Das Tagebuch der 66 - Alexandra Furnea - E-Book

Das Tagebuch der 66 E-Book

Alexandra Furnea

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Beschreibung

Am 30. Oktober 2015 kam es bei einem Konzert der Metalband »Goodbye to Gravity« im Bukarester Club Colectiv zu einem verheerenden Brand. 186 Personen wurden verletzt, die Zahl der Toten stieg – nicht zuletzt aufgrund der miserablen hygienischen Verhältnisse in den Krankenhäusern – auf 65. Es war die schwerste Katastrophe dieser Art nach der Revolution in Rumänien. Die nachfolgenden Proteste und Demonstrationen führten sogar zum Rücktritt der Regierung. Die damals 27 Jahre alte Musikredakteurin Alexandra Furnea überlebte den Brand mit schwersten Verletzungen. Ihr Tagebuch beschreibt jene Nacht, ihren Überlebenskampf im Krankenhaus und die anschließenden Behandlungen – auch in Deutschland –, die bis zum heutigen Tag notwendig sind. »Bisher ist mir in der Literatur keine überzeugendere Beschreibung der physischen und moralischen Hölle begegnet. Dies ist nicht einfach ein Buch, sondern ein notwendiges historisches Dokument für jeden Rumänen, das sich problemlos mit Namen wie Jewgenija Ginsburg oder Primo Levi messen kann.« Doru Căstăian, Professor der Philosophie an der Universität Galați »Diese Erinnerungen sind wie ein Schlag ins Gesicht. Sie sind schmerzhaft, anschaulich und wahr. Die Beschimpfungen, der Schmutz und die Lügen, mit denen die Autorin konfrontiert war, führten zu dem tiefen Widerwillen gegen eine zutiefst korrupte, politische Clique (...).« Diana Livesy, rumänische Übersetzerin und Journalistin

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Alexandra Furnea

Das Tagebuch der 66

Alexandra Furnea

Das Tagebuch der 66 – Die Nacht, in der ich brannte

Aus dem Rumänischen von Peter Groth

© Dittrich Verlag ist ein Imprint der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2024

Printed in Germany

ISBN 978-3-910732-31-5 eISBN 978-3-910732-36-0

www.dittrich-verlag.de

© Alexandra Furnea, 2022

Die Originalausgabe erschien im Rumänischen unter dem Titel »Jurnalul lui 66« bei Humanitas

Die deutsche Ausgabe erscheint in Zusammenarbeit mit der Ilustrata Agentur

Aus dem Rumänischen von Peter Groth

Satz: Gaja Busch, Berlin

Covergestaltung: Katharina Jüssen, Metternich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Die Nacht, in der ich brannte

Das Krankenhaus des Nichtheilens

Die verlassenen Brandopfer

Ewige Patienten, manchmal Menschen

Das Leben geht (nicht) weiter

Neun Jahre später

Epilog: Der andere Oktober

Für meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester.

Für alle, die in den Krankenhäusern des Nichtheilensgelitten haben oder gestorben sind.

Für jene, die trotz aller Unmenschlichkeitum sie herum Mensch geblieben sind.

Für die Engel in Weiß, die meine Seele geheilt haben,indem sie meinen Körper behandelten.

Für ein zukünftiges Rumänien, wo die Korruption ausgerottet ist undwo das Gesundheitssystem heilt, anstatt zu töten. Wo der Brand im

Club Colectiv die schreckliche Erinnerungan eine Tragödie ist, wie sie nie mehr geschehen kann.

Vorwort

Im Jahre 2017, zwei Jahre nach meiner Verletzung bei dem Brand im Club Colectiv, hatte ich im Internet über meine Behandlung im Bukarester Krankenhaus für Verbrennungen geschrieben. Die Reaktion der Menschen, die sich die Zeit genommen und meine Erfahrungen gelesen hatten, war überwältigend. Aufgrund dieser Liebe, Unterstützung und Ermutigung habe ich beschlossen, die Erinnerungen einer Person in Worte zu übertragen, die eine nationale Tragödie überlebt hat. Es fällt mir noch immer schwer, mich mit dieser Zuschreibung zu identifizieren, und es erscheint mir ungerecht im Angesicht der fünf- undsechzig Menschen, die keine Chance hatten, sich so zu nennen.

Im Laufe der Jahre haben mich Freunde und Fremde gebeten, einen längeren Text über Colectiv zu schreiben. Sie hatten nicht den Eindruck, dass die kürzeren Posts die ganze Geschichte erzählten, und sie hatten recht. Dennoch zögerte ich, denn tatsächlich schmerzt es noch immer. Doch irgendwann erkannte ich, dass diese Erinnerungen wie die Narben auf meinem Körper ein unauslöschlicher Teil von mir sind. In der Dunkelheit, die sie ausstrahlen, liegt ein Licht verborgen, das wir nutzen können, um uns aus der Finsternis heraus in eine bessere Welt zu führen. Ich kam zu dem Schluss, dass es sich lohnt, zurückzukehren in der Zeit, zu jenem Abend des 30. Oktober 2015 und allem, was danach geschah. Es war an der Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kam. Vielleicht kann ich auf diese Weise meine Hölle zur Rettung anderer nutzen. Mit dieser Absicht im Kopf und im Herzen habe ich begonnen, »Das Tagebuch der 66« zu schreiben.

Ich habe es so genannt und nicht etwa »Tagebuch einer Überlebenden«, weil in jedem von uns etwas gestorben ist – auch bei jenen, die es lebendig aus dem Klub und später aus dem Krankenhaus geschafft haben. Wir alle haben in jener Nacht unser Leben verloren und danach immer weiter Teile unseres Seins, mit jedem verstorbenen Freund, mit jedem Schmerz, gegen den man uns kein Schmerzmittel gab, mit jeder Demütigung, jeder Infektion und jeder Badeprozedur ohne Narkose, unter miserablen Bedingungen in armseligen Krankenhäusern, wo es nicht um das Heilen ging, sondern um Korruption. In der Angst vor aufwendigen rekonstruktiven Operationen, in der Resignation, mit der wir die Einwilligungspapiere unterschreiben, wo der Tod als mögliche »Komplikation« des Heilvorgangs vermerkt ist, in den finsteren Nächten, die von Sehnsüchten, Albträumen, Reue und Zweifel erfüllt sind, wenn wir uns fragen, ob es nicht einfacher wäre, einfach aufzugeben, in all dem wird deutlich, dass jeder von uns zum Opfer Nummer 66 werden könnte.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus für Verbrennungen musste ich in den folgenden Jahren mehr als vierzig rekonstruktive Eingriffe über mich ergehen lassen. Leider ist das nicht das Ende und wird es niemals sein. Für den Rest meines Lebens werde ich mich Operationen und medizinischen Behandlungen unterziehen müssen, um das zu reparieren, was das Feuer zerstört hat, und auch das, was das Gesundheitssystem in Rumänien angerichtet hat. Wenn ich auf dem Operationstisch liege und mir der Anästhesist die Sauerstoffmaske aufsetzt, schließe ich die Augen und bete zu Gott, dass er mich wieder aufwachen lässt. Ich weiß, dass die Möglichkeit besteht, es nicht mehr zu tun. Und dann, bevor ich von der Dunkelheit erfasst werde, wenn die Betäubungsmittel durch meine Adern fließen und das Skalpell seine Arbeit tut, spüre ich entsetzt, wie mich der Horror der 66 überwältigt.

Ja. Wir laufen Gefahr, unsere Leben als verspätete Folge jenes 30. Oktober 2015 zu der schrecklichen Reihe der Verstorbenen hinzuzufügen. Wir müssen einen hohen Preis bezahlen, wenn wir uns eine gewisse Lebensqualität bewahren wollen. Wir müssen akzeptieren, dass jede Behandlung Risiken mit sich bringt, auch den Tod. Das ist der Alltagskampf der Überlebenden des Feuers im Club Colectiv. Dennoch ist der Tod für uns zunächst nur abstrakt. Für unsere begrabenen Freunde und ihre Familien ist er eine herzzerreißende und unerbittliche Realität. Zu den Opfern gehören auch die Eltern, die vor Schmerz krank wurden und ihren Kindern folgten, die zu den Sternen gegangen sind.

Ich habe mich dazu entschieden, ein Tagebuch zu schreiben, weil ich keinen schönen Text verfassen wollte, sondern einen ehrlichen, der jene Gedanken wiedergibt, die mir in den schwersten Momenten meines Lebens durch den Kopf gegangen sind, als meine Hände nutzlos waren. Als meine Worte einfach und ursprünglich waren, während ich vor Schmerzen weinte und die dunklen Schrecken erkannte, denen ich ausgesetzt war. Manche werden meine Aussagen als Hilferufe betrachten, andere als Kritik an der Korruption in Rumänien. Mein Tagebuch wird unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen Menschen haben. Für mich ist es eine Möglichkeit, dem Leiden einen Sinn zu geben.

