Das Stückwerk der Liebe - Paul Lahninger - E-Book

Das Stückwerk der Liebe E-Book

Paul Lahninger

4,8

Beschreibung

Roman mit autobiografischen Zuegen. Das Stueckwerk der Liebe erzählt die innere Reise eines Mannes, der um seine Liebesfähigkeit ringt: Raphael erleidet eine Kopfverletzung und faellt ins Koma, pendelt zwischen wachen Augenblicken und einem inneren Film, in dem er Kriegserlebnisse seiner Eltern, ihre bruechige Liebe und seine eigene schwere Kindheit vor sich ablaufen sieht, seinen Aufbruch aus einer engen, kleinbuergerlichen Welt und seine verworrenen Beziehungen mit Frauen. Paul Lahninger zeigt die Verflechtungen von Familienschicksalen mit der Zeitgeschichte Oesterreichs, verdeutlicht, wie die Suche nach Identitaet gelingen kann und wie sehr eine Liebesbeziehung Versoehnung und bewusste Entscheidungen braucht.

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Paul Lahninger

Das Stückwerk der Liebe

Roman

Je bewusster wir uns mit all dem auseinandersetzen, was unsere Eltern an Schwerem und Bedrückendem mitgebracht haben, desto mehr nehmen wir ihm die Macht in unserem eigenen Leben, und desto weniger

Nachtflug

„Los geht’s“, rief ich Hermann zu und sprang auf meinen Schlitten. Hermann kam mit einem katzenhaften Sprung auf dem seinen zu sitzen, einen Meter vor mir sauste er über den Forstweg. Ich lehnte mich nach hinten und überholte Hermann, lächelte über den Vorteil, den mir das Körpergewicht gegenüber meinem fünfzehnjährigen Sohn gab. „In der ersten Kurve überhol' ich dich wieder“, er tat, als würde er sich ärgern. Das Gefälle nahm zu, in der ersten Wegkehre gelang es mir, den Schlitten ein wenig quer zu stellen, an der inneren Böschung des Weges driftete ich in die nächste Gerade. Ich warf einen Blick zurück, hinter mir wirbelte eine Schneewolke, Hermann wurde weiß eingestaubt. „Na warte!“ In voller Fahrt griff er in den Schnee, warf mir einen Schneeball auf den Rücken. „Autsch!“, lachte ich und konzentrierte mich wieder auf den Weg. Der Mond malte leuchtende Punkte zwischen das Dunkel der Stämme, aufrechte Tannen berührten einander mit ihren Ästen, zwischen ihnen verneigten sich junge Bäume unter der Fülle des Schnees. Der Fahrtwind ließ meine Augen tränen, alles rundherum stand still. Für einen Augenblick öffnete sich der Wald, gab den Blick frei über die Berge, unendliche Sterne schwebten über den Gipfeln. Inmitten dieser Stille flog ich wie ein Pfeil über die weiße Bahn. Auch in mir wurde es ruhig, all die Zweifel über meine Lebenssituation lösten sich auf in der Geschwindigkeit, meine Aufmerksamkeit war angekommen im Jetzt.

Teil 1

Die Frage

Ich schwebe irgendwo zeitlos im Dunkeln, rund um mich eine Stimme, nicht wirklich eine Stimme, nicht einmal ein Ton, und doch eine Frage an mich. Langsam bewege ich mich auf die Frage zu und ich spüre ihr Echo in meinem Inneren.

„Mein Leben?“ Vage erinnere ich mich daran, wer ich bin, ich … ein vierzigjähriger Familienvater, verliebt in eine junge Kollegin … hin und her gerissen zwischen Treue und erotischer Sehnsucht … daheim in einem Dorf, in dem ich nicht willkommen bin … ein Lehrer, der sich im Beruf verausgabt und bezweifelt, dass dieser Einsatz sinnvoll ist. Ein Leben, das nicht mehr zu passen scheint.

