Das Superweib - Hera Lind - E-Book
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Hera Lind

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Beschreibung

»Wir haben soeben Ihre Scheidung eingeleitet! War das nicht in Ihrem Sinne?« - Ich brauchte ungefähr elf Sekunden. »Doch«, sagte ich dann. »Jetzt, wo Sie mich drauf bringen ...«Franziska hat die Nase voll: Während ihr kreativer Gatte in der Karibik TV-Serien dreht, sitzt sie mit ihren kleinen Söhnen zu Hause herum. Doch dann schreibt sie sich den Ehefrust von der Seele - und landet damit unter dem Autorenpseudonym Franka Zis einen Bestseller! Auf einmal kann sich Franziska alles leisten, was sie sich wünscht: ein schönes Haus ... und eine noch schönere Scheidung. Außerdem treten ein paar ausgesprochen interessante Männer in ihr Leben. Dummerweise kommt aber auch einer zurück - ihr Ex-und-hopp-Gatte nämlich. Und der ist wild entschlossen, den Roman einer gewissen Franka Zis zu verfilmen ...Charmant, frech und voller Esprit: Der Bestseller von Hera Lind!

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Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hera Lind

Das Superweib

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

»Wir haben soeben Ihre Scheidung eingeleitet! War das nicht in Ihrem Sinne?« - Ich brauchte ungefähr elf Sekunden. »Doch«, sagte ich dann. »Jetzt, wo Sie mich drauf bringen ...«

Franziska hat die Nase voll: Während ihr kreativer Gatte in der Karibik TV-Serien dreht, sitzt sie mit ihren kleinen Söhnen zu Hause herum. Doch dann schreibt sie sich den Ehefrust von der Seele - und landet damit unter dem Autorenpseudonym Franka Zis einen Bestseller! Auf einmal kann sich Franziska alles leisten, was sie sich wünscht: ein schönes Haus ... und eine noch schönere Scheidung. Außerdem treten ein paar ausgesprochen interessante Männer in ihr Leben. Dummerweise kommt aber auch einer zurück - ihr Ex-und-hopp-Gatte nämlich. Und der ist wild entschlossen, den Roman einer gewissen Franka Zis zu verfilmen ...

Charmant, frech und voller Esprit: Der Bestseller von Hera Lind!

Inhaltsübersicht

Widmung

Hauptteil

Für Gitte. Nie war sie so wertvoll wie heute.

Für Berta, die beste Schwiegermutter von allen.

Für Frau Kolb, eine Nachbarin, um die ich mich selbst beneide.

Nebenan wickelte man eine Dauerwelle. Sorgenvoll schaute ich in den kristallenen Spiegel. Komisch.

Immer wenn ich auf einem Frisörstuhl Platz genommen hatte, fand ich plötzlich, dass ich noch nie so prima Haare gehabt hatte wie gerade jetzt. Bangevoll blickte ich auf den weichgespülten Coiffeur, der sich gerade mit kaum zu unterbietender Emotionslosigkeit dem Haupthaar einer älteren Dame widmete.

Salon Lauro am Stadtwald. Ein chromblitzender Edelschuppen, fürwahr. Das war eben etwas anderes als das zweifelhafte Etablissement mit dem vielversprechenden Namen »Anita Stümper«, das in unserer bisherigen Wohngegend für sieben Mark fünfzig zum Waschen und Schneiden geladen hatte und in dessen milchigem Schaufenster seit dreißig Jahren dasselbe vergilbte Werbefoto prangte. Wie war ich hier bloß reingeraten? Es war alles so schnell gegangen!

Ich griff nach einem Blättchen, das man mir, mein geistiges Niveau nur knapp verkennend, vor die Nase gelegt hatte. Mit halbherzigem Interesse nahm ich zur Kenntnis, dass Lady Di, diese charmante, aber – im Vertrauen und exklusiv nur im »Rosa Blatt« in aller Deutlichkeit formuliert – ess- und erbrechfreudige Prinzessin (oben), eigentlich im Herzen furchtbar einsam sei, da der verschlossene Prinzgemahl (hier mit Pferd, links) sie seit dreizehn Jahren mit einem polospielenden Mannweib (kleines Bild unten, leider unscharf) betrüge. Queenmother (Titelbild) hülle sich nur in königliches Schweigen.

Die Dame nebenan hüllte sich nicht in königliches Schweigen. Sie schien vor gesundem Mitteilungsdrang schier zu platzen. »Mein Mann ging eines Tages nach Amerika und kam nie wieder«, sagte sie fröhlich in die vornehme Stille des Saales hinein. Keiner reagierte. Weder der desinteressiert blickende Maestro zu ihren Häupten noch der Azubi, der gelangweilt die verschiedenfarbigen Röllchen darreichte.

Ich äugte über den Rand meines Käseblättchens. Was diese Dame zu berichten hatte, erschien mir wesentlich interessanter als die schlüpfrigen Tratschereien aus dem »Rosa Blatt«.

»Stellen Sie sich das vor«, sagte die Dame. »Der Krieg war gerade aus, und ich stand mit dem Jungen ganz allein auf der Straße! «

Schweinerei, dachte ich. Typisch Mann. Haut einfach ab und lässt seine Frau mit einem unmündigen Kleinkind in den Trümmern zurück.

Genau wie bei mir. Nur dass ich zwei Kleinkinder hatte. Und dass kein Krieg war, natürlich. Von daher hatte ich es bestimmt leichter. Ich war keine Trümmerfrau. Jedenfalls keine richtige.

Ich legte das »Rosa Blatt« zur Seite und griff zu dem wesentlich anspruchsvolleren Journal »Wir Frauen«.

Hier wimmelte es von fröhlichen Maiden, die in unterschiedlichen Verkleidungen an irgendwelchen Hauswänden lehnten und dem Betrachter ein frivoles Lächeln schenkten, wahrscheinlich deshalb, weil sie eine Strumpfhose aus Lurex anhatten oder, was die geneigte Leserin zwar nicht riechen, aber doch ahnen konnte, soeben das verführerische Parfum »Narziss und Goldmund« aus dem Hause Lagerlöff aufgetragen hatten.

Ich fühlte mich ungemein bereichert.

Unter dem Titel »Beschwingt« eilte die gleiche Dame, die auf der Vorseite noch im schwarzen BH Rosen gezüchtet hatte, nun in einem viel zu großen Herrenanzug und mit breitkrempigem Hut zum Holzhacken, wobei sie eine alte Wolldecke lose über die Schultern geworfen hatte, gefolgt von zwei mageren irischen Settern, die dem Fotografen lustlos vor der Linse rumtrotteten. Sie, die Maid, war aber rasend guter Stimmung, nannte sie doch anscheinend weder zwei eigenwillige Kleinkinder noch einen durch ewige Abwesenheit glänzenden Gatten ihr Eigen. Ich betrachtete sie neidvoll. Ihre Haare quollen großlockig und ungeheuer volumenreich unter dem Hut hervor, woraus ich schloss, dass sie nicht nur täglich, sondern wahrscheinlich stündlich einen solchen Edelschuppen wie diesen hier aufsuchte. Ich wünschte mir auf der Stelle, der lasche Lauro würde es schaffen, mir den gleichen coolen Swing auf den Kopf zu zaubern.

Wo ich doch heute zum ersten Mal im Leben einen Immobilienmakler aufsuchen wollte. Einen richtigen erwachsenen Mann, der mir einen Stuhl anbieten und mich mit »gnädige Frau« anreden würde! Das war schon ein guter Grund, vorher zwei Stunden bei einem Edelfrisör rumzuhocken!

»Mein Mann hat sich nie mehr gemeldet, nie mehr«, rief die Dame von nebenan entrüstet aus. »Er hätte wenigstens mal schreiben können!«

Da ihr wieder niemand antwortete, fühlte ich mich bemüßigt zu sagen: »Ja aber wirklich!«

Die Dame nahm mich erfreut zur Kenntnis. Ihr Spiegelbild lächelte mein Spiegelbild gewinnend an. Sie mochte so um die Siebzig sein.

»Ich glaube, dass er damals in den Staaten eine Freundin hatte«, sagte sie vertrauensvoll zu mir. »Aber das hätte er mir doch sagen können!«

»Mein Mann sagt mir immer, wenn er eine Freundin hat«, entfuhr es mir.

»Sehen Sie«, antwortete meine Nachbarin. »Das gehört sich auch so. Da kann man sich als Frau doch wenigstens drauf einrichten!« Sie lächelte mich aufmunternd an. »Was macht Ihr Mann denn so?«

»Filmregisseur«, sagte ich.

»Ooh! Wie interessant!«, rief die Dame begeistert aus. »Habe ich schon mal von ihm gehört?«

»Hotel Karibik«, sagte ich. »Und Schiffsarzt Dr. Frank Martin.«

»Das ist von Ihrem Mann?«, rief sie verzückt. Der Coiffeur musste mit dem Wickeldrehen innehalten, weil sie vor Begeisterung den Kopf gedreht hatte.

»Ja«, sagte ich bescheiden errötend. Es ist doch immer wieder ein wunderbares Gefühl, stolz im Schatten des Gatten zu stehen.

»Ich habe sämtliche Folgen gesehen!«, rief sie erfreut. »Wissen Sie, ich hab ja Zeit. Mein Enno wohnt zwar noch bei mir, aber er ist doch die meiste Zeit in seiner Kanzlei.«

»Da sind Sie aus dem Gröbsten raus«, sagte ich neidisch.

Die Dame lachte. »Na aber was denken Sie! Mein Enno ist fünfundvierzig!«

Lauro war nun mit dem Wickeln fertig und stülpte meiner netten Gesprächspartnerin eine Haube auf. Ich nickte freundlich rüber und vertiefte mich wieder in mein Journal.

Gewinnend fröhlich übersprang ein Mannequin einen kniehohen Lattenzaun, wobei ihr die Seidenbluse mit Schlüpp und der schlauchartige Minirock nicht weiter störend vorkamen. Im Hintergrund beglotzten einige Schafe verständnislos ihr Tun.

Ich überblätterte hastig einen Schwangerschaftsteststreifen zum Rausreißen, der durch verblüffende Einfachheit brillierte. Entweder ja (X) oder nein (–). Wenn das nicht die minderbemitteltste Teststreifenbenutzerin kapierte!

