aussitzen. Sie wussten ganz genau, dass die Instandsetzung des Viertels ein Unterfangen von Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten war.

Die Gegend im Nordwesten war einst der alte Kern von Überstadt gewesen; die Enge, die Kanalisation, die schlechten Lebensbedingungen waren gewissermaßen im Lauf der Zeit organisch gewachsen. Im Grunde hätte das ganze Viertel geräumt, abgerissen und neu wieder aufgebaut werden müssen.

Aber weil Überstadt nur nach Südosten – hin zum Fluss ohne Namen und weg vom Elend der Arbeiterquartiere – gewachsen war, wurde das Viertel vom Herzen der Stadt immer mehr zu ihrem ungeliebten Stiefkind, vom Zentrum zum Rand der Gesellschaft. Auch wegen dieser geografischen Marginalisierung fiel es dem Magistrat nicht schwer, immer wieder anderen Bauprojekten den Vorzug zu geben.

Doch der aktuelle Krankheitsausbruch war wegen der fortschreitenden Verelendung des Viertels schlimm verlaufen, schlimmer als die bisherigen. Im Hospital der Kundigen Frauen arbeitete man an der Kapazitätsgrenze, und es hatte weit mehr Todesfälle als sonst gegeben. Das Viertel erhielt daher in allen Gesellschaftsschichten mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich. Für einen kurzen Moment richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf die unhaltbaren Lebensbedingungen dort, denn auch viele besser gestellte Einwohner Überstadts zeigten zunächst Solidarität mit den Anliegen der ärmeren Bevölkerung.

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde sich nun tatsächlich etwas ändern.

Doch der Moment verstrich, als die Magistratur ankündigte, das Hauptportal des Nationalmuseums neu gestalten zu lassen. Das Mitgefühl der Privilegierten kippte in Lokalpatriotismus und Kultureuphorie, und die von Tod und Elend bedrohten Arbeiter waren wieder allein. Ohnehin immer nur einen Arbeitsunfall vom Reißen des Geduldsfadens entfernt, zog das versammlungsfreudige Proletariat seitdem in wütenden Gruppen durch die Stadt. Kein Tag verging ohne Kundgebungen, Straßenblockaden und Fackelumzüge, die zumeist vor dem Regierungspalast oder dem Museum mit wütenden Sprechchören endeten. Weder Verhandlungen noch massiver Polizeieinsatz konnte den Aufruhr besänftigen, der wie eine Petroleumlache durch die Stadt floss. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein brennendes Streichholz hineinfiel und die zivilen Proteste in Gewalt umschlugen.

»Stadtrat Arson ist ein Dummkopf«, sagte Skarabäus Lampe mit gerunzelter Stirn und nahm einen tiefen Zug von seiner Spezialzigarette. Dann stand er auf, trat ans Fenster und schaute schweigend auf die Straße. Helene wartete darauf, dass er noch etwas sagte, und wandte sich, als er es nicht tat, zum Gehen. Erst als sie die Tür des Arbeitszimmers öffnete, drehte er sich zu ihr um.

»War Teddy heute schon hier?«

Auf ihr Kopfschütteln hin bat er sie darum, den kleinen schokobraunen Straßenkater zu ihm hinaufzuschicken, sobald er sich meldete.

Offiziell hatte die Kinderfürsorge die Vormundschaft für Teddy Bärlein, der dem Meisterdetektiv gleichermaßen Helfer wie Hilfsbefohlener war und eigentlich Zacharias hieß, aber der Kater war für sie ebenso wenig zu bändigen wie für andere staatliche Erziehungs- und Versorgungseinrichtungen.

Er lebte und lernte auf der Straße, sein inoffizielles Hauptquartier war die große Lagerhalle am Hafen, in der er so etwas wie einen festen Schlafplatz hatte. Vor zwei Jahren war er dem Meisterdetektiv Skarabäus Lampe auf Umwegen in die Arme gelaufen, der die außergewöhnliche Beobachtungsgabe des Katers sofort erkannt und ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Zusammen mit Helene Pick bildete er so etwas wie eine Quasifamilie für den kleinen Kater. Helenes Drängen, den Jungen doch endlich zu adoptieren, war bislang vergebens. Nach dem letzten Fall, bei dem der kleine Kater durch ein Feuer in einem Schuppen schwer verletzt worden war, hatte Skarabäus Lampe die Möglichkeit einer Adoption zwar kurz ernsthaft erwogen. Doch als der kleine Kater wieder gesund war, wollten beide nichts mehr davon wissen. Teddy war seine Unabhängigkeit und Lampe die Freiheit von Verpflichtungen zu wichtig.