Stimmen tanzen durch meinen Kopf, reden wirr durcheinander: „Lange mache ich das nicht mehr mit“, höre ich Anna sagen, Carmen lockt „Ich würde jederzeit abhauen mit Dir“, „Du Verbrecher!“, schreit mein Schwiegervater, „vierzig Jahre alt und dumm wie ein Schulbub“, und Alexandra ruft: „Bitte, sei lieb zu Mami!“, „Jetzt hast Du jahrelang das Haus renoviert und hältst es nicht aus in diesem Ort!“, stichelt Reinhard.

Da laufen Bilder auf mich zu, so nahe, dass ich sie greifen kann, so klar, dass ich den Blick nicht abwenden kann …

Ich sehe mich einen mächtigen Fluss hinauftreiben. Das Wasser rauscht an mir vorbei, ich treibe stromaufwärts, dem Ursprung des Flusses entgegen. An den Ufern trommeln und tanzen schwarze Krieger, sie singen von meinen Kämpfen und meinem Scheitern, von meiner Wehmut und meinem Leistungsdrang, von meiner Suche nach Anerkennung und von meinem Glück. Plötzlich liegt eine riesige Frau in der Landschaft, und ich sehe, dass der Fluss ihrer Vagina entspringt. Da wird alles zu Licht, meine Augen schmerzen, zwischen den Beinen der Frau liege ich als Neugeborenes, allein, schreiend, der Kälte ausgeliefert.

Ich bin in einem kleinen Raum angekommen, ausgefüllt von einem weiß lackierten Stahlbett, in dem Mutter schwer atmet, dahinter ein Holztisch und ein Waschbecken. In einem weißen Mantel sitzt Vater daneben, Schweißtropfen auf der Stirne. Eine Frau legt mich auf eine Waage, horcht meine Lungen ab, prüft meine Arme und Beine und steckt mich in ein Strampelkissen. „Ein gesunder Junge!“, sagt sie zu Mutter, „Jetzt können Sie ihn stillen.“

Mutter drückt mich an sich, lächelt, an ihrer Brust komme ich zur Ruhe. „Unser Zweiter“, sagt Vater zärtlich und nach einer kleinen Pause: „Siehst du, Elsa, ich hab dir gesagt, dass es beim zweiten Kind leichter geht.“ Er berührt Mutters Wange, und sie legt den Kopf in seine Hand.

„Gut, dass du dabei sein konntest!“

Die weiß gekleidete Frau ist gerade dabei, das Zimmer zu verlassen, sie dreht sich um. „Das war eine Ausnahme! Normalerweise lassen wir keine Medizinstudenten bei der Geburt dabei sein. Ordnung muss sein in der besten Wiener Klinik.“ Mit gerunzelter Stirn unter dem weißen Häubchen verlässt sie den Raum. „Du wirst sehen, in einem Jahr bin ich Arzt. Dann wird alles anders.“ Vater streichelt meinen winzigen Kopf. „Aus dir wird auch einmal etwas Besonderes! Vielleicht ein Missionar, der den Glauben auf die andere Seite der Erde bringt, Raphael sollst du heißen, mein Sohn!“

Meine Eltern sehen mich an und gemeinsam sprechen sie ein Dankgebet. Dann schläft Mutter ein, Vater steht leise auf, geht hinaus, schaut noch mal zurück auf mich, und behutsam drückt er die Türe zu.

Vor der Klinik fährt ein offener Jeep mit vier fremden Soldaten vorbei, jeder von ihnen in der Uniform eines anderen Landes. Vater winkt den Soldaten zu und sagt leise: „Meine Söhne wachsen in einem freien Land auf, in Frieden.“

Die Soldaten winken zurück, alle vier.

Vater macht sich auf den Heimweg, hat ein gutes Stück zu gehen quer durch Wien, beschwingt schreitet er durch die Straßen, überall rot-weiß-rote Fahnen, da und dort ein Baum in Blüten, Zeitungsverkäufer rufen: „Sonderausgabe! Alles über den Staatsvertrag. Österreich ist frei!“

Es zieht mich weiter. Ich sehe die Stadt von oben, sehe Lücken in den Häuserreihen, Sprünge in den Wänden, notdürftig geflickt, an vielen Häusern wird gebaut, meist mit bloßen Händen zugepackt.