Unter dem Motto »Ganz schön wild« war eine zähnefletschende, offensichtlich nicht schwangere Dame zu sehen, die sich mit einem falschen Leopardenmantel und einem winzigen roten Lackhandtäschchen gegen den strömenden Regen schützte, wobei sie sich über die widrigen Winde, die ihre Beine völlig freiwehten, schier kaputtlachte. Auf der nächsten Seite wanderte sie dann aber trockenen Fußes durch eine klippenreiche Landschaft, begleitet von einem müde blickenden Ackergaul, den sie am Halfter hinter sich her zerrte.

Für diese Unternehmung hatte sie sich wesentlich zweckmäßiger gekleidet: ein paar Lumpenreste, die ihr beim Gehen allmählich von den nackten Schultern rutschten. Wenn ich so in diesem Coiffeurstudio erschienen wäre, hätte man mich augenblicklich diskret verhaftet. Aber ich war ja kein Starmannequin. Ich war nur die gestresste Hausfrau Franziska Herr-Großkötter, die heute einen Maklertermin hatte.

Endlich näherte sich Lauro meiner asozialen Wenigkeit. Mit leicht angewidertem Gesicht wog er meine klammsträhnigen Haare in den Fingern und teilte mir diskret mit, dass sie aber reichlich angegriffen seien und dringend einer Intensivkur zur Rettung der Haarstruktur bedürften.

»Mein Enno ist Scheidungsanwalt!«, schrie die Frau von nebenan unter ihrer Haube. »Der beste Scheidungsanwalt der Stadt!«

»Wie interessant!«, brüllte ich zurück und schrie dann Lauro an, dass er, wenn er es denn unbedingt für nötig halte, das teure Zeug ruhig auf meinem Haar verteilen solle.

Lauro entfernte sich, um eine übel riechende Flüssigkeit in einer braunen Plastikflasche zu holen.

»Mein Enno ist bekannt für seine friedlichen Scheidungen! Neunhundert friedliche Scheidungen hat der schon fertiggebracht! Können Sie sich das vorstellen?!«, rief die Dame stolz. »Wahnsinn!«, brüllte ich anerkennend. »Wie macht er das bloß!«

»Das liegt in seinem Naturell! Er hasst Streit! Er ist ein ganz friedlicher, lieber Junge!«

Das musste ja ein ganz entzückendes Kerlchen sein. Die Schilderungen seiner Mutter nahmen mich ungeheuer für ihn ein. Ich stellte mir ein schmächtiges bartloses Männlein vor, das mit einem Matrosenanzug angetan hinter seinem viel zu großen Schreibtisch saß und mit heller Stimme »Seid nett zueinander« zu seinen Klienten sagte.

Lauro begann mir lustlos die Kopfhaut zu kneten. »Das ist mit Kamille und Lindenblütenextrakt«, teilte er mir begeisterungslos mit. »Haben Sie Ihr Haar selbst gefärbt?«

»Nein«, sagte ich matt. »Es ist einfach so geworden, im Laufe der Jahre, meine ich.«

Doch Lauro wollte mir nicht glauben. »Daran ist doch rummanipuliert worden«, mäkelte er säuerlich.

Ich fand die Haarfarbe eigentlich ganz O.K. Sie war nach einmaligem Gebrauch von sanft und natürlich aufhellendem Festiger prima gelb geworden. Salon Anita Stümper eben.

»Ich könnte Ihnen Strähnchen machen«, sagte Lauro schließlich gönnerhaft.

»Mein Enno ist der Geheimtipp aller Scheidungskandidaten!«, mischte sich die Dame von nebenan lautstark ein. »Sogar die Verliererpartei empfiehlt ihn weiter an Freunde!«

Das fand ich ungeheuer kulant.

Scheidung light! Das lag jetzt voll im Trend!

Lauro stülpte mir lieblos eine Plastikplane über den Kopf und begann mit einer Häkelnadel vereinzelte Haarsträhnen hindurchzuzerren. Ich verzog schmerzlich das Gesicht.

»Jaja, wer schön sein will, muss leiden!«, rief die Dame von nebenan fröhlich. »Das war schon zu meiner Zeit so! Wir, nach dem Krieg, wir haben uns Striche auf die Beine gemalt, damit es aussah wie Seidenstrümpfe! Ach, das war eine schöne Zeit, trotz allem!«

Sie wurde mir immer sympathischer. So ein Ausbund an Wärme, Lebensfreude und Mitteilungsdrang! Klar, dass ihr Junge selbst nicht verheiratet war, sondern lieber noch in seinem Kinderzimmer schlief! Bei dieser Mutter wäre ich auch gern untergekrochen. Sie konnte bestimmt wunderbare Bratkartoffeln machen und schwere, kalorienreiche Käsetorten backen. Eine Fähigkeit, die mir leider so völlig abging. Wie so vieles andere, was im hausfraulichen Bereich angesiedelt ist. Leider. Wir lächelten uns in inniger Verbundenheit an, die Anwaltsmutter unter der Haube und die unfreiwillige Hausfrau unter der Plastikplane.

»Haben Sie auch Kinder?«

»Ja, zwei kleine Jungs, die sind vier und zwei.«

»Was für ein wunderbares Alter! Da sind sie noch so richtig zum Knuddeln!«

Lauro verdrehte genervt die Augen.

»Und wo sind die jetzt? Bei der Oma?«

Weit gefehlt! Bei uns gab es keine Oma.

»Nein. Der Große ist im Kindergarten, und der Kleine ist bei einer Nachbarin. Ich habe heute einen Maklertermin!«, schrie ich.

»Bitte?«

»Makler!! Ich soll ein Haus kaufen!!«

»Das ist aber eine schöne Aufgabe!«

»Es geht!! Ich habe nur noch zehn Tage Zeit dazu! Ich muss noch in diesem Jahr das Haus kaufen! Verstehen Sie! Wegen der Steuer!!«

»Teuer? Ja, die Häuser in dieser Gegend sind teuer! Wem sagen Sie das!«

»STEUER!! FINANZAMT! SCHWARZGELD UNTERBRINGEN!!«

Ein paar andere Kunden reckten neugierig die Hälse. Lauro rupfte emotionslos an mir herum.

»Ach, STEUER! Davon versteht mein Enno was! Alles, was mit Steuervorteilen und Finanzen zu tun hat, ist sein Steckenpferd! Und Immobilien sind auch sein Hobby! Ein ganz praktisch veranlagter Junge ist das! Wissen Sie was? Ich ruf ihn an! Der hat bestimmt ein bisschen Zeit für Sie!«

Sie krabbelte unter ihrer Haube hervor und drehte suchend den Kopf. »Lauro! Bringen Sie mir bitte mal das Telefon!«

 

Meine Strähnchen waren echt schick geworden. Angetan mit einem figurfreundlichen, Bein zeigenden und die Taille umspielenden Kostüm aus dem Secondhandshop »Liebe auf den zweiten Blick« saß ich mit übereinandergeschlagenen Beinen in des erfolgreichen Anwalts Wartezimmer. Ohne Zweifel hätte ich nun selbst in die vertraute Modelektüre gepasst, vielleicht unter die Rubrik »Vorher – Nachher«.

Frau Herr-Großkötter aus Köln (34), Hausfrau und Mutter von zwei reizenden Söhnen (umständehalber leider nicht im Bild), hat sich vor ihrem Anwaltsbesuch von unserem Starcoiffeur Lauro unverbindlich beraten lassen. Er riet ihr, die unvorteilhafte gelbe Pippi-Langstrumpf-Frisur gegen freundlich auflockernde Goldsträhnchen aus dem Hause Polygram einzutauschen. Er schminkte sie mit Produkten des Hauses »Margaret Astloch« und rupfte ihr die Augenbrauen mit einer Wimpernzange aus rostfreiem Solinger Edelstahl. Sie trägt ein Kostüm aus der Winterkollektion des Modedesigners »Hotte Gern«.

Zu gern hätte ich erfahren, wie Rosie Porzellan das schafft, immer so schick zu sein und so goldig bayrisch dazu.

Wie ich soeben in »Wir Frauen« gelesen hatte, gelang es ihr sogar immer wieder, ihre drei Kinder in entzückende Samtkrägelchen zu zwängen, bevor sie mit ihnen an der Hecke im Garten frühstückte. Ohne dass diese ihre Mutter hauten und ihr reizendes Dirndlkleid mit Nutella oder Rotz beschmierten!

Die Lesemagazine auf dem chromblinkenden Beistelltisch dieser sagenumwobenen Anwaltskanzlei in Kölns feinstem Stadtviertel trugen alle so desillusionierende Titel wie »Mein Capital«, »Mein gutes Recht«, »Meine Immobilie und ich«, »Meine Schwiegermutter ist ein Telecom« oder so ähnlich.

Es waren nicht so viele hübsche Mädels drin wie in den Zeitschriften, die Lauro bei sich stapelte, aber die, die drin waren, warfen begeistert einen leicht zu handhabenden Laptop in die Luft oder telefonierten in einem Intercity mit einem Mobiltelefon, während sie lässig die makellosen Beine auf den gegenüberliegenden Sitz legten. Das Mädchen in der Anmeldung hätte einem dieser Journale entsprungen sein können. Sie tippte in fehlerfreiem Zehn-Rotkrallen-System etwas in den Computer, das sie begierig lauschend ihren Kopfhörern entnahm, und machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

»Frau Herr-Großkötter?«

Ich sprang auf. »Ja?«

»Kommen Sie bitte weiter! Herr Dr. Winkel erwartet Sie.«

Ich folgte der blonden Tippse mit bangem Mut. Was, wenn er nun zehntausend Mark von mir haben wollte, bevor er überhaupt bereit war, mit mir zu sprechen?

Herr Doktor Winkel war ein großer, bärtiger Mann mit freundlichen, goldgrünbraun gesprenkelten Augen. Er erhob sich hinter seinem wuchtigen Schreibtisch, um mir beherzt die Hand zu reichen.

»Frau Herr-Großkötter!«

»Herr Dr. Winkel!«

»Was führt Sie her zu mir?«, fragte der Anwalt, während er mir bedeutete, ich möge mich setzen. Ich sank auf einen edlen Ledersessel.

»Ihre Mutter hat Sie mir empfohlen …«, begann ich.