Es blieb daher auch weiterhin bei der bewährten Abmachung, dass Teddy sich einmal täglich bei Helene meldete und alle zwei Tage vorbeischaute, damit sie ihn füttern, waschen und mit frischer Kleidung versorgen konnte. Gelegentlich übernachtete der Kater in einer Kiste im Hauswirtschaftsraum, die Helene mit einem Kissen ausgelegt hatte. Doch oft – für Helenes Geschmack zu oft – war ihm nicht nach geborgenem Familienleben und er zog die freie Wildheit des Hafens vor.

Die Zeitungsmeldungen jedoch ließen befürchten, dass die Unruhe in den Straßen in nächster Zeit noch zunehmen würde, und der Detektiv wollte seinen kleinen Partner enger ans Haus binden. Auch wenn sich die Proteste in der Stadtmitte konzentrierten und andere Viertel weitgehend unbehelligt blieben, war es sicherer, wenn Teddy weniger Zeit auf der Straße verbrachte.

Später am Nachmittag saßen sie beide über den Insektenkästen und sortierten Schmetterlinge. Teddy hatte eigentlich nach einer kleinen Mahlzeit wieder verschwinden wollen, um seinen Straßenkaterangelegenheiten nachzugehen, und hätte sich einem Hausarrest niemals gefügt. Daher hatte Lampe ihn nur unter dem Vorwand, dringend seine Hilfe beim Insektensortieren zu brauchen, zum Bleiben bewegen können.

Die Entomologie war Teil von Teddys Ausbildung, auch wenn sie ihn nicht mit halb so viel Begeisterung erfüllte, wie den Detektiv. Insekten zu kennen, war hilfreich beim Klären von Fällen, denn viele Insekten (natürlich nicht alle) trieben sich gerne bei Leichen herum, an denen sie typische Spuren hinterließen.

»Guck mal, Skar, du hast hier bei den Argynnini eine Unterart falsch bestimmt«, sagte Teddy und hielt Lampe mit der Pinzette einen Perlmutterfalter hin. »Den hier hast du als Speyeria aglaja borealis bestimmt, aber das ist ganz klar ein S. a. vithata.«

Ein irritierter Blick traf den Kater. Skarabäus Lampe wusste nicht recht, ob er Stolz empfand, weil sein kleiner Kompagnon beim Bestimmen von Insekten so große Fortschritte gemacht hatte, oder beleidigt war, weil er ihm einen Fehler nachgewiesen hatte.

»Kann ja nicht sein«, protestierte Lampe.

»Hier«, sagte Teddy und nickte in Richtung der Stereolupe. »Sieh dir die Fühler an, sie haben vier und nicht fünf Glieder. Das hättest du eigentlich sehen müssen.«

Lampe schaute durch die Lupe. Die Fühler hatten eindeutig vier Glieder. Da der Meisterdetektiv noch nicht bereit war, seinen Fehler zuzugeben, lenkte er ab.

»Das, äh, das ist jetzt nicht wichtig«, sagte er und stand auf. »Komm, wir gucken ein bisschen aus dem Fenster.« Er öffnete die beiden Fensterflügel und eisige Winterluft füllte das Zimmer. Es hatte zu schneien begonnen.

Teddy rollte mit den Augen, weil er das Ablenkungsmanöver als solches erkannte, legte den Schmetterling aber trotzdem weg und sprang auf das Fensterbrett. Er schnupperte kurz mit blinzelnden Augen in die Kälte und begann dann, Atemwolken in die Luft zu hauchen wie eine Dampflok. Lampe gewährte ihm den Augenblick kindlicher Begeisterung und unterbrach ihn erst, als er versuchte, Kringel zu machen.

»Konzentrier dich, du Teekessel, es gibt Arbeit.«

Hier im Bürgerviertel bekam man nur wenig von dem Aufruhr mit, in dem sich Überstadt befand. Gelegentlich rannte jemand mit einem Transparent vorbei, in der Ferne ertönten manchmal Kampfrufe, aber insgesamt war es relativ ruhig.

Der Detektiv zeigte auf eine Hirschkuh auf der anderen Straßenseite, die unsicher von einem Fuß auf den anderen trat.

»Sage mir, Kollege: Wer ist die Frau und was treibt sie um?«

Der Kater schaute in die angegebene Richtung und zuckte dann achtlos mit den Schultern.

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie noch nie gesehen.« Und mit den Worten wollte er sich wieder der Produktion von Dampfwölkchen widmen.

»Hör doch mal auf mit dem Blödsinn. Schau dir die Dame an, genau an, und sag mir, was du siehst.«

Jetzt verstand Teddy. Gelegentlich gab ihm der Detektiv eine Art Beobachtungsnachhilfe, damit er lernte, Dinge nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen.

Dank seiner Beobachtungsgabe nahm Teddy viel mehr Details um sich herum wahr als andere Leute. Aber wegen seines Alters – der Kater war erst sieben – wusste er oft nicht, was diese Details jeweils bedeuteten, wofür sie standen, was man aus ihnen lesen konnte. Von Zeit zu Zeit forderte Lampe ihn daher auf, sich bestimmte Personen, manchmal auch Gegenstände, genau anzusehen und Rückschlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen.

