Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot - Sandra Steiner Roth - E-Book

Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot E-Book

Sandra Steiner Roth

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Beschreibung

Essstörungen haben immer vielfältige Ursachen, und es geht darum, dysfunktionalen Gedanken, Glaubenssätzen und inneren Haltungen auf die Spur zu kommen. Das Buch bietet eine Hilfestellung für Betroffene und Angehörige, die aus der langjährigen therapeutischen Arbeit der Autorin mit Frauen und Männern mit Essproblemen entstanden ist. Das Ziel der Autorin ist es, Wege aufzuzeigen, wie Betroffene einen neuen Umgang mit dem Essen finden können und Stück für Stück zu einem gesunden Essverhalten zurückfinden.Das Buch gliedert sich in drei Teile: 1. Grundlegende und immer wiederkehrende Themen und Fragen, die der Autorin im Praxisalltag in den Gesprächen mit den Klient:innen mit Essstörungen begegnen, werden einfach verständlich und fachlich fundiert vorgestellt und erklärt. Begleitend werden die jeweils entsprechenden therapeutischen Interventionen beschrieben. 2. Persönlich verfasste Erfahrungsberichte von Betroffenen, von ehemals Betroffenen, Angehörigen, Partner:innenund Freund:innen, die das Thema aus ihrer persönlichen Perspektive beleuchten. 3. Kurze Fachinformationen zu den verschiedenen Formen von Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Binge Eating Disorder). "Ein wunderbares Buch, das Mut macht, 'den Klippensprung zu wagen', wie eine Betroffene es nennt. Und es macht Hoffnung und zeigt Wege auf, diese Hoffnung in Leben umzusetzen." Dr. Bärbel Wardetzki, Praxis für Psychotherapie, Supervision und Coaching, München

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Seitenzahl: 362

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Sandra Steiner Roth

Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot

Wege aus der Essstörung

Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot

Sandra Steiner Roth

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Björn Rasch, Freiburg i. Üe.; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Sandra Steiner Roth

[email protected]

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Bearbeitung: Mihrican Özdem, Landau

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: GettyImages/Majolac

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96310-5)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76310-1)

ISBN 978-3-456-86310-8

https://doi.org/10.1024/86310-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|5|Danksagung

Der Anlass, dieses Buch zu schreiben, war der Respekt meinen Klient:innen gegenüber und die Hochachtung vor ihrem Umgang mit der Essstörung und ihrer persönlichen Entwicklung. Von ihnen habe ich einen tiefen Einblick in die Dynamik von Essstörungen erhalten. Vor allem in den Gruppengesprächen bin ich immer wieder berührt, wie differenziert sich die Teilnehmenden mit sich und ihren Themen auseinandersetzen und sich gegenseitig auf eine bewundernswert hilfreiche Art unterstützen. Dieses Wissen und diese Erfahrung will ich mit den Lesenden teilen. Als Erstes und ganz besonders danke ich meinen Klient:innen, die mit ihren Erfahrungsberichten einen unermesslich wertvollen Beitrag zum Buch geliefert haben. Mein herzlicher Dank geht auch an die Angehörigen, die sich bereit erklärt haben, mit ihren Texten einen intimen Einblick in den Umgang mit den Betroffenen zu gewähren, und damit aufzeigen, dass es keine allgemein gültigen Regeln und Wahrheiten im Umgang mit der Krankheit gibt. Ich danke Dr. Susanne Lauri, Programmleiterin Psychologie beim Hogrefe Verlag, und der Lektorin Mihrican Özdem für die wertvolle Zusammenarbeit. Ebenfalls danke ich Agathe Schudel, die mich als Freundin und Lektorin von Anfang an unterstützt und begleitet und das Manuskript erstmalig lektoriert hat. Mein Dank geht an Leena Hässig, Katrin Madarasz, Marie-Tony Walpen und Erik von Elm, die meine Texte gegengelesen und mit ihren Kommentaren viel zum Gelingen des Buches beigetragen haben.

Einen großen Teil des Buches habe ich in Samedan geschrieben. Käthi Chiogna danke ich für ihre ruhige, unterstützende Präsenz.

Ein lieber Dank gilt auch meinem Mann Ueli für die tatkräftige emotionale Unterstützung und die Hilfe bei computertechnischen Anliegen – sowie meinen erwachsenen Kindern Nina, Marc und Luc, die viele hilfreiche und kritische Hinweise zum Manuskript gegeben und mir die eine oder andere Fleißarbeit abgenommen haben.

Bern, im Juli 2023

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Geleitwort

Einleitung

1 Essverhalten normalisieren

1.1 Magersucht

1.2 Essanfälle

2 Ursachen der Essstörung ergründen

2.1 Die Essstörung – ein Ausdruck für Konflikte

2.2 Vergleichen und Verglichenwerden

2.3 Selbstabwertende Gedanken und hindernde Glaubenssätze

2.4 Entscheidungen treffen

2.5 Umgang mit Gefühlen

2.6 Perfektionismus und Schwarz-Weiß-Denken

2.7 Beziehungsmuster

2.8 Zeit mit sich selbst verbringen

2.9 Umgang mit Ängsten

2.10 Der Körper erinnert sich – Umgang mit Traumata

3 Art der Beziehung zum eigenen Körper erkennen, Akzeptanz und Selbstliebe üben

4 Visionen entwickeln und Träume verwirklichen

5 Ein Wort an die Eltern

6 Begleitete Selbsthilfegruppe

6.1 Unterstützung finden bei ebenfalls Betroffenen

6.2 Beiträge aus meiner begleiteten Selbsthilfegruppe

7 Erfahrungsberichte

7.1 Betroffene Frauen

7.2 Betroffene Männer

7.3 Soziales Umfeld

Anhang

Diagnostische Kriterien für Anorexie, Bulimie und Binge Eating Disorder

Frühwarnzeichen

Tipps zum Ansprechen

Körperliche Folgen

Literatur

Weiterführende Literatur

Die Autorin

Sachwortverzeichnis

|9|Geleitwort

Schon der Titel des Buches „Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot“ begeistert mich, denn er zeigt die Haltung, mit der die Autorin das Thema Essstörungen behandelt, nämlich vom positiven Ende her: Es kann gelingen, diese Krankheit zu überwinden, und das Buch weist den Weg dorthin.

Die Autorin beleuchtet von vielen Seiten die Begriffe Magersucht, Bulimie und Binge Eating Disorder, und zwar aus Sicht der Therapeutin, der Betroffenen und der Angehörigen.

Dabei gibt sie nicht einfach nur Tipps, wie das Essverhalten und das Gewicht normalisiert werden können und auch keine Patentrezepte für die Probleme seelischer und körperlicher Art, die mit Essstörungen zusammenhängen. Stattdessen beruhen ihre Aussagen auf ihrer Erfahrung als Therapeutin und den vielen Berichten der Betroffenen.