Wie im Zeitraffer laufen Menschen hin und her, Männer in grauen Jacken oder schäbigen Mänteln, Frauen in farblosen Kleidern, fast alle zu Fuß unterwegs. Tagelang sehe ich auf das Kommen und Gehen, unterbrochen von Nächten ohne Beleuchtung, da ist die Stadt ausgestorben.

In der Morgendämmerung erkenne ich ein sechsstökkiges Haus, direkt unter dem Dach zwei Doppel-Fenster geöffnet, gelblich-weiße Vorhänge senken sich in das Halbdunkel eines kahlen Raums.

Meine Eltern recken sich schläfrig in einem Doppelbett aus schwarzem Holz, Mutter hat ihre brünetten Haare hochgesteckt, ihr schmales Gesicht hebt sich kaum von der milchigen Farbe der Bettwäsche ab.

„Ein kräftiger Bursche, unser Raphael“, sagt Vater und dreht sich hin zu Mutter, „ein paar Tage alt und ein Organ wie ein Großer!“

Ich schreie. Mein ganzer Körper krümmt sich, mit Armen und Beinen kämpfe ich gegen die Leere, alles in mir ist feurig wund, niemand kommt mir zu Hilfe, ich schreie, schreie aus Leibeskräften, bis ich erschöpft in den Schlaf sinke.

„Ja, der kann schreien“, sagt Mutter. „Bald wird er sich an den Rhythmus gewöhnen. Am Tag klappt’s ja auch schon ganz gut, dass er vier Stunden durchhält. Die Nacht ist halt noch ein bissl lang für ihn.“

„Ja, Elsa, du hast Recht.“

„Unser Erstgeborener ist auch erst ein Jahr alt und schon so brav, schau, wie ruhig er schläft.“

Mutter deutet auf zwei kleine Gitterbetten an der gegenüberliegenden Wand, die weiße Farbe der Holzstäbe ist an vielen Stellen abgeblättert. Im Gitterbett neben mir streckt mein Bruder die Hand aus, ein kleines Seufzen, für eine Weile ist alles still.

Vater streicht sich die schwarzen Haare aus der hohen Stirn, leise fragt er:

„Wie spät ist es?“

„Halb sechs. Bald ist Zeit, den Kleinen zu stillen. Wann gehst du heut auf die Uni?“

„Erst gegen Mittag.“

„Kannst du denn daheim lernen, wenn unsere zwei Buben abwechselnd schreien? Es wär' so wichtig, dass du bald fertig wirst mit dem Studium!“

„Mach dir nicht so viele Sorgen, wir schaffen das schon. Der Herrgott hat uns zwei Söhne geschenkt, er wird bei uns sein. Bald wird alles leichter für uns.“

„Ich bin glücklich mit dir, Hannes!“

Meine Eltern schmiegen sich aneinander. Ein paar Meter von ihnen liege ich allein, unendlich weit entfernt von allen lebendigen Wesen.

Die Betten rücken auf die Seite, getäfelte Tür-Flügel öffnen sich lautlos, geben den Blick frei auf einen zweiten Raum, gleich groß wie das Schlafzimmer. In der hinteren Hälfte des Raumes umringen zwei abgenützte Lehnsessel und eine Auszieh-Bank einen Tisch, vorne, unter dem linken Fenster ein Schreibtisch voll Bücher und Hefte. Vor dem zweiten Fenster zeigt eine Kiste aus rohen Brettern ein paar Bauklötze. Langsam nehmen zwei Kleinkinder Gestalt an, mein Bruder Matthäus und ich sitzen in der Ecke des Zimmers.

Eilig kommt Mutter herein, wirft uns einen Blick zu, verteilt Gläser und Teller auf dem Tisch, läuft wieder hinaus. Ich krabble zum Tisch, am Tischbein schaffe ich es, mich hochzuziehen, da oben ist dieses glitzernde Ding, das Mutter gerade hingestellt hat. Wackelig stehe ich auf den kleinen Beinen, ziehe das Ding zu mir her. „Nein!“ sagt Mutter hinter mir und schlägt mir auf die Finger.

