Das Transzendente in der Psychotherapie - Johannes B. Schmidt - E-Book

Das Transzendente in der Psychotherapie E-Book

Johannes B. Schmidt

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Beschreibung

Ein Segen für die Seele

Wahrnehmung hat wesentlichen Anteil am therapeutischen Wirken. Reicht diese über das bloße Wahrnehmen von Dinglichkeit und Gefühlen hinaus, eröffnen sich andere Wirklichkeiten. Johannes B. Schmidt zeigt, wie Psychotherapie dabei in spirituelles Erleben und Heilen übergeht, verbunden mit berührenden Begegnungen zwischen Therapeut und Klient.

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Der Autor

Johannes B. Schmidt, geboren 1964, Diplom-Psychologe und Psychotherapeut, ist seit 1995 in eigener Praxis und seit 2003 als Gründer und Leiter der Aptitude Academy tätig. Ausbildung in Initiatischer Therapie, Verhaltenstherapie, systemisch-konstruktivistischer Therapie, systemischer Aufstellungsarbeit, Hypnotherapie, körperbasierter Traumaheilung, struktureller Dissoziation und Craniosacraler Biodynamik. Autor des erfolgreichen Buches Der Körper kennt den Weg. Trauma-Heilung und persönliche Transformation.

www.aptitude-academy.com

Das Buch

Wie Spirituelles therapeutische Arbeit wirksam macht

Im psychotherapeutischen Selbstverständnis spielt die Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine zentrale Rolle. In diesem Verständnis ist der Therapeut selbst das therapeutische Hauptwerkzeug. Seine Wahrnehmung hat großen Anteil an seinem Wirken. Reicht diese über das bloße Wahrnehmen von Dinglichkeit und Gefühlen hinaus, eröffnen sich andere Wirklichkeiten.

Der renommierte Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Johannes B. Schmidt zeigt, wie Psychotherapie in spirituelles Erleben und Heilen übergeht, spirituelles Verständnis ermöglicht und dies den Heilungsprozess während der Therapie wesentlich begünstigt.

»Es tut gut, dass dieses Buch auf einem hohen Niveau der Reflexion und Erfahrung auf diese Wahrheit aufmerksam macht. Der Leser wird dankbar sein für diese wichtige, ja in gewissem Sinne alles verändernde Erinnerung.«

Eugen Drewermann

JOHANNES B. SCHMIDT

DAS TRANSZENDENTE IN DER PSYCHOTHERAPIE

Über Spiritualität und Präsenz im therapeutischen Wirken

Kösel

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Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: plainpicture / Johner / Hannes Soderlund

Redaktion: Mihrican Özdem, Landau

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24053-0V002

www.koesel.de

Für Elias

INHALT

Geleitwort

Einleitung: Transformation religiöser und spiritueller Formen in der Postmoderne

Begegnungsdimensionen in der Psychotherapie

Von der institutionellen Religiosität zur Transzendenz

Psychotherapie als Ort der Transzendenzerfahrung

Von der Ein-Personen-Psychologie zur Zwei-Personen-Psychologie

Intersubjektivität: Teilhabe an der inneren Landkarte des anderen

Stärkung der Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit

Hinweis

1 Therapeutische Begegnung

Die Person des Therapeuten als Hauptwerkzeugder Therapie

Transzendenz des Therapeuten

Teilhabe an einem Mysterium

Bedeutung der Begegnung mit anderen

Die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Leidens

Wirklichkeitsverständnis in der Kabbala

Therapeut-Klient-Beziehung als ebenbürtige Begegnung

2 Intersubjektivität – interpersonell oder interontisch?

Teilhabe am Innenleben des anderen

Teilhabe an etwas Größerem

Wie teilt sich die Teilhabe uns mit?

Wechselwirkung von Transzendenz und Körper

Anerkennung der Transzendenz statt Psychologisierung

3 Alltagstranszendenz in der Psychotherapie

Erforschung der Transzendenz

Interviews zur therapeutischen Arbeit mit Transzendenz: Vorbemerkungen

Die Interviews

Irene

Rose

Warren

Angie

Adam

Martha

Lee

Elke

Ruth

Iris

Fazit

4 Sakraler Raum

5 Körperverständnis

Epilog: Der Schluss, der ein Anfang ist

Danksagung

Literatur

Der Autor

Hinweis

Die in diesem Buch beschriebenen Prozesse stellen nach Auffassung therapeutisch arbeitender Behandler fortgeschrittene therapeutische Behandlungsstadien dar. Die berichteten Prozesse entstehen, nachdem sich Menschen in oft jahrelanger Selbstexploration ihrem Selbst mit Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit gestellt haben oder das Leben selbst eine unausweichliche Ernsthaftigkeit eingefordert hat.

»Wir kommen zu einer psychologischen Entwicklung nur dadurch, dass wir uns selbst so annehmen, wie wir sind, und das Leben, das uns anvertraut ist, ernsthaft zu leben versuchen.«

(Jung, 1980, S. 139)

Geleitwort

Wer als Therapeut sich auf einen anderen Menschen einlässt, sprengt – ob er es weiß oder nicht – das Weltbild auf, in dem er ausgebildet wurde. Naturwissenschaftliches Denken möchte alles, was geschieht, einer kausalen Erklärung zuführen. Ein erkennendes Subjekt steht da einem zu erkennenden Objekt gegenüber. Von dieser Art kann das Verhältnis von Therapeut und Patient niemals sein. Aus der Beziehung von Ich und Es wird hier ein Verhältnis von Ich und Du, aus dem Forschenden ein Hörender, aus dem Erklären ein Verstehenwollen. Ein Arzt mag glauben, genug von seinem Patienten zu wissen, wenn er die Liste seiner Untersuchungsergebnisse durchgeht; ein Therapeut kann seinen Klienten nur kennenlernen, wenn dieser Vertrauen fasst und sich mitteilt. Und helfen kann der Therapeut ihm nur, wenn er ihm mehr an Vertrauen entgegenbringt, als der zu Behandelnde sich jemals zugetraut hat. Woher kommt dieses Vertrauen? Nicht aus der Empirie, nicht aus einem philosophischen Theorem. Beide, Therapeut wie Klient, treten in den Raum eines »Umgreifenden« (Karl Jaspers) ein, das die Subjet-Objekt-Spaltung als tragenden Grund überwindet. Heilend ist nur ein Glaube in Güte.