Wir hören, wie groß der Kampf für ein normales Essverhalten ist. Wie viel Frustration es bedeutet, wenn es heute wieder nicht geklappt hat, und wie die Betroffenen sich an die Hoffnung klammern, dass es morgen besser wird. Doch Veränderung passiert nicht im Morgen, sondern im Heute und heute ist alles da, was sie brauchen, um ein symptomfreies Leben zu leben.

Wenn es doch nur so einfach wäre!

Aber das Essen/das Hungern und der Körper sind die Kriegsschauplätze, auf denen die seelischen Probleme ausgetragen werden, die Unsicherheiten, Ängste, Selbstentwertungen, aber auch Beziehungsschwierigkeiten. In den Erfahrungsberichten wird deutlich, wie schwer es ist, sich dem anderen anzuvertrauen, seelische und körperliche Nähe zuzulassen, ohne auf das alte Muster zurückzugreifen und sich „wegzumachen“. Entweder durch Hungern und Essanfälle oder durch chamäleonartige Anpassung an die Erwartungen der anderen.

|10|Diese Taktik beherrschen Essgestörte perfekt. Sie fahren ihre Antennen aus, scannen die Umgebung und schon wissen sie, wie sie sich verhalten müssen. Der Preis ist allerdings hoch, denn er bedeutet Selbstverleugnung und damit den Einstieg in den nächsten Rückfall.

Und dennoch finden die tiefgreifendsten Veränderungen in Beziehungen statt, weshalb auch die Angehörigen und Bezugspersonen in diesem Buch zu Wort kommen. Sie können eine entscheidende Rolle sowohl bei der Entwicklung von Essstörungen als auch bei deren Überwindung spielen.

Ein wunderbares Buch, das Mut macht, „den Klippensprung zu wagen“, wie eine Betroffene es nennt. Und es macht Hoffnung und zeigt Wege auf, diese Hoffnung in Leben umzusetzen.

Dezember 2023

Dr. Bärbel Wardetzki

Praxis für Psychotherapie, Supervision und Coaching, München

|11|Einleitung

Vielleicht hältst du dieses Buch in den Händen, weil das Essen für dich zu einem gewichtigen Thema, vielleicht sogar zu einem Problem geworden ist, das einen Großteil deiner Energie, deiner Gedanken und Gefühle beansprucht. Ein Stück Brot ist nicht mehr einfach ein Stück Brot. Vielleicht ist dir bewusst, dass du an einer Essstörung leidest. Vielleicht kannst du dich damit nicht identifizieren, weil es dir unmöglich erscheint, dass dem so ist. Du doch nicht!

Unabhängig davon, wo du gerade stehst mit deiner Essthematik: Das Ziel dieses Buches ist es, dir Wege aufzuzeigen, wie du einen neuen Umgang mit dem Essen finden kannst und Stück für Stück zu einem gesunden Essverhalten zurückfindest. Meist ist dies ein langer Weg, den du vielleicht mit der Hilfe einer Fachperson gehst. Eine Essstörung ist eine ernste psychosomatische Erkrankung und kein Schnupfen, der von selbst wieder verschwindet. Du wirst dich auf eine innere Reise begeben, um herauszufinden, was das Symptom für eine Bedeutung hat und was du damit ausdrücken möchtest. In dem Sinne ist die Essstörung wie ein Fähnlein, das du in die Luft hebst, um darauf aufmerksam zu machen, dass du vielleicht in gewissen Lebensbereichen überfordert bist, dass du Hilfe benötigst, dass es dir nicht gut geht.

Essstörungen haben immer vielfältige Ursachen, und es geht darum, dysfunktionalen Gedanken, Glaubenssätzen und inneren Haltungen auf die Spur zu kommen. Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Hilfestellung für Betroffene und Angehörige, die aus meiner langjährigen therapeutischen Arbeit mit Frauen und Männern mit Essproblemen entstanden ist. Du findest die diagnostischen Kriterien für Magersucht, Bulimie und Binge Eating (Essanfälle ohne kompensatorisches Verhalten) im Anhang. Vielleicht erkennst du dich darin nicht wieder. Es gibt Vorstufen sowie Mischformen von Essstörungen. Eine anfängliche Magersucht kann beispielsweise in eine Bulimie |12|übergehen, eine Bulimie in Binge Eating, Adipositas in Untergewicht oder umgekehrt. Allen Formen gemeinsam ist die übermäßige Beschäftigung mit Essen und Gewicht und daraus resultierend ein großer Leidensdruck. Krankhaftes Übergewicht (Adipositas) wird nur am Rande behandelt, weil dies den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Zu diesem Thema gibt es viele gute Fachliteratur.

Je früher eine Essstörung erkannt und behandelt werden kann, desto größer sind die Heilungschancen. Je mehr die Sucht alle Alltagsbereiche erfasst und zum Ausweg für alle schwierig erlebten Lebensbereiche wird, desto mehr verselbstständigt sich das Suchtverhalten, und die Sucht bleibt bestehen, auch wenn unter Umständen die auslösenden Faktoren nicht mehr lebensbestimmend sind.

Jede Essstörung entsteht aus einem bestimmten Kontext heraus und hat verschiedene Ursachen. Es wäre zu einfach, anzunehmen, Essstörungen seien in erster Linie dem Wunsch nach Schlanksein – und damit verbunden dem Wunsch nach sozialem und gesellschaftlichem Erfolg – zuzuschreiben. Das gängige Schönheitsideal, dem wir Menschen ausgesetzt sind, führt längst nicht bei allen zu einer Essstörung, auch wenn dieser Faktor bei der Entstehung der Krankheit nicht zu unterschätzen ist (Pauli, 2018). Individuelle Faktoren spielen bei der Entstehung ebenfalls eine Rolle, z. B. eine hohe Leistungsbereitschaft, übersteigerte Anforderungen an sich selbst, ein geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus, hohe Sensibilität sowie ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle. Auch Umweltfaktoren (Familie, soziales Umfeld, Rollenbilder) können dazu beitragen. Manchmal gibt es auslösende Faktoren, z. B. einschneidende Lebensereignisse wie Krankheit, Trennung, Scheidung oder Umzug. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Die Essstörung ist eine Bewältigungsstrategie, um mit überfordernden Lebenssituationen, inneren Gedanken- und Verhaltensmustern sowie schwierigen Emotionen klarzukommen. In der Therapie geht es darum, mit den Betroffenen herauszufinden, wie sie den Ohnmachtsgefühlen entgegentreten und zu mehr innerer Stärke und Selbstbestimmtheit im eigenen Leben gelangen können.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist eine Krankheitseinsicht der Betroffenen. Diese fehlt vor allem bei Magersucht häufig dann, wenn der Leidensdruck entweder nicht groß genug ist oder verleugnet wird. Obwohl die Betroffenen leiden, können sie sich ein Leben ohne Essstörung nicht vorstellen. In der Regel stellt sich eine Krankheitseinsicht nach gewisser Zeit ein, manchmal schon sehr früh. Ist dem nicht so, müssen die Angehörigen oftmals die quälende Ohnmacht aushalten. Es kann helfen, immer wieder das ehrliche Gespräch zu suchen und den Betroffenen die eigenen Sorgen mitzuteilen.

|13|Die Therapie einer Essstörung beinhaltet meines Erachtens drei Hauptbereiche, die ineinanderfließen und nicht voneinander abgetrennt werden können:

Essverhalten normalisieren,

Ursachen der Essstörung ergründen,

Art der Beziehung zum eigenen Körper erkennen, Akzeptanz und Selbstliebe üben.