Die verwendeten Namen im Buch sind nicht echt, doch alles andere ist es. So schrecklich manche Szenen wirken, so muss ich betonen, dass ich nichts um des Effektes willen dramatisiert haben. Leider sind sie genauso passiert. Ich habe die Identität derjenigen, die mir geholfen haben, nicht preisgegeben, weil ich sie schützen möchte. Was diejenigen betrifft, die in weniger ehrenwerten Situationen auftauchen, so haben sie Pseudonyme bekommen, da ich nicht den Eindruck erwecken will, rachsüchtig zu sein. Mein Ziel ist es nicht, zu bestrafen, sondern das zu berichten, was geschehen ist, wie ich es mit eigenen Augen gesehen und erlebt habe. Ich überlasse es der Justiz und Gott, sich mit dem Urteil zu befassen, und hoffe auf einen fairen Prozess.

Ursprünglich habe ich »Das Tagebuch der 66 – Die Nacht, in der ich brannte« in den sozialen Medien und auf meiner Website veröffentlicht: www.genunderground.ro. Jetzt hat meine Geschichte durch die großzügige Unterstützung des Humanitas-Verlags die Chance erhalten, zu einem Buch zu werden. Darüber bin ich sehr froh und danke allen, die mich unterstützt haben. Ohne die Hilfe, das Vertrauen und die Ermutigung wäre das Tagebuch womöglich niemals zu einem richtigen Buch geworden, und noch viel weniger zu einem so schönen und sorgfältig Redigiertem. Die physische Version erfüllt mich mit Freude und vor allem mit einem Gefühl der Erleichterung. Meine Leidensgeschichte in einem richtigen Buch zu sehen, dessen Seiten Geruch, Farbe, Textur und Gewicht haben – was der Geschichte selbst eine Greifbarkeit verleiht, indem es sie aus den virtuellen Räumen meines Verstandes und des Internets herausholt –, hilft mir auf besondere Weise, mich von diesen schrecklichen Momenten zu distanzieren und innerlich zu heilen. Für mich ist es nicht nur ein Buch. Es ist ein Teil von mir. Es ist ein Bruchstück meines intimsten Seins. Es ist wie mein Herz, aus Papier geformt und mit Tinte illustriert. Es ist meine Seele in Gestalt eines Dokumentes.

Ich kann nicht versprechen, dass es eine einfache Lektüre sein wird und ich glaube auch nicht, dass ich ein Meisterwerk geschrieben habe. Ich bitte darum, mein Tagebuch mit Nachsicht zu betrachten und nicht zu erwarten, dass es mehr ist als das, was es ist: eine Sammlung von Bekenntnissen aus der Hölle, die Menschen einander antun, doch auch ein zaghafter Wegweiser für eine bessere Welt, in der die Korruption und damit einhergehende Grausamkeit ausgelöscht und durch Hoffnung, Respekt und Liebe ersetzt werden kann. Eine Welt, in der das Leben wichtiger ist als das System, politische Macht und Geld.

Ich kann dieses Vorwort nicht beenden, ohne ein paar Worte über Goodbye to Gravity zu sagen. Beim Lesen von »Das Tagebuch der 66 – Die Nacht, in der ich brannte« sollte man die Musik der Band aus den Seiten erklingen lassen. Die Lektüre sollte wie ein Soundtrack von ihr durch die Kapitel begleitet werden, mal laut, mal leise. Sie soll allem Bedeutung geben, was geschehen ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie von der Stille des Vergessens überdeckt wird. Diese Songs sollten die zeitgenössischen Hymnen für eine Verwandlung zum Guten sein, für Rumänien und für alle anderen Länder, die unter der Korruption leiden.

Vielen Dank an alle, die mein Zeugnis lesen werden, und auch an diejenigen, die schon von mir gelesen und mich ermutigt haben, diese Texte zu veröffentlichen. Nur gemeinsam können wir diese Tragödie zu dem Wendepunkt machen, an dem Rumänien beschlossen hat, das Unannehmbare nicht länger hinzunehmen.

September 2023

Die Nacht, in der ich brannte

Es ist sechs Uhr abends. Nachdem ich die letzten Korrekturen für die Artikel beendet habe, die ich morgen veröffentlichen werde, entspanne ich ein wenig meine Augen, indem ich mir die gerahmten Poster an den Wänden ansehe. Viele sind von den Künstlern selbst signiert worden. Die Redaktion sieht genauso aus, wie ich sie mir als Jugendliche vorgestellt habe: ein großer Raum voller Bandposter und ein klobiger Holzschreibtisch in der Mitte, an dem ich Artikel über Musik schreibe. Ein Gefühl des Glücks überkommt mich. Mein Teenager-Ich ist stolz auf die siebenundzwanzigjährige Frau, die es geschafft hat, ihren Traum in die Wirklichkeit umzusetzen.

Vor fünf Jahren hat mir Nelu, der Chefredakteur der Zeitschrift, die Chance gegeben, probeweise ein paar Artikel für das Maximum Rock Magazine zu schreiben. Ich habe das Angebot sofort angenommen, und unsere damalige Zusammenarbeit hat sich in einen festen Arbeitsplatz verwandelt. Ich hatte ihn zu einer Zeit kennengelernt, als ich daran zweifelte, ob ich jemals die Gelegenheit bekommen würde, als Journalistin für ein Online-Rockmagazin zu arbeiten. Und genau das tue ich jetzt!

Ich beende meine Arbeit und verlasse das Büro. Die enge Gasse, auf der sich unsere Redaktion befindet, ist ungewöhnlich düster, und in der herbstlichen Dämmerung erinnert sie mich an eine seltsame Asphaltzunge, die chaotisch mit kleinen Häusern übersät ist, die zwischen den riesigen Wohnblocks wie verloren wirken. Seit ein paar Tagen ist es draußen kalt geworden und es riecht schon fast nach Winter. Ich denke an meine warme Studiowohnung und beeile mich, dankbar dafür, dass ich in der Nähe wohne. Wie schnell die Zeit vergeht … Ich stöhne und werde traurig. Eigentlich habe ich dazu keinen Grund, doch seit einiger Zeit leide ich stärker an den einsamen Nächten in der Großstadt. Ihr Gewicht liegt schwer auf meinem jungen Herzen in der schlaflosen Dunkelheit meiner einfachen Mietwohnung.

Ich komme auf den belebten und hell erleuchteten Boulevard. Unter dem warmen Laternenlicht schmelzen meine Sorgen zu einem bitteren Lächeln, während mich das geschäftige Treiben der Menschen für den Augenblick aus dem seltsamen Zustand reißt, in dem ich mich zuvor befand. Ich setze die Kopfhörer auf, stelle die Lautstärke höher, und verliere mich in der Menge. Im letzten Augenblick entscheide ich mich, mir etwas zum Abendessen zu kaufen. Als ich aus dem Geschäft trete, regnet es in Strömen. Ich warte nicht darauf, dass sich der Himmel beruhigt, sondern gehe mit den Einkaufstüten in der Hand nach Hause.

Die Traurigkeit, die mich beim Verlassen der Redaktion erfasst hatte, ist zurückgekehrt. Manchmal stelle ich mir zu viele Fragen. Ist es wirklich eine gute Idee, in Rumänien zu bleiben, wo doch so viele Freunde ins Ausland gezogen sind? Sollte ich mir nicht lieber eine Arbeit suchen, die besser bezahlt ist? Wenn ich weggehe, was wird dann aus meiner Mutter und meiner Schwester? Immer häufiger quälen mich diese Zweifel, und auch wenn ich zumeist zufrieden mit meinem Leben bin, so kann ich doch das Gefühl nicht abschütteln, als würden die Dinge nicht so laufen, wie sie es tun sollten, als würde ein Mosaikstein fehlen. Mitten auf dem Fußgängerüberweg bleibe ich achtlos stehen, die schweren Einkaufstüten fest in den Händen, und hebe den Kopf zu dem bleiernen Himmel. Die kalten Tropfen wischen die letzten Schminkspuren des Tages ab, zusammen mit den aufkommenden Tränen in meinen Augen, die den unbekannten Schmerz mildern, der mich plagt. Sie erfrischen mich. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Manchmal fühlt es sich so an, als würde ich die Last der Welt auf den Schultern tragen. Ich gehe weiter und versuche, so trocken wie möglich nach Hause kommen.

Ich bemerke sie erst spät, als ich bereits nach den Schlüsseln in der Tasche suche. Sie steht sehr still am Fußgängerüberweg, ohne sich um die stärker fallenden dicken Regentropfen zu kümmern. Die Menschen gehen an ihr vorbei, doch sie rührt sich nicht, wie ein seltsamer Fels inmitten eines bewegten Ozeans aus Gesichtern und Armen. Sie ist so unbeweglich unter dem Ansturm des Himmels, dass man meinen könnte, sie hätte einen unsichtbaren Schild, der sie vor dem gnadenlosen Prasseln bewahrt. Und vor der Gleichgültigkeit der anderen um sie herum. Sie ist alt, wesentlich älter als meine Mutter. Als hätte sie sich in der großen Welt verlaufen. Weiß sie, wo sie ist? Ihre blauen Augen sind ungewöhnlich hell. Sie trägt schlechte Kleidung, die schon bessere Tage gesehen hat. Ich kann sehen, dass ihr Mantel zu dünn für das Wetter ist, und ihre abblätternden Stiefel aus Kunstleder sind vom vielen Tragen krummgelaufen. Ich bin mir sicher, dass sie darin nasse Füße hat. Sie blickt mich an und flüstert etwas, wie für sich selbst. Dann spricht sie mich direkt an. Sie fragt mich mit einer demütigen Stimme, ob ich weiß, wie sie zur Strada Emil Gârleanu kommt. Dabei sieht sie mich freundlich und geduldig an.