Es tut gut, dass dieses Buch auf einem hohen Niveau der Reflexion und Erfahrung auf diese Wahrheit aufmerksam macht. Selbst wer den Konzepten der Transzendentalen Psychologie und der transzendentalen Meditation nicht so unbefangen gegenübersteht wie der Autor, wird dankbar sein für diese wichtige, ja in gewissem Sinne alles verändernde Erinnerung.

Eugen Drewermann, Theologe und Psychoanalytiker,

im August 2018

Einleitung: Transformation religiöser und spiritueller Formen in der Postmoderne

Begegnungsdimensionen in der Psychotherapie

»Das Höchste, das wir in der Psychologie erreichen können, ist, dass jeder seine Karten auf den Tisch legt und zugibt: ›Ich gehe die Dinge in dieser oder jener Weise an, und ich sehe sie so und so‹.«

(Jung 1980, S. 134)

Dies ist ein Buch über vertiefte Begegnung und Intimität in der Psychotherapie und hoffentlich auch im gelebten Alltag. Es wird geschrieben, um Leser zu ermutigen, größere Begegnungsrisiken in allen Lebensbezügen einzugehen. Begegnungsrisiken in Form von empfundener Intimität im Kontakt. Empfundene Intimität, wie sie von dem Soziologen Hartmut Rosa (2017) als Resonanzkonzept beschrieben wird und vom Hirnforscher Gerald Hüther (2013) als Notwendigkeit, dass uns Dinge unter die Haut gehen, damit synaptische Verschaltungen im Hirn angeregt werden. Es geht um eine tief empfundene Teilhabe an der Essenz von Menschsein und Teilhabe daran, das Leben zu entdecken. Aus dieser Teilhabe können intime, berührende und das Selbst heilende Erfahrungen gemacht werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse können den Weg in einen erfüllten und relevanten Lebensvollzug weisen. Die in dieser Begegnung erlebte Befriedung und Erlösung unserer selbst ermöglicht eine friedvolle Teilhabe am Staunen über die Schöpfung. Durch vertiefte Begegnung wird das Ergriffensein zur Erfahrung intimer gegenseitiger Durchdringung von Welt und Mitmensch. Es wird zu einer Erlösung von uns selbst. Dadurch können wir an einer Wirklichkeit teilhaben, die als unser Alltagserleben überschreitend und damit als transzendent angedeutet werden kann. Diese Erfahrungen entziehen sich formaler Beschreibung. Das ist das Phänomenale an dieser transzendenten Erfahrung. Menschen können klar empfinden, wenn es passiert, aber keine Worte finden, um die Qualität der Erfahrung mitzuteilen (Schmidt 2013). Die ursprünglich transzendente Erfahrung an sich ist amorph, also formlos beziehungsweise ohne beschreibbare Form (Scholem 1973/2015, S. 15). Denn jede Versprachlichung oder mediale Vermittlung ist bereits eine bestimmte Form. Und trotz dieser Formlosigkeit ist die Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes beeindruckend.

In der psychotherapeutischen Begegnung zeigt sich diese Erfahrung dann in Form umfassender, oft sprachloser, tief empfundener Intimität mit sich selbst, dem Leben, der Umwelt, den Mitmenschen. Es zeigt sich als Gewissheit von Lebendigkeit und Zugehörigkeit. Auch führt diese formlose Erfahrung, die nicht vergleichbar ist mit unserem Erleben und Sein, wie es uns sonst betrifft, zu Einsichten und Erkenntnissen über Lebenszusammenhänge, die ohne diese Erfahrung nicht erkannt werden.

Eine Form intimer Begegnung wird in der psychotherapeutischen Wissenschaft mit dem Begriff »wechselseitige rechtshemisphärische Kommunikation« beschrieben (Schore 2012). Diese Beschreibung verweist auf eine Begegnung unter Beteiligung unserer Gefühle und Empfindungen, wie zum Beispiel die Mutter mit einem Kind vorsprachlich kommuniziert. Dabei spielen Mimik, Gestik, Augenkontakt, Intonation der Sprache, zeitliche Bezogenheit, Aufmerksamkeit und gegenseitige Gefühlsregulation zwischen zwei Menschen eine zentrale Rolle. Ein weiteres Verständnis von intimer Begegnung hoffe ich in diesem Buch nach und nach zu erschließen. Dabei kann der rechtshemisphärische Kontakt, auch Intersubjektivität genannt, ein Türöffner für das Verständnis intimer Begegnung sein.