»Ja, das tut Alma mater immer wieder gern«, sagte der Anwalt erfreut. »Beate, wir brauchen mal Gläser, und keine Anrufe jetzt.«

Alma mater! Eine Seele von Mutter. Das passte zu ihr.

»Ich habe ihr von meinem Problem erzählt …«

»… und da hat sie Sie zu mir geschickt.«

»Ja«, sagte ich verdutzt. So ein umgänglicher Mensch! Seine Mutter hatte recht: Er schien wirklich über eine rasche Auffassungsgabe zu verfügen.

»Sie werden sich bei mir gut aufgehoben fühlen«, sagte Herr Winkel.

Davon war ich überzeugt. Bei dem musste man nicht viele Worte machen. Der wusste einfach, was Sache war. Beate kam nach kurzem Anklopfen herein und brachte die Gläser.

»Kognak?«

»Eigentlich nicht. Ich muss die Kinder gleich noch abholen …«

»Aha«, sagte Enno. »Kinder. Das macht die Sache natürlich etwas schwieriger. Sollen die in Ihrem Hause verbleiben?«

Beate verschwand diskret.

»Nein, nein«, rief ich, »die nehme ich natürlich mit!« Dachte der etwa, ich würde ohne meine Kinder umziehen und sie allein zwischen ausrangiertem Sperrmüll in der schäbigen Mietwohnung zurücklassen, während ich es mir in meiner neuen Villa gut gehen ließ? Männer!

»Die nehmen Sie also mit«, sagte der Anwalt und notierte etwas auf einem Zettel. Wahrscheinlich rechnete er mal eben die Quadratmeter aus, die wir brauchen würden. Der war wirklich ein fixer Bursche! Genau, wie seine Mutter gesagt hatte! Dann lehnte er sich entspannt zurück. Genießerisch schnüffelte er an der braunen Brühe, die er in seinem bauchigen Glas schwenkte. Ein betörender Duft zog zu mir herüber.

»Möchten Sie nicht doch?«

»Ja.« Ich hatte keine Lust, ihm weiter beim Saufen zuzusehen, während er es sich auf meine Kosten gemütlich machte. Den Kognak würde er mir bestimmt auf die Rechnung setzen.

»Aber nur ein halbes Glas, ich bin das Zeug nicht gewöhnt.«

Wir tranken.

Wir sagten lange nichts.

Der Kognak wärmte meine Seele.

»Um wie viel Geld geht es denn, wenn ich mal so direkt fragen darf?«, brach der Anwalt das Schweigen.

Ich schaute mich vorsichtig um, ob auch niemand mithörte.

»Eine knappe Million«, flüsterte ich dann.

Mein Gegenüber gab sich relativ unbeeindruckt.

»Davon kriegen wir auf jeden Fall drei Siebtel«, sagte er sachlich und kritzelte wieder etwas auf seinen Zettel.

»SIE kriegen drei Siebtel?«, fragte ich entrüstet.

»SIE! Wenn ich ›wir‹ sage, meine ich Sie!«, lächelte der Anwalt gönnerhaft.

»Mit drei Siebtel gebe ich mich nicht zufrieden«, sagte ich schnell. Nicht, dass er meinte, ich würde mich und die Kinder in eine Drei-Siebtel-Villa quetschen. Nein, Wilhelm hatte ganz klar heute Morgen am Telefon gesagt, dass ich die ganze Million noch vor Jahresende verschwinden lassen sollte. Und zwar nicht im Garten einbuddeln oder in den Lampenschirm einnähen, wie die Gangsterbräute das im Fernsehen immer machen, sondern in eine Immobilie stecken. Und deshalb war ich hier.

Herr Winkel sandte mir einen anerkennenden Blick. So ein adrettes Frauchen, die wusste, was sie wollte!

»So, dann müssten wir Ihren Gatten als Erstes informieren«, sagte er und stand auf. »Beate, hören Sie!«

Beate hörte.

Herr Dr. Winkel nahm ein Mikrophon und diktierte:

»In der Sache Herr-Großkötter gegen Herrn Großkötter, Aktenzeichen undsoweiterundsoweiter, Datum von heute, Adresse folgt noch. Sehr geehrter Herr undsoweiterundsoweiter, meine Mandantin undsoweiter hat mich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen in der vorbezeichneten Angelegenheit beauftragt. In o.a. Sache kündigen wir folgenden Antrag an …«

Meine Güte, wie dem das Schriftdeutsch über die Lippen ging! Kein Äh und kein Ach mischten sich in seine Paragraphenfloskeln. Ganz zu schweigen von persönlichen Randbemerkungen.

Der war ein Profi, durch und durch.

Ich lehnte mich entspannt zurück und nippte an meinem Kognakglas. Eine wohltuende Müdigkeit überkam mich. Dieser nette Anwalt hatte etwas Ähnliches an sich wie seine Mutter, in deren Anwesenheit man sich auch gleich so geborgen fühlte. Mein Blick schweifte im Raum umher und wanderte an den vielen technischen Geräten vorbei zum Fenster, wo er sich gleich einen Ausgang suchte …

Gleich würde ich meinen Großen aus dem Kindergarten holen. Hoffentlich hatte er nicht geweint. Wo doch heute sein erster Tag gewesen war. Und der Kleine? Seit Stunden war der schon bei Else Schmitz! Vermutlich hatte sie ihn wieder mit Schokolade vollgestopft. Wenn ich Glück hatte, hatte sie ihn zwischenzeitlich ein bisschen hingelegt. Sonst würde er den ganzen Nachmittag quengelig sein. Ich beschloss, heute zur Feier des Tages mal zum Wienerwald zu gehen. Die Kinder liebten es, dort zu speisen, und ich liebte es auch. Erwähnte ich schon, dass ich kaum nennenswerte hausfrauliche Qualitäten habe? Leider?

»Mit hochachtungsvollen Grüßen undsoweiterundsoweiter«, beendete Herr Dr. Winkel gerade sein Diktat.

»So«, sagte er dann und goss uns beiden Kognak nach.

»Das hätten wir. Jetzt können wir ein bisschen plaudern.« Erwartungsvoll lehnte er sich zurück.

Ich fand Gefallen an dem ungewohnten Getränk und erst recht an dem ungewohnten Anblick eines so gleichbleibend freundlichen Mannes und erzählte ihm in meiner spontanen Art, dass ich seit fünf Jahren mit meinen Kindern quasi allein lebte, weil Wilhelm als Serienregisseur immer auf Achse war. Und dass ich mich nun darauf freute, in ein schönes, großes Haus am Stadtwald umzuziehen, damit die Kinder in einer besseren Gegend aufwachsen könnten.

»Ich bin eine ganz verrückte Frischluftfanatikerin«, sagte ich mitteilungsfroh. »Stellen Sie sich vor, ich gehe bei jedem Wind und Wetter mit den Kindern quer durch die Stadt zu Fuß, nur um in den Stadtwald zu kommen.«

»Mit den Kindern? Überfordern Sie die nicht etwas?«

»Ich schieb den Einen im Buggy und den Anderen auf einem Dreirad vor mir her«, gab ich errötend zu.

Gott, was musste dieser gutmütige Anwalt von mir halten! Eine hysterische Frischluftfurie, die mit zwei Kleinkindern mitten durch die Abgase der Großstadt wanderte! Und außerdem: Ich verschwendete sicher seine teure Zeit! Andererseits würde ihm jetzt die Dringlichkeit eines Hauskaufs in Stadtwaldnähe bewusst werden. Der würde sich für mich und meine Kinder ins Zeug legen, das sah ich ihm an!

Beate erschien mit einem Schriftstück. Herr Dr. Winkel überflog es und unterschrieb es dann.

»Jetzt bräuchten wir bitte noch die Adresse von Ihrem Gatten«, sagte er.

Ich wühlte in meinem Handtäschchen herum.

»Sunshine-City-Club-Hotel«, teilte ich ihm mit. »Er ist in der Karibik. Er kommt erst im Mai nach Hause, sagt er, dann ist der Dreh im Kasten.«

»Ach je«, sagte Herr Winkel. »Dann verlieren wir ja ʼne Menge Zeit.«

»Nein, nein«, schrie ich, »ich muss die Sache unbedingt sofort erledigen! HEUTE! Noch in diesem Jahr muss das alles über die Bühne gehen! Sie glauben gar nicht, wie WICHTIG das ist!«

Ja, dachte der denn, ich würde seinetwegen ZWElmal zum Frisör gehen? O nein. Hier und jetzt.

»Zuerst müssen wir ihn ja informieren«, sagte Herr Dr. Winkel. »Kann ich denn davon ausgehen, dass er mit der ganzen Angelegenheit einverstanden ist?!«

»Natürlich«, brüllte ich, »er hat es mir ja selbst heute Morgen telefonisch mitgeteilt.«

»Na dann«, sagte mein Anwalt. »Wenn Sie es beide so eilig haben … Damit es schneller geht, faxen wir ihm das.«

»Wie Sie meinen«, sagte ich.

»Haben Sie schon mal was gefaxt?« Seine Stimme nahm einen unternehmungslustigen Klang an.

»Nein«, sagte ich unkreativ.

Beate grinste wissend und verzog sich diskret.

Herr Dr. Winkel stand auf, ging zu einem grauen Kasten an der Wand und sagte: »Kommen Sie.«

Ich stellte mich erwartungsvoll neben ihn. Er roch nach Kognak und nach einem sehr exklusiven Herrenparfum. Er war sehr breit und sehr groß und strahlte eine gewisse Wärme ab.

»Wir stecken den jetzt hier mit dem Gesicht nach unten in den Schlitz …« Er nahm meine Hand und lenkte sie wie ein Papa, der seinem Abc-Schützen zum ersten Mal den Griffel führt.

»Dann wählen wir von diesem Apparat aus die Nummer … wie lautet die …?«

Ich las ihm die Nummer vor, und er wählte. Es war eine ziemlich lange Nummer, etwa zwölf- oder dreizehnstellig, und ich beobachtete seine Finger, mit denen er begeistert in die Tasten hackte. Dies hier schien ihm richtig Spaß zu machen! Wie vielseitig er war! Nicht nur das Ehe-Scheiden, Immobilien-Erwerben und Finanzen-Unterschlagen, auch das Fax-Verschicken war eines seiner Steckenpferde! Seiner Mutter machte er bestimmt viel Freude.