Ich erkläre es umständlich, sie dankt mir und dreht den Kopf zum Fußgängerübergang, als würde sie auf ein Wunder warten, das sich wieder verspätet. Ich betrachte sie ein paar Sekunden verwirrt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht würde ich sie beleidigen, wenn ich ihr Geld anbieten würde. Ich beschließe, nach oben in die Wohnung zu gehen, nach einem Regenschirm zu suchen und ihn ihr zu bringen. Ich beeile mich, schnell oben anzukommen, suche nach einem Schirm, dann gehe ich wieder runter auf die Straße. Doch die Frau ist verschwunden. Mein kleiner Ausflug hat nicht länger gedauert als ein paar Minuten, und trotzdem hat das Schicksal entschieden, uns zu trennen. Wie schnell sie mit ihrem bekümmerten Herzen verschwunden ist. Ich suche nach ihr. Ich gehe auf die andere Seite und mache ein paar Schritte in Richtung der gesuchten Straße, dann kehre ich zurück. Sie ist nirgends zu sehen. Der Regen hört plötzlich auf und hinterlässt große Pfützen, in denen sich die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos spiegeln. Ich betrachte hoffnungslos den Schirm und werfe mir vor, dass ich nicht schneller war. Dass ich sie nicht gefragt habe, ob ich ihr helfen kann. Wenn ich ihr etwas Nettes gesagt hätte? Etwas, dass sie ein wenig getröstet hätte, zumindest für heute Abend?

An der roten Ampel bleiben Passanten stehen, dann gehen sie in Scharen weiter, ein ständiges Kommen und Gehen. Manche sind laut und jung, andere alt und schweigsam in abgetragenen und schäbigen Kleidern und mit dicken Mützen auf grauen Köpfen. Einige sind arm und einsam, andere haben keine Sorgen und tippen eifrig auf ihren leuchtenden Handys. Die alte Frau ist nicht zurückgekehrt. Sie ist aus dem bunten Kaleidoskop der Welt herausgefallen, hat nur die Erinnerungen an ihr trauriges Gesicht zurückgelassen, mit jenen blauen, geheimnisvollen Augen. Sie war unsichtbar geworden, obwohl es so wichtig für sie war, gesehen zu werden. Aber wir hier unten sind alle blind.

Das Bedauern überkommt mich, als ich später am Abend das Essen zubereite. Es verfolgt mich auch am nächsten Tag und die ganze Woche. Täglich gehe ich denselben Weg von der Redaktion nach Hause und hoffe, dass ich sie erneut am Fußgängerüberweg erblicken werde. Doch das geschieht nicht. Ich frage mich, ob das nicht womöglich einer von Gottes Tricks war, so wie im Märchen. Vielleicht stellte er uns Engel in den Weg, die als bedürftige Seelen verkleidet sind, um uns zu testen und zu sehen, ob es etwas wert ist, was wir im Innern haben. Der Gedanke ist absurd, doch als die Zeit vergeht und der Herbst tiefer in die Dunkelheit versinkt, denke ich oft an die alte Frau und es bricht mir jedes Mal das Herz, wenn ich daran denke, wie sie dort verlassen an der Ampel stand, allein, mit nassen Kleidern, verloren in der großen Stadt. Ich schließe die Augen und bitte sie leise um Vergebung. Ich hoffe, dass sie gefunden hat, was sie suchte, auch wenn ich keine große Hilfe für sie war. Ich bitte auch Gott um Vergebung und hoffe, dass mich meine Jugend entschuldigt.

Ein paar Tage später ist schon der 30. Oktober – der Abend des Konzerts. Ich verlasse die Redaktion früher und beeile mich, nach Hause zu kommen und mich vorzubereiten. Ich warte schon lange auf die Gelegenheit, Goodbye to Gravity live zu hören. Auch wenn ich mich bemühe, die in der Woche angesammelte Müdigkeit abzuschütteln, bekomme ich die Schwere der Welt nicht von den Schultern, und spüre, wie mich wieder die Sorge überkommt. Ich sehe mir die Kleider in meinem Schrank an und beschließe im letzten Moment, doch nicht das Kleid zu tragen, das ich zuerst ins Auge gefasst hatte. Dafür ist es draußen viel zu kalt. Ich ziehe mir eine schwarze Jeans an und ein passendes T-Shirt mit Schulterpolstern, dazu eine Jacke. Ich kämme mir die langen, erst vor Kurzem schwarz gefärbten Haare, und ziehe die Stiefel an. Ich bin zufrieden mit meiner umsichtigen Kleiderwahl.

Bevor ich das Haus verlasse, bekomme ich eine SMS von Tamara. Sie lässt mich wissen, dass sie auf dem Weg ist, deshalb schreibe ich, dass ich es kaum erwarten kann, sie zu sehen. Ich beschließe, zu Fuß zum Klub zu gehen und kein Taxi zu rufen. Normalerweise brauche ich bis dahin nicht länger als fünfzehn Minuten. Ich blicke zum Fußgängerüberweg vor meinem Haus, doch die Straße ist ungewöhnlich leer. Ich merke, dass ich die Kopfhörer oben gelassen habe, doch es ist zu spät, um noch einmal zurückzukehren, deshalb summe ich einen Song von Goodbye to Gravity, um in die richtige Stimmung für das Konzert zu kommen.

Ich betrachte die erleuchteten Fenster der kommunistischen Wohnblocks auf dem Bulevard Octavian Goga und versuche, mir die Leben dahinter vorzustellen, in den schönen und ordentlichen Wohnungen, oder in den unordentlichen und vollgestopften. Welche Geschichten sich die Menschen darin jetzt wohl erzählen? Welche guten oder schlechten Nachrichten besprechen sie am Tisch? Ich male mir aus, wie hinter dem elektrischen Gelb der Fenster eine vierköpfige Familie wohnt, so wie es früher bei mir war. Die ältere Tochter bereitet sich darauf vor, auf eine Party zu gehen, und die jüngere beobachtet bewundernd, wie sie sich schminkt und ankleidet, während sie sich wünscht, auch schon so groß und so hübsch zu sein. Sie liegt bäuchlings im Zimmer der Schwester auf dem Bett und malt unbeholfen ihr Porträt. Sie ist das schönste Mädchen auf der ganzen Welt, mit ihren blonden Haaren und den braunen Augen. Ihr Vater raucht in der Küche, malt dabei Karikaturen von Politikern auf dasselbe Blatt Papier, wo die Zahlen der Ratenbeträge und anderen Schulden ihre hungrigen Mäuler aufreißen. Die Mutter kocht Kaffee und blickt liebevoll zu ihrem Mann, der über ihre finanziellen Sorgen gebeugt plötzlich gealtert zu sein scheint. Doch nein, das stimmt nicht. Er ist noch jung und hübsch für sie, und das wird er für immer sein.

»Du wirst leben«, sage ich ihm. »Du wirst länger bei ihnen bleiben.« Obwohl es bereits Ende Oktober ist, fühlt sich der Abend milde an, und meine Hirngespinste lassen mich schmunzeln. Ich bin überzeugt, dass diese Menschen, die ich mir ausgedacht habe, irgendwo tatsächlich leben und glücklich sind.

Das Konzert hat bereits begonnen, als ich ankomme. Um den Klub moderner zu gestalten, haben die Eigentümer einen Metallcontainer vor den Eingang installiert, als Anspielung auf den angesagten industriellen Style. Ich gehe hindurch, um in den Hauptraum zu kommen, wo die Konzerte stattfinden. Die Band beendet gerade das erste Stück und ich sehe etwas von der Pyro-Show. Das Feuerwerk geht los und beleuchtet die lächelnden Gesichter des Publikums. Ich grüße ein paar Freunde und gehe zur anderen Seite des Raums, wo ich Nelu und die anderen Kollegen aus der Redaktion treffe. Das Publikum applaudiert und alle sind begeistert. Das neue Album von Goodbye to Gravity ist ein Meisterwerk und ich bin überzeugt, dass es neue Maßstäbe für die rumänische Metal-Szene setzen wird. Die Bandmitglieder wirken glücklich und ich freue mich, ihre lebhaften Gesichter zu sehen. Sie haben hart dafür gearbeitet, dass die Stücke so gut klingen. Ich wechsle ein paar Worte mit Ciprian, einem anderen Redakteur, und mit seinem jüngeren Bruder Mihai. Nelu gibt mir zu verstehen, dass ich mir Notizen machen soll, um einen ausführlichen Bericht über das Konzert zu schreiben. Ich nicke und richte meine Aufmerksamkeit auf die Bühne.

Das Album Mantras of War, das die Band heute vorstellt, hat eine starke gesellschaftskritische Message. Metal hat sich schon immer mit diesem Aspekt beschäftigt, und der Band ist ein Album gelungen, das die Geschichte unserer Generation erzählt. Wir sind eine gequälte Gruppe voller innerer Konflikte, wie es im ersten Song, den ich teilweise verpasst habe, gut zusammengefasst wird – The Day We Die. Das Stück handelt von Korruption, von der Notwendigkeit kollektiven Handelns, um diesen alltäglichen Feind zu stoppen. Sie verwenden zahlreiche harte Metaphern, die Bilder einer Kriegsfront voller Menschen heraufbeschwören, die sich nach Veränderung sehnen.