Also schaute Teddy sich die Dame genau an.

Die Hirschkuh auf der anderen Straßenseite war adrett gekleidet wie die meisten Bewohner des bürgerlichen Viertels, in dem Skarabäus Lampe wohnte. Aber etwas passte nicht. Der dunkelblaue, knöchellange Rock war abgetragen und verblichen. Am Saum hatte sich der Schmutz der Straße auf eine Weise festgesetzt, die man nicht mit einem Waschbrett und etwas Kornseife lösen konnte. Unter einer ebenfalls dunklen Schößchenjacke schaute ein verknitterter Kragen hervor, und auf dem Kopf trug die Frau einen extravaganten Hut mit einer roten Feder und einer ausladenden grünen Schleife.

»Der Hut …«, begann Teddy, ohne den Blick von der Frau zu nehmen.

»Ja? Was ist damit?«

»Ich glaube, er soll davon ablenken, dass ihre restliche Kleidung nicht so piekfein aussieht.«

»Hmhm, und was schließt du daraus bezüglich ihrer Herkunft und Finanzen?«

Teddy überlegte einen Moment.

»Sie hat genug Geld, um sich so einen Hut zu leisten, ist aber zu arm für eine ganze Garderobe in dem Stil. Ich glaube, sie wäre gerne mehr, als sie ist. Vielleicht wohnt sie irgendwo auf der Grenze zwischen dem Arbeiter- und dem Bürgerviertel.«

Der Detektiv nickte zufrieden. »Was hält sie in der Hand?«

»Ein Papier, der Größe nach könnte es eine Fotografie sein. Sie schaut die ganze Zeit abwechselnd zwischen dem Papier und deiner Haustür hin und her. Vielleicht vermisst sie jemanden und überlegt, dich zu beauftragen.«

»Das denke ich auch. Aber warum zögert sie, was denkst du?«

Der Kater drehte sich abrupt zu Lampe um.

»Wahrscheinlich, weil du scheißteuer bist und sie sich deine Hilfe nicht leisten ka… He! Hast du gerade Atemwölkchen gemacht?!«

Lampe hob abwehrend die Hände und überging die Erwähnung der Wölkchen. »Na, so teuer bin ich nun auch wieder nicht und außerdem passe ich mein Honorar immer an meine Klientel an! Schau genau hin, Partner. Es gibt noch einen weiteren Grund, der sie zögern lässt. Sieh in ihr Gesicht.«

Von Lampe Partner genannt zu werden, machte den kleinen Kater immer sehr stolz und spornte ihn zu Höchstleistungen an.

»Sie sieht besorgt aus. Aber zwischendurch schüttelt sie auch immer wieder den Kopf, als ob sie unsicher ist, ob es Grund zur Sorge gibt. Guck mal, was macht sie denn jetzt?«

Ein Zeitungsjunge war die Straße heruntergekommen und rief die Schlagzeilen aus. Als er sich der Hirschkuh näherte, drückte sie die Fotografie an ihre Brust, als wollte sie sie vor dem Jungen verbergen. Erst als er um die nächste Straßenecke bog, hielt sie sie wieder frei in der Hand.

»Was sollte das denn jetzt?« Der Kater war ratlos.

»Hast du auf den Zeitungsverkäufer geachtet? Welche Nachrichten hat er ausgerufen?«

Teddy wiederholte die Schlagzeilen, die Lampe schon von Helene kannte.

»Hm, hat die Frau vielleicht Angst, dass der, den sie vermisst, etwas mit den Aufständen zu tun hat?«

»Das denke ich. Wen vermisst sie also?«

Nachdenklich legte Teddy Bärlein sein kurzfingriges Pfötchen an den Mund und schaute an die Decke.

»Es muss jemand sein, der zwar hin und wieder in Scherereien gerät, aber ansonsten – zumindest in ihren Augen – ein anständiger Kerl ist. Wahrscheinlich jemand, den sie lieb hat. Ihr Mann vielleicht oder ihr Sohn. Er ist verschwunden, und sie glaubt, dass er ernsthaft in Schwierigkeiten steckt. Sie denkt, wenn sie dich beauftragt, rennst du sofort zu Inspektor Sutten und petzt. Sonst sehe ich nichts Auffälliges.«

»Gut. Dann wollen wir jetzt Mamsy holen.«

Skarabäus Lampe öffnete die Tür seines Arbeitszimmers unterm Dach und rief nach Helene, die in der Küche werkelte. Etwas klirrte, und nach einem unterdrückten Fluch erschien sie in der Tür. Ihrer erwartbaren Gardinenpredigt über das Chaos in seinem Arbeitszimmer kam der Detektiv zuvor, indem er sie sofort zum Fenster lotste.

»Mamsy, hättest du die Güte, uns zu sagen, wer diese Dame dort ist?«

Beiläufig warf das weiße Huhn einen Blick aus dem Fenster.