Gern hätte ich mich für einen Moment an seine einladende Brust gelehnt, um ein kleines Nickerchen zu machen. Der Kognak tat seine Wirkung. Ich unterdrückte ein Gähnen.

Das Fax-Gerät fraß das Schriftstück träge, aber unaufhaltsam. Ich starrte fasziniert darauf. Schließlich war es vollständig verschlungen. Den unverdaulichen Rest spuckte die Maschine angewidert wieder aus und ließ ihn auf die Erde fallen. Aus seinem gefräßigen Maul wuchs langsam und genießerisch, wie bei einem satten Tier, das sich zufrieden mit der Zunge über die Lippen fährt, ein schmaler Zettel. Darauf stand »O.K.«

»Sehen Sie«, sagte mein Anwalt befriedigt. »So einfach ist das. Jetzt ist unser Brief schon da.«

»Boh«, sagte ich beeindruckt.

»Trinken wir noch einen?«

»Wie Sie meinen.« Ich ließ mich wieder auf das Lederpolster fallen, und Herr Winkel füllte mein Glas. Wir schwenkten die bauchigen Gläser.

»Und nun zu Ihrem anderen Anliegen«, sagte Herr Winkel geduldig.

»Welches andere Anliegen?«

»Sie wollen eine Immobilie erwerben.«

»Klar«, lallte ich, »das ist mein Begehr.«

Ganz so helle schien dieser Anwalt doch nicht zu sein!

»Richtig«, sagte Herr Winkel gönnerhaft. »Aber die Scheidung schien mir doch vorrangig zu sein. Sie wollten das ja unbedingt noch in diesem Jahr in die Wege leiten.«

»Welche Scheidung?«, fragte ich überrascht.

»Ihre Scheidung«, sagte Herr Winkel und lächelte mich aus grüngoldbraun gesprenkelten Augen an.

»Wir haben soeben Ihre Scheidung eingeleitet! War das denn nicht in Ihrem Sinne?«

Ich brauchte ungefähr elf Sekunden, bis ich reagieren konnte. »Doch«, sagte ich dann. »Jetzt, wo Sie mich drauf bringen …«

Ich schwenkte mein Kognakglas und schwieg.

Doch, das war eine besonders nette Idee. Gerade jetzt, so kurz vor Weihnachten … Der liebe Doktor wusste wohl immer, wie er seinen Mitmenschen eine Freude machen konnte. Ganz die Mutter.

Ich lächelte ihn gewinnend an.

»Prost, lieber Doktor!«

Der liebe Doktor grinste.

»Prost, liebe Mandantin! Und lassen Sie den Doktor weg!«

 

Es war ein Wintertag, der so trübe war, dass man glaubte, eine Schwarzweißfotografie zu betrachten. Eigentlich war es den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Ich war immer noch reichlich benommen, als ich meinen Großen aus dem Kindergarten abholte. An den niedrigen Kleiderhaken hingen in buntem Chaos die Mäntelchen und Anoräkchen der übriggebliebenen verwaisten Kinder, die alle Opfer von berufstätigen Müttern oder alleinerziehenden Vätern waren.

»Na, mein Schatz, alles klar?«

»Ja«, sagte Franz. »Mein Freund heißt Patrick, und mein anderer Freund heißt Kevin. Wir haben eine Piratenhöhle, aber das ist unser Geheimnis.«

Ich schloss daraus, dass er bisher noch keinen seelischen Schaden erlitten hatte.

»Weißt du was«, sagte ich, während ich ihn auf dem Rücksitz anschnallte, »wir holen jetzt den Willi ab, und dann fahren wir ins Restaurant. Hast du auch so’n großen Hunger?«

»Au ja«, sagte Franz, »wir gehen in das Restaurant mit der Rutsche! Da ist drinnen ein Karussell, wo man sich beim Essen drehen kann!«

Ich hatte weder Lust, mich beim Essen zu drehen, noch bei diesem nasskalten Wetter mit vollem Mund zu rutschen. Auch reizte mich der Anblick von fettverschmierten Tabletts nicht, die sich zwischen Jugendlichen, die ihre Mathearbeit abschrieben, und fröstelnden Rentnerinnen im abgescheuerten Mantel, die ihren zitternden Pinscher fütterten, stapelten.

Jetzt, da wir in Kürze in eine bessere Gegend ziehen würden, hielt ich es für pädagogisch wertvoll, grundsätzlich nur noch mit Messer und Gabel zu essen.

»Ist Wienerwald auch O.K.?« fragte ich daher meinen Kumpel, der auf seinem Kindersitz saß und einen Matchboxbomber an meinem Nacken vorbeiknattern ließ.

»Hühnerwald ist am allercoolsten«, sagte Franz. »Da gibt’s immer ein Überraschungsei.«

Wir holten Willi von Else Schmitz ab. Er war ziemlich schokoladeverschmiert und stank bestialisch. Während ich noch mit ihm darum kämpfte, ihm seine bräunlich verfärbten triefenden Beinkleider vom Leibe reißen zu dürfen, stellte ich mir das knusprige Brathendl vor, das gleich vor mir auf dem Teller liegen würde.

Mit letzter Kraft zerrte ich die Kinder ins Badezimmer, bevor ich sie ins Auto wuchtete und auf dem Rücksitz anschnallte. Mein Rücken drohte durchzubrechen. Ich ließ mich auf den Fahrersitz fallen.

Es war inzwischen unter tiefhängenden Wolken völlig dunkel geworden. Graue Autoschlangen wälzten sich durch gespenstische Nebelschwaden.

Bevor Franz und Willi mich nun fragen konnten, WARUM gerade die Schranke runterging, WARUM der Laster vor uns geblinkt hatte und WARUM der Mazda links vorne ein Arschloch war, legte ich zur allgemeinen Beruhigung eine Papai-Kassette ein. Sofort erfüllten knattergelbe Autobusse, streichelunwillige Igel und verfrorene Kühlschrankgespenster das Innere des Wagens. Die Kinder lauschten hingebungsvoll. Papai war einfach unersetzlich.

Meine Gedanken wanderten erfreut zurück zu Enno Winkel. So ein netter Anwalt. Wie herzlich er gelacht hatte, als er unseren kleinen Irrtum erkannt hatte! Sofort hatte er sich erboten, ein weiteres Fax in die Karibik zu schicken, um den Inhalt des Ersten für nichtig zu erklären! Aber ich beharrte auf unserer ersten Fassung. Was für eine hübsche Idee, die Scheidung einzureichen! Und wie viel Spaß es doch gemacht hatte! Einfach einen Zettel in einen Schlitz stecken, und schon war ich frei!

Ich freute mich schon sehr auf unser nächstes Treffen.

Zwei Gründe hatten wir, uns noch vor Weihnachten wiederzusehen. Erstens sollte ich ihm alles Wissenswerte über meine Ehe aufschreiben. Und zweitens wollte er sich um eine Immobilie kümmern. Ganz schnell. Weil es ja so dringend war. So ein netter, hilfsbereiter Mann!

»Da sind wir!«, rief ich aufmunternd, als wir auf dem überfüllten Parkplatz aus dem Wagen krochen. Normalerweise kamen wir auch hierhin immer zu Fuß.

Ich wuchtete Willi aus seinem Kindersitz und bat ihn mit sehr launigen Worten, momentan nicht durch die knöcheltiefen Pfützen zu waten, um das nette Fräulein mit den Überraschungseiern nicht zu verstimmen. Auch Franz bat ich, seinen Maschinengewehrbomber im Auto zu lassen, falls ein paar ruhebedürftige Rentner das Lokal frequentierten.

Das nette Mädchen mit den Überraschungseiern fragte mit ihrem unnachahmlichen sächsischen Akzent wie immer, ob »dr Babbi wieder mol nischt von dr Bardie« sei, und ich bestellte das Übliche, Hähnschn mit Bommes. Glücklich genossen wir die ird’schen Freuden, die uns Sachsens Glanz nach kurzer Zeit servierte. Die Kinder legten andächtig ihre Fähnchen zur Seite, die im Rücken des toten Flattermannes gesteckt hatten.

Während ich sorgfältig die Knöchelchen von ihren Tellern entfernte, sahen sich die Beiden interessiert im Raum um. Neben uns tafelte ganz einsam eine alte Dame vom Geschlecht der Hugenotten oder noch Exklusiverem, jedenfalls war sie so behängt mit Ketten und Ringen und Ohrgehängen, dass ich mich fragte, wann sie unter all diesen Lasten über ihrem Teller zusammenbrechen würde. Sie hatte auch ihren Nerz nicht abgelegt, und ein blöde schielender Fuchs sah ihr gläsernen Auges beim Essen zu. Während ich noch darauf wartete, dass das Tier gelangweilt das Maul aufsperren würde, um einen Bissen vom Seniorenteller zu verzehren, sagte Willi beeindruckt: »Mama, warum hat der König einen toten Hund mitgebracht?«

Ich rang um Fassung, bevor ich antworten konnte: »Mein Schatz, das ist eine alte Dame, und die hat einen Fuchs umgehängt, weil ihr kalt ist.« Hastig nahm ich einen Schluck Mineralwasser und schob meinem Jüngsten den Teller vors Kinn. Artig fing Willi an zu löffeln.

Franz starrte die alte Dame mit offenem Mund an. Die hundert Knitterfalten in ihrem Gesicht verzogen sich in faszinierender Gleichzeitigkeit, während sie kaute.

»Mama, ist die hundert?«, flüsterte er ehrfürchtig.

»Ich bin vierundneunzig«, antwortete die Dame plötzlich, ohne eine Miene zu verziehen.

»Und ich bin vier«, sagte Franz wichtig.

»Dann sind wir ja beinahe gleich alt«, sagte die alte Dame und aß weiter ungerührt ihre Nierchen im Reisrand.

Ich fand sie großartig.

»Ist dein Fuchs auch vierundneunzig?«, fragte Franz.

»Nein«, sagte die Dame vom Nebentisch. »Der ist tot. Ich bin auch bald tot.«

»Warum?«, fragte Franz, und ich schob ihm seinen Teller hin und machte ihn darauf aufmerksam, dass sein Essen kalt würde.