Diese werde ich im Folgenden erörtern und dir Tipps geben für den Umgang mit deinem Essverhalten. Die Textteile, in denen ich dich direkt anspreche, sind in einer anderen Schrift dargestellt.

|15|1  Essverhalten normalisieren

1.1  Magersucht

Bei der Magersucht steht das Erreichen eines gesunden Gewichts an allererster Stelle. Magersüchtige Menschen drücken durch ihr Untergewicht aus, dass sie gesehen und ernst genommen werden möchten und ein großes Bedürfnis nach Sicherheit haben. Deshalb ist es sinnlos, von ihnen zu verlangen, sie sollten doch einfach essen, da dies die normalste Sache der Welt sei. Die Angst vor dem Kontrollverlust, die wahnhaften Gedanken rund ums Essen und die panische Angst vor einer Gewichtszunahme sowie die verzerrte visuelle Wahrnehmung des eigenen Körpers haben einen inneren Kampf mit sich selbst zur Folge, die Nichtbetroffene nur schwer nachvollziehen können, aber unbedingt ernst nehmen sollten. Was Betroffene brauchen, ist Unterstützung, Wertschätzung sowie Anerkennung des immensen Leidensdrucks und der inneren Zerrissenheit. Magersucht ist eine ernste psychosomatische Erkrankung, und es braucht sehr viel Zeit und Geduld für eine Heilung, sie erfolgt in kleinen Schritten – nach dem Motto: zwei Schritte vorwärts und einer zurück.

Du bist dabei, die wohl schwierigste Herausforderung in deinem bisherigen Leben zu meistern. Das verdient allerhöchsten Respekt. Du darfst dafür alle nur erdenkliche Hilfe sowohl von therapeutischer Seite als auch von deinem sozialen Umfeld in Anspruch nehmen. Du wirst dich deinen Ängsten stellen müssen. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass mit zunehmendem Gewicht die Ängste kleiner werden, es ist also umgekehrt proportional. Es wird eine Zeit kommen, in der du dir nicht mehr vorstellen kannst, wie du mit so wenig Essen und Energie deinen Alltag bewältigen konntest. Nie wieder willst du dich so fühlen! Ich erlebe es häufig, dass Menschen, die ihr Normalgewicht erreicht haben, bei jeder ungewollten Gewichtsabnahme, beispielsweise in|16|folge einer Darmgrippe, sofort in Panik geraten und sich Hilfe holen, weil sie nicht wieder in den Suchtstrudel geraten wollen. Ein normales Gewicht, nicht an der Grenze zum Untergewicht, ist für magersüchtige Menschen eine Grundvoraussetzung für Gesundheit und Stabilität, so wie es bei substanzabhängigen Suchtformen wie Drogen oder Alkohol die Abstinenz ist. Je tiefer das Gewicht sinkt, desto größer werden die Ängste, die körperliche Schwäche und die depressiven Verstimmungen. Dies ist bei allen Menschen so, die auf Diät gesetzt werden. Der Mangel an Kohlenhydraten bewirkt einen Serotoninmangel im Gehirn, und dies führt zu einer Disposition für Depressionen. Die Zwangsgedanken rund ums Essen nehmen proportional zur Gewichtsabnahme zu. Deshalb bewirkt eine Steigerung der Essensmenge, insbesondere der Kohlenhydrate, eine Verbesserung der depressiven Zustände.

Hungern hat Suchtcharakter. Je länger du hungerst, desto tiefer verstrickst du dich in der Sucht. Wie der Name schon sagt, ist Magersucht „die Sucht, zu hungern“, mit allen Erscheinungsformen der Sucht. Bist du bereit, dich der Sucht zu stellen, im Wissen darum, dass du kämpfen und aushalten musst? Was ist die Alternative? Willst du leben? Es ist deine Entscheidung, niemand kann dich langfristig zum Essen zwingen. Natürlich ist es schwierig, die Sucht aufzugeben. Sie gibt dir Lebensinhalt und eine Form von Identität. Sie vermittelt dir das trügerische Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben und autonom zu sein. Vielleicht hilft sie dir, dich beinahe unsichtbar zu machen, zu verschwinden und damit allen Anforderungen des Lebens und den Entwicklungsaufgaben auszuweichen. Hungern gibt den Kick, worauf du nicht verzichten möchtest. Und du hast Erfolg: Du schaffst es, Gewicht abzunehmen. In dem Bereich bist du erfolgreich und selbstbestimmt. Zu Beginn magst du dich stärker, schöner, erfolgreicher fühlen. Etwas in dir spürt aber vielleicht bald, dass dies alles nur vermeintlich ist und du dich auf einem sehr gefährlichen Weg befindest. Der nicht zum erhofften Ziel von mehr Selbstliebe, mehr Selbstakzeptanz und sozialer Beliebtheit führt, sondern deine momentanen Unsicherheiten noch verstärkt.

Ziel ist es, wieder regelmäßig und von allem essen zu können. Dies geschieht in kleinen Schritten, wie die Gewichtszunahme auch. Gemeinsam mit der betroffenen Person und allenfalls deren Angehörigen erstellt die Therapeutin oder der Therapeut einen individuellen Essplan, ausgehend vom aktuellen Essverhalten und Gewicht. Die Essensmenge und die Auswahl an Nahrungsmitteln werden schrittweise in gemeinsamer Absprache erhöht. Es gibt drei Hauptmahlzeiten, zwei Zwischenmahlzeiten und einen Spätimbiss. Wichtig ist es, die betroffenen |17|Personen unbedingt ernst zu nehmen und miteinzubeziehen. Sie sind die Expert:innen ihrer Situation (De Jong & Berg, 2023). Therapeutische Unterstützung ist beim Prozess des Zunehmens aus meiner Sicht notwendig, damit den damit verbundenen Ängsten in einem geschützten Rahmen Raum gegeben werden kann.

Was kannst du dir im Moment vorstellen, zum Frühstück zu essen? Was könntest du noch zusätzlich essen? Es soll schwierig, aber gerade noch machbar sein. Stell dir vor, das Essen ist deine Tablette, die dir deine Ärztin oder dein Arzt verschrieben hat. Die du ohne Wenn und Aber und ohne zu überlegen zu bestimmten Zeiten am Tag einnimmst. Weil es ohne die Tabletten keine Heilung gibt. Essen musst du, daran gibt es nichts zu rütteln. Aber gesteh dir zu, alle Hilfe in Anspruch zu nehmen um die damit verbundenen Ängste auszuhalten! Du bist die/der Expert:in deiner Essstörung, und es gilt herauszufinden, welche Hilfe du brauchst. Hilft es dir, die quälenden Gedanken auszusprechen? Dass dich eine dir nahestehende Person beruhigt, dich zum Essen ermutigt, ohne zu dramatisieren? Dich in den Arm nimmt?