»Das ist Perilla Abernaht, das weißt du doch. Die Ärmste hat nach dem Tod ihres Mannes alles verloren und musste ins Arbeiterviertel ziehen. Früher, als sie noch in der Nachbarschaft wohnte, hat sie uns oft mit ihrem Sohn besucht, da war er noch ein Baby, weißt du das denn nicht mehr?«

Lampe sagte nichts, sondern schaute Teddy schelmisch lächelnd an.

»Der arme Kerl, aus dem ist auch nichts Rechtes geworden. Sie hat sich immer Mühe gegeben, ihn anständig zu erziehen, aber seit dem Ausbruch der Krankheit ist er nicht mehr zu bändigen. Dabei ist er ein guter Junge.«

Zu Lampes breitem Grinsen gesellten sich jetzt zwei hochgezogene Augenbrauen. Teddy hörte aufmerksam zu.

»Er mischt ganz vorne bei den Protesten mit, mehr als einmal hat die Polizei ihn schon bei Frau Abernaht abgeliefert, weil er Farbbeutel geworfen hat. Ich habe Frau Abernaht heute Morgen auf dem Markt getroffen. Sie ist völlig verzweifelt, weil er seit gestern verschwunden ist, da habe ich ihr vorgeschlagen, dich zu beauftragen.«

»Ich danke dir, Mamsy, du hast uns sehr geholfen. Ich glaube nicht, dass sich Frau Abernaht heute dazu durchringen kann, mich aufzusuchen. Wenn du sie wieder triffst, sag ihr, dass ihr Junge für eine gute Sache kämpft. Und wegen der Kosten soll sie unbesorgt sein: Falls er nicht auftaucht, mache ich ihr einen Sonderpreis.«

Und zu dem kleinen Kater gewandt: »Sehr gute Arbeit, Partner, du hast alles Wichtige an der Frau entdeckt.«

Das Huhn schüttelte irritiert den Kopf und verließ das Arbeitszimmer wieder.

Lampe klatschte in die Hände. »So! Schön! Jetzt haben wir uns einen Keks verdient!« Er wollte sich gut gelaunt in seinen Lesesessel fallen lassen, aber diesmal stoppte Teddy ihn. »Hier, du musst das Etikett richtig schreiben.«

Der Kater wies auf den offenen Schmetterlingskasten mit dem falsch bestimmten Exemplar. Der Detektiv, der im Moment überhaupt keine Lust hatte, sich mit Schmetterlingsbestimmung zu befassen, trat maulig an den Tisch und korrigierte das winzige Etikett, indem er borealis durchstrich und vithata hinschrieb.

Wenig später, es dämmerte bereits, brach Teddy auf in Richtung Hafen. Er fühlte sich schon durch die bloße Existenz eines sicheren Schlafplatzes bei Lampe nur wie ein halber Straßenkater, er brauchte die Zeit auf der Straße, um er selbst zu sein. Unter lautem Gepolter sauste er die Treppe hinunter, informierte Mamsy im Vorbeilaufen über seinen Bestimmungserfolg und Lampes Irrtum und war zur Haustür hinaus, noch bevor sie etwas erwidern konnte.

Sie stand in der Küchentür und schüttelte den Kopf. Die Energie der beiden Jungen war bisweilen unerträglich. Obwohl beide humpelten – der Detektiv aufgrund einer angeborenen Fehlbildung des Fußes, der Kater aufgrund der Verletzungen bei dem Schuppenbrand –, schien nichts ihre Vitalität dämpfen zu können.

Seufzend machte sie sich daran, die Medikamente für Lampes Narben zusammenzusuchen. Bei Teddys Rettung aus dem brennenden Schuppen hatte auch er sich schwere Brandwunden zugezogen. Die Wunden waren zwar gut verheilt, aber damit die Narben geschmeidig blieben und er seine Hände vollumfänglich benutzen konnte, trug Helene ihm täglich eine Salbe auf. Auf der Treppe nach oben hörte sie das Klingeln des Telefons und Skarabäus‹ Stimme, der in seinem Arbeitszimmer ranging.

Als sie das Zimmer, wie immer, ohne anzuklopfen betrat, fand sie ihn reglos aus dem Fenster starrend. Sie trat zu ihm, um zu sehen, was es draußen gäbe, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

»Nanu, Skarabäus! Junge! Was ist denn?«

Endlich löste er sich aus seiner Starre und sah sie an. »Mamsy«, sagte er und seine Stimme klang, als käme sie vom Grund eines engen Erdlochs. Sein Blick war völlig ausdruckslos. »Mamsy, es ist Archibald. Er ist tot.«

Helene ließ das Tablett mit den Medikamenten sinken, die Tuben und Tiegel rutschten klirrend auf den Boden, und dann starrten sie gemeinsam reglos aus dem Fenster.