In diesem Moment ging die Tür auf und eine füllige Dame späteren Mittelalters kam herein, schüttelte ihren Trachtenschirm und entfernte einen eleganten Hut von ihrem Haupte. Die Frisur war kaum zerstört, sie sah aus, als hätte sie eine frische Dauerwelle. Zielbewusst schritt sie zum Tisch der fuchsbehängten Greisin, sagte »Hallo Tante Trautschn« und setzte sich, der sächsischen Kellnerin winkend, beherzt an ihren Tisch.

Ich hörte auf zu kauen.

Es war Frau Winkel, die Mutter meines gleichnamigen Scheidungsanwalts, Immobilienerwerbers und Finanzverwalters! Frau Winkel erkannte mich auch.

»Na, wenn das kein Zufall ist! Wir haben eben von Ihnen gesprochen!«

»Wer, wir?« fragte ich.

»Na, Enno und ich! Er ist eben nach Hause gekommen, und ich hab ihm noch was zu essen gemacht, bevor er in die Sauna geht. Ja, dienstags geht er immer in die Sauna, der Junge, das ist das Einzige, was er für seine Gesundheit tut!«

»Ach was«, sagte ich überrascht.

So ein vielseitiger Anwalt! In die Sauna ging er auch noch! »Und das sind also Ihre Kleinen«, sagte Frau Winkel entzückt.

»Wir sind nicht klein. Aber du bist dick«, sagte Willi mit vollem Mund.

Ich fand, dass dies ein gelungener Beginn für eine wunderbare Freundschaft war.

Frau Winkel lachte. »Du bist aber nicht auf den Mund gefallen!«

»Nein, bin ich nicht«, sagte Willi zufrieden und kaute geräuschvoll.

»Tante Trautschn, die junge Frau ist auch eine Klientin von Enno!«, brüllte Frau Winkel die alte Dame an. »Sie will sich SCHEIDEN lassen!«

»Dat jeht hier keinen wat an«, sagte Tante Trautschn ungerührt.

»Mama, WARUM willst du dich scheiden lassen?«, fragte Franz.

Der arme Kerl konnte sich gar nicht vorstellen, was das war, hatte er seinen Vater doch seit acht Monaten nicht mehr gesehen und wahrscheinlich schlichtweg vergessen.

Wir brauchten auch keinen Vater. Jedenfalls nicht so einen. Ich war sehr froh, endlich zu dieser Entscheidung gekommen zu sein.

Wozu so ein Frisörbesuch doch gut war! Man sollte viel öfter mal was für sein seelisches Wohlbefinden tun. Sagen »Wir Frauen« auch immer.

Und die müssen es ja wissen.

 

Zwanzig Jahre vorher stand eine kleine, unscheinbare Internatsschülerin abends am Fenster und drückte kummervoll die erhitzte Stirn an die Scheibe. Draußen radelte gerade Viktor Lange weg, der von allen heiß umschwärmte, angebetete Schauspiellehrer. Er radelte einem Privatleben entgegen, das Franziska niemals mit ihm teilen würde. So begnügte sie sich damit, viele wunderbare Tagträume von ihm zu träumen und ihn von fern anzuhimmeln.

Viktor Lange durchwärmte ihr unterkühltes, anlehnungsbedürftiges Schülerinnenseelchen, indem er mit ihr Texte lernte, Rollen studierte und ihr das freie Sprechen auf der Bühne beibrachte. Er war der einzige Mensch, der ihr überhaupt etwas bedeutete. Sie wollte später Karriere machen, nur ihm zuliebe. Nur, damit er sie endlich bemerkte! Sie war von einem Ehrgeiz besessen, der nicht der Sache, sondern dem Menschen galt, dem sie zu imponieren versuchte.

Verbissen lernte sie außerhalb der Unterrichtszeit alle Texte, die für sie in Frage kamen. Obwohl sie sämtliche Kurse von Viktor Lange mit unvergleichlicher Penetranz absolvierte, konnte sie nie genug von ihm kriegen. Abends in der Dämmerung stand sie verzweifelt am Fenster und sah ihn wegradeln, und dann fühlte sie sich unendlich allein und verlassen.

Dann kam der Tag, an dem sie sich noch viel stärker in Viktor Lange verliebte: Die Internatsschülerinnen wurden mit dem Bus zur Tanzstunde in die Stadt gekarrt. Kein einziger pubertierender Jüngling machte sich die Mühe, die kleine, unscheinbare Franziska zum Tanz aufzufordern. Alle anderen Mädchen wurden aufgefordert, nur die kleine, unscheinbare Franziska nicht! Sie blieb allein und blass am Rande der Tanzfläche stehen. Das war einer der Momente, in denen sie sich schwor, aus ihrem Mauerblümchendasein auszubrechen, sobald ihr das Schicksal die kleinste Chance dazu geben würde.

Da passierte etwas Wunderbares! Viktor Lange kam auf sie zu! Er schlug vor, diesen Tanzkurs gemeinsam zu absolvieren, da er noch nie Gelegenheit dazu gehabt habe.

Nun verwandelte sich Aschenputtel augenblicklich in eine strahlende Prinzessin. Vor den neidischen Augen der Anderen schwebte sie leichtfüßig in den Armen des Märchenprinzen über das Parkett davon. Das war der Tag, an dem sie nicht mehr die kleine, unscheinbare Franziska war. Wenigstens vorübergehend.

Kurz vor dem Abitur schrieb sie unter Viktor Langes gestrenger Aufsicht einen Aufsatz über ein schwieriges Thema: Verschiedene spätromantische Dichter sollten miteinander verglichen werden. Die nicht mehr ganz so kleine, nicht mehr ganz so unscheinbare Franziska hatte Viktor Lange zuliebe alles auswendig gelernt, was auch nur entfernt mit Früh-, Spät- oder überhaupt Romantik zu tun hatte und sich auch nur ansatzweise reimte. Hingebungsvoll entleerte sie ihren geistigen Müll auf die von der Schulbehörde gestempelten und in der Mitte geknickten Blätter. Sie schaute nicht rechts noch links, und erst als die sechs Schulstunden herum waren und ihre rechte Hand starr und spastisch um den Griffel krampfte, ließ sie von ihrem frisch entsorgten Gedankengut ab und ging hinaus auf den Schulhof. Abends um zehn, als sie müde und schlaftrunken am Fenster gelehnt hatte, in der Hoffnung, vielleicht Viktor Lange zu erblicken, öffnete sie ihre Schultasche, um ihr die Lakritzschneckentüte zu entnehmen. Eisiger Schreck in der Abendstunde: Heraus fiel die Deutscharbeit!

Franziska beschloss, ihr Werk augenblicklich im Lehrerzimmer abzugeben. Obwohl sie nicht hoffen konnte, dass man ihr Glauben schenken würde, machte sie sich barfüßig und im Schlafanzug mit einer Lakritzschnecke im Mund auf den Weg. Sie hatte keine Zeit zu verlieren! Mit Herzklopfen pochte sie an die Tür des Lehrerzimmers. Und wer öffnete ihr?

Kein anderer als Viktor Lange selbst!

Er war zum Korrigieren der Arbeiten im Haus geblieben. Stumm vor Verlegenheit überreichte sie ihrem müde blickenden Lehrer das Opus.

Viktor Lange sagte nichts. Er nahm die Arbeit, nickte ihr kurz zu und ließ die Tür wieder hinter sich zufallen.

Das war alles.

Später bekam sie die Arbeit zurück, als wäre nichts gewesen. Sie hatte eine Eins bekommen.

Was sie aber noch glücklicher machte, war, dass Viktor Lange niemals ein Wörtchen über diese Angelegenheit verlor.

Nicht zu einem einzigen Menschen.

Auch nicht zu ihr selbst.

 

»Willi, gibst du mir bitte das Messer wieder?«

»Nein. Ich will auch Kartoffeln schälen.«

»Messer Gabel Schere Licht …?«

»… is für kleine Kinder nich.«

»Also, gibst du mir jetzt das Messer wieder?«

»Nein.« Trotzig klammerte sich Willi an das spitze Ding.

Mir wurde angst und bange. Wozu würde jetzt das Elternmagazin »Gedeih und Verderb« raten? Ablenken, natürlich. Das Kind ganz spielerisch ablenken und ihm als Alternative ein kindgerechtes Spielzeug in die Hand drücken. Einen Bauklotz oder ein Malbuch.

»Schau mal, Willi, ich hab hier einen feinen Legoturm.«

»Den will ich nich. Damit kannst DU spieln. Ich muss jetz Kartoffeln schäln.«

Gerade als ich tief seufzend beschloss, mich in Geduld zu üben, klingelte das Telefon. Willi ließ das Messer fallen und dackelte mit seinem Pampers-Hintern ins Wohnzimmer. Ich hob es auf und legte es in sicherer Entfernung auf den Schrank. Dann folgte ich Willi ins Wohnzimmer.

»Hallo?«, sagte Willi in den Hörer. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Wer ist es denn?«, fragte ich und griff nach dem Hörer.

»Das weiß ich nicht«, sagte Willi bedauernd und presste den Hörer ans Ohr.

»Dann gib mir mal den Hörer«, sagte ich freundlich.

Willi wollte mir den Hörer aber nicht geben. Wenn ich ihn schon beim Kartoffelschälen gestört hatte, wollte er jetzt wenigstens in Ruhe telefonieren. Dass Mütter aber auch immer so lästig sein müssen!

Verbissen klammerte er den Hörer an seinem Ohr fest.

»Die Mami schält Kartoffeln«, teilte er dem Hörer mit.

Ich beugte mich kommunikationswütig zu meinem Sohn runter.

»Was machst du denn gerade?«, hörte ich eine Männerstimme sagen.

Es war Enno Winkel.

»Ich telefoniere«, sagte Willi. Dann richtete er sich auf eine Schweigeminute ein und drehte genüsslich an seines Schmuddelhasen Ohr.

Ich rief beherzt, dass ich gleich an den Apparat kommen würde, rannte in die Küche und machte Klein-Willi eine Milchflasche.

»Wie geht es dir?«, fragte Herr Winkel geduldig am anderen Ende der Leitung, als ich Willi die Flasche reichte.

»Gut«, sagte Willi und führte sich genüsslich den Flaschennippel zum Munde.

»Wie heißt du denn?«

»Willi«, sagte Willi.

»Das ist aber ein schöner Name«, flötete Enno Winkel. »Gibst du mir jetzt mal die Mami?«

»Die Mami schält Kartoffeln«, sagte Willi ungerührt.