Es gibt in deinem Kopf widerstreitende Stimmen: die Stimme der Gesunden in dir, der bewusst ist, dass du essen solltest, die um die essgestörten Gedanken weiß. Gleichzeitig die Stimme der Magersucht, die um jeden Preis die Kontrolle behalten möchte. Die dir schmeichelt und dich manipuliert. Vielleicht hilft es dir, den Stimmen in deinem Kopf einen Namen, eine Farbe oder eine Gestalt zu geben, damit sie besser identifizierbar werden, z. B. „Engelchen und Teufelchen“. Hast du schon einmal versucht, die essgestörten Gedanken aus einer inneren Distanz heraus zu beobachten? Wenn du sie als Suchtgedanken entlarven kannst, ist schon ein wichtiger Schritt getan. Dies ist bisweilen gar nicht so einfach, weil das Teufelchen sich tarnt und dich einlullt: „Ich esse dann morgen mehr“, „Ich habe ungemein Lust auf Joggen“, „Ich liebe Hüttenkäse“. Sei schonungslos ehrlich mit dir. Vielleicht gelingt es dir mit etwas Übung, die Lautstärke der Stimme in deinem Kopf etwas leiser zu stellen und den gedanklichen Fokus woandershin zu lenken. Schenke der Stimme möglichst wenig Beachtung, lenke dich ab. Verbiete deinem Hirn, diese Gedanken zu Ende zu denken. Versuche, das Gegenteil von dem zu machen, was das Teufelchen dir vorschlägt, auch wenn es im ersten Moment schwierig ist. Wenn z. B. das Teufelchen sagt „Iss nur eine kleine Handvoll Nüsse“, dann nimm zwei Handvoll davon. So kannst du ihm ein Schnippchen schlagen. Wenn die Stimme dich zu sehr vereinnahmt, kann es helfen, die Gedanken laut auszusprechen und dir selbst dabei zuzuhören. Kannst du wahrnehmen, wie absurd das klingt in deinen Ohren?

|18|Wenn sich dein Essverhalten und dein Gewicht normalisiert haben, werden die Magersuchtgedanken dennoch immer mal wiederkehren. Lass dich davon nicht beunruhigen. Wichtig ist lediglich, dass du die Gedanken nicht in die Tat umsetzt. Du darfst bisweilen ein schlechtes Gewissen haben und den Drang verspüren, wenig zu essen oder eine Mahlzeit auszulassen. Solange diese Gedanken nur in deinem Kopf sind und du trotzdem normal weiteressen kannst, gehört dies zum Prozess der Genesung dazu.

Bei den Mahlzeiten darfst du gut auf dich achten: Was hilft? Wer hilft? Es soll jetzt um dich gehen, es gibt keine wichtigere Aufgabe, als zu essen. Am Anfang kann es sinnvoll sein, mit der Therapeutin oder dem Therapeuten und deinem Umfeld genau festzulegen, was dein Essplan beinhaltet. Du entscheidest, welche Nahrungsmenge du allerhöchstens zu dir nehmen kannst, und dein Umfeld hilft dir bei der Umsetzung, wenn nötig mit liebevoller Strenge. Das bedeutet nicht, dass du gegen deinen Willen zum Essen gezwungen wirst. Zu deinem Schutz hast du vorher mit deinen Bezugspersonen abgemacht, wie sie sich verhalten sollen, wenn du dich nicht an den vereinbarten Essplan hältst. Du konntest formulieren, was dir in den schwierigen Momenten helfen könnte. Das nennt man „affektive Verpflichtung“ und sie ist nicht zu verwechseln mit Zwang (Liechti & Liechti-Darbellay, 2020). Wisse, dass es Krisen gibt, dass es dich hin- und herschlenkert und du bessere und schlechtere Tage hast. Kommuniziere dies offen.

Es kann sein, dass du am Anfang nicht wie gewünscht zunimmst, auch wenn du das Gefühl hast, viel mehr zu essen als vorher. Der Körper ist noch im Hungermodus, und vielleicht hat dein Gehirn deinem Körper noch nicht die Erlaubnis erteilt, die Führung zu übernehmen. Wahrscheinlich spürst du beim Zunehmen weder Hunger noch Sättigung zuverlässig. Sei dir bewusst, dass der quälende Hunger, der dich begleitet, wie der ist, den Menschen in Hungergebieten haben. Sättigung bedeutet nicht, gerade keinen Hunger mehr zu haben, so, wie du es wahrscheinlich gewöhnt bist. Satt sein heißt, den Bauch zu spüren! Vermeide es, Mahlzeiten hinauszuschieben und trotz Hunger nichts zu essen. Du wirst dich wundern, wie viel du essen darfst und musst, um an Gewicht zuzulegen! Vergleiche dich nicht mit normalgewichtigen Menschen und deren Essensmengen. Du musst zunehmen, dein Körper ist ausgehungert, also brauchst du mehr als die anderen.

Wenn du die Essensmenge steigerst, frage dich, was du früher gerne gegessen hast. Worauf hast du schon so lange verzichtet? Wenn du es dir erlauben würdest, was würdest du am liebsten essen? Du darfst dir zugestehen, dass du Hunger hast, dass dein Körper nach Nahrung verlangt, dass du |19|ausgehungert bist. Es kann sein, dass, wenn du die innere Handbremse löst, dein Körper mit aller Vehemenz nach Nahrung verlangt und du fast nicht mehr satt wirst. Gesteh es deinem Körper zu! Er braucht es, hat es verdient, und du darfst alles, aber auch wirklich alles essen, was dich gelüstet. Wenn du deinem Körper das Essen in dieser Phase jetzt nicht erlaubst, läufst du Gefahr, dass er es sich eigenmächtig in Form von Essanfällen holt, und das möchtest du sicher nicht. Getraue dich, die innere Bremse zu lösen, es gibt keinen anderen Weg, um gesund zu werden. Es kann hilfreich sein, mit deiner Therapeutin, deinem Therapeuten oder jemandem aus deinem Umfeld ein Endgewichtsziel festzulegen, das im normalen Bereich liegen sollte.

Ich empfehle als Endgewicht ein Wohlfühlgewicht in einem gesunden Bereich mit etwas Spielraum nach unten. Was meine ich damit?