Shadow Puppets beginnt und auch dieser Song beschäftigt sich mit diesen Krankheiten. Das gesellschaftliche Böse hat Metastasen gebildet und der Kampf dagegen wird persönlicher. Diesmal ist der Schauplatz unser intimes Dasein, das allen möglichen Manipulationen und Spielen unterworfen ist, deren letztes Ziel darin besteht, uns von unserer eigenen Seele zu entfremden.

Der kraftvolle, aggressive Sound entspricht den Inhalten. Ich höre auf die eindringliche Stimme des Sängers und merke, dass man über die erdrückende Last dieser Dinge nur mit dem tiefen Grollen singen kann, das der speziellen Metalvariante der Band die explosive Schärfe verleiht. Er singt mit lauter Stimme über das Böse in unserer Gesellschaft, das so viele Leben fordert und unsere Seelen so tief verletzt. Auf einmal erinnere ich mich an die ersten Zeilen der E-Mail, die ich an das Zulassungsbüro der Sibelius Academy in Helsinki wegen meiner Bewerbung für den Masterstudiengang Kunstmanagement geschrieben habe. »Als junge Veranstaltungsmanagerin würde ich sehr gern dieses interessante und umfassende Studium absolvieren, um meine Erfahrungen und Kenntnisse signifikant zu verbessern«, schrieb ich, wie eine richtige Streberin, um die Professoren zu beeindrucken und einen Weg aus diesem dysfunktionalen Land zu finden. Was habe ich zu verlieren, wenn ich mich um ein Stipendium bemühe, frage ich mich mitten im Konzert, und achte gar nicht mehr auf die Musik. Wenn ich nicht weggehe, dann verpasse ich womöglich die letzte Gelegenheit auf ein besserers Leben. Doch vielleicht ist das auch nur ein Hirngespinst. Die Sehnsucht nach meiner Familie überkommt mich. Ich denke an meine Neffen, an ihr Schicksal hier in Rumänien. Wie soll diese gleichgültige Gesellschaft sie beschützen? Was wird mit meiner verwitweten Mutter geschehen? Oh, es reicht mit den schwarzen Gedanken, rüge ich mich. Ich bin ausgegangen, um mich zu unterhalten. Nach dem Konzert habe ich noch genug Zeit, um darüber nachzudenken.

Ich sehe mich im Publikum um. Die meisten Leute hier kenne ich. Sie arbeiten wie ich in Redaktionen, sie schreiben, fotografieren und bemühen sich, die alternative Kultur zu fördern, die in Rumänien durch Vorurteile und dem Desinteresse der Massenmedien ein Schattendasein führt. Die Presse sieht keinen Sinn darin, talentierte und integre Künstler zu unterstützen, so lange sie nicht für das breite Publikum verkäuflich sind, das daran gewöhnt ist, leicht verdaulichen Müll vorgesetzt zu bekommen. Man nennt uns Underground, weil wir nicht den kommerziellen Sound des sogenannten Mainstreams mögen, der mit oberflächlichen Interpreten bevölkert ist, die kaum gut genug dafür sind, im Radio und Fernsehen ausgestrahlt zu werden, wo sie verschlungen und wieder ausgespuckt werden. Wir sind der Underground, weil wir an einen Ort der Voreingenommenheit verbannt wurden, irgendwo im Untergrund der Kultur, lebendig begraben mit unseren Träumen. Dieser Ort ist nicht unser Zuhause, genauso wenig wie das, was sich »oben« befindet.

Unverstanden, diskriminiert, lächerlich gemacht, besteht der einzige Makel dieser Bewegung darin, dass sie sich von der aktuellen Mode im Bereich der Musik nicht repräsentiert fühlt. Weil eine inklusive und diverse kulturelle Infrastruktur fehlt, gehen viele Künstler verloren. Es liegt nicht am fehlenden Talent oder der schlechten Qualität ihrer Produkte, weshalb sie aufgeben, sondern an der erbarmungslosen Gier eines Musikmarktes, für den der kulturelle Wert keine Bedeutung hat, wenn er sich nicht verkaufen lässt. Die Folgen dieser Haltung erkennt man daran, wie die Bands von denen behandelt werden, die sie beschützen sollten. Sie werden dazu gezwungen, in unsicheren Veranstaltungsorten aufzutreten, von Veranstaltungspromotern gedemütigt, von Klubbesitzern oder Organisatoren, die ihnen ihre Gage vorenthalten und sie höchstens dafür missbrauchen, um an schlecht verkäuflichen Wochentagen Lücken im Veranstaltungskalender zu füllen. Sie werden bestraft, weil sie einer Leidenschaft frönen, die für die meisten von ihnen eine Rettung in einer Gesellschaft bedeutet, die auch noch dreißig Jahren nach dem Systemwechsel nach Orientierung sucht.

Wir Journalisten und Fotografen teilen dasselbe Schicksal mit den Musikern. Wir sind die Generation Underground, die sich in Nischen geflüchtet hat, in denen wir Bruchstücke von Sinn entdecken. Die Massenkultur gefällt uns nicht. Sie hat nur den Anschein von Normalität und ist tatsächlich bis ins Mark verdorben. Der Mainstream stinkt nach Falschheit und Korruption. Deshalb bevorzugen wir den Underground, auch wenn die Wahrheit von hier schwerer an die Öffentlichkeit kommt. Wie soll man eine Welt nennen, in der die Werte umgekehrt wurden, wo das Gute als Schlechtes durchgeht und wo das Böse so trivial ist, dass es nicht einmal als solches erkannt wird? Das ist eine Dystopie. Die rumänische Gesellschaft hat ihre Strukur nach der Revolution gegen den Geist der Ganzheitlichkeit und wahrer Werte erbaut, was schon an so kleinen Dingen wie der Musikindustrie zu erkennen ist. Werte sind bedeutungslos, wenn man sie nicht auf eine Rechnung setzen kann. Lang lebe der Underground! Oh, wir könnten dem entkommen, indem wir einfach weggehen, wie ich es mir gerade überlege. Aber was geschieht mit denen, die nicht fliehen können, die zu bleben gezwungen sind? Auf welche schreckliche Weise werden ihre Seelen von den Monstern verschlungen, die wir am Leben lassen?

Das stete Vibrieren meines Handys in der Hintertasche reißt mich aus meinen Gedanken. Tamara ist angekommen und wartet, dass ich ihr erkläre, wo ich stehe. Ich antworte ihr und kurz darauf taucht ihr strahlendes, lächelndes Gesicht aus der Menge auf. Ihre zierliche Gestalt schwebt leicht durch die eng zusammenstehenden Körper und hebt sich von dem wogenden Auf und Ab des Moshpits ab. Jetzt lacht sie.

»Wow, die Jungs sind ganz schön laut!«, ruft sie kaum hörbar. »Toller Sound!«

Die Gitarren von Mishoo und Vlad spielen in perfekter Harmonie, während Bogdans Drums die Melodie vorantreiben, immer im typischen Sound von Goodbye To Gravity, den die fünf Bandmitglieder erschaffen. Der wahre Puppenspieler ist aber Pascu, dessen mathematisch präzise Bassläufe die Struktur aller Songs zusammenhalten. Wenn Bogdan das Herz ist, dann ist Alex das Gehirn, Mishoo und Vlad sind die geschickten Hände, und die Seele ist Andrei. Mit seiner mal melodiösen, mal rauen Stimme ist er wie ein Vermittler zwischen der Welt der Instrumente und der Menschen. Ihr Talent und ihre Chemie greifen perfekt ineinander und macht sie zu einer der besten Metalbands, die das Land je gehabt hat.

Der Song endet, das Publikum applaudiert und es folgt Atonement. Es kommt mir vor, als wäre das Lied für mich geschrieben.

»I started running / I wasn’t gonna just stand there and wait / For thechanges that were sure to dissipate.«1

Das Lied erzählt die Geschichte meiner Generation, von dem Fluch, zwischen zwei Welten gefangen zu sein, sich entscheiden zu müssen, ob man bleibt und kämpft, oder geht.

»I figured why should I risk it / I don’t wanna venture and I don’t wannagain / Instead of making the choices / I’d rather be left with silenceagain.«2

Und es ist so, als wäre es egal, wie wir uns entscheiden, denn es wird immer die falsche Entscheidung sein.

»For taking my time to find atonement / Taking my time to feel the moment / Taking the time to shun an omen / For taking in all my time.«3

Wir lügen uns an, dass wir so viel Zeit zur Verfügung haben, und ehe wir uns versehen, sind wir alt und verloren in uns selbst und in den anderen. Das Zögern wird chronisch und verwandelt sich in die Unmöglichkeit zu handeln. Was sollen wir tun in diesem blinden und stummen Land, das so sehr vom Bösen erfüllt ist, zugleich aber auch voll ist von dem, was zutiefst das Unsere ist? Unser Zuhause, die Hölle.