Der Anruf war von der Direktorin des Nationalmuseums, Ephigynie Mahlzeit, gekommen, die den Detektiv über den Tod seines Vaters informierte. Archibald Lampe hatte als Archäologe am Museum gearbeitet und man hatte ihn am Morgen tot in seinem Büro gefunden – mit friedlichem Gesichtsausdruck, wie Frau Mahlzeit betonte.

Frau Mahlzeit hatte auch die Polizei gerufen, und Inspektor Sutten hatte den Fundort bereits in Augenschein genommen. Und obwohl dort nichts auf übles Spiel hingedeutet hatte, hatte er eine gerichtsmedizinische Untersuchung angeordnet und den Leichnam durch den Polizeiarzt abtransportieren lassen. Ob er, Skarabäus Lampe, trotzdem zum Museum kommen wolle, hatte die Direktorin gefragt, und er hatte sofort bejaht.

Und dennoch stand er jetzt mit Helene am Fenster und starrte hinaus. Er hatte es immer für einen Reflex gehalten, dass sein Gehirn im Bruchteil einer Sekunde in den Ermittlungsmodus schaltete, wann immer er eine Todesbotschaft erhielt. Wo andere Leute geschockt, entsetzt, erschüttert reagierten, wenn sie vom Tod einer Person erfuhren, war es für Lampe, als würde sein Gehirn einfach auf ein anderes Ritzel wechseln. Eines, das ihn klar und sachlich alle nötigen Fragen stellen und jede noch so kleine Ungereimtheit entdecken ließ. Er nannte es das Ritzel der unbeteiligten Neugier.

Doch diesmal reagierte sein Gehirn nicht gleich, er war weder unbeteiligt noch neugierig. In seinem Kopf war eine Leerstelle, als ob jemand etwas in einer Sprache zu ihm gesagt hätte, die er nicht verstand.

Archibald Lampe war für den Meisterdetektiv die meiste Zeit seines Lebens mehr ein Phantom als ein Vater gewesen. Seine Mutter, Geneviève, war bei der Geburt des Jungen gestorben, und anfangs hatte sein Vater noch versucht, dieser Rolle gerecht zu werden.

Er war oft auf Reisen gewesen, meist wissenschaftliche Expeditionen, und hatte Skarabäus, solange er noch klein war, zusammen mit einer Amme einfach mitgenommen. Das Kind war bei allen Arbeiten dabei gewesen, hatte abseits der Grabungsstelle im Schatten eines Sonnenschirms auf einer Decke gespielt oder den Vater nachgeahmt, indem es im Sand nach Kostbarkeiten suchte. Der fehlgebildete Fuß, mit dem der kleine Hase auf die Welt gekommen war, hatte dabei nie ein Problem dargestellt.

Seine frühe Kindheit hatte Skarabäus Lampe in fernen Ländern zugebracht, sein Spielzeug hatte aus Knochenfragmenten, Tonscherben und Käfern bestanden, die er im Sand fand. Erst als er in das Alter kam, in dem die Magistratur von Überstadt für Kinder regelmäßige Besuche von Bildungseinrichtungen vorsah, war das Reisen schwieriger geworden.

Zunächst hatte es Archibald Lampe mit einem Hauslehrer versucht, einem behäbigen Dodo, der von nun an ebenfalls immer mitreiste. Aber der hatte seinen Bildungsauftrag wegen Skarabäus’ Umtriebigkeit kaum erfüllen können. Je mehr das Kind von seiner Umwelt verstand, desto schwieriger war es geworden, es zu disziplinierten Studien zu bewegen. Skarabäus Lampe wollte nicht in fest abgezirkelten Lehrstunden Dinge lernen, die sein Lehrer für wichtig erachtete, er wollte die Welt begreifen.

Immer wieder war er dem Lehrer davongelaufen, um Dinge zu untersuchen, die er für wichtig erachtete. Der schwergewichtige Vogel hatte ihm dann durch die Landschaft hinterherlaufen und ihn rufend an seine Lektionen gemahnen müssen. Worte, für die ein Junge mit wachem Geist und einer unstillbaren Neugier auf seine Umwelt, keine Ohren hatte.

Schließlich hatte Archibald Lampe einsehen müssen, dass es so nicht weitergehen konnte, und seinen Sohn auf ein Eliteinternat im Umland von Überstadt gegeben.

Doch auch dort endeten die Probleme nicht.

Skarabäus Lampe hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Freiheit, Wildheit und endlose Horizonte kennengelernt und leistete großen Widerstand dagegen, sich in ein hierarchisches System aus Disziplin und Ordnung einzufügen. Der Junge war nicht nur mit einer hohen Intelligenz, sondern auch einem enormen Ego ausgestattet, weil er schnell gemerkt hatte, dass er den meisten Leuten haushoch überlegen war. Sich diesen Leuten jetzt unterordnen zu müssen, erschien ihm geradezu widernatürlich.