Es gibt viele Menschen, die an einer versteckten Essstörung leiden, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Das Gewicht liegt in diesem Fall meist im unteren Bereich des Normalgewichts, kann aber auch schwanken. Nimmt die betroffene Person unabsichtlich ab, z. B. infolge einer Magenverstimmung, kommt sie rasch in einen gefährlichen Bereich: Das Abnehmen triggert für (vormals) essgestörte Menschen die Sucht, ähnlich wie es bei (trockenen) Alkoholsüchtigen bei einem Glas Wein der Fall ist. Die Betroffenen haben es zwar geschafft, die Menge und die Auswahl der Lebensmittel zu steigern und nehmen ihr Essverhalten als „normal“ wahr. Bei näherer Betrachtung ist es jedoch nach wie vor sehr kontrolliert und erlaubt wenig Spielraum. Der Rahmen des Erlaubten ist lediglich etwas weiter gesteckt worden, in seinen Begrenzungen jedoch weiterhin starr und zu eng. Beim Sport verhält es sich ähnlich. Der Leidensdruck bleibt bestehen, auch wenn die Betroffenen dies oft nicht so wahrnehmen. Die Sucht bestimmt ihr Leben nach wie vor. Deshalb ist es wichtig, dieser Chronifizierung vorzubeugen.

Jede Woche kannst du dir kleine Gewichtsziele setzen, 300 bis 500 Gramm Gewichtszunahme. Da der Körper keine Maschine ist, kann das Gewicht bei gleicher Essensmenge eine Woche lang stagnieren und dann sprunghaft ansteigen. Das ist völlig normal und kein Grund zur Sorge. Wichtig ist lediglich, dass du nicht weiter abnimmst, sondern stetig mehr Gewicht auf die Waage bringst. Stelle dich ein- bis zweimal pro Woche auf die Waage. Es kann sinnvoll sein, wenn jemand aus deinem Umfeld beim Wiegen dabei ist. Du bist dann nicht allein mit dem Resultat, das mit großer Wahrscheinlichkeit, insbesondere am Anfang, schwierig auszuhalten ist: Ist das Gewicht höher, löst das neben der Erleichterung auch Panik aus. Ist es gleich oder tiefer, löst |20|dies ebenfalls Erleichterung, aber auch Angst aus, je nachdem, wie es dir gerade geht.

Zudem kann das gemeinsame Wiegen dir helfen, weder dich selbst noch andere zu belügen. Wenn du, was das Gewicht oder die Essensmenge angeht, lügst, ist das immer die Krankheit, die lügt. Du bist deswegen keine notorische Lügnerin. Du hast die Sucht, aber du bist sie nicht. Es ist wichtig, dass dein Umfeld dies versteht. Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen oder dich schuldig zu fühlen. Du darfst dich aber absichern, indem du dir Hilfe beim Wiegen und bei den Mahlzeiten holst – weil du darum weißt, wie schnell die Sucht eine Eigendynamik entwickeln kann, wenn sich die kranken Gedanken einzig und allein in deinem Kopf abspielen. Versuche, herauszufinden, wer oder was dir Sicherheit vermittelt! Du darfst einfordern und fordern, auch wenn es dir schwerfällt. Du musst und darfst anderen „zur Last fallen“. Wenn Personen aus deinem Umfeld dich nicht verstehen, dein Problem herunterspielen und verharmlosen, stehe mit aller Vehemenz für dich und für die Hilfe ein, die du von ihnen zum Gesundwerden brauchst, und erkläre dies mit aller Deutlichkeit. Lass dich nicht verunsichern, denn du bist die Expertin für deine Situation. Auf jeden Fall besteht das erste Ziel darin, die Gewichtsabnahme zu stoppen, weil du sonst immer tiefer in den Suchtstrudel gerätst.

Die Phase des Zunehmens ist wohl die schwierigste: Immer wieder höre ich von Klient:innen, dass sie alles dafür geben würden, eines Morgens mit dem Zielgewicht aufzuwachen. Der Weg ist das Ziel, und der Prozess des Zunehmens ist auch ein Prozess des inneren Wachstums.

Vergegenwärtige dir immer wieder, was du schon geschafft hast, und nimm wahr, was sich positiv verändert hat: Frierst du weniger? Hast du wieder mehr Energie? Hellt sich deine Stimmung auf? Haben in deinem Kopf auch wieder andere Gedanken Platz?

Magersucht geht immer mit einer Entwicklungsverzögerung im emotionalen, sozialen und körperlichen Bereich einher. Indem du zunimmst und die damit verbundenen Ängste auszuhalten lernst, rüstest du dich für die Lebensbereiche, die dir zuvor unkontrollierbar und überfordernd erschienen. Magersucht ist ein Rückzug auf ein kleines überschaubares und kontrollierbares Territorium. Das Leben mit seinen Anforderungen und Entwicklungsaufgaben bleibt außen vor. Wenn du dich sozial isolierst und alle Anlässe, die mit Essen zu tun haben, meidest, musst du auch auf vieles verzichten, was dir eventuell helfen würde. Getraue dich, deine Freund:innen einzubeziehen. |21|Je ehrlicher du über deine Schwierigkeiten reden kannst, desto mehr durchbrichst du ein Tabu, und deine Kolleg:innen werden froh darum sein. Erfahrungsgemäß sind sie gerne bereit, dir zu helfen, wenn du sagen kannst, wie.

Dein Untergewicht sieht man dir wahrscheinlich an. Wie fühlst du dich mit dieser Tatsache, dass alle sehen können, dass du ein Problem hast? Dass mit dem Offensichtlichen deine Privatsphäre nicht gewährleistet ist? Wenn du normalgewichtig bist, kannst du selbst entscheiden, wer was von dir wissen darf. Könnte dies allenfalls eine weitere Motivation sein, zuzunehmen? Ich möchte dich ermutigen, soziale Kontakte wieder aufzunehmen und klar zu kommunizieren, was für dich momentan möglich ist, auch in Bezug auf Esssituationen. Wenn du ehrlich und offen bist, gibt es auch weniger Gerede hinter deinem Rücken. Vielleicht kannst du eine Person aus deinem Freundeskreis auswählen, die dich beim Grillen am See unterstützt und dir ein offenes Ohr bietet, wenn du die quälenden Gedanken aussprechen möchtest. Du musst nicht warten, bis du geheilt bist, um wieder am Leben teilzunehmen. Es ist sogar andersherum: Am Leben teilzunehmen und dabei zu dir und deinen Schwierigkeiten zu stehen, heilt dich!

Mit mehr Gewicht nimmst du auf allen Ebenen zunehmend mehr Raum ein. Gönn dir zusätzlich zu deinem Essplan jeden Tag ein „Ich darf“, etwas, das du irgendwann am Tag zu dir nimmst, etwas, das du sehr gerne magst und auf das du Lust hast. Getraue dich, dem Hunger und der Lust nachzugeben, auch wenn es spät am Abend ist. Es gibt keine Zeit, in der Essen verboten ist. Sport ist nur erlaubt, wenn er nicht dem Ziel dient, abzunehmen. Damit du nicht abnimmst, nimm vor dem Sport zusätzlich die Menge an Kalorien zu dir, z. B. in Form von Riegeln, Bananen oder Nüssen, die du danach verbrennst, damit eine Nullbilanz entsteht. Falls dies zu schwierig ist, ist es wohl sinnvoller, vorerst auf Sport zu verzichten.