Der Applaus unterbricht meine Gedanken. Das Publikum in der ersten Reihe tanzt unter den begeisterten Blicken der Band. Ich erwache aus meinem Sinnieren und sehe zu, wie die jungen Fans verspielte Circle Pits bilden. Sie schieben und schubsen einander, sie springen hoch und fallen in einem Spiel, das wie eine Hommage an ihre bewegte Jugend ist. Four Minutes of Rage stachelt sie an und ich beobachte amüsiert ihr buntes Treiben. Die Künstler strahlen mit großen Augen und sind begeistert, dass sie ihnen einen Safe Space zum Entladen ihrer Energie bieten können. Es folgt Rise From The Fallen. Ich bemerke, dass die Band die Songs in der Reihenfolge des neuen Albums spielen. Ob ich wohl die Gelegenheit haben werde, I Won’t Wait zu hören, meinen Lieblingssong von Goodbye to Gravity, den ich auf dem Weg zum Klub gesummt habe? Er ist von ihrem ersten Album und ich weiß nicht, wie viel sie davon spielen werden.

Die Band scheint meine Gedanken zu lesen, zumindest teilweise, denn als nächsten Song spielen sie The Cage. Das ist eine ihrer ersten Veröffentlichungen und die Fans reagieren lautstark mit Applaus und Jubeln. Das nächste Stück, Unusual Suspects, ist ein anderes Lieblingslied von ihrem Debütalbum und wird mit derselben Begeisterung begrüßt. Die Kids in der ersten Reihe singen die Texte auswendig mit dem Sänger. Irgendwann hält Andrei das Mikrofon an die Lippen eines Fans, der inbrünstig mitsingt, um zu zeigen, dass er selbst das Zeug zum Rockstar hat.

Die ersten Akkorde des Covers von Iron Maidens The Evil That Men Do erklingen, und ich weiß, dass der Song einer der Höhepunkte des Abends sein wird. Iron Maiden ist Pascus absolute Lieblingsband, und die Freude, die er beim Spielen dieses Songs empfindet, ist überwältigend. Es muss umwerfend sein, seinen Idolen auf diese Weise vor den Menschen zu huldigen, die ihn und seine Kunst bewundern. Mishoo und Vlad schließen sich ihm an, während sie meisterhaft ihre Gitarren bearbeiten, wie elektrisiert von der Musik und der Begeisterung der Zuschauer. »Jetzt seid ihr an der Reihe mit dem Refrain!«, ruft Andrei. Er ist vollkommen glücklich in diesem Moment, überwältigt von Emotion und purer Freude. Ich beobachte, wie diese Künstler unsere Seelen durch die Musik miteinander verweben, und ich merke, dass diese Leute dafür geboren sind, auf der Bühne zu sein.

»An der Gitarre haben wir Vlad Țelea!«

Der Sänger zeigt auf seinen schüchterneren Kollegen, der trotz der Aufmerksamkeit und dem lauten Applaus ein perfektes Solo abliefert. Er nickt mit dem Kopf, als die Musiker einander ansehen, begeistert davon, hier vor uns das zu tun, was sie am meisten lieben. Die Musik gibt ihnen ein Gefühl der Erfüllung, das sich durch die explosiven Klänge ihrer Kunst auf das Publikum überträgt. Es legt sich um unsere Herzen und verbindet uns in diesem höchsten Glücksmoment, eine Hommage an die Schönheit des Lebens. Diese Menschen geben mir so viel Hoffnung. Doch dann denke ich an ihre Zukunft jenseits dieses Konzertes, wenn sie von der Bühne gehen und es wieder mit der gleichgültigen Musikindustrie zu tun haben. Ich denke an meine Zukunft, an unsere Zukunft, wenn wir diesen Ort verlassen und zurückkehren in die Außenwelt voller Fehler und Nachlässigkeit.

Der Song nähert sich dem Ende und ich stelle mir vor, dass wir hier alle Teile desselben Ganzen sind, dieser seltsamen Generation, die das Privileg der Freiheit hatte, ohne von der Geiselhaft einer Diktatur beschränkt zu werden. Wir sind jung genug, dass wir nicht von der Geschichte überwältigt sind, zugleich aber auch nicht ausreichend weit davon entfernt, um nicht mehr Opfer ihrer Fehler zu werden. Wir befinden uns an der Kreuzung zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte, in einem Fegefeuer namens »Rumänien«, in dem die Vergangenheit der Hoffnung einen Knebel ins Maul stopft und sie zwingt, angesichts der Ungerechtigkeit zu schweigen.

Wir führen unsere Leben zerrissen zwischen dem Wunsch, von hier zu verschwinden, und etwas anderem, einer Art Mission, die uns anspornt, hierzubleiben und den Kampf gegen den Status quo zu führen. Die Musik von Goodbye to Gravity drückt diesen inneren Zwiespalt perfekt aus. Ihre Musik, aber auch ihr Schicksal, das die Band so grausam dazu zwingt, in einer unbeachteten Nische zu existieren, wo ihre Botschaft ungehört bleibt. Wir teilen dieses Schicksal und die »Sünde«, etwas anderes zu wollen, etwas Besseres, in einer Welt voller Kompromisse und Korruption. Wie schon gesagt: Wir sind die Generation Underground, und welches Übel auch immer unsere Prediger befällt, quält uns auch.

Der Refrain wird mehrmals wiederholt, dann wird die zweite Garbe an Feuerwerkskörpern gezündet, begleitet von unserem Applaus. Tamara klatscht laut mit und lächelt mich an. So viele schöne Menschen sind heute Abend hier. Positive Energie strahlt von unseren jungen Seelen aus und erinnert uns daran, dass wir alle gemeinsam dabei sind.

Auf der Bühne passiert etwas Unerwartetes, was den Auftritt plötzlich unterbricht. Die Musiker bewegen sich unruhig hin und her. Ein grelles, unangenehmes Licht erhellt das Gesicht des Sängers. Ich kann nicht sehen, woher es kommt. Mit erschrockenem Blick starrt er nach vorn. Er ruft ins Mikrofon, dass sich etwas entzündet hat und dass es nicht zum Programm gehört. Er verlangt nach einem Feuerlöscher, doch es gibt nirgendwo einen. Er blickt hilflos zu der Säule an seiner rechten Seite. Ich folge seinem Blick und erst da bemerke ich die Flammen. Tamara und die Leute neben mir werden unruhig. Einige laufen zur Tür, die zu dem Container führt. Dort ist der einzige Ausgang. Warum beeilen sie sich so? So schlimm wird es doch nicht sein. Ein paar Sekunden später erreicht die Flamme die Decke und alles fängt sofort zu brennen an. Ich brauche einen Moment, um mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Es fühlt sich an wie ein Albtraum, in dem ich unbedingt der drohenden Gefahr entkommen will, doch meine Beine gehorchen mir nicht. Ich schaffe es, Tamara zu sagen, dass wir gehen müssen. Die von der Decke kommenden großen Flammen senken sich gefräßig zu uns herab und kommen immer tiefer. Ich starre sie verwirrt und ungläubig an. Wir haben keine andere Wahl. Es gibt nur einen anderen Ausgang und er ist bereits voller verängstigter Menschen, die schneller zu entkommen versuchen. Das Feuer greift sie von oben an, wobei es wegen der Nähe zur Säule in jenem Teil der Halle noch intensiver ist.

Sie schreit mich mit schriller Stimme an, die so anders als ihr üblicher sanfter Tonfall klingt. »Da durch? Die Decke wird auf uns herabfallen!« Ich überlege, zu den Toiletten zu flüchten, doch ich kann mich nicht erinnern, ob man dort die Fenster öffnen und nach draußen kommen kann. Wir zögern, doch schließlich entscheiden wir uns für den Container, da das der einzige Ausgang ist. Holzstücke und brennender Schaumstoff regnen dort herab und fallen auf die Menschen. Der Rauch wird immer dichter und die Leute von den anderen Seiten des Veranstaltungsraums treffen sich in der Mitte und kauern sich zusammen. Ciprian packt mich am Arm und fragt, ob ich Nelu gesehen habe. Ich verneine und lege die Hand auf seine Schulter, damit wir uns nicht verlieren. Tamara hält sich unbeholfen an mir fest. Sie ist so klein und zierlich zwischen den vielen Körpern, die an ihr zerren. Als wir die Tür erreichen, die in den Container führt, spüren wir die glühende Hitze der Flammen über uns. Unsere Angst verwandelt sich in Panik. Die Hitze versengt uns und der Schmerz lässt die Menschen stärker vorwärtsdrängen, um schneller voranzukommen. Ich werde von der verzweifelten Menge von Tamara und Ciprian weggerissen, und bleibe allein unter der bröckelnden Decke.