Ich weine, verstehe nicht, rutsche zurück auf den Boden, eine Zeit lang starr, ohne Bewegung.

Nochmals krabble ich los, mein Blick fällt auf Vaters Schreibtisch. Glucksend schiebe ich mich dorthin, stemme mich nach oben, ganz vorne liegt es, was mein Vater immer in die Hand nimmt. Ich strecke die Hand aus.

„Nein!“ Ich schreie auf, brülle. Mutter zieht mich weg, schlägt mir noch zweimal auf den Po. „Nein, nein! Die Füllfeder gehört Vati, die braucht er zum Lernen!“

Weinend strecke ich Mutter mein Gesicht entgegen, brabble ihr etwas zu.

„Ja, Bussi, Bussi“, sagt Mutter seufzend, „aber du musst brav sein. Dort drüben sind deine Spielsachen.“ Dort drüben sitzt Matthäus am Boden, einen Holzbaustein in jeder Hand, dahinter das hohe Fenster. „Nein, nein!“, sagt mein Bruder, als würde er Mutter Recht geben.

Der Blick aus dem Fenster zieht mich über die Dächer der Stadt, die Häuser kreisen um meinen Kopf und verblassen.

„Das alles ist Jahrzehnte her, es könnten ebenso gut tausend Jahre sein, und noch immer wirkt es wie eine Last“, sage ich vor mich hin.

„Das Gewicht der ersten Jahre ist zäh“, wiederholt das Echo aus dem Nichts.

Ein zorniger Schrei durchbrach die Leere: „Sie sind ihm direkt drauf gefahren!“ War das die Stimme meines Sohnes?

„Er ist plötzlich vor mir gelegen, wie hätt ich da bremsen können!“ Eine fremde Stimme, verzweifelt. „Die Rettung, so schnell es geht!“

„In zwei Minuten bin ich beim Gasthof, ich lasse den Notarzt rufen!“ Die Stimme entfernte sich rasch. Jemand machte sich an meinem Kopf zu schaffen.

Ich falle, falle und schwebe. In der Weite des Universums kommt ein Licht auf mich zu.

Das Licht brennt im Wohnzimmer des sechsstöckigen Hauses, eine Stehlampe wirft ihren matten Schein auf das grün-weiße Muster der Ausziehbank. Mein Bruder hält sich an der Bank fest, seine Augen Hilfe suchend auf Mutter gerichtet. Ich spiele am Boden mit einem rotgelben Holzlastwagen.

„Noch einmal von vorne, Matthäus, mein Großer!“, sagt Mutter zu meinem Bruder, eindringlich betont sie jedes der Worte: „Jesu Kindlein – komm zu mir, – mach ein frommes Kind – aus mir. Mein Herz – ist klein – darf niemand hinein – als du, mein liebes Jesulein.“

„Esuginlein gommumia“, sage ich zum Lastwagen und wiederhole das Sprüchlein bis zum lieben 'esulan.

„Raphael, mein Herzibinki! Du kannst das schon? Du hast dir das schneller gemerkt als dein großer Bruder!" „Darf ich jetzt spielen gehen?“ Matthäus schielt auf mein Spielzeugauto.

„Einmal noch, alle drei miteinander!“ Gemeinsam wiederholen wir das Sprüchlein vom „Esulan“, und ich schaue das Eselein, das vorne auf meinem Bilderbuch aufgemalt ist.

Es kommt Besuch, Hubert und Michael, Mutters Brüder, einer von den beiden mit seiner Verlobten. Mutter hat einen Gugelhupf gebacken. „Hannes kommt später“, sagt sie und hebt den Kopf ein wenig, „seit er die Anstellung als Arzt hat, ist er fast nur mehr im Spital."