Sport kann ebenfalls Suchtcharakter annehmen. Zur Heilung gehört dazu, auch das Thema Sport schonungslos ehrlich anzuschauen und die Motive zu hinterfragen, die dich dazu treiben, dich vielleicht zwanghaft zu bewegen, selbst wenn du eigentlich keine Lust verspürst, müde und ausgelaugt bist. Gestehe dir zu, dich stattdessen auszuruhen, deinem Körper Erholung zu gönnen!

Falls deine Menstruation ausbleibt, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass dein Körper auf Sparflamme läuft. Nur wenn du über einen längeren Zeitraum genügend isst, kann sich dein Körper erlauben, Energie in nicht lebensnotwendige Funktionen wie die Fortpflanzung zu investieren. Falls die Menstruation länger als 6 Monate ausbleibt, ist dringend eine Konsultation bei einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen erforderlich. |22|Sie oder er wird eine Therapie vorschlagen, damit es nicht zu einem Knochenabbau kommt.

Übe dich darin, zu bemerken, wenn die kranken Gedanken deinen Kopf bevölkern. Indem du sie beobachtest, gewinnst du innerlich Distanz zu ihnen, auch wenn du sie vielleicht nicht wegschieben kannst. Du erkennst, was du gerade denkst. Versuche, dieses Gedankenkarussell nicht allzu ernst zu nehmen. Vielleicht gelingt es dir bisweilen, fast liebevoll darüber zu schmunzeln und ihnen nicht zu viel Beachtung zu schenken. Werden die Gedanken zu quälend, oder gibt es eine schwierige Esssituation zu meistern, geht es darum, die Gefühle auszuhalten und dich abzulenken mit Dingen, die dir guttun. Erstelle eine Liste: Was hilft mir? Welche Menschen tun mir gut? Was sind meine Bedürfnisse? Versuche, dich bedingungslos ernst zu nehmen. Es gibt nichts Wichtigeres, als gesund zu werden, indem du isst, und das erfordert deine ganze Energie. Du kommst jetzt zuerst! Kümmere dich in erster Linie um dich selbst statt um die Menschen in deinem Umfeld. Du brauchst auch keine Schuldgefühle zu haben, wenn du den anderen Kummer und Sorgen bereitest, du hast dir diese Krankheit nicht ausgewählt. Und sie geht alle in deinem Umfeld etwas an.

1.2  Essanfälle

Essanfälle können körperlich, aber auch emotional bedingt sein, was sich oft nur schwer voneinander abgrenzen lässt. Sie zeichnen sich nicht primär durch die Menge und die Auswahl der Nahrungsmittel aus, sondern durch das Gefühl des Kontrollverlustes, das mit dem Essen einhergeht. Die Betroffenen essen, ohne es zu wollen, und können nicht willentlich damit aufhören. Sie essen wie ferngesteuert, häufig heimlich und im Stehen. Danach fühlen sie sich schlecht und schuldig. Von Bulimie Betroffene setzen drastische Maßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport oder rigorose Diäten ein, um die Essanfälle zu „kompensieren“ und somit einer möglichen Gewichtszunahme entgegenzuwirken. Von Binge Eating Betroffene sehen in der Regel von kompensatorischen Maßnahmen ab.

Essanfälle sind mit einem enormen Leidensdruck verbunden. Die Betroffenen schaffen es häufig nicht, ohne therapeutische Hilfe den Teufelskreis zu durchbrechen. Sich dies einzugestehen und eine Therapie zu beginnen, ist oft der erste Schritt im Genesungsprozess. Sehr häufig sind die Essanfälle mit großer Scham verbunden. Scham vor anderen, Scham vor allem vor sich selbst. Viele Betroffene erzählen niemandem davon, aus Angst, verurteilt und abgelehnt zu werden. Sie befürchten, dass die Menschen sich ekeln würden, wenn sie von den Essanfällen |23|wüssten, die sich hinter der oft erfolgreichen Fassade abspielen. Dies führt dazu, dass die Betroffenen ein regelrechtes Doppelleben führen, nicht zuletzt vor sich selbst. Sie verdrängen die Essanfälle. Sie sprechen nicht darüber, weil das Unaussprechliche sonst zu einer Realität wird, die sie nicht länger verleugnen können. Die Betroffenen hoffen insgeheim, dass die Essanfälle von selbst verschwinden oder dass sie es ohne Hilfe von außen schaffen, diese mit Disziplin in den Griff zu kriegen. Sie halten die Illusion aufrecht, baldmöglichst zu einem restriktiven Essverhalten zurückkehren zu können, um endlich (wieder) an Gewicht abzunehmen. Dass es nicht klappt, ist mit starken Versagensgefühlen verbunden. Nicht selten wird abends der Vorsatz gefasst, am nächsten Tag keine Essanfälle zu haben und möglichst wenig zu essen, was nicht umsetzbar ist und zu Frust, erneuten Essanfällen, selbstabwertenden Gedanken und Hoffnungslosigkeit führt: ein Teufelskreis von Hungern, Überessen und Kompensieren.

Lerne, zu akzeptieren, dass du an Essanfällen leidest. Dies kann mit großer Wut und Trauer verbunden sein. Es bedeutet, die Illusion aufzugeben, dass sich alles von selbst einrenkt und du gesund und glücklich abnehmen kannst. Dir steht ein langer Weg bevor. Es geht darum, zu regelmäßigen Mahlzeiten zurückzufinden, normale Portionen zu essen und „verbotene“ Lebensmittel im Speiseplan zu integrieren. Du darfst dir Hilfe holen. Auch wenn es dir zunächst unmöglich erscheint, setze dich mit dem Gedanken auseinander, dir vertrauten Menschen von deinen Problemen zu erzählen. Du wirst mit großer Wahrscheinlichkeit auf Verständnis stoßen, und deine Befürchtungen werden sich nicht bewahrheiten. Indem du diesen Teil von dir zeigst, wirst du nah- und fassbarer für andere. Du zeigst dich selbst, was vielleicht eine sehr ungewohnte Erfahrung ist.

Wenn du darüber sprichst, wird es zur Realität, dass du an Essanfällen leidest, du kannst es nicht mehr verleugnen. Vielleicht realisierst du, wie viel Zeit und Energie du in die Essstörung investierst und was du dadurch alles verpasst und schon verpasst hast. Diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft, aber gleichzeitig heilsam sein, sie ist wie ein Erwachen aus einem Nebel. Vielleicht spürst du plötzlich eine große innere Motivation, gesund zu werden, auch wenn dies mit Ängsten verbunden ist. Gestehe dir zu, Hilfe anzunehmen.