Ich versuche, meinen Kopf mit der rechten Hand zu schützen, doch angesengte Holz- und Schaumstücke fallen immer wieder auf mich und verbrennen mich. Eine nie zuvor empfundene Angst überwältigt mich und verwandelt sich in Hilflosigkeit. Der Rauch wird immer dichter um uns herum und raubt uns die Sicht. Ich spüre, wie die anderen gegen mich drängen, und als ich schließlich etwas sehen kann, merke ich, dass ich an die Rückseite des Containers gedrückt werde, wo ich plötzlich zum Stehen komme. Wir kommen nicht weiter, denn wir stecken in dem kleinen Raum fest. Verzweifelte Schreie von hinten. Ohne zu wissen, dass es nicht weiter geht, schieben jene, die nicht im Hauptraum feststecken. Wir sind gefangen in dem Inferno. Ich höre ihre verworrenen Rufe, und auch wenn ich nicht hinsehen kann – nicht will –, weiß ich, dass einige der Leute hinter mir lebendig verbrennen. Neben mir flüstert ein blonder Mann mit Kinnbart, der gegen meinen rechten Arm gedrückt wird, mit zitternder Stimme Gebete zu Gott, eins nach dem anderen, fleht ihn an, diesen Albtraum zu vertreiben, hofft töricht, dass es nicht wahr ist. Er schließt die Augen und faltet die Hände, um zu Gott zu sprechen. Sein zierlicher Körper wird gegen den Rücken von jemand anderem gedrückt und jemand anderes wird gegen ihn gedrückt, und dahinter brennt jemand. Spitze Ellbogen rammen sich in seinen Bauch und sein zwischen die Schulterblätter eines Fremden gequetschter Kopf bewegt sich hin und her, während er skandiert: »Lieber Gott, bitte, das kann nicht sein. Gott, bitte, das passiert doch nicht.« Dann betet er das Vaterunser und weint.

Die Schreie jener, die nicht den Container erreicht haben, übertönen sein Gebet. Und dann passiert es. Feuer und Rauch schießen auf uns herab und verschlingen uns. Ich spüre die Flammen auf meiner nackten Haut, wie sie mit grausamen, siedenden Zähnen an meinem Rücken nagen, mich schälen. Als sie mich ganz umfangen, bedecke ich das Gesicht mit den Händen. Ich versuche zu atmen, doch diese sengende, glühende Sache ist keine Luft mehr. Sie riecht nach schmelzenden Chemikalien und verbrennt mir den Hals, kocht mir in der Brust, sticht, schmerzt. Meine dünnen Finger verkrümmen sich gegen meinen Willen und ich höre, wie das Fleisch darüber aufplatzt. Der dicke Plastikrahmen meiner Brille wird wegen der unerträglichen Hitze weich und flüssig, tropft auf meinen Hals und meine Brust und hinterlässt Spuren gehäuteten Fleisches. Einer nach dem anderen fallen wir übereinander und brennen in der Asche, die unsere zerfallenden Körper hinterlassen haben. Das Feuer frisst uns vollständig und verschlingt uns, zerstört unsere Gesichter, unsere Arme, unsere Beine. Verstümmelt uns. Reißt uns die Kleidung weg. Reißt uns die Haut weg. Hilfe. Ich brenne. Ich stehe in Flammen. Ich stehe in Flammen. Menschen schreien vor Schmerz, und ich kann nicht sagen, ob meine Stimme darunter ist oder nicht, da wir alle eins geworden sind. Ich will, dass es vorbei ist. Bitte, Gott, lass es vorbei sein. Es tut so weh! Es tut so weh! Das unwirkliche Grollen des Feuers macht mich taub und verschluckt die Schreie. Ich sehe meine Schwester und meine Mutter beisammenstehen. Mein letzter Gedanke gilt ihnen. Ich weiß jetzt, dass ich sterben werde. Ich bitte sie um Verzeihung für das Leid, das ich ihnen verursache, weil ich auf diese Weise gehe, so frühzeitig, genau wie mein Vater. Ich weine, doch die Tränen laufen mir nicht über die Wangen. Das Feuer schluckt sie, bevor sie sich bilden können.

Auf einmal legt sich eine umfassende und dichte Dunkelheit über mich. Ich bin erblindet. Die Flammen haben meine Augen verschlungen. Ich bin gestorben. Vielleicht fängt es so an, was hinter der Schwelle liegt. Vielleicht ist die Ewigkeit nur ein endloser schwarzer Ozean, ohne Form und Bedeutung. Dann ist da wieder Licht. Ich begreife schließlich, dass ich noch lebe. Neben mir kämpft ein Mädchen mit langen, brennenden Haaren, auf den Beinen zu bleiben. Hautfetzen hängen an ihren Armen wie die zerstörten Flügel eines Engels, der nie mehr fliegen wird.

»Kannst du mir beim Aufstehen helfen?«, frage ich sie mit einer Stimme, die nicht wie meine klingt. Sie versucht es, doch als sie mich mit ihren verletzten Händen berührt, zuckt sie zurück.

»Es tut zu sehr weh, tut mir leid. Ich kann es nicht«, sagt sie und beginnt zu weinen. Ich habe Mitleid mit ihr und bedanke mich resigniert.

»Das ist schon okay, weine doch nicht, alles wird gut.« Irgendwie schaffe ich es, mich auf die linke Hand zu stützen, und nach ein paar Versuchen komme ich auf die Beine. Der Fußboden ist schrecklich heiß. In dem vollen Metallcontainer ist nicht genug Luft. Er verwandelt sich in einen Ofen. In den Herzen der Leute wächst wieder die Angst und sie drängen und schieben, um nach draußen zu kommen, ohne sich darum zu kümmern, dass sie damit anderen Schmerzen zufügen. Der Ausgang ist mit verletzten Körpern verstopft, die dort übereinander liegen. Lautes Jammern hat die Schreie verdrängt. Ein paar junge Männer schubsen mich aus dem Weg, um schneller zur Tür zu kommen. Ich falle hin und sie stolpern über mich, fallen mir auf den Rücken und die Beine. Sie sind schwer und zerquetschen mich. Ich kann nicht mehr atmen. »Bitte, ich ersticke«, flüstere ich, kann nicht lauter sprechen, weil sie so schwer auf mir liegen. »Bitte«, flehe ich, als es immer dunkler wird. In meiner Brust knackt und pfeift es unter ihnen, doch sie drängen sich weiter, rufen, und hören meine Schreie nicht.

Eine unbekannte Stimme sagt meinen Namen, dann packt mich jemand an den Händen und zerrt mich entschlossen heraus. Ich kratze mit den Hüften und den Knien über den harten Asphalt. Frische Luft! Jemand spricht mit mir, fragt mich, ob ich aufstehen kann. Ich sehe ihn verwirrt an. In dem seltsam gedämpften Licht der Straßenlaternen sieht er wie ein großer blonder Engel aus. Ich kann seine Gesichtszüge nicht erkennen. Ich flüstere den Namen meiner ersten Liebe. Ich sage ihm, dass ich nicht gehen kann, deshalb setzt er mich auf eine Bordsteinkante und kehrt zurück zur Containertür, um andere Leute zu retten. Ich sehe mich um, suche nach meinen Freunden. Es ist unmöglich, jemanden zu erkennen. Die Gesichter sind mit Asche bedeckt und vor Entsetzen verzerrt. Junge Menschen liegen reglos auf dem Boden, stöhnen und bitten aus ihren verkohlten Kehlen um Hilfe. Neben mir sitzt ein Mann schief an der Mauer hinter uns, seine Haare völlig abgebrannt. Sein Kopf ist ihm auf die Brust gefallen und seine Augen sind weit geöffnet. Er blinzelt nicht. Mein Verstand weigert sich, das zu akzeptieren, was ich deutlich sehen kann. Er hat keine Augenlider mehr.

Mir wird schwindlig und ich falle neben ihn. Als mein gehäuteter Körper den Asphalt berührt, ist der Schmerz so intensiv, dass er mich wie ein Kurzschluss durchfährt. Ich schreie wie ein Tier und stehe sofort auf. Ich bemerke, dass meine Handtasche noch ganz ist, unversehrt von den Flammen. Ich will das Handy herausnehmen, doch das Fleisch hängt mir in Streifen an den geschwärzten, verkrümmten Fingern, und es schmerzt zu sehr. Irgendwie kann ich das Telefon fassen und wähle die Nummer. Eine Stimme in mir dringt durch das Chaos und sagt eindringlich, wenn ich nicht allein losgehe und einen Krankenwagen suche, dann werde ich hier sterben. Als meine Mutter antwortet, verlasse ich bereits die enge Gasse, in der sich der Klub befindet.

»Mama, komm bitte nach Bukarest. Der Klub hat gebrannt und ich bin verletzt.« Meine arme Mutter versteht nicht, was ich ihr sage. Sie bittet verwirrt und erschrocken um eine Erklärung. Ich weine und wiederhole, dass ich schwer verletzt bin und bitte sie, sich zu beeilen. Ich beende das Gespräch und gehe in den Innenhof des Fabrikgebäudes mit dem Klub. Vor mir taucht ein Krankenwagen auf und ich laufe ihm entgegen, doch er rast mit quietschenden Reifen an mir vorbei. Ich drehe mich um und sehe ihm hoffnungslos hinterher, bin mir nicht sicher, ob ich die Kraft habe, um zurückzugehen. Der Wagen hält ein paar Meter entfernt vor einer Gruppe mit drei Leuten.