Zunächst sei gesagt, dass intime Begegnung hier nicht im sexuellen Sinne gemeint ist. Eher ist Begegnung gemeint als Ich-Du-Begegnung im Sinne von Martin Buber, die als transsprachlich erlebt werden kann, nämlich, nachdem alles gesagt wurde, was verbalsprachlich gesagt werden kann. Intime Begegnung kann uns eine Ebene von Begegnung nicht nur mit uns, sondern auch mit der Welt erschließen, die einen eigenen Erkenntniswert hat. Diese Erkenntnisse begleiten unsere Sinnfindung, Selbstwerdung und Entdeckung der Essenz unseres Daseins. Es gilt der Satz: Die Begegnung mit dir führt mich zu mir, und somit erschließt du mir eine Teilhabe an der Tiefe meiner eigenen Existenz. Diese Tiefe der eigenen Existenz wird von manchen Autoren als »Teilhabe in Sphären des Seins und Bewusstseins« (Ferrer 2002, S. 28) beschrieben. Diese Art der Begegnung hinterlässt in uns Eindrücke, die zu Veränderungen auf unserem Lebensweg und in der Beziehung zu uns selbst und zu unseren Haltungen führen. Insofern muss diese »Teilhabe« in einer veränderungsfokussierten Psychotherapie relevant sein. Bei meinem Besuch in einer Traumaklinik erklärte mir die Kunsttherapeutin, dass die Kunsttherapie nicht nur den Sinn habe, Erfahrungen zum Ausdruck zu verhelfen, sondern auch durch die aktive Gestaltung Eindrücke bei Menschen zu vermitteln, die uns helfen zu leben. Wie wichtig solche Begegnungen und Eindrücke sind, habe ich bei meiner Tätigkeit an einer Krebsklinik erfahren. Ich wurde gebeten, eine Patientin aufzusuchen, die nicht sterben konnte. Diese Frau, die Mitte fünfzig war, schilderte mir, dass sie nicht sterben könne, da sie noch gar nicht gelebt habe. Als ich sie nach einem Moment in ihrem Leben fragte, wo sie den Eindruck hatte, ein wenig gelebt zu haben, quittierte sie das mit einem langen Moment der Stille. Dann erklärte sie mir, wie schlimm ihr Leben und wie unerträglich ihre Ehe war. Doch es gab dreimal in ihrem Leben einen Moment, wo sie allein in ihrem Schrebergarten auf einer Bank saß, angelehnt an die Hütte, und den Sonnenuntergang verfolgte. In diesen drei Momenten hatte sie eindrücklich Leben und Lebendigkeit erfahren. Ich schlug ihr vor, sich in ihr Krankenbett zu legen und sich vorzustellen, dass sie auf der Schrebergartenbank sitzt und den Sonnenuntergang beobachtet. Drei Tage später verstarb sie. Diese Frau und ihr Leben berühren mich bis heute und sind für mich bis heute wegweisend. Denn wo wir nicht uns selbst leben können, erstarrt unser Leben, und wir schwächen uns täglich durch den Verzicht auf uns selbst. Wir müssen unser Selbst fälschen, um den Verzicht auf uns selbst zu »überleben«, und enden dann in einem Leben, das mit uns nicht viel zu tun hat (Gruen 2013).

Dieses Buch soll die Fähigkeit unterstützen, die Teilhabe an tiefempfundener Erfahrungsdimension zu verwirklichen. Eine Teilhabe, die in einer sich wandelnden Begegnungs- und Erlebenskultur zur Notwendigkeit wird, um im Wandel der Welt(en) einen eigenen Leitstrahl zur Selbstverwirklichung zu haben. Die neue Erlebenskultur kann beschrieben werden als die Entwicklung zum aperspektivischen Bewusstsein (Gebser 1973/1992) oder postmoderner Orientierungslosigkeit mit nie da gewesener persönlicher Freiheit (Lyon 1999). Diese Freiheit bringt mit sich, dass jeder Einzelne eine psychische Form, das heißt Wahrnehmung beziehungsweise Teilhabe an Überpersönlichem entwickeln muss, damit er nicht der Trivialität des Konsumalltags oder eigenen Selbstentfremdung erliegt (Dürckheim 1984, 1989; Gruen 2013). Anders ausgedrückt: Der Notwendigkeit der Teilhabe an zeitgemäßer Form von Transzendenz, oft beschrieben als Spiritualität, und der Notwendigkeit von Sinnstiftung und bergender Intimität entkommt keine Generation, die nicht an der Trivialisierung des Alltags psychisch verkümmern will.

Von der institutionellen Religiosität zur Transzendenz

Der enorme Aufschwung der orthodoxen Kirche in Russland nach dem Fall des kommunistischen Regimes (Knox 2005) mag als ein Indiz dafür gelten, wie sehr die Abwesenheit einer transzendenten Orientierung, der eigentliche Schaden des Materialismus, an der Wirklichkeit der Menschen vorbeigeht. Gleichzeitig hat in westlichen Ländern eine Transformation religiöser und spiritueller Formen stattgefunden. Jesuiten bieten ignatianische Filmexerzitien (www.film-exerzitien.org/) an, und die protestantische Kirche verlegt den Gottesdienst in Kinos, um Menschen in ihrem spirituellen Bedürfnis im 21. Jahrhundert zu erreichen. Religiöse Orientierung hat »die Bannmeile der ›Kirchensoziologie‹ verlassen«, und es wird nach neuen Sinnsystemen gesucht, in denen »der Organismus zur Person wird«, damit auch eine rein biologische Sichtweise von Menschsein überwunden wird. Denn ohne »verinnerlichtes Relevanzsystem« kann es keine persönliche Identität geben (Luckmann 1991). Kurzum, »in seiner institutionalisierten Form hat religiöser Glaube seine Glaubwürdigkeit endgültig eingebüßt« (Drewermann 2014, S. 10). Es findet eine Entwicklung zu unkenntlichen Formen religiös-spiritueller Lebenspraxis statt. Für diesen Ausdruck religiös-spiritueller Sehnsucht schlägt Knoblauch (2008) den neutralen Begriff »Transzendenz« vor. Im Gegensatz zu den eindeutig bezeichneten religiös-traditionellen Formen sind die unkenntlichen Formen durch pragmatische Orientierung, Intersubjektivität, alltägliche Kommunikation, schwache Organisationsneigung und holistische Funktion gekennzeichnet. Ihr Kennzeichen ist das Überschreiten der Alltagssicht, und ihr Aufkeimen drückte sich bisher zum Beispiel aus in der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen (Channeling), der Vision einer anderen, besseren Welt (New Age), Nahtoderfahrungen, Reinkarnationstherapien, astrologischen Beratungen oder Bewusstseinserweiterungspraktiken durch Meditationen, Drogenreisen und Visionssuchen. Weiterhin drückte sich alternative Religiosität aus im Praktizieren von Körpertechniken, alternativen Heilungsweisen, Meditationspraktiken, Ayurveda, oder es finden sich esoterische, okkulte und spiritistische Formen (Stollberg & Frank 2002). Andere Autoren glauben, dass gerade alternative Heilungsformen, wie zum Beispiel die Homöopathie, die durch nicht medizinische, nicht akademische Behandler ausgeübt werden, zur Verbreitung von Überzeugungen und Praktiken alternativer Religiosität erheblich beigetragen haben (Andritzky 1997). Unkenntliche Formen religiös-spiritueller Phänomene legen großen Wert auf das subjektive, direkte Erleben von Transzendenz. Sie überschreiten die Grenzen religiöser Institutionen und beziehen die medienbasierten Verbreitungsmöglichkeiten der Popkultur mit ein. Dort verwischen sich die Grenzen zwischen privat und öffentlich in einer sich popularisierenden religiös-spirituellen Orientierung. Im Allgemeinen beziehen sich diese nicht institutionalisierten religiös-spirituellen Formen auf tiefere Dimensionen des inneren Selbst oder der Verbindung zwischen einer inneren und einer transzendenten Dimension von Dasein, wie etwa in der Human-Potenzial-Bewegung.