Körperlich bedingte Essanfälle

Körperlich bedingte Essanfälle entstehen, wenn die Betroffenen sich Nahrung verbieten und damit die Bedürfnisse des Körpers missachten. Dies geschieht häufig, aber nicht nur bei einer Magersucht, wenn dem gesunden Hunger nicht genü|24|gend nachgegeben wird. Der Körper macht sich bemerkbar, rebelliert, fordert zu Recht genügend Essen. Die Einteilung in erlaubte und verbotene Lebensmittel hält den Teufelskreis aufrecht. Restriktives Essen führt daher oft zwangsläufig zu Essanfällen.

Es darf in dieser Phase nicht das Ziel sein, willentlich abzunehmen. Auch wenn es schwierig ist, zu akzeptieren: Um gesund zu werden, gibt es keinen anderen Weg, als das Essverhalten zu normalisieren und die Einteilung in erlaubte und verbotene Nahrungsmittel nach und nach aufzuheben. Die verbotenen Lebensmittel müssen wieder in den Speiseplan integriert werden. Es kann sein, dass du mit einem regelmäßigen und ausgewogenen Essverhalten von selbst abnimmst. Ist dir bewusst, wie viel du genussvoll essen darfst, um auf die gleiche Kalorienmenge zu kommen wie bei einem Essanfall?

Falls die Betroffenen normalgewichtig sind, arbeite ich häufig mit Gewichtsgrenzen. Ich vereinbare mit ihnen eine obere und eine untere Grenze in der Bandbreite von ungefähr 4 Kilo, ausgehend vom aktuellen Gewicht. Die Betroffenen müssen damit einverstanden sein. Solange sich das Gewicht in diesem Rahmen bewegt, darf in Bezug auf das Essverhalten und die Nahrungsmittelauswahl ausprobiert und experimentiert werden.

In kleinen Schritten lernst du, den Signalen des Körpers immer mehr zu vertrauen, achtsam hinzuhören, und das zu essen, was der Körper verlangt. Das ist wahrscheinlich eine Herausforderung und mit großen Ängsten verbunden, vergleichbar mit einem Sprung ins kalte Wasser. Sprich darüber, hole dir Unterstützung, wo immer du kannst. Möglicherweise kannst du die Körpersignale von Hunger und Sättigung nicht mehr spüren. Das braucht Zeit. Vertraue darauf, dass du wahrscheinlich zuerst Hunger, später auch Sättigung wieder wahrzunehmen lernst, wenn du jetzt dranbleibst. Getrau dich, dann zu essen, wenn du Hunger hast, und schiebe das Essen nicht hinaus. Kein Kind überlegt sich bei einer Mahlzeit, was und wie viel es essen darf, damit es bei der nächsten Mahlzeit wieder Hunger hat, oder wie viele Kalorien ihm noch zustehen. Lass deinen Körper das Zepter über deinen Verstand und deine Vorstellungen übernehmen! Achte darauf, was dein Körper an Nahrung verlangt. Versuche, lediglich darauf zu achten, dass dein Teller in der Regel zu ungefähr der Hälfte mit Gemüse und Salat, die andere Hälfte mit Kohlenhydraten und Eiweiß gefüllt ist. Diese einfache Formel kann dir Orientierung bieten, wenn du das brauchst. Versuche, langsam und bewusst zu essen. Vielleicht hilft dir der Gabeltrick: Lade |25|deine Gabel erst wieder voll, wenn du den vorherigen Bissen langsam gekaut, hinuntergeschluckt und eine kleine Pause gemacht hast. Nach dem Essen darf sich dein Bauch voll anfühlen und natürlich auch etwas herausstehen. Wie sonst sollte das anatomisch funktionieren? Verwechsle „gerade nicht mehr Hunger haben“ nicht mit einem Gefühl echter Sättigung. Wenn du richtig satt bist, vergehen in der Regel ungefähr 4 bis 5 Stunden, bis du wieder Hunger verspürst. Bis es so weit ist, darfst du alle Gedanken ans Essen liebevoll beiseiteschieben und vorbeiziehen lassen. Es gibt nichts zu denken! Falls du zwischen den drei Hauptmahlzeiten Hunger verspürst, nimm eine Kleinigkeit zur Überbrückung zu dir, das muss auch nichts besonders Attraktives sein.

Wenn du hungerst, bewirkst du längerfristig nur, dass dein Körper auf Sparflamme und Hungerzustand umschaltet und weniger Energie verbraucht. Das führt zu erheblichen Gewichtsschwankungen. Getraue dich, der Weisheit deines Körpers zu vertrauen. Es gibt keine verbotenen Lebensmittel. Wenn du dir etwas verbietest, was dein Körper haben möchte, kommt es zu Essanfällen, und du schlingst herunter, was du eigentlich bewusst essen und vor allem genießen dürftest. Wenn Süßes Suchtcharakter hat, kann es sinnvoll sein, diese zu Beginn nur in Gesellschaft zu konsumieren oder eine Weile ganz wegzulassen, im Sinne eines „kalten Entzuges“. Welche für dich eine sinnvolle Strategie ist, könntest du in einer Therapie besprechen. Viele der körperlich bedingten Essanfälle nehmen deutlich ab, wenn du regelmäßig und ausgewogen und vor allem genug und ohne Verbote mit Genuss zu essen lernst! Wenn du die verbotenen Nahrungsmittel immer und immer wieder genießen darfst, verlieren sie mit der Zeit ihren Reiz.

Gib deinem Körper für die Umstellung Zeit. Geduld ist jetzt gefragt. Es kann sein, dass das Gewicht zu Beginn schwankt, aber es ist „für einen guten Zweck“ und längerfristig die wohl einzige Möglichkeit, ein gesundes Gewicht und ein entspanntes Essverhalten zu erlangen.

Es ist verständlich, dass du immer wieder haderst. Die Suchtstimme flüstert dir zu, von deinem Weg abzukommen, restriktiv zu essen und abzunehmen. Die Essanfälle blendet die Suchtstimme möglicherweise aus. Du musst dir doch beweisen, dass du das noch kannst, hungern und abnehmen. Du darfst traurig sein darüber, dass dieser Weg versperrt ist, weil du dich entschieden hast, diesen ungesunden Pfad nicht mehr zu gehen, den Verlockungen zu widerstehen. Vielleicht hilft dir der Gedanke, dass du restriktiv essen und abnehmen könntest, wenn du nur wolltest, du dich aber dagegen entschieden hast. Dann ist es kein Versagen vor dir selbst, sondern ein bewusster Verzicht. Dir zuliebe.

|26|Hilfreiche Essgewohnheiten

Gewöhne dir an, dein Essen am Tisch zu dir zu nehmen und nebenbei nichts anderes zu tun. Konzentriere dich auf die Mahlzeit, auch wenn es zu Beginn schwerfällt. Iss weder vor dem Computer noch vor dem Fernseher. Dies ist oft ein Trigger für einen Essanfall. Viele Betroffene berichten, dass Essanfälle fast ausschließlich zusammen mit Medienkonsum vorkommen, ein sehr effizientes Vorgehen, um sich wie in einem Rausch zu betäuben. Versuche, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Es lohnt sich, in diesem Punkt liebevoll streng mit dir zu sein und diese Gewohnheit zu durchbrechen. Dies ist schwierig und erfordert viel Energie.