Ich erkenne meine Freundin Flavia. Mihai hält sie fest, während sie zittert und bebt. Ihr Gesicht ist schwarz und ihr Haar ist zur Hälfte abgebrannt. An ihrer Strickjacke fehlt der linke Ärmel, sodass man ihren geschwollenen, schwarzen Arm sieht. Da ist keine Haut mehr, nur noch ein blasiger Matsch aus rotem Fleisch. Ein anderes Mädchen steht stumm neben ihnen, von Schüttelfrost erfasst. Ich kenne ihren Namen nicht und ich kann ihre Gesichtszüge unter dem versengten Gewebe auf Stirn und Wangen nicht erkennen. Mihai scheint unverletzt zu sein. Er war in einem anderen Lokal und wollte sich erst später im Colectiv mit Flavia treffen. Bei seiner Ankunft fand er sie in der Hölle. Ich schleppe mich vorwärts und erreiche sie schließlich keuchend. Sie erkennen mich und erschrecken.

»Deine Haare … Sie sind … Sie sind abgebrannt«, flüstert Mihai.

Ich bitte sie, mich mit ihnen in den Krankenwagen zu lassen und sie stimmen eilig zu. Die Sanitäterin hilft uns drei in den Wagen. Ihre Hände zittern und ihre Stimme ist gedämpft.

»Mein Gott, du liebe Güte. Ihr armen Kinder!«, sagt sie entsetzt, als sie uns besser sieht.

Sie setzt mich auf die Trage und die anderen beiden Mädchen auf Stühle. Ich lege mich hin und mein Körper gibt nach und lässt den Schmerz los, den er zuvor zurückgehalten hatte, als ich um mein Leben rannte. Ich starre ungläubig auf meine Hände und sehe, wie sie anschwellen. Seltsam durchscheinende Membranen lösen sich von meinem verletzten Körper und hinterlassen rosafarbene, offene Wunden, die stark schmerzen, oder schwarze, klaffende Wunden, die taub zu sein scheinen. Meine Haut hat sich von mir gelöst und hängt wie kranke Flügel unter dem Gewicht des Todes. Die Sanitäterin fragt mich, wie ich heiße und wie alt ich bin, doch ich kann nicht sprechen. Ich bin vor Entsetzen wie gelähmt. Der Schmerz ist so schrecklich, dass er mich völlig verstummen lässt.

Flavia bemerkt das und antwortet geduldig für mich, dabei betrachtet sie mich besorgt.

»Sie ist verängstigt … wie wir alle. Können Sie uns etwas gegen die Schmerzen geben? Es tut uns so schrecklich weh.«

»Nein, ich … Es tut mir leid, ich habe nichts Passendes. Wir haben nicht damit gerechnet, dass es so schlimm ist!«

Sie verspricht, dass sie uns schnell zum Krankenhaus bringt.

»Wohin?«, fragt der Fahrer.

»Zum Krankenhaus für Verbrennungen, schnell!«

Der Krankenwagen fährt los und trifft ein Schlagloch auf der Straße, sodass alle durchgeschüttelt werden. Ich schlage mit dem rechten Arm an die Seitenwand und schreie laut auf. Meine rohe Wunde beschmutzt die Wand mit Blut und Asche. Es sieht aus wie der Schatten eines getöteten Vogels. Meine Güte, was für Schmerzen, was sind das für unmögliche Schmerzen.

Wir erreichen das Krankenhaus und die Krankenpfleger bringen uns aus dem Auto ins Haus. Sie lassen uns im Flur bei den anderen. Ich blicke zu den Leuten auf den Stühlen. Sie haben schwarz verschmierte Gesichter und ihre entsetzten Augen glänzen krankhaft im Neonlicht des Warteraums. Auch sie kommen aus der Hölle, der wir mit Mühe entflohen sind. Jemand bietet mir einen Schluck Wasser aus einem kleinen Plastikbecher, und eine andere Person reißt mir die Fleischstücke vom Körper, die wie besiegte Engel an mir hängen.

»Warum haben Sie mir die Haut weggenommen?«, frage ich verzweifelt, ohne zu merken, wie absurd der Gedanke ist. Es ist völlig ausgeschlossen, dass sie mich wieder gesund machen, indem sie diese verbrannten Streifen dafür benutzen.

»Meine Liebe, damit kannst du ohnehin nichts mehr machen!«, antwortet mir eine Schwester. Sie bringen mich zu einem Bett in einem Nebenraum. Auch hier ist es voller Menschen, wie jene auf dem Flur, die mit starren glänzenden Augen aus rußverschmierten Gesichtern blicken. Sie sehen nichts um sie herum, denn sie sehen nach innen, zu den Flammen, die noch immer irgendwo tief in ihren verwüsteten Köpfen brennen. Einige sitzen aufrecht da, wie gelähmt, andere winden sich in den Betten, beflecken sie mit Blut und zittern unter dicken Wolldecken mit rot-schwarzem Muster. Ihnen wird nicht warm, denn sie haben keine Haut mehr, die ihre Knochen bedeckt.

Eine junge Frau weint nach ihrer Mama. Eine Krankenschwester sagt mir, dass ich mir das Bett mit ihr teilen muss, denn wir sind zu viele. Ich habe einen unbändigen Durst und bitte um Wasser.

»Du darfst nichts trinken! Wir bringen dich gleich in den Operationssaal!«

Ich höre nicht auf sie. Ich warte, bis sie geht, dann greife ich unbeholfen mit den Handflächen nach einer Tasse auf einem der Tischchen. Die Mutter des Mädchens kommt herein und ich bitte sie, die Tasse zu füllen. Zunächst weigert sie sich, doch schließlich gibt sie nach. Ich trinke atemlos ein paar Schlucke.

»Vielen herzlichen Dank!«, seufze ich.

Die kalte Flüssigkeit löscht das Brennen in meinem Hals und das Stechen in der Brust. Mühevoll stehe ich auf, um in den Spiegel über dem Waschbecken zu blicken. Mein Herz schlägt wie wild und ich fürchte mich vor dem Anblick, auf den mich nichts vorbereitet hat. Zunächst bemerke ich die Augen. Sie blicken mich entsetzt an, verfolgt von den Schrecken, die sie zuvor beobachtet haben. Meine Stirn, die Nase und die Wangen sind geschwollen und gerötet. Ich habe Asche auf den Lippen. Mein zuvor langes Haar ist nur noch eine Masse schmieriger Stoppeln auf dem Kopf. Ich setze mich wieder auf die Matratze, bestürzt und entsetzt. Eine andere Krankenschwester kommt und fragt mich, ob sie mir die Kleider ausziehen kann. Sie nimmt eine Schere und schneidet sie auf. Teile davon kleben an meinen Wunden.

»Du bist am Rücken sehr verbrannt«, bemerkt sie. Dann reißt sie kräftig den Stoff von mir ab. Er gibt nach und löst sich zusammen mit der Haut, an der es klebte. »Es ist in dein Fleisch geschmolzen!« Ich spüre keinen Schmerz. Mir ist schlecht. Das Atmen fällt mir immer schwerer.

Eine Hilfsschwester kommt mit meinem Handy und veranlasst mich, mit meiner Mutter zu reden und es dann auszumachen, da es ununterbrochen klingelt. Ich mache es so und sie geht mit meinem Handy davon. Es fühlt sich an, als hätte sich eine schwere Kralle voller Nadeln auf meine Brust gesetzt, die in mich hineindrückt und in mein Herz sticht. Ich weiß nicht, ob es wirklich ist oder nur in meinem Kopf, doch das Neonlicht im Zimmer wird immer dunkler, als wäre ich in einem seltsamen Kinosaal vor Beginn eines Films. Von überall hört man Sirenen, als hätte sich die ganze Stadt in einen verzweifelten Hilferuf verwandelt. Ein hübsches Mädchen mit rötlichem Haar weint und die Tränen hinterlassen rosige Streifen auf ihren schmutzigen Wangen. Das Mädchen neben mir hat ein eigenes Bett bekommen. Sie betet nicht mehr, sie seufzt nicht mehr, sie liegt nur noch da, still und zitternd. Ihre Mutter – die Frau, die mir das Wasser gegeben hat – wacht über sie, ringt die Hände und schluckt ihr Jammern hinunter.

Die Welt bricht auseinander, zerrissen von den gnadenlosen Klauen einer Bestie, die zu böse ist, um besiegt zu werden. Jemand spricht mit mir, doch der Klang der Stimme ist dumpf, weit entfernt. Sie kommt verzerrt von irgendwo im Untergrund.

»Wir bringen dich jetzt in den OP, hörst du? Hallo! Schnell, sie wird ohnmächtig!« Dann, auf einmal, verschwindet alles, und es bleibt nur Dunkelheit und Stille. Das Leben, wie ich es kannte, ist für immer vorbei.

  1Ich rannte los / Ich würde nicht herumstehen und warten / Auf die Veränderungen, die sicher kommen würden.

  2Ich fragte mich, warum sollte ich es riskieren / Ich will nichts wagen und nichts gewinnen / Statt Entscheidungen zu treffen / bleibe ich lieber weiter in der Stille.

  3Dass ich mir die Zeit nehme, um Sühne zu finden / Mir die Zeit nehme, den Moment zu empfinden / Mir die Zeit nehme, ein Omen zu meiden / Dass ich alle Zeit in mich aufnehme.

Das Krankenhaus des Nichtheilens

Ich öffne die Augen und sehe meine besorgte Mutter, die ich kaum zwischen den Rändern eines offensichtlich dicken Verbandes über meinem Gesicht erkennen kann. Sie steht zitternd und blass mitten im Zimmer neben meiner Freundin Elena.