Diese Dispersion religiös-spiritueller Bedürfnislagen hat die therapeutische Praxis in verschiedenen Formen erreicht. Und dies nicht nur durch Klienten. Hofmann und Walach (2011) untersuchten eine repräsentative Stichprobe von 895 deutschen Psychotherapeuten und fanden heraus, dass rund zwei Drittel der niedergelassenen und von Krankenkassen zugelassenen Psychotherapeuten einer spirituellen Ausrichtung hohe Bedeutung beimisst. Die Autoren beschreiben Psychotherapie als eine säkulare Disziplin, während Psychotherapeuten als individuelle Personen oft nicht säkular sind. Im Gegenteil: Zirca zwei Drittel der Therapeuten berichten, dass sie selbst eine relevante spirituelle Erfahrung hatten und dass ein spirituell-religiöser Hintergrund für die Behandlungspraxis und psychotherapeutische Ausbildung einen höheren Stellenwert haben sollte. Anzumerken ist dabei, dass Spiritualität definiert wird als eine auf individuellem, persönlichem, auf subjektivem Erleben beruhende Beziehung zur transzendenten Dimension des Daseins, während der Begriff Religion sich auf traditionelle, institutionalisierte und sozial etablierte Formen der Beziehung zu letztendlicher Transzendenz bezieht. Auf eine genaue Definition der Begriffe haben die Autoren aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der beiden Phänomene verzichtet. Insgesamt aber neigen Psychotherapeuten weniger zur religiösen Form von Transzendenz als die Durchschnittsbevölkerung, haben aber ein großes persönliches Interesse an Spiritualität. Wenn man religiöses und spirituelles Interesse zusammen bei Psychotherapeuten berücksichtigt, so sind rund 78 Prozent aller Personen dieser Berufsgruppe in diesem Eigenschaftspool erfasst (Smith & Orlinsky 2004).

Psychotherapie als Ort der Transzendenzerfahrung

In diesem Buch wird Psychotherapie als ein Ort möglicher, »unkenntlicher« Transzendenzerfahrung und Begegnungsrahmen für Heilung, Sinnfindung, gesellschaftlicher Handlungswirksamkeit und Selbstrealisation beschrieben. Dazu muss Psychotherapie als Begegnungskultur reflektiert werden, die auf der Grenze steht zwischen Heilkunde, Seelsorge, Teilhabe an Transzendenz und Einbettung in eine sich wandelnde Gesellschaft mit veränderten Beziehungsfreiheiten und einem sich wandelnden Bewusstsein. Der Verlust eines tragenden, gesellschaftlichen Gemeinschaftsgefühls, ungekannten Freiheiten in Beziehungen und sexueller Bedürfnisbefriedigung sowie Möglichkeiten, Egoismus und Opportunismus schamlos und anonym auszuleben (Revenstorf 2013), erfordert es, Gemeinschafts- und Beziehungsfähigkeit neu zu erlernen und Werte neu festzulegen. Zu dieser Orientierung an Werten kann die erkenntnistheoretische Kraft transpersonaler Erfahrungen einen Beitrag leisten. Woher sollte sonst eine tragfähige Werteentwicklung in der jetzigen menschlichen Entwicklungsphase unserer Bewusstseinsentwicklung kommen, bei der nach Jean Gebser unsere mentale Bewusstseinsphase in eine vereinseitigte rationale Defizienzphase übergeht, wo Kognition, Denken, Rationalität allein keine Antwort mehr liefern auf die drängenden Fragen unserer Zeit und unserer Persönlichkeitsentwicklung (Gebser 1973/1992)? Die Zeit der Moderne, die von der Französischen Revolution bis zum Zusammenbruch kommunistischer Gesellschaftsideologien reicht (1789–1989), hat in fundamentalistischer Weise eine Einseitigkeit von Verstand, Natur und Fortschritt vertreten (Lyon 1999). Die Verhandelbarkeit von Wirklichkeit, Abwesenheit von Wirklichkeit und Vielfalt von Parallelwirklichkeiten in der postmodernen Debatte zwingen uns nun dazu, existenzielle Fragen aus uns selbst heraus zu beantworten, nachdem die großen Lebens- und Gesellschaftsentwürfe mit dem Sturz des Kommunismus zusammengebrochen sind. Dazu muss Psychotherapie in einer globalisierenden, multikulturellen Welt dem Menschen helfen, sich selbst in der Vielfalt der Möglichkeiten und Lebensentwürfe zu finden und zu einer eigenen Sinnstiftung zu kommen. Die gegenwärtige Diskussion über Schluffis und Schlaffis der Maybe-Generation, der »zaudernden Generation ohne Eigenschaften«, der schon die Unterscheidung von Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn zur Überforderung wird, spricht eine klare Sprache. Sie zeigt eindringlich die Notwendigkeit, handlungsleitende Orientierungen in persönlicher, fast möchte ich sagen: intimer Weise zu kokreieren (Meisel 2012). Aber woher bezieht die Psychotherapie oder der Psychotherapeut diese Orientierung?