Das fand ich den Gipfel an Unverschämtheit, schließlich kniete ich nun seit einer geschlagenen Minute neben ihm und versuchte, ihm den Hörer zu entlocken.

Ich nahm Willi freundlich aber bestimmt in den Arm, reichte ihm den Schmuddelhasen und die Flasche, woraufhin er verwirrt den Hörer losließ (reingelegt, hahaha!), und begrüßte meinen Anwalt erfreut. In das empörte Gebrüll meines Sprösslings hinein fragte ich mit erhobener Stimme, was es denn Neues gebe!

Herr Winkel schien sich bezüglich meiner erzieherischen Qualitäten leichte Sorgen zu machen, jedenfalls hatte er nicht weiter Interesse daran, Willi zu fragen, was er gerade mache, und rief mehrmals, dass mein Gatte mit offensichtlichem Befremden mein Scheidungsgesuch zur Kenntnis genommen habe!

»Und?«, schrie ich, mein sich heftig wehrendes Kind an mich pressend. »Was machen wir jetzt?«

»Ich brauche dringend Ihre Aufzeichnungen!«, brüllte Enno. »Ohne Ihre Aufzeichnungen haben wir gar nichts in der Hand!«

Wo er recht hatte, hatte er recht.

»Nee, ist klar!«, schrie ich. »Aber Sie hören ja, was hier los ist!« Herr Winkel hatte augenblicklich Mitleid mit mir.

»Nehmen Sie sich Zeit, liebe, verehrte Frau Herr-Großkötter, ich habe vollstes Verständnis für Ihre Situation. Aber bedenken Sie: Je eher ich Ihre Aufzeichnungen habe, um so eher kann ich in Ihrem Interesse tätig werden.«

»Was ist mit der Immobilie?«, unterbrach die liebe verehrte Frau Herr-Großkötter.

»Ich bleibe dran! Ich hätte da schon was im Auge!«

»Das ist ja wunderbar!«, sagte ich.

Willi hatte sich beruhigt und saugte genüsslich vor sich hin. Die Stille tat unbeschreiblich wohl.

»Was haben Sie im Auge, lieber verehrter Herr Anwalt?«

»Das sage ich Ihnen, sobald es spruchreif ist. Wie geht es Ihnen denn so?«

»Mama«, mischte Willi sich ein, »warum hat der liebe Herr Walt was im Auge?«

»Der liebe Herr Walt hat ein Haus im Auge!«, sagte ich freundlich zu Willi. Und in den Hörer sagte ich verbindlich: »Gut! Sehr gut! Und Ihnen?«

Enno lachte. »Ich meine, wie es Ihnen gefühlsmäßig geht. Jetzt, wo Sie den entscheidenden Schritt in die Selbständigkeit wagen wollen.«

»WARUM hat der ein Haus im AUGE!!«

Ich sah den Herrn Anwalt vor mir, wie er gemütlich in seinem Ledersessel saß und die Frühstücksstulle vor sich auf dem Schreibtisch ausbreitete, die seine Mutter ihm heute Morgen in aller Liebe geschmiert hatte.

»Lieber Herr Rechtsanwalt«, flötete ich, um äußerste Beherrschung bemüht, »ICH bin selbständig, schon seit vielen, vielen Jahren, auch wenn ich nur eine Frau bin, die den ganzen Tag mit zwei Kleinkindern vertändelt!«

»WARUM hat der ein HAUS IM AUGE!!!«

»Aber liebe verehrte gnädige Frau Herr …«

»Und jetzt entschuldigen Sie mich! Das Kartoffelwasser kocht!«

»Warum hat der ein Haus im Auge!!!!«, brüllte Willi aufgebracht und drosch mit seinem Hasen auf mich ein.

»Das sagt man nur so!!!«, brüllte ich zurück. »Komm mit in die Küche, dann erklär ich es dir!«

»Schönen Tag noch!«, rief Enno, bevor ich den Hörer auf die Gabel knallte.

 

Franz ging nun regelmäßig in den neuen Kindergarten am Stadtwald, und auch Willi frequentierte einige kindgerechte Krabbelgruppen, damit sich der soziale Hintergrund für ihn gleichmäßig stabilisiere. Ich fuhr ziemlich viel hin und her, was mich ärgerte, aber ich sagte mir, dass dies ein vorübergehender Zustand sei und dass wir ganz bald in die bessere Gegend ziehen würden. Enno hatte schließlich schon was im Auge.

Beim Mutter-Kind-Turnen sprach mich eine sehr adrett aussehende Dame an. Sie war mir schon beim letzten Mal aufgefallen, nicht zuletzt deshalb, weil sie stets mit makellos geplätteten Rüschenblusen und ausgesprochen weiblich-gediegenen, die Waden umspielenden Faltenröcken angetan mit ihren Kindern auf dem Trampolin herumsprang. Ihr sorgfältig föngewellter Pagenschnitt geriet dabei kaum in Unordnung. Alle Damen sahen in gleicher Weise gediegen aus. Jedenfalls gab es keine Einzige popelige arbeitslose Schauspielerin wie mich mit zwei vaterlosen Kindern in diesen erlauchten Kreisen.

Ich selbst fand es eigentlich hier wie dort praktisch, in Jeans und Socken zu erscheinen. Schließlich musste man eine Stunde lang Kinder stemmen und am Ende der Veranstaltung regelmäßig in überzeugender Fröhlichkeit »jetzt steigt Hampelmann« vorturnen.

Die gepflegte Dame sagte mit sanfter Stimme, während sie ihren Raffael an den Ringen hin- und herbaumeln ließ, dass ich sie doch mal besuchen solle, da ihr Raffael mit meinem Franz zu spielen wünsche. Ich betrachtete das zartgliedrige Wesen von knapp vier Jahren, das dort durch die Lüfte schwang, und fragte mich, wie dieser Akademikerbengel es geschafft haben sollte, sich ausgerechnet mit meinem in größter Liederlichkeit aufwachsenden Franz zu verabreden. Die Dame fragte, ob es mir genehm wäre, irgendwann mal unverbindlich auf ein Tässchen Kaffee vorbeizukommen. Sie persönlich fände den Nikolaustag sehr hübsch. Übrigens sei sie die Susanne, sagte die Föngewellte wohlmeinend, es sei nämlich üblich, sich in diesem Kreise schlicht zu duzen.

Sofort stiegen Erinnerungen an die andere Susanne aus dem früheren Mutter-Kind-Turnen in mir auf. Mir war die Turnhalle in dieser Gegend suspekt gewesen, nicht zuletzt, weil man nur durch Scherben watend den verlotterten Eingang erreichen konnte. Die Mauern des Betoncontainers waren seit Menschengedenken mit unleserlichen Parolen vollgeschmiert, und seit dort Hakenkreuze und Judensterne aufgetaucht waren, war in mir der Entschluss gereift, meine Kinder ab sofort ihre Leibesübungen in einer gediegeneren Gegend ausüben zu lassen. Was bot sich da besser an als die Stadtwaldgegend, in die wir ohnehin bald ziehen würden?

Die andere Susanne war mit langen, ungekämmten schwarzen Haaren gesegnet gewesen, immer leicht nach gesundem Mutterschweiß riechend und niemals mit so einem überflüssigen Utensil wie etwa einem BH angetan, was man deutlich sehen konnte, weil sie beide Kinder etwa fünf Jahre lang ohne Unterbrechung gestillt hatte. Von dieser schönen naturgegebenen Einrichtung hatte sich der Busen von Susanne eins nie wieder richtig erholt. Wenigstens hatten aber der Typhus und andere Seuchen bei den zwei rotznasigen Mädchen nichts ausrichten können, denen die Entbehrungen und das dornenreiche Leben unehelicher Großstadtrattenkinder geradezu ins Gesicht geschrieben standen. Wir waren ins Gespräch gekommen, als ich der anderen Susanne mal eine Pampers aufschwatzte, die sie nur ungern annahm, weil sie beim besten Willen keinen trockenen Stofffetzen in ihrem Rucksack mehr fand. Die andere Susanne hasste Plastikwindeln und all das künstlich hergestellte, umweltfeindliche Zeugs, in das andere Leute ihre Kinder zwängten. Sie liebte die naturgegebenen Dinge, und wenn sie in ihrer Gegend welche gefunden hätte, hätte sie ihre Mädels wahrscheinlich in Feigenblätter gewickelt.

Auch die andere Susanne hatte mich beim Mutter-Kind-Turnen zu sich nach Hause eingeladen, weil ihre Töchter mit meinen Söhnen spielen wollten. Die andere Susanne hauste in einer Zweizimmer-Sozialwohnung am Rande eines Ackers, der ab und zu als Kirmes- oder Zirkusplatz benutzt wurde. Die andere Susanne jobbte gelegentlich in einem alternativen Frauenbuchladen (der andere Frauenbuchladen), sofern sich ihr in Trennung lebender Kindsvater, freier Mitarbeiter eines zweifelhaften linksradikalen Wochenblattes, zum gelegentlichen Beaufsichtigen seiner Töchter bereit erklärte.

Die andere Susanne war ein großartiger Kerl. Nachdem ich ihren strähnigen, randlos bebrillten Kindsvater (der andere Kindsvater) einmal gesehen hatte, wie er hängeschultrig einen Jutebeutel mit Müsli, Bier und der TAZ in sein Etablissement im vierten Stock getragen hatte, bewunderte ich ihr ausgeglichenes Gemüt. In ihrer möbellosen Behausung roch es immer etwas nach Mäusepipi. Ich muss zugeben, dass ich zuerst etwas zurückprallte, als ich die Schaffelle sah, auf denen sie mit ihren Mädels zu nächtigen pflegte. Ich stellte mir vor, wie sie jeden Morgen im Schneidersitz hinter ihren Töchtern saß und ihnen die Läuse aus den Haaren knibbelte, weshalb ich spontan anregte, doch lieber draußen zu spielen. Bei einer Tasse Brennesseltee aus gesprungenen henkellosen Bechern auf der Stufe zu ihrem Acht-Parteien-Haus plauderten wir dann ungezwungen über unsere Scheiß-Männer, die uns auf egoistische Weise im Stich gelassen hatten. Mein Wilhelm war zugegebenermaßen schöner als ihr Egon, aber menschliche Qualitäten habe Egon durchaus einmal gehabt, sagte die andere Susanne gemütlich, während sich die wollweiße, keineswegs mit umweltbelastender Seife gewaschene Wäsche vor uns auf dem Drehständer im Winde wiegte und unsere vier Kinder sich wonnevoll mit Matsch beschmierten.