Er war aufsässig und ungehorsam gewesen und hatte den Lehrkräften ständig Widerworte gegeben – und zwar nicht nur, wenn es um seine Missetaten ging, sondern auch, wenn sie seiner Meinung nach beim Lehrstoff falschlagen. Er hatte sich schlicht geweigert, eine natürliche Hierarchie, nach der eine erwachsene Person immer Recht und ein kleiner Hase immer Unrecht hatte, anzuerkennen, und deshalb bald mehr Zeit im Rektorat als im Klassenzimmer verbracht. Weil er immer wieder auch in handfeste Auseinandersetzungen mit seinen Mitschülern geraten war, hatte die Internatsleitung seinem Vater schließlich empfohlen, ihn doch bitte woanders unterzubringen.

Archibald Lampe hatte seinen Sohn daraufhin fest in seinem Haus in Überstadt installiert, Helene Pick engagiert, die sich als wahrer Glücksgriff erwies, und die Lücken in Skarabäus’ Bildung sporadisch mit einem Hauslehrer aufgefüllt. Ohne beeindruckendes Wüstenpanorama war es für den Jungen leichter gewesen, sich länger als drei Sekunden auf die Lektionen zu konzentrieren, und er hatte sich in diesen Kompromiss gefügt, der ihm viel mehr Freiheit als das Internat erlaubte.

Von da an, Skarabäus war zu dem Zeitpunkt acht Jahre alt, hatte er mit Helene allein in dem großen Haus im Bürgerviertel gewohnt. Und von da an war sein Vater immer mehr zu einer Erinnerung geworden.

Die wenige Zeit, die Archibald Lampe zwischen seinen Expeditionen in Überstadt verbrachte, war mit dem Katalogisieren, der Beschreibung und Veröffentlichung seiner Funde gefüllt, weswegen er praktisch in seinem Büro im Museum wohnte. Kurzum: Sein eigener Vater wurde für Skarabäus Lampe zu einem Fremden.

Für den Detektiv war sein Vater wie der Mond. Es war wissenschaftlich erwiesen, dass es ihn gab, aber man konnte ihn nur bei gutem Wetter und in weiter Ferne sehen. Skarabäus Lampe hatte sich daran gewöhnt, dass sein Vater nur in einem sehr großen Orbit um ihn kreiste. Das war einfach eine physikalische Tatsache. Lampe nahm sie hin, wie er die Gezeiten hinnahm oder die aufwärtsfallenden Früchte des seltenen Raketenbaumes.

Die Nachricht von Archibalds Tod katapultierte diesen in seine Welt hinein, in der bisher überhaupt kein emotionaler Raum für ihn vorgesehen war. In etwa so, wie wenn der Mond plötzlich nicht mehr klein am Himmel steht, sondern sehr viel größer vor der eigenen Haustür liegt. Ihn dort zu finden, wenn man gerade die Milch oder die Tageszeitung reinholen will, würde bei jedem Verwirrung, Besorgnis und Überforderung auslösen. Der Mond hatte woanders zu sein, in sicherer Entfernung.

Skarabäus Lampe war nach dem Anruf der Direktorin vor allem eines: vollkommen perplex. In ihm gab es keinen Plan, auf den er zurückgreifen konnte, und keine Erfahrung, die ihm zeigte, wie man angemessen auf den Tod des eigenen Vaters reagierte.

Erst als sein ehemaliges Kindermädchen ihn fragte, wie es jetzt weitergehen solle, erinnerten sich seine Synapsen an den normalen Ablauf.

Sie beschlossen, arbeitsteilig zu trauern. Obwohl Archibalds Körper noch untersucht wurde und unklar war, wann er zur Bestattung freigegeben werden würde, wollte Helene in ihrer pragmatischen Art direkt mit den dafür notwendigen Formalitäten beginnen. Lampe selbst würde zum Museum fahren und herausfinden, wie es dazu gekommen war, dass der Mond plötzlich vor seiner Haustür lag. Indem er die Museumsdirektorin zu den Details von Archibalds Tod befragte, würde sich sicher früher oder später irgendwo in ihm eine Schublade öffnen, in der eine angemessene Gefühlsreaktion lag.

Der Schnee fiel immer noch und hatte auf Gehsteigen und Dächern bereits eine dünne Schicht gebildet, als der Detektiv aus dem Haus trat. Es war kein freundlicher, idyllischer Schnee, wie man ihn von Postkarten aus den Bergen kennt. Kein Schnee, der die Geräusche dämpft und wohlige Assoziationen von Kaminfeuer und Kuscheldecken auslöst. Dieser Schnee war gemein. Harte Krümel, die auf dem Boden eine dünne, hinterhältige Schicht hinterließen. Der Schnee schuf eine feindselige Atmosphäre, die zu den sozialen Unruhen dieser Tage nur zu gut passte.