Es bleibt immer wieder fraglich, inwieweit auch die Psychologie und ihre jeweiligen Vertreter sich der Wirklichkeit verschiedenster Lebensentwürfe genügend stellen oder den eigenen Heilungsauftrag durch einseitige Wissenschaftsorientierung und Ausgrenzung existenzieller Lebensthemen verfehlen. »Heilen Behandlungen Störungen oder heilen Beziehungen Menschen?« (Mestel 2015, S. 14) Im Vorwort zu ihrem Buch über existenzielle und transpersonale Dimensionen des Menschseins bekennt Rosemarie Anderson Folgendes: »In meinen 25 Jahren als Forschungspsychologin hat es mich immer betroffen gemacht, dass die sprachbegabtesten Beiträge über die Natur menschlichen Erlebens selten bei Psychologen, aber meist bei Poeten, Romanschreibern, Dramaturgen, Geschichtenerzählern und Theologen zu finden waren.« (Anderson im Vorwort zu Valle 1998, S. ix). Der US-amerikanische Psychiater und ehemalige Professor an der Standford Universität, Irvin Yalom (2009), beklagt eine ökonomiegetriebene Psychotherapie, die sich vor allem daran orientiert, »billig und unumgänglich, kurz, oberflächlich und substanzlos zu sein« (S. xiv). In meiner täglichen Therapiepraxis begegne ich selbst Klienten, die beklagen, dass sie sich im therapeutischen Setting wenig wahrgenommen fühlen, wirksame Begegnung vermissen und in ihrer inneren und äußeren Wirklichkeit nicht erfasst wurden. Viele Klienten erleben auch nach Jahren der Therapie zu wenig Besserung ihrer Anliegen und lernen stattdessen, sich immer mehr mit kleineren Zielen zu bescheiden. Sie beklagen mangelnde Konfliktfähigkeit von Psychotherapeuten, die sich hinter professioneller Distanzierung und Allgemeinplätzen zurückziehen. Ich halte dies für ein ernst zu nehmendes Feedback, gerade wenn angeblich 90 Prozent der Psychotherapeuten von sich glauben, zu den besten 25 Prozent ihrer Zunft zu gehören, und Psychotherapie in rund 10 Prozent der Fälle Klienten in einer schlechteren Verfassung entlässt, als sie ursprünglich zur Behandlung gekommen sind (Mestel 2015). Während die Wirksamkeit von Psychotherapie nachgewiesen ist (Nübling et al. 2014), findet sich eine lesenswerte, kritische Würdigung psychotherapeutischer Wirkfaktoren bei Robert Mestel (2015).

Als Therapeuten müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, ob wir uns auf unser Therapiekonzept fokussieren oder ob und inwieweit es zu tatsächlicher Begegnung mit dem Klienten kommt. Tatsächliche Begegnung, das heißt Berührtwerden durch Intimität, verändert und heilt, und sie wirkt auf den Therapeuten und Klienten gleichermaßen. Beide erleben eine Intensität von Begegnung und Gemeinsamsein, wo keiner gibt und beide empfangen. Der Religionsphilosoph Martin Buber beschreibt es radikal mit den Worten: »Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung« (Buber 1984, S. 16). Die unmittelbare, intersubjektive Nacktheit zwischen Klient und Behandler ermöglicht eine Teilhabe an Dasein, Menschsein und Gemeinsamkeit, die sicherlich den Erfahrungsraum der Transpersonalen Psychologie braucht, um in ihrer Eigenart gewürdigt werden zu können. Es braucht vermutlich die Orientierung an einem sakralen Raum, um diese Intimität von Begegnung in förderlicher Weise zu ermöglichen. Die Integration unterschiedlicher innerer Lebenswelten wird zur Notwendigkeit. In meiner Alltagspraxis kehrt in diesem Stadium sehr viel Stille ein, und therapeutisches Tun macht Raum für gemeinsames Sein.

Von der Ein-Personen-Psychologie zur Zwei-Personen-Psychologie

In einem Gespräch mit einem Schweizer Theologen machte mir dieser deutlich, dass sich für ihn die Frage über die Natur des Göttlichen erübrigt hat, seit er verstanden hat, dass alles, was wir über die Natur des Göttlichen erfahren können, in der Qualität zwischenmenschlicher Begegnung angelegt ist. Die Isomorphie (Formgleichheit)von Göttlichem und Menschlichem ist eine Grundannahme der Kabbala1. In diesem Verständnis spiegelt das, was in der Begegnung zwischen zwei Menschen erlebbar wird, das wieder, was in der Begegnung und Durchdringung von menschlichem und göttlichem Bewusstsein erfahren werden kann. Wir tauchen in der Begegnung mit einem realen Menschen immer auch in die Begegnung mit dem göttlichen Sein ein, sofern wir uns für diese Möglichkeit empfänglich machen. In der intensiven gegenseitigen Durchdringung intimer Begegnung begegnen wir oft einem als intim empfundenen Raum, der eine andere Qualität transportiert als die übliche verbale Kommunikationsorientierung. Menschen empfinden ein Ergriffensein, das sie berührt, und es stellt sich die Frage, was uns da berührt. Gemeinsame Präsenz im Begegnungsraum kann verstanden werden als Substanz menschlicher Existenz, welche in religiösen Kontexten als das Anwesendsein letzten Seins und ultimativer Wirklichkeit erlebt wird. Wir erleben also nicht nur einen Wechsel von der Ein-Personen-Psychologie zur Zwei-Personen-Psychologie (Schore 2012). Wir erleben vermutlich auch eine notwendige Öffnung für die Vergegenwärtigung und Einbeziehung immanenter Transzendenz in der professionellen Ich-Du-Begegnung, um einer umfassenderen Wirklichkeit des Menschen Genüge zu tun.