„Jaja“, meint Hubert, „er macht eben alles hundertfünfzig-prozentig. Er wird es noch weit bringen! Wenn man bedenkt, dass er als Bauernsohn in das zerbombte Wien kam, ohne einen Groschen Geld!"

Mutter lächelt und verteilt den Kuchen auf die Teller, aus der Spielecke sehen wir zu, ich und mein Bruder. Da ruft mich Mutter, ich soll kommen, das Gedicht aufsagen, das sie mit meinem Bruder gelernt hat. Schnell richtet sie mir die Haare, zupft meinen Pullover zurecht und ich plappere das Sprüchlein herunter, ohne zu wissen, was ich da sage. Alle lachen.

„Erstaunlich, in diesem Alter!“

„Sensationell! Er ist eben der Sohn einer Lehrerin.“

Mutter strahlt und ich bekomme ein Stück Kuchen.

„… mein liebes Jesulein“, sagt Matthäus in der Spielecke. Mutter ruft ihn zur Jause, doch er wird nicht mehr gefragt, was er denn gelernt hat.

Ein stechender Schmerz unterbricht Mutters Freundlichkeit.

„Geschlagen und dressiert“, rufe ich, „kann man sich mit den Schlägen der Mutter versöhnen?“

„All das“, klingt es irgendwo, „hat dich zu dem gemacht, der du bist.“

„Das meiste davon hatte ich vergessen, es ist mir fremd, als hätte es nichts mit mir zu tun.“

„Das Vergessene und das Erinnerte, die beiden gehören zusammen.“ Die Worte treten hervor und formen Vaters Schreibtisch.

„Gott hat dir Talente gegeben“, fährt Vater mich an, „aber du lässt sie verkommen! Du bist begabt, du könntest so gut lernen, doch jetzt, wo es darauf ankommt, bist du ständig am Versagen. Was wird aus dir werden?“

Ich ziehe den Kopf ein, will am Klavier vorspielen, doch Vater sagt, ich solle üben, wenn ich allein sei, das Geklimpere vertrage er nicht.

Heftige Stöße drückten auf meine Brust. Aus der Ferne hörte ich meinen Sohn Hermann rufen:

„Hey, Dad, kannst du mich hören? Schau mich an!“ Seine Stimme war zittrig.

Ich bemühte mich, die Augen zu öffnen, sah ihn vor mir knien, sah ihn als jungen Mann mit kantigem Gesicht, mit dunklen Haaren, dunklen Augen. So ähnlich hatte ich ausgesehen, so hatte mein Bruder ausgesehen, so hatte Vater ausgesehen.

„Dad, du schaffst das, halte durch, die Rettung ist gleich da!“ Er hielt mich, drückte etwas auf meinen Kopf, unter mir der Schnee, roter Schnee.

Ich tauche ein in das Blut, rote Kreise umspülen mich, fragen nach meinem Leben.

Da treibt es mich weiter, weit, weit zurück in der Zeit, bis in ein winziges Dorf.

Vater

Schnee lastet auf den Schindeldächern der vier Bauernhöfe, die sich vor dem Gebirge ducken, mit Mauern aus rohen Steinen und Holz. Einer der vier liegt nahe am Hang, im Inneren des Hofes dampft der Misthaufen. Der Berg aus Kuhfladen wächst, als die junge Bäuerin den Stall ausmistet, Schaufel für Schaufel den Dung hinausträgt, keuchend nach oben wirft. Schweiß tropft auf ihren löchrigen, mehrfach geflickten Rock, aufgenähte Stoffreste fügen zusammen, was haltlos auseinanderfallen möchte. Ein schwarzes Kopftuch hilft, den Knoten geflochtener Haare hinter dem Kopf zu halten. Die Frau ist jung, fast noch ein Mädchen, ihr Gesicht hart und verschlossen.