Versuche, achtsam zu essen. Wenn du während des Essens vor dem Fernseher sitzt, liest oder am Handy bist, merkst du unter Umständen gar nicht so genau, was und wie viel du isst. Versuche, präsent zu sein, die Nahrung anzusehen, zu riechen, zu schmecken, die Konsistenz wahrzunehmen.

Iss immer im Sitzen und richte dein Essen auf dem Teller ansprechend an. Wenn der Teller leer ist, frage deinen Bauch, ob er noch Hunger hat. Es hilft, eine Pause einzulegen, da sich das Sättigungsgefühl erst nach zirka 10 bis 20 Minuten einstellt. Achte darauf, ob du dich selbst verlierst, wenn du dich während der Mahlzeiten mit anderen Menschen unterhältst: Der Teller ist leer, und du hast es gar nicht gemerkt? Übe es, den Fokus immer wieder zu dir selbst zurückzubringen, und frage dich, wie es dir geht, was du gerade isst und ob du dich bewusst dafür entschieden hast.

Niemand kann dich zwingen, etwas zu essen, was du nicht willst. Wenn dir jemand ungefragt Essen auf den Teller legt oder dir nachschöpft, getraue dich, das Essen stehen zu lassen. Das ist nicht unhöflich, sondern ehrlich. Anderen Essen aufzuzwingen, ist eine Form von Grenzüberschreitung, und das musst du nicht akzeptieren. Vielleicht hilft dir folgender Gedanke: „Ich esse nur, wofür ich mich bewusst entschieden habe.“

Emotional bedingte Essanfälle

Vielleicht ist für dich Essen seit der frühesten Kindheit mit Emotionen verbunden. Essen tröstet, dient als Belohnung, nimmt Ängste und betäubt negative Gefühle, die weder wahrgenommen noch benannt werden dürfen. Die Gefühle werden im wahrsten Sinne heruntergeschluckt. Essen ist immer verfügbar, ein treuer Freund, eine treue Freundin, ein wahres Wundermittel gegen Langeweile und innere Leere. Ein Essanfall ermöglicht es, in einem |27|rauschhaften Zustand für eine kurze Weile allem zu entkommen. Was folgt, ist Ernüchterung, ein schlechtes Gewissen und Selbsthass. Wie einfach ist es doch, übermäßig zu essen und anschließend für alles die Schuld bei sich selbst zu suchen! Dann bleibt alles beim Alten, nicht gut, aber vertraut.

Das Essen hat dir früher mit großer Wahrscheinlichkeit geholfen, emotional zu überleben, war also eine wichtige und unentbehrliche Bewältigungsstrategie. Du bezahlst heute einen hohen Preis dafür, vor allem, was deine Selbstachtung und Selbstliebe angehen. Bist du bereit, die Sprache des Symptoms verstehen zu lernen?

Ich lade dich ein, dich in Achtsamkeit zu üben. Fange an, dich wie von außen zu beobachten, ohne zu werten. Mache innerlich einen Schritt zurück. Wann kommt es zu Essanfällen? Kündigen sie sich an oder überfallen sie dich aus heiterem Himmel? Kannst du Auslöser identifizieren? Vielleicht kaufst du dir ein Büchlein, in das du deine Beobachtungen notierst. Du bist die Detektivin oder der Detektiv auf Spurensuche. Wenn du das Gefühl hast, die Essanfälle überfallen dich ohne Ankündigung, schau und spüre ganz genau hin, und achte auf die leisen Stimmen und Impulse, die einen Essanfall ankünden. Finde Worte dafür. Nimm unbedingt ernst, was du herausfindest. Es kann sein, dass du isst, weil du dich überfordert fühlst, weil du lustlos bist, dir langweilig ist oder weil du mit unangenehmen Gefühlen nicht klarkommst. Vielleicht packst du zu viel in deinen Tag, gönnst dir keine Pausen, sagst selten nein. Der Essanfall legitimiert in dem Fall den Notstopp, die Pause. Schau genau hin, ohne zu werten. Du musst auch nicht sofort etwas unternehmen, lass dir Zeit. Vielleicht findest du, am besten mit professioneller Hilfe, mit der Zeit neue Wege, um mit schwierigen Gefühlen und Überforderung umzugehen. Falls du es gewohnt bist, alle Schwierigkeiten selbst zu lösen, kann dies eine wertvolle, neue Erfahrung sein. Um Unterstützung zu bitten, ist ein Zeichen von Stärke.

Manchmal reicht es bereits, sich die Beweggründe, die normalerweise zu einem Essanfall führen, einzugestehen und danach nach anderen Strategien zu suchen. Erstelle eine Liste mit Dingen, die du stattdessen tun könntest: einen Spaziergang machen, jemanden anrufen, duschen, Musik hören usw. Verlasse auf jeden Fall die Küche und warte eine halbe Stunde. Vergegenwärtige dir, wie es dir jeweils nach einem Essanfall geht und ob du diese Konsequenzen jetzt gerade in Kauf nehmen willst. Somit übernimmst du die Verantwortung für dein Handeln, was dir ein Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit zurückgibt. Lass dich nicht entmutigen, wenn du vorerst das Gefühl hast, den Essanfällen ausgeliefert zu sein. Durch genaues Beobachten wirst du nach und nach herausfinden, woran du merkst, dass sich |28|eine Essattacke ankündigt. Oft geschieht dies auf körperlicher Ebene. Du verspürst eine innere Unruhe, ein sogenanntes „Craving“. Das sind Entzugserscheinungen. Das Essen hat Suchtcharakter, vergleichbar mit anderen Suchtmitteln wie Alkohol, Drogen oder Zigaretten. Die Schwierigkeit ist, dass du nicht abstinent vom Essen leben kannst. Du musst einen Umgang mit deinem Suchtmittel finden. Egal, welche Art von Essstörung du hast, führ dir diese Tatsache immer wieder vor Augen.

Du bist dabei, den wohl schwierigsten Weg in deinem bisherigen Leben zu gehen. Das verdient höchste Anerkennung, von dir selbst und deinem Umfeld. Lass dir helfen. Nimm schwierige Esssituationen gedanklich vorweg, lege dir einen Plan zurecht und denke die Konsequenzen davon zu Ende. Sei dir bewusst, dass du ein Suchtproblem hast. Es ist, wie es ist. Es nützt dir nicht, so zu tun, als hättest du kein Essproblem. Zu denken „Ich sollte das doch können, alle anderen können das auch“, hilft dir nicht weiter. Es braucht keinen Vergleich mit Menschen, die damit kein Problem haben. Das ist müßig. Du bist du. Du vergleichst auch nicht Äpfel mit Birnen. Du gestattest dem Apfel, Apfel zu sein, und erwartest nicht, dass er eine Birne wird.