Ich halte es für einen blinden Fleck der psychotherapeutischen Profession, dass zu wenig darüber reflektiert wird, in welchem Maß Liebe die treibende Kraft von psychotherapeutischem Tun ist oder sein kann. Die Sterilisierung einer psychotherapeutischen Begegnung in Rollen, Techniken, Distanz oder Authentizität, bei der eine liebende Dimension nicht gewagt oder eingestanden werden kann, mindert die Heilungspotenz therapeutischer Begegnung. Martin Buber macht deutlich: »Liebe ist welthaftes Wirken«, und wo ihr Platz eingeräumt wird, »lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit im Getriebe; … Ausschließlichkeit ersteht wunderbar Mal um Mal – und so kann er [der Mensch] wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen« (1984, S. 19). Im kabbalistischen Verständnis gibt es die Qualität des Zimzum. Das bezeichnet den Rückzug des Göttlichen aus einem Teil des göttlichen Körpers, damit dort ein ursprüngliches Vakuum entsteht, indem Raum ist für das Anwesendsein des Menschen. Liebe wird verstanden als das Sich-Zurücknehmen, um dem Menschen Raum zu geben für sein eigenes Dasein. Das ist eine Form von Liebe, die jeder Arzt und Therapeut tagtäglich praktiziert, damit sein Gegenüber sich selbst im vollen Dasein erfahren und in seiner Ganzheit anwesend sein kann. Liebe kann verstanden werden als Haltung, um überhaupt ein Verständnis für das So-Sein entwickeln zu können und an die Komplexität einer menschlichen Situation anschlussfähig zu werden. Wir können Menschen lehren durch Psychoedukation, und wir können als Arzt, Psychotherapeut und Mensch andere Menschen in ihrer Heilung unterstützen durch die Art, wie wir auf sie beziehungsweise auf ihr Sein lauschen. Nur was wir lieben, können wir verstehen (van Manen 1990). Nur wo wir die involvierte Liebe empfinden können, sind wir im Einklang mit der wirksamen Wirklichkeit einer Situation. Die Form, in der diese Liebe empfunden werden kann und im Gegenwärtigsein transparent gemacht wird, sollte Gegenstand therapeutischer Ausbildung und Reflexion sein. Und – damit kein Missverständnis entsteht –, ich stimme dem niederländischen Traumatherapeuten Bessel van der Kolk (2014) zu, der sehr deutlich angibt, dass zum Beispiel traumatisierte Klienten nicht gesund geliebt werden können. Es braucht unterschiedliche Zugangsweisen, die im therapeutischen Einzelfall auch durch eine Technik als spezifische Zugangsweise angeboten werden kann und muss. Verschiedene Techniken sind unterschiedliche Zugangsweisen, die in die jeweilige Haltung des Therapeuten eingebettet werden und in dieser Kombination Wirksamkeit entfalten können. Die Technik dient dann als Angebot zu einer existenziellen (Selbst-)Begegnung auf einer bisher unerreichten (neurophysiologischen) Ebene. Es sind vielfältige Faktoren, die unser Erleben bestimmen. So wie manche Autoren eine »erweiterte Wissenschaft« (extended science) fordern, die eine große Bandbreite von Methodologien umschließt und sich gleichzeitig spirituellen und transpersonalen Fragestellungen stellt (Lancaster 2014), so ist im psychotherapeutischen Alltag eine bewusstere Reflexion und Praxis letzter Fragen, Menschen- und Weltbilder sowie unterschiedlicher Zugangsweisen unumgänglich, wenn wir Begegnungsqualität erreichen wollen. Nicht umsonst erreichte die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor E. Frankls große Bekanntheit, und seine Bücher, wie zum Beispiel Der unbewusste Gott (2015), sind weltweite Bestseller.

Der Fokus dieses Buches liegt auf der Qualität der Begegnung von Therapeut und Klient und auf das, was an äußeren und inneren Faktoren entstehen muss, damit eine zusätzliche Qualität des Seins Raum greifen kann. Diese Qualität hat einen autonom-numinosen Charakter, das heißt eine Qualität von Andersartigkeit, die mit der Teilhabe an einem Mysterium zu tun hat (Dürckheim 1989). Diese Qualität kann sich auch durch einen innovativen Ereignischarakter auszeichnen, der uns dann als inspiriert oder kreativ erscheint (Ferrer 2008). Manchmal nenne ich es sakralen Charakter, der unter bestimmten Bedingungen erfahr- und erlebbar wird. Diese Qualität wird zum Beispiel als Stille hinter der Stille, als Tiefenstille erlebt, die alles durchwirkt und den physischen und interpersonalen Raum ausfüllt. Das Auftauchen der zusätzlichen Qualität transformiert Begegnungsqualität, intensiviert gegenseitige Durchdringung und Teilhabe und ermöglicht innovative therapeutische Lösungen, die jenseits von Erdachtem, Geplantem oder Gewolltem liegen. Es ereignet sich etwas, was einem anderen Seinsbereich angehört und in unser Seinserleben hineinwirkt. So beschreibt ein 64-jähriger Mann: »Denke da auch gerade daran, dass ich zehn Minuten in meinem 64-jährigen Leben als ›normal‹ erleben durfte. Wann? Das war, als du … mir anschließend den Kopf gehalten hast. Mein Kopf war warm, meine Hände und meine Füße waren warm, der übrige Körper war warm, und in meinem Kopf war alles ruhig, eben normal. Wahnsinn!! Danke!«