Skarabäus Lampe ließ sich von einem Motortaxi zum Nationalmuseum fahren. Normalerweise waren bei Schnee und Eis mehr Dreischnecks unterwegs, weil sie das einzige öffentliche Transportmittel waren, das nicht ständig ins Schlingern geriet. Aber die langsamen Kutschen waren bei den Protesten immer wieder für Straßenblockaden benutzt worden, indem man sie mitsamt den Schnecken umkippte oder aufstapelte, sodass die meisten ihren Dienst aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres eingestellt hatten.

An vielen Stellen der Stadt wurde die Fahrt durch wütende Mobs und Barrikaden behindert, und Lampes Taxi musste mehrmals wenden und andere Wege nehmen, um zum Museum zu gelangen. Im letzten Dämmerlicht des Tages glitt der Aufruhr an dem Wagen vorbei, doch der Detektiv nahm ihn kaum wahr.

Für gewöhnlich offenbarten sich ihm unzählige Geschichten, wenn er sich unter den großen und kleinen Gestalten Überstadts bewegte. Und unter den gegebenen, das heißt mit Aggression und Verzweiflung aufgeladenen, Umständen hätte er sich normalerweise kein Detail der Straßenszenerie entgehen lassen. Doch jetzt registrierte er das Durcheinander kaum, alles war zu einem verschwommenen Farbrausch geworden, die Leere in ihm hatte ihn der Wirklichkeit entrückt.

Je näher das Taxi dem Nationalmuseum kam, desto dichter wurde der Mob, und schließlich ging es im Gedränge nicht mehr weiter. Lampe musste die letzten fünfhundert Meter zu Fuß gehen. Nun, da er die Stadt nicht mehr im sicheren Automobil an sich vorbeigleiten lassen konnte, versuchte er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Wutverzerrte Gesichter, Fackelschein und laute Stimmen bildeten eine Art Spalier, als er sich seinen Weg bahnte. Die Museumsdirektorin hatte ihn am Telefon schon vor den Verkehrsbehinderungen gewarnt, aber die Heftigkeit der Proteste überraschte ihn dennoch. Er war erleichtert, als das Museum in Sichtweite kam.

Das Gebäude war ein Prachtbau, wie es sich für ein Aushängeschild überstädtischer Kultiviertheit gehörte. Mit kunstvoll gearbeiteten Fenstereinfassungen, Vorsprüngen und Simsen hatte man versucht, einen Vorgeschmack auf die im Inneren des Museums wartenden Natur- und Kulturschätze zu geben. Vier mächtige Säulen hielten das Vordach des Portals und man benötigte drei ausgewachsene Hunde mit ausgestreckten Armen, um eine von ihnen zu umspannen. Die reich verzierte Fassade aus hellem Sandstein wirkte sonst so elegant wie einladend, doch jetzt wurde sie von unzähligen Farbschmierereien verunziert. Kampfparolen formulierten eine gnadenlose Anklage, und im flackernden Feuerschein wirkte das Gebäude beinahe heruntergekommen, wie der Vorbote eines bevorstehenden Endes.

Wie passend, dachte Lampe, und schlug sich zum Seiteneingang des Museums durch. Der Haupteingang war ja gewissermaßen der zündende Funke für die Aufstände, weshalb sich dort auch der ärgste Protest entlud. In der Seitenstraße entdeckte er auch den Wagen von Inspektor Sutten, der sich offenbar noch immer hier aufhielt, und Lampe war erleichtert, dass er nicht erst zum Polizeipräsidium fahren musste, um mit ihm zu sprechen.

Er blickte sich vorsichtig um, weil er keine Verfolger ins Museum führen wollte, und zog dann an dem Klingelzug neben der Seitentür. Drinnen rührte sich etwas, Lampe hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss der Tür gesteckt und umgedreht wurde. Gleich darauf erschien das Gesicht eines Flamingos im Türspalt.

Ephigynie Mahlzeit war älter geworden, aber Lampe erkannte sie trotzdem sofort. Bevor Archibald Lampe seinen Sohn vertrauensvoll in andere Hände gegeben hatte, hatte er ihn ebenso oft wie auf seine Reisen mit in das Museum genommen, in dessen hinterem Gebäudeteil, fernab von den Ausstellungsräumen, die Arbeitsräume des angestellten Forschungspersonals lagen.

»Herr Lampe«, sagte sie mit bedauerndem Gesichtsausdruck und hielt ihm ihre Hand hin. »Es tut mir so leid.«

Ihre Stimme klang nach all den Jahren, die seit ihrem letzten Zusammentreffen vergangen waren, immer noch wie eine zerdrückte Trompete, und für Lampe fühlte es sich etwas fremd an, dass sie ihn plötzlich siezte, denn sie kannte ihn von klein auf.