Die andere Susanne erzählte mir ihre Egon-Geschichte. Sie hatten sich auf einer Demo kennengelernt und anschließend gemeinsam ein Haus besetzt. Daraufhin war die andere Susanne ziemlich schnell schwanger geworden.

»Das ist ja fast wie bei mir!«, entfuhr es mir.

»Habt ihr euch auch auf einer Demo kennengelernt?«

»Nein. Auf der Performance ›Entspannung und Aufstand‹.«

»Also doch ʼne Demo.«

»Mein Wilhelm war Regisseur bei einem Werkstattprojekt. Er suchte Studenten, die bereit waren, nackt aufzutreten, sich in den Dienst der Sache zu stellen, sozusagen sich einzubringen in das, was Sinnverkörperung darstellen sollte. Verstehst du das?«

»Klar«, sagte die andere Susanne lässig. »Nackt auftreten ist geil. Hätt ich auch gemacht.«

»Ein wahrer Profi schreckt vor nichts zurück«, sagte ich, um ihr wenigstens ein bisschen den künstlerischen Hintergrund meines Tuns darzulegen und ihr eventuell ein bisschen zu imponieren.

»Und dann habt ihr gevögelt«, sagte die andere Susanne jedoch unbeeindruckt.

»Woher weißt du das?«

»Ist doch klar«, grinste die andere Susanne. »Hätt ich auch gemacht.«

Es war ein schöne Zeit mit der anderen Susanne. Wir verstanden uns ohne viele Worte.

Schade, dass wir uns aus den Augen verloren hatten.

 

Und nun: Susanne zwei.

Die Villa lag abgeschirmt von neugierigen Blicken in einem parkähnlichen Garten. Auf unser Klingeln am Tor, dessen Griffe Pferdegestalt hatten, öffnete die Haushälterin von Susanne zwei diskret und geräuschlos per Knopfdruck das Gatter. Mir hätte auffallen sollen, dass vor dem Anwesen ungewöhnlich viele schnittige Kleinbusse parkten. Wegen meines nicht zu unterdrückenden Bewegungsdranges war ich wieder mal zu Fuß gekommen, was auch unsere anderthalbstündige Verspätung erklärte. Seit Willi den Reiz des eigenständigen Fortbewegens entdeckt hatte, war es gar nicht mehr so einfach, überhaupt eine erkennbare Richtung einzuschlagen. Während Franz an jeder Straßenkreuzung ungeduldig »Kann ich rüber?« schrie, versuchte ich mit launigen Worten meinen Jüngsten dazu zu überreden, mit seinem Stock nicht immer nur in einer Mülltonne zu bohren, da wir sicherlich noch eine Menge anderer interessanter Mülltonnen antreffen würden. Als wir endlich vor dem Herrenhaus ankamen, war es schon dunkel. Völlig erschlagen von soviel Reichtum und Glanz zerrte ich meine beiden Sprösslinge nun über den breiten Kiesweg in Richtung beleuchteter rosenumrankter Villa.

Ich drückte mein Gastgeschenk in Form eines zerknitterten Blumenstraußes aus exotischen Teepäckchen an mich und sah mich in dem winterlich beschnittenen Garten um. Die Gartenmöbel waren sorgfältig abgedeckt, der Swimmingpool mit einer Plane überzogen. Das Feuchtbiotop lag schwer und sumpfig hinter seinem Sicherheitszaun, und leichte Nebel entstiegen dem Atem der dort Winterschlaf haltenden Reptilien. Im Goldfischteich moderten einige späte Seerosen vor sich hin. Der steinerne Springbrunnen mit dem Löwenmaul spendete kein Wasser. Ein mit hundert Elektrokerzen geschmückter Tannenbaum stand vor dem Hauseingang.

Susanne zwei wartete diskret in der Empfangshalle, bis ich meine beiden Sprösslinge mit den allerverlockendsten Versprechungen dazu bewegt hatte, auch noch die letzten zwanzig Meter bis zur Haustür in Angriff zu nehmen.

Den schmutzigen Buggy mit dem gelblich angesifften Lammfell (es hatte Ähnlichkeit mit dem Kopfkissen von der anderen Susanne) ließ ich unauffällig im Schutz einer überhängenden Trauerweide stehen.

Um die bronzene Haustür rankte sich ein Arrangement aus Tannenzweigen, Lichterketten und roten Schleifen. Aus dem Inneren des Palastes kam gedämpftes Stimmengewirr.

»Hast du noch mehr Besuch?«, fragte ich überrascht.

»Wir warten nur noch auf euch«, sagte Susanne zwei mit nicht versiegen wollendem Lächeln. Auch und gerade in ihren eigenen vier Wänden trug sie Stehkragenblusen und Faltenröcke, dazu eine zweireihige Perlenkette. Feine braune wildlederne Pumps mit je einer aparten Lackschleife darauf rundeten ihr adrettes Erscheinungsbild ab.

Ich zerrte meine Kinder auf die letzten Stufen vor der Haustür und entledigte sie als Erstes ihrer schmutzigen Stiefel, Anoraks und Cordhosen. In Socken und Unterhosen rannten meine Beiden fröhlich in den Salon. Eine weißbeschürzte Haushälterin nahm diskret unsere Garderobe in Empfang, um sie in einem Spiegelschrank in der weißgefliesten Diele unterzubringen. Nachdem ich mir unauffällig die Nase geputzt und die Haare geordnet hatte, schritt ich in Strümpfen unsicher hinter der Hausherrin her.

»Und das ist jetzt noch Frau Großkötter mit Franz und Willi«, verkündete Susanne zwei beim Öffnen der Salontür. Etwa fünfundzwanzig Mütter in Viskose und Strick mit ihren drei Dutzend farbenfroh geputzten Kindern saßen da unter einem riesigen Weihnachtsbaum, führten sich Glühwein oder Mokka aus winzigen Tässchen zum Munde und betrachteten mich froh.

Wahrscheinlich hatten sie sich unter einer Frau Großkötter genau so etwas vorgestellt wie mich.

Eine Asoziale aus dem Brennpunktmilieu.

»Nehmen Sie doch Platz!«

Au Scheiße, dachte ich tief in mir drin, aber nach außen sagte ich verbindlich lächelnd »Schönen guten Abend allerseits« und begab mich zwanglos in die Runde, mit einem schockstillenden Glühwein liebäugelnd.

Franz und Willi waren zwischen den anderen Kindern verschwunden, was ich sehr begrüßte, da ich mich nun entspannt auf der Erde niederlassen und mich mit System besaufen konnte.

Kaum hatte ich das wohlige Getränk zum Munde geführt, erschien am Fenster in pompöser Samtmontur der Nikolaus nebst Hans Muff, dem schwarzen Mann. Meine Kinder, denen in ihrem bisherigen Leben ein solcher Stress erspart gewesen war, kamen in höchster Panik zu mir gerannt, pressten sich – jeder in seiner Höhe – an mein Bein – ich konnte mich gerade noch des überschwappenden Heißgetränks entledigen – und flehten mich mit vor Angst kieksender Stimme an, sofort wieder nach Hause zu gehen. Ich muss zugeben, dass ich die unvermittelte Showeinlage auch ziemlich lästig fand, aber die anderen Mütter und Kinder im Raum waren offensichtlich entzückt. Sie scharten sich begeistert um den heiligen Mann. Videokameras im Kleinformat wurden aus ledernen Handtäschchen gerissen, Blitze zuckten, und der Nikolaus begann mit dunkler Stimme auf die Kinder einzureden.

Im Laufe der nächsten halben Stunde schaffte ich es, mit meinen beiden Kindern auf dem Arm immerhin wieder das Wohnzimmer zu betreten und den Nikolaus aus angemessener Ferne zu betrachten, wobei mein Rücken schlicht durchzubrechen drohte. Als der heilige Mann endlich weg war, konnte ich meine Jungs wieder absetzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ ich mich auf dem Boden nieder. Bei der anderen Susanne hätte ich mich jetzt hemmungslos auf den Schaffellen zusammengerollt und ein Nickerchen gemacht. Hier gab es nur brokatene Sofakissen, auf denen das entspannte Lümmeln offensichtlich unerwünscht war.

Schade eigentlich. Wo es doch ansonsten hier ausgesprochen gemütlich war. Leider gelang es mir nicht mehr, an den Insider-Gesprächen der anwesenden Damen teilzunehmen, da ich als Fremdling noch nicht mitreden konnte und ohnehin die Namen der Reitlehrer, Ballettmeister und Fechtschulen durcheinandergebracht hätte.

Ich überlegte kurzzeitig, ob irgendeine von den mokka-trinkenden Müttern an der »Entspannung und Aufstand«-Geschichte interessiert sein könnte.

Wegen der vorgeschrittenen Stunde unterließ ich es aber, mich auf diese Weise einzubringen, und ließ das angenehm monotone Stimmengewirr an mir vorbeiziehen.

Niemand richtete das Wort an mich.

Warum auch?

Wo ich doch offensichtlich niemandes Gattin war.

 

An diesem Abend war ich erschöpfter als je zuvor.

Bis die Kinder endlich schliefen, waren noch viele Anstrengungen nötig. Willi hatte den Zusammenhang all der himmlischen Gestalten noch nicht durchschaut. Er fragte, ob der Sankt Martin denn auch Sportschuhe anhätte, da der Nikolaus heute welche angehabt habe. Franz wollte wissen, warum der Nikolaus nicht freundlicherweise seinen Samtmantel mit dem Penner geteilt hätte, den er bei sich gehabt hatte. Ich versuchte, ihnen die Zusammenhänge zu erklären, damit sie in kindlich-sorglosen Schlaf verfallen würden.

Als ich gegen halb zehn völlig schachmatt im Wohnzimmer saß, konnte ich nur noch zur Fernsehzeitung greifen. Ich sehnte mich nach einem guten alten deutschen Film, wo die Mutter auf Irrwege gerät, der Vater aber ein edler, durch und durch anständiger Kapellmeister ist und aus Not ein Kinderfräulein engagiert, das sich dann aufopfernd und unentgeltlich um den kleinen goldgelockten und im dreigestrichenen Oktavbereich sprechenden Jungen Oskar kümmert.