Bereits im psychoanalytischen Verständnis wird der Mythos des isolierten Subjekterlebens, der isolierten Psyche, überwunden (Stolorow & Atwood 1992/2010), und die Bedeutung eines validierenden Gegenübers, das sich durch Feinfühligkeit auszeichnet (validating attunement), wird zur eigenen Wirklichkeitsbildung betont. Hierin kündigt sich der Schritt von der Ein-Personen-Psychologie zur Zwei-Personen-Psychologie an. Das bedeutet, es wird nicht länger die Psyche eines einzelnen Menschen als die relevante Betrachtungs- und Bewusstseinseinheit gesehen, sondern die gegenseitige Durchdringung psychischer Landkarten in der Begegnung von Menschen, die sich in einer anderen Art von Selbstverständnis, Selbsterleben und Selbstsein ausdrückt. Dieses Verständnis bringt womöglich einen Fortschritt in Richtung erweitertem Verständnis von Teilhabe an Sein- und Erfahrungsebenen, die nicht nur auf egozentrischer Selbstwahrnehmung beruht. Seit den tiefenpsychologischen Schriften von C. G. Jung ist zum Beispiel unsere Teilhabe an kollektiven Phänomenen weit mehr in unser Bewusstsein gerückt. Jung beschreibt die heilende Wirkung, die es für den Einzelnen hat, wenn er versteht, dass sein persönliches Leiden womöglich Ausdruck eines kollektiven Leidens ist oder gar Teilhabe am Leiden einer transzendenten Dimension (Jung 1980, S. 110).

Intersubjektivität: Teilhabe an der inneren Landkarte des anderen

Über eine rein psychologische Betrachtung der Zwei-Personen-Psychologie hinaus erfordern die kritischsten Notlagen, Traumatisierungen und lebensbegrenzenden Verluste eine Einstimmung in die Wirklichkeit eines Menschen, die umfassender erlebt wird, als es allein mit einem ausschließlichen psychologischen Verständnis des Behandlers oder auch mit Bindungstheorien erreicht wird. Wirklichkeit entsteht nach dem Verständnis von Intersubjektivität, das heißt der gegenseitigen Teilhabe an der inneren Landkarte des anderen, dort, wo sich die Wesenheiten von Menschen durchdringen und damit gefühlte Intimität und Teilhabe an der Wirklichkeit des anderen entsteht. Warum diese intersubjektive Durchdringung auf die Feldkräfte einer Zwei-Personen-Begegnung begrenzt sein sollen, ist fraglich. Das Erleben von zusätzlichen Qualitäten, wie sie in intimen Begegnungen erlebbar sind und vielleicht in der gegenseitigen Durchdringung intimer Partnerschaften auch körperlich intensiv erfahrbar werden, kann eben auch als Begegnung und Berührtheit durch eine spirituelle Andersartigkeit (Nicht-Ich) erfahren werden. Dies führt zu einem Moment der Berührtheit, der oft mit ergreifender Stille einhergeht und als sakral, spirituell oder ehrfurchtsvoll empfunden wird. Existenziellste Notlagen und Fragen von Klienten können nach meiner Auffassung nur in einem solchen intersubjektiven Raum behandelt werden, der sich auf sakrale Erlebnisinhalte auszuweiten vermag. Dann werden Therapeut und Klient in ihrem gemeinsamen Wirken durchdrungen, und Heilung vollzieht sich an beiden. Es entsteht eine Begegnung, in der keiner gibt, beide empfangen und ein Sein erlebbar wird, das in oft wortloser Ergriffenheit mündet. »Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung« (Buber 1984, S. 16). Dort realisiert sich das »Ich-Du-Grundwort«. Dazu muss ich selbst alle Erfahrung, die nach Martin Buber immer Du-Ferne ist, hinter mir lassen. Ich muss mich der Unmittelbarkeit des vom Wesen gesprochenen Grundwortes Ich-Du der vollen Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit der Begegnung aussetzen und damit die Wesenstat vollbringen. Oder wie Jean Gebser (1986b, S. 377) es formuliert: »Ursprung ist Gegenwart.«

Das erfordert jedoch vom Therapeuten eine Qualität von Ebenbürtigkeit und Unmittelbarkeit mit dem Klienten, die gewohntem Rollen- und Distanzverständnis entgegensteht. Wenn es immer wieder in therapeutischen Ausbildungsgruppen Diskussionen darüber gibt, ob man Klienten die Hand zur Begrüßung geben darf oder ob das zu viel Nähe und Körperkontakt ist, dann wird damit ein Verständnis zugrunde gelegt, dass ich schlichtweg für weltfern und mit dem Inhalt dieses Buches für nicht vereinbar halte. Der Psychoanalytiker Arno Gruen (2013) beklagt unsere Scheinwelt aus Abstraktionen, in der wir der Illusion aufsitzen, unser Denken sei realistisch, wo es in Wirklichkeit zentraler Dimensionen von Menschsein enthoben ist. Diese zentralen Dimensionen beschreibt Gruen als Mitgefühl und der Fähigkeit, Schmerz zu teilen, Leid zu verstehen und Verbundenheit mit allen Lebewesen zu erleben. Er beklagt einen Mangel an Empathie und die unmerkliche Ausgrenzung unseres Fühllebens. Jean Gebser (1973/1992) beschreibt zur Entwicklungsgeschichte menschlichen Bewusstseins, dass die Masse der sprachlichen Formelhaftigkeit der mentalen Bewusstseinsstruktur eine Defizienzphase darstellt, die den Übergang in eine andere Bewusstseinsphase, in die des integralen Bewusstseins erfordert. Mit anderen Worten: Perspektivisches Herumgerede wird dem Menschen (in der Therapie) nicht gerecht. McGilchrist (2009) warnt vor den Einseitigkeiten der linkshemisphärischen, einseitig rationalen, analytischen Welt, wo weniger Menschen mit einer Tätigkeit beschäftigt sind, die Kontakt zur realen, »gelebten« Wirklichkeit beinhaltet. Stattdessen findet der Kontakt statt mit Plänen, Strategien, Akten, Management und bürokratischen Vorgängen, die dem Leben und damit der Gesundheit nicht dienen, da sie zu wenig ganzheitlich sind. Es benötigt wenig Vorstellungsgabe, welche verheerenden Auswirkungen diese Tatsache in den verschiedensten Bereichen hat, wie in der Politik und Rechtsprechung, in Bildungssystemen, in der Psychotherapie oder in alltäglicher zwischenmenschlicher Begegnung, und wie viel Leid dadurch heraufbeschworen wird. Eine Medizinstudentin berichtet mir mit dem Brustton wissenschaftlicher Überzeugung, sie wolle als Ärztin nur noch Laborzettel ansehen und keine Patienten. Womit sind wir im Kontakt? Mit Konzepten? Abstraktionen? Erdachtem, statt erlebtem Leben? Wie viele der Menschen, die in psychotherapeutische Praxen kommen, können Leben und Beziehung zwar denken und analysieren, aber wagen nicht, es zu empfinden. Oder sind wir tatsächlich in Kontakt mit gelebtem und erlebtem Leben, das uns als Mensch durchwirkt auf eine wohltuende, weil uns selbst berührende ontische Tiefe hin?