Frau Mahlzeit ließ ihn ein, und sofort wehte den Detektiv der Geruch von Zeit an. Von allen Gerüchen, die er als Farben sehen konnte, hatte der Geruch von Zeit die am wenigsten überraschende Farbe. Es war ein fades Beige mit einer leichten Ahnung von Hellgrau. Die Farben erinnerten an Staub und Tod, an vergilbte Pergamentseiten und eine längst vergessene Vergangenheit, die nur durch die Archäologie am Leben erhalten wurde.

Sie gingen an der Garderobe und dem Empfangstresen vorbei ins Foyer. Dort begrüßten sie die beiden Riesenturmaline von Musansk, sechseckige, spitze Prismen, die in Form eines V aus einem Felsen herausgearbeitet worden waren. Sie waren das einzige Exponat außerhalb der Schauräume. In Lampes Erinnerung waren sie größer gewesen, doch auch jetzt wirkten die etwa drei Meter hohen Edelsteine beeindruckend.

»Kommen Sie, wir gehen in mein Büro. Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, herzukommen. Die Demonstranten legen praktisch das ganze Museum lahm, Publikum traut sich ohnehin nicht her, und auch die Angestellten kommen kaum durch.«

Der Detektiv nickte abwesend, schwieg aber den restlichen Weg.

Er fühlte sich durch den Geruch und die Steine in seine Kindheit zurückversetzt, Erinnerungen an Versteckspiele zwischen Sarkophagen, Fossilien und Schautafeln schoben sich in sein geistiges Blickfeld. Er merkte jetzt, dass der Mond nicht allein zu Besuch gekommen war. In seinem Gefolge befand sich eine Schachtel mit Bildern und Gefühlen, die, sollte sich die Schachtel öffnen, nur schwer zu kontrollieren sein würden. Hier, wo ihn jeder Raum an seine Kindheit mit Archibald erinnerte, war es schwer, die kleine Kiste geschlossen zu halten.

Am Durchgang zum Forschungstrakt kam ihnen Inspektor Sutten entgegen, der gerade gehen wollte. Den Polizisten und den Meisterdetektiv verband eine jahrelange Hassliebe, sie hielten einander für wahre Zumutungen, waren aber bei ihren Ermittlungen immer wieder aufeinander angewiesen. Vor allem der Inspektor auf Lampe. Beide akzeptierten diesen Umstand zähneknirschend, verliehen aber ihrer Entrüstung über das Ärgernis der jeweils anderen Existenz immer wieder Ausdruck.

Jetzt schüttelte Sutten Lampes Hand ungewohnt warmherzig, was bedeutete, dass er die sonst üblichen Begrüßungsbeleidigungen wegließ und nur kondolierte.

Ohne dass irgendjemand etwas sagen musste, schloss sich der Polizist ihnen an, und sie gingen zu dritt in Frau Mahlzeits Büro, das ganz hinten im Forschungstrakt lag. Dort setzte die Direktorin an einem kleinen Kachelofen Teewasser auf.

An den Wänden des Büros hingen naturalistische Schautafeln verschiedener Tiergruppen, außerdem die gerahmte Ernennungsurkunde zur Museumsdirektorin, einige fremdländische Holzmasken und eine ein mal ein Meter große Schieferplatte, aus der das versteinerte Skelett einer Schildkröte herausgearbeitet worden war.

Hier war der Geruch von Zeit weniger stark. Stattdessen stiegen von den Holzmasken her einige Brauntöne in Lampes Nase, vermutlich Gerüche, die aus ihrem Herkunftsland stammten. Die Direktorin selbst roch durchscheinend mit einigen Farbreflexen, wie ein kunstvoll geschliffener Diamant, in dem sich das Licht brach.

Gegenüber dem Schreibtisch war eine kleine Sitzgruppe mit Sesseln und einem Tisch eingerichtet, in der sie nun mit ihren dampfenden Teebechern Platz nahmen.

»Es tut mir so leid«, wiederholte Ephigynie Mahlzeit, und Lampe zündete sich – mehr aus Verlegenheit über ihre Betroffenheit als aus Sucht – eine Zigarette an. Ihm war unbehaglich.

»Frau Mahlzeit«, begann er und beugte sich im Sessel nach vorne. »Warum liegt der Mond vor meiner Tür?«

Der Flamingo blickte verunsichert zu dem Inspektor, und dann sahen ihn beide an, als hätte er den Verstand verloren. Ihre Reaktion zeigte dem Detektiv, dass er etwas Seltsames gesagt haben musste. Er räusperte sich und schüttelte den Kopf, um sich zu konzentrieren. Dann setzte er neu an.

»Ich meine, warum ist mein Vater tot … ich meine, wie ist er gestorben?« Er blickte sie ernst und konzentriert an, als hätte er den Mond nie erwähnt.

Ein Spitzentaschentuch erschien zwischen den Fingern der Direktorin. Sie knetete es, als wollte sie ihm die Antwort abpressen.

»Es kam so überraschend.«

»Wer hat ihn gefunden? Sie?«