»Du bist gekommen …«, flüstere ich erleichtert und mit einer so schwachen Stimme, dass ich sie erst gar nicht als meine erkenne.

»Natürlich bin ich gekommen, meine Kleine …«

Der Schmerz ist unerträglich.

»Was ist mit Tamara passiert?«, frage ich.

»Ihr geht es gut, sie ist nicht ins Krankenhaus gekommen. Sie hat nur ein paar kleine Wunden«, antwortet mir Elena. »Mach dir um sie keine Sorgen und bleib ruhig. Sie haben dich gerade operiert.«

Ich kann meinen eigenen Körper kaum wahrnehmen. Als wäre ich zu einer Fleischmasse geworden, an der unentwegt gierige Hände reißen, bis sie zu den Knochen kommen. Mein Gesicht ist völlig taub.

»Mama, habe ich noch eine Nase?«, lalle ich, benommen von der Narkose. »Und was ist mit meinen Lippen?«

»Ja, meine Süße. Du hast auch noch Wimpern!«

Auf einmal nimmt sie die Hand an den Mund und eilt aus dem Raum. Sie ist gegangen, damit ich ihre Tränen und ihre Verzweiflung nicht sehe. Womöglich geht es mir doch nicht so gut. Womöglich glaubt sie, dass ich sterbe. Sterbe ich? Ich weiß nicht, wie stark verletzt ich bin, doch die Schmerzen an der rechten Hand, am Rücken und an der linken Schulter sind unerträglich. Ich schwanke zwischen Schlaf und Erwachen. Das Mädchen im Bett neben mir weint so kläglich … Es zerreißt mir das Herz. Ihr ganzer Körper ist verbunden und ihre Tränen befeuchten den Mull unter ihren Augen.

»Wie konnte uns so etwas passieren? Ich verstehe das nicht. Mein Gott, es tut so weh!«

Ich würde sie gern trösten, doch bevor ich etwas sagen kann, verliere ich das Bewusstsein. Nach einer Weile wache ich auf und bemerke, dass jemand das Licht in unserem Zimmer gelöscht hat. Durch den Türspalt dringt etwas Neonlicht vom Flur herein und mildert die Dunkelheit zusammen mit dem Flimmern der Lichter an den Geräten, die uns überwachen.

Ich höre ein langes Stöhnen, das mit einem Schluchzen endet.

»Ich halte das nicht mehr aus … Es tut so weh, ich kann nicht mehr …«, klagt das Mädchen.

Ich will ihr helfen, doch ich kann nicht einmal den Kopf in ihre Richtung drehen. Schließlich schaffe ich es, sie zu fragen:

»Haben sie dir nichts gegen die Schmerzen gegeben?«

»Ich rufe die ganze Zeit, aber sie kommen nicht.«

»Lass uns zusammen rufen«, schlage ich ihr vor, doch ihre Stimme ist zu schwach. Ich fülle meine Lungen mit Luft, so gut ich kann, und rufe:

»Schwester! Schwester!«

Eine Weile geschieht nichts, dann kommt jemand in den Raum geschossen. Die Frau ist wütend und aufgebracht.

»Warum schreist du so? Was ist passiert?«

Mir gefällt ihr aggressiver Tonfall nicht, doch ich gebe nicht auf.

»Das Mädchen neben mir hat große Schmerzen. Sie weint die ganze Zeit. Helfen Sie ihr bitte!«

Die Krankenschwester spricht etwas milder:

»Was soll ich dir noch geben, Mädchen? Ich habe nichts mehr, was ich dir geben kann!«

»Aber es tut so weh, ich bitte Sie!«, jammert sie und bricht in Tränen aus.

»Mal sehen, was ich noch finden kann«, sagt die Schwester und verschwindet durch die Tür.

Das Mädchen schluchzt und betet, sagt Dinge, die ich schon vorher gehört habe.

»Bitte, lieber Gott, das kann nicht wahr sein … Bitte, lieber Gott, lass mich aufwachen …«

Ihre Worte bringen die schmerzende Erinnerung an den Mann neben mir im Container zurück. Er hatte ebenfalls den Himmel angefleht, alles aufhören zu lassen, wie einen Albtraum, der zu Ende geht. Wie er gehofft hatte, dass er die Augen öffnen und auf das verschwitzte Laken in seinem Bett zu Hause sehen würde, weit weg von allem Bösen, sein Herz gerettet, sein Körper unversehrt. Ich frage mich, ob er noch lebt, ob er hier bei uns ist und in einem der Krankenbetten leidet. Oder womöglich ist er nicht mehr nach draußen gekommen und Asche ist das Einzige, was von seinen Gebeten geblieben ist. Ich habe starke Schmerzen. Ich würde auch weinen, doch ich halte mich wegen des Mädchens zurück, das schon genug leidet. Ich will nicht mehr an den Tod denken, an den dichten Rauch, an das zerstörerische Feuer, an unsere verbrannten Körper, die wie Lumpen von den Flammen verschlungen wurden, an den chemischen Geruch, der mich mit seinem scharfen, stechenden Gestank durchdrungen hat.

»Alles wird gut, warte nur. Morgen wird alles schon viel besser sein«, flüstere ich zu ihr und versuche sie zu trösten, doch sie weint immer weiter und ich werde wieder ohnmächtig.

Für sie hat es den Morgen nicht mehr gegeben. Sie ist neben mir gestorben, während ich ohnmächtig in meinem Bett lag. Nichts hat mich gewarnt, wachgerüttelt, aufgeweckt. Ich konnte nicht um Hilfe rufen, jemanden holen. Das zerbrechliche Leben, das ihr noch geblieben war, nachdem sie dem Inferno die Stirn geboten hatte, wurde von dem Schmerz überwältigt, den ihr Herz nicht mehr ertragen konnte. Ich wache am nächsten Tag mit ihrer Stimme im Kopf auf und drehe unbeholfen den Kopf, um nach ihr zu sehen, doch das Bett ist leer. Meine Mutter kommt ins Zimmer und erzählt mir, was ihr die Ärzte über mich gesagt haben. Ich kann mich nicht konzentrieren.

»Wo ist das Mädchen aus dem Nebenbett?«

Sie zögert, dann sagt sie mir, dass ein paar Brandopfer in der Nacht auf die Intensivstation gebracht wurden.

»Sie auch?«, frage ich.

»Ja, sie auch.«

Tiefe Stille folgt ihrer Antwort. Ich merke, dass sie lügt.

»Sie ist gestorben, oder?«

Schließlich erfahre ich die Wahrheit. Als ihre Schwester mit ein paar Sachen für sie ins Krankenhaus kam, war das Mädchen bereits nicht mehr auf dieser Welt. Ich versuche, zu verstehen, was ich höre, doch es gelingt mir nicht. Mein Verstand wiederholt die Neuigkeit immer wieder. Sie hat die ganze Nacht geweint. Sie hat um Hilfe gebeten. Sie ist hier allein gestorben, neben mir, während ich bewusstlos war. Ihr Verschwinden erschüttert mich zutiefst. Eine Seele, mit der ich ein paar herzzerreißende Momente geteilt habe, ist neben mir in den Himmel aufgefahren, und ich stand ihr in keiner Weise bei. Ich habe ihr nicht helfen können. Wir waren Leidensgefährtinnen, doch sie ist jetzt fort und ich bin noch da. Warum? Wenn mich der Schleier des Schocks bisher vor dem Ausmaß der entsetzlichen Wahrheit dessen, was uns widerfahren ist, geschützt hat, während des Kampfes der Flucht und des Entkommens, so sehe ich es jetzt in seiner ganzen Abscheulichkeit, und das Böse lähmt mich. Ich starre in die Dunkelheit dieses Abgrunds, der sich vor mir geöffnet hat, stumm und reglos. Mama redet immer weiter und hofft, mit ihren Worten den Geist zu vertreiben. Sie sagt mir, dass ich keiner der leichten Fälle bin. Dr. Petrescu, der Leiter der Intensivabteilung, hat ihr gesagt, dass es mir schlecht geht. Ich habe tiefe Verbrennungen auf dem Rücken, meinen Händen und dem Kopf. Die Verbrennungen im Gesicht sind zwar relativ oberflächlich, beeinträchtigen aber meine Prognose, weil sie ernsthaft anschwellen werden. Der einzige Grund, weshalb sie mich nicht auf die Intensivstation verlegt haben, liegt darin, dass ich offenbar keine Schäden an den Atemwegen habe.

Sie spricht immer weiter mit mir, doch ich bin wie betäubt. Der Schmerz durchfährt mich glühend, versengt mich von innen, als hätte sich das Feuer irgendwo im Inneren eingenistet und brennt immer weiter, unlöschbar. Mir ist schlecht und schwindlig, doch vor allem habe ich Angst. Ich bitte darum, mich in einem Taschenspiegel ansehen zu können. Ich erkenne mich nicht. Mein Kopf und mein Körper sind in dicke Verbände gewickelt, mit kleinen Schlitzen für Augen, Nase und Mund.

»Du siehst wie eine kleine Mumie aus«, sagt Mama und versucht, mich aufzumuntern.

Sie versucht, mich zum Lachen zu bringen.