Sie hat die Kühe gemolken, Schweine und Hühner gefüttert, die beiden Pferde getränkt, und nun, da sie mit dem Ausmisten fertig ist, geht sie in die Stube, wo die Altbauern schon sitzen. Eine einsame Kerze flackert auf dem groben Tisch aus Kirschholz, es ist Zeit für die Suppe, wortlos setzt sich die Jungbäuerin dazu. Sie soll den Hof erben von den Alten, die kinderlos geblieben sind. Die Alten, das sind ihre Tante und deren Mann. Vor sieben Jahren hat sie den Bauernhof der Eltern verlassen müssen, da hat diese schlimme Zeit begonnen. Sie hat schon daheim fest mit anpacken müssen bei der Feldarbeit, Gras mähen, Getreide und Kartoffeln einbringen, melken und ausmisten. Doch gemeinsam mit ihren sieben Geschwistern war das etwas anderes, oft fröhlich und leicht. Sie hat Rotz und Wasser geheult, als sie weg musste von daheim, zum Hof der Tante. Sie war vierzehn, damals hat der Weltkrieg begonnen, seither schuftet sie jeden Tag von vier Uhr früh bis zum Schlafengehen. Nur am Sonntagvormittag ruht die Arbeit für den Kirchgang.

Das Tischgebet übertönt das Summen der Fliegen, drei Löffel tauchen ein in die Schüssel. Beim Essen wird nicht geredet, und die junge Frau vermeidet es, den Altbauern, ihren Onkel, anzusehen. Unter der Schürze ballt sie die Faust, wenn sie ihm gegenübersitzt, er ist ein böser, böser Mensch, und sie will nicht daran denken, was er mit ihr gemacht hat, damals, als sie mit ihm allein gewesen ist, weil die Tante geholt worden ist, dem kranken Steinberger zu helfen.

Die Tante legt den Löffel weg: „Es wird Zeit, dass du heirat'st, Rosi! Der Bub vom Nachbarn, der Jakob, der würd' dich nehmen, wir haben das schon aus’gredt.“

Rosi tut, als wäre sie überrascht. „Na, wennst' meinst, Tante!“

„Ist besser, du heiratest schnell“, murmelt der Altbauer, „wer weiß was für Zeiten noch kommen, jetzt nach dem Weltkrieg, wo Österreich zerfallen ist und kein Kaiser mehr da ist.“

Rosi lächelt, als sie vom Tisch aufsteht um das Kochgeschirr zum Brunnen hinauszutragen, doch sie achtet darauf, dass der Alte ihr Gesicht nicht sehen kann, gerade wenn sie fröhlich ist, will sie nichts mit ihm zu tun haben.

Draußen in der Welt beginnt das Jahr 1922. Frühling und Herbst bringen die schwerste Arbeit, da packt der Jungbauer schon mit an auf Rosis Feldern, ein glühend heißer Sommer zieht durch das Land, einige der Ältesten im Dorf sterben, nur ungern unterbrechen die Bauern ihre Arbeit für ein Begräbnis.

Nebel hängt in den kahlen Bäumen rund um den Hof. Unruhig werfen die Kühe den Kopf hin und her, als der Bauer den Stall betritt.

Täglich wird sie um dieselbe Zeit gemolken, heute ist es später geworden. Der junge Mann streicht sich den Schnauzbart, stellt einen verdreckten Schemel vor die erste der fünf Kühe, den Bleicheimer darunter, setzt sich und beginnt zu melken. Die Kuh schlägt mit dem Schwanz und muht, als wollte sie protestieren. „Ja“, sagt der Bauer zu ihr, „ich weiß, Melken ist Frauenarbeit, aber mei' Rosi liegt in den Wehen.“

Der Mann hat den Stall ausgemistet und die Milch in die Küche getragen, Rosi steht am Herd. In der Stube schreit das Neugeborene. „Ein Bub ist’s“, sagt die Hebamme zum Bauern.

„Is‘ recht“, antwortet dieser, nimmt das Kind hoch, hinter dem Schnurrbart lächelt er: „Morgen wirst 'tauft, dann weißt, wie du heißt.“

„Jakob, die Ferkel warten“, ruft Rosi, „mach weiter mit deiner Arbeit.“ Rasch legt der Mann das Kind hin und läuft in den Stall.