Die Mutter ist aber nur deshalb auf Abwege geraten, weil sie an Alkoholismus leidet, und das wiederum nur deshalb, weil sie sich verkannt, ungeliebt und in ihrem Wirkungskreis eingeengt fühlt. (!!!) Der edle Kapellmeister ist clever genug, die Hysterien seiner Gattin als seelischen Hilferuf zu erkennen, spendiert ihr eine Schiffsreise nach Venedig, damit sie ihr wahres Ich wiedererlangt, und verliebt sich unterdessen in das keusche Kinderfräulein Gerda, das durch Schlichtheit, Demut, einen korrekt gezogenen Seitenscheitel und überkandidelte Sprechweise überzeugt. Dies alles wirft Oskarlein aufs Krankenlager, er fiebert schweißüberströmt dem frühzeitigen Kindstod entgegen, der Hausarzt tauscht tiefe Blicke mit Fräulein Gerda, die ununterbrochen Fieber misst und kalte Umschläge macht, der Generalmusikdirektor trinkt verzweifelt Alkohol, und genau in dem Moment, als er wirren Blickes und mit unkleidsam ins Gesicht fallenden Haaren vor dem Kamin herumtaumelt und das Wohnzimmer gerade Feuer fängt, kommt die Ehefrau völlig nüchtern aus Venedig zurück, reißt ihren brennenden Gatten vom Kamin weg und sinkt dann tränenblind auf das Krankenlager von Oskar, der die Augen öffnet und auf dem viergestrichenen C »Mami« quietscht, weshalb er augenblicklich gesundet und bis zum Aufflackern des Abspannes glücklich lächelnd die Hände seiner tränenüberströmten Eltern ineinander legt, während Kindermädchen Gerda und der Arzt sich im Hintergrund diskret miteinander aus dem Staube machen.

In sämtlichen dreiundzwanzig Kabelprogrammen wollte aber kein solcher Film kommen. Sorgfältig las ich sämtliche Filmbeschreibungen, die dem geneigten bundesdeutschen Durchschnitts-Fernsehkonsumenten den Anblick seiner heimischen Glotze schmackhaft machen sollten:

»Der gescheiterte Anwalt Marcello (hier mit Sohn Enrique) wagt einen Neuanfang …« Ach nein. Das tat ich ja selbst.

»Ein Bergarbeiter aus Lappland lernt in Helsinki eine junge Dienstmagd kennen …« Jeder Mann lernt irgendwann mal eine Dienstmagd kennen. Statt sie als solche einzustellen, heiratet er sie, weil er glaubt, dass das billiger kommt. Der dumme lappländische Bergarbeiter, der!

»Ein Zöllner findet im Wagen seines Vorgesetzten Major Fitzgerald …« Wahrscheinlich Rauschgift oder Falschgeld oder Waffen oder sonst was Langweiliges. Das kann doch eineHAUSfraunicht erschüt-tern!

»Die eifersüchtige Fanny Moll betrügt den Sportlehrer Specht mit Hausmeister Hugendubel …« Au ja! Das kann ich auch! Die attraktive Schauspielschülerin Franziska verliebt sich in ihren Lehrer Viktor Lange, was dieser nicht bemerkt. Jahre später wendet sie sich gefrustet der nächstbesten männlichen Begebenheit zu …

Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Weinflasche. Jawoll.

Eigentlich wäre es heute an der Zeit, endlich mit meinen Aufzeichnungen anzufangen. Wo doch Enno Winkel so wahnsinnig interessiert an meinem Leben war. Vielleicht sollte ich ihm als Erstes von der Russland-Tournee berichten. Das war mindestens so ein Knaller wie die Story mit dem brennenden Kapellmeister.

 

Wir saßen zu acht im Abteil. Der Zug schlingerte durch die Nacht. Fränzchen, gerade anderthalb, schlief auf meinem Schoß. Ich fühlte mich wie eine Flüchtlingsfrau im Zweiten Weltkrieg, besonders angesichts der Tatsache, dass ich mit Willi hochschwanger und mein angetrauter Ehemann an der Front war. Will Großkötter amüsierte sich auf dem Gang mit der schönen Dorothea, die in seinem Stück die Hauptrolle spielte. Und weil das Mitführen von schwangeren Ehefrauen und Kleinkindern auf Osteuropa-Tourneen bei Außentemperaturen von minus 16 Grad in Künstlerkreisen durchaus nichts Unübliches ist, war die Stimmung blendend. Ich war ein bisschen müde, aber was machte das schon. Um uns bei Laune zu halten, improvisierten wir Rollenspiele, soweit das der begrenzte Raum im Abteil zuließ. Später erzählten wir Schwänke aus unserer Jugend. Ich gab die Viktor-Lange-Geschichte zum Besten. »Hast du ihn jemals wiedergesehen?«, fragten die Anderen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er auf meine Erscheinung, egal ob schwanger oder nicht, keinen besonderen Wert legen würde. Wahrscheinlich hatte er mich längst vergessen.

Dann erzählte einer eine Gruselgeschicht über einen Meuchelmord, nach dem die Polizisten ahnungslos die Mordwaffe aufessen, weil die clevere Ehefrau ihren Mann mit einer tiefgefrorenen Hasenkeule erschlagen hat.

Die Idee mit der Hasenkeule fand ich faszinierend.

Im Laufe dieser Reise bekam ich immer mal wieder Anwandlungen, sie an Wilhelm einfach auszuprobieren. Er hatte darauf bestanden, dass wir mitfuhren, Franz, Willi-im-Bauch und ich. Er wollte sich nämlich die Chance eines Live-Mitschnitts nicht entgehen lassen. Das wäre doch die entscheidende Sprosse auf seiner Karriereleiter gewesen! Eine Spontangeburt in der Transsibirischen Eisenbahn! Ein Film von Will Groß!

Bereits auf der Hinfahrt verliebte sich der begabte Jungfilmer jedoch Hals über Kopf, wie das so seine künstlerisch bedingte Art war, in diese Schauspielerin. Ich hatte vollstes Verständnis für ihn, war doch seine angebetete Dorothea weder schwanger, noch schleppte sie ein übernächtigtes Baby mit sich herum.

Wilhelm Großkötter betete sie an, schenkte ihr auf dem schmuddeligen Bahnhof von Warschau alle zwölf Blumen, die es dort zu kaufen gab, und saß nächtens mit ihr turtelnd in der Hotelbar herum. Ich blieb mit Fränzchen im Schmuddelzimmer, damit das arme gestresste Kerlchen einschlafen konnte. Die Kollegen zerbrachen sich meinen Kopf; wie ich es nur mit so einem gemeinen Kerl aushalten könne! Ich mimte die Gleichgültige. Er ist halt so schön und begabt, mein Gott, das habe ich doch vorher gewusst. Und: Flirten mit der Hauptdarstellerin gehört für den Regisseur zum Handwerk, ich habe dafür jede Menge Verständnis! ICH würde auch mit Will Groß flirten, wenn ich in seinem Stück die Hauptrolle spielen würde!

Klar! Jede Menge Verständnis!

In der zweiten Nacht kam der liebende, fürsorgliche Gatte und Vater nicht mehr in unser gemeinsames Hotelzimmer. Ich wälzte mich stundenlang im Bett herum, ohne auch nur ansatzweise Schlaf zu finden. Sollte ich im Anita-Schwangeren-Ensemble über den Hotelflur schleichen und an allen Türen horchen, bis ich meinen Gatten vor Wonne stöhnend in den Armen einer Anderen gefunden hätte? Sollte ich dann schreiend das Liebesnest stürmen, mit einem Flaschenwärmer nach Dorothea werfen und meinen Gatten an sein Treuegelöbnis erinnern? Sollte ich den schönen Groß erschlagen? Mangels gefrorener Hasenkeule war ich nicht im Besitz einer passenden Mordwaffe. Ich hätte einen von diesen maroden Wasserhähnen aus der Wand reißen können, die waren sowieso tiefgefroren. Nur der Gedanke an ein Verhör in einer fensterlosen Zelle, wo mich sibirische Soldaten wodkatrinkend und grölend mit einer Lampe blenden und mit unverständlichen Fragen und johlendem Gelächter in die Enge treiben würden, hielt mich davon ab.

Sollte ich mich, verständnisvoll und tolerant, wie ich nun einmal war, zu den Beiden auf den Bettrand setzen, möglichst noch zu ihnen unter die Decke kriechen, weil es in diesem Hotel so kalt war, und sie »unter sechs Augen« um ein klärendes Gespräch ersuchen? Liebe Dorothea, sei mir nicht böse, dass ich störe, aber findest du nicht, dass in Anbetracht meiner Schwangerschaft ein so provokativer Seitensprung eventuell auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden könnte? Ach, du hast gerade keinen Eisprung! Und einen günstigeren Zeitpunkt gibt es für dich nicht!? Das kann ich verstehen, entschuldige, Dorothea, dann werd ich jetzt mal wieder rübergehen und nach dem Kleinen schauen. Lasst euch nicht weiter stören.

Ich könnte natürlich Dorothea vollkommen ignorieren und meine Worte ausschließlich Will Groß widmen. Liebling, muss das sein? Ausgerechnet heute? Du weißt doch, dass ich im neunten Monat immer zu Depressionen neige. Und dann krieg ich wieder Wochenfluss.

Nein. Ich wollte kein Spaßverderber sein.

Graugesichtig und übernächtigt saß ich nach durchwachter Nacht mit Fränzchen beim Frühstück in diesem scheußlichen, renovierungsbedürftigen, kalten Frühstücksraum, er krabbelte mit zwei Teelöffeln über den dreckigen Fußboden, ich fühlte Willi in meinem Bauch strampeln und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Gegen elf erschienen Dorothea und Wilhelm mit glänzenden Augen. Hand in Hand näherten sie sich meinem Tisch.

»Hast du gut geschlafen?«

Ich starrte sie an.

»Nee. Ihr?«

»Ja. Blendend.« Er sandte Dorothea einen dankbaren Seitenblick. Sie strahlte zurück.

»Wir sind wahnsinnig glücklich, du!«