Vom Hof kann man bis zur Kirche sehen, doch mit dem Baby brauchen sie fast zwei Stunden bis nach Schwendendorf. Rosi geht langsamer als sonst, Jakob trägt seinen Sohn auf dem Arm, einen Tag alt, eingehüllt in dicke Tücher.

„Wird bald Schnee geben“, sagt Jakob, als sie losstapfen, um hinunter zum Bach, durch den Wald, und dann hinauf zur Kirche zu gelangen.

Der Pfarrer und der Taufpate warten schon, ein Ministrant mit fleckigem Gesicht steht hinter ihnen, jeder Schritt hallt in der kleinen Kirche. Der Taufbrunnen steht seitlich vom Altar, dahinter ein dunkles Gemälde, Gott Vater blickt aus dem Himmel direkt auf den Taufbrunnen.

„Gelobt sei Jesus Christus! Der Herr hat uns die Taufe geschenkt, um aus Heidenkindern Christen zu machen und sie vor dem Feuer der Hölle zu bewahren. Ihr, die ihr junge Eltern seid, leitet das Kind auf dem rechten Weg weiter, führt es nicht in Versuchung! Die Brust der Mutter ist ein Werk des Teufels, das Stillen der Kinder weckt schon deren Begierde. Widersteht den Trieben des Fleisches! Widersagt ihr dem Teufel?“

„Wir widersagen!“

„Und allen seinen Verführungskünsten?“

„Wir widersagen.“

„Ich taufe dich auf den Heiligen Johannes, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“  Als die jungen Eltern vor die Kirche treten, schreit der kleine Christ nicht anders, als er vor der Taufe geschrien hat. Wortlos geben sie dem Ministranten ein paar Eier und ein Stück Speck für den Pfarrer. Mit einem halblauten „Vergelt’s Gott“ läuf dieser in die Sakristei. Das Paar macht sich auf den Heimweg, der kleine Hannes schläft ein, als sein Vater ihn aus dem Dorf trägt.

„Hast g’hört, was der Pfarrer g’sagt hat übers Stillen?“

„Natürlich hab ich’s g’hört, was fragst denn da. Hol mir die zwei Schülerdirndl vom Nachbarn. Ich mach das schon.“

Daheim setzt sich Rosi ins hintere Eck der kleinen Küche, ihre Brust schmerzt, der kleine Hannes schreit. Jakob zieht das Sonntagsgewand aus, die löchrige Arbeitshose an, schlüpft in die Holzpantoffel und geht in die Scheune. Rosi drückt an ihrer Brust herum, lässt ihre Milch in die Schüssel tropfen.

Die Nachbarmädchen kommen, Rosi hat die Schüssel halb voll.

„Da habt’s einen Löffel, gebt’s dem Buben die Milch. Dann nehmt’s den Leiterwagen und fahrt’s mit ihm vor der Haustür hin und her, bis er schläft. Da ist ein Polster, und mit der Deck'n da deckt’s ihn zu.“

Rosi geht hinaus in den Stall. Kurz darauf hört sie die Holzräder des Leiterwagens knirschen, die Mädchen wissen, dass sie tun müssen, wie es ihnen befohlen ist. Hannes schläft nicht gleich ein, er strampelt, die Decke rutscht auf die Seite, da schlägt ihn das größere der beiden Mädchen.

„Dummer Bub!“, ruft sie und bindet die Decke an den Sprossen des Leiterwagens fest.

Am Abend kommt Rosis Tante, die seit dem Tod ihres Mannes im hinteren Teil des Hofes wohnt, in die Stube. Sie nimmt den kleinen Hannes in die Arme, trägt ihn herum, und im Rhythmus ihrer schwerfälligen Schritte singt sie: „Bist mei Herzkratzerl, bist mei lieber Bua, du sollst fein schlafen, kumm, i' deck di' zua.“

Rosi sitzt in der Küche und bereitet das Futter für die Schweine, dumpf scheppert der Blechkübel, als sie die Kartoffel hineinwirft.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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