Václav Havel (1995), tschechischer Essayist, Poet, Dissident und Politiker, beschwört die Notwendigkeit eines anderen Bewusstseins, das auch Grundlage politischer Haltungen sein muss. Dieses Bewusstsein muss sich aus Respekt für das Wunder des Seins, des Universums, der Natur sowie der eigenen Existenz speisen. Dieses Bewusstsein muss sich gründen in »Transzendenz als die einzige wirkliche Alternative zur Vernichtung« (Havel 1995, S. 238). Diese Haltung ist nicht auf bestimmte Seinsbereiche beschränkbar. Der Philosoph und Kulturhistoriker Richard Tarnas beschreibt diese Haltung als Teil der Wissenschaft und damit gegenüber der Welt als Ganzem:

»Stell dir vor, du bist das Universum. Ein tiefgründiges, schönes, beseeltes Universum. Und du wirst umworben von einem Freier. Würdest du diesem Interessenten dein tiefstes Geheimnis offenbaren – das bedeutet seiner Methode, seiner Erkenntnisweise –, sofern er sich dir nähert, als wärst du unbewusst, als fehlte es dir an Intelligenz oder Sinn, und würdest angesehen als minderwertiger als er selber? Ein Freier, der sich auf dich bezieht, als würde es dich nur dafür geben, um durch ihn ausgebeutet zu werden und für seine Eigenentwicklung und Selbstdarstellung da zu sein? Noch dazu, wenn seine Motivation, dir zu begegnen, getrieben wird von einem Wunsch nach Vorhersage, Kontrolle, Eigenoptimierung? Oder würdest du dein tiefstes Geheimnis jemandem öffnen – das heißt einer Erkenntnisweise und Methode –, der dich als wenigstens so intelligent, kraft- und geheimnisvoll ansieht, wie sich selber, und der den Wunsch hat, sich mit dir zu verbinden, damit durch diese Verbindung etwas Neues entstehen kann?« (Tarnas 1991, S. 59)

Stärkung der Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit

Die Psychotherapie der kommenden Dekaden muss einen Beitrag zur Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen leisten. Persönlichkeitsentwicklung steht zwangsläufig im Dienst der Gemeinschaftsfähigkeit und unterstützt Ehrfurcht und Respekt vor der Schöpfung, wenn sie die transzendente Dimension als valide Seinserfahrung einbezieht. Menschen müssen in einen differenzierten, feinfühligen Kontakt mit sich selbst kommen. Therapeuten müssen Mut und Wege finden, Menschen bei der Überwindung von Selbstphobien unterstützend zur Seite zu stehen. Immer wieder geht es um die rechte Form des Menschen, die die Erfahrung von Teilhabe am Überraumzeitlichen ermöglicht. Und, wie Karlfried Graf Dürckheim (1983) deutlich einfordert, diese Erfahrung in seiner transzendenten Qualität anerkennt und ernst nimmt. Therapeutische Technik muss immer wieder zurücktreten können hinter unmittelbare Begegnung. So werden Menschen für die Erfahrung von Präsenz und Teilhabe am letztlich nicht fassbaren Urgrund des Seins sensibilisiert. Zu den korrespondierenden Qualitäten gehören Erfahrungen wie zum Beispiel die Stille hinter der Stille, durchdringende Begegnungsintimität, grundlose Glückseligkeit, Ergriffensein von Unausdrückbarem, Berührtsein von der eigenen Selbstliebe, Staunen über die Existenz von Leben an sich, Berührtsein von Alltäglichem, Ruhe und Gelassenheit – die zum Beispiel als entspannt-friedfertiger Gesichtsausdruck erlebt werden kann –, Klarheit im Handeln, orientiertes Gestalten der eigenen Zukunft oder auch die Empfindung von Selbstwirksamkeit im Einklang mit dem eigenen Sein.

Hinweis

Sakrale Texte zeichnen sich durch sogenannte Multiplizität aus. Das bedeutet, dass sie in ihrer Bedeutungsgebung absichtlich vage und unbestimmt bleiben und sich nicht ohne Weiteres entschlüsseln lassen. Daher erfordern diese Texte eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Leser. Die Texte müssen in jeder Generation neu entschlüsselt und interpretiert werden. Ihre Bedeutung kann also wechseln. Dieses Ringen um das jeweilige richtige und zeitgemäße Verständnis ist an sich bereits ein kreativ-schöpferischer Akt. Dieses Schöpferischsein ist bereits ein gottgleicher Akt, der vom Verständnis der jeweiligen Zeit und dem Bewusstseinsstand des Lesers abhängt. Die Auseinandersetzung mit so einem Text, wo sie mit existenzieller Ernsthaftigkeit begangen wird, kann bereits als ein sakraler Akt verstanden werden.

Unmittelbares sakrales Ergriffensein ist in ihrer ursprünglichsten Qualität formlos (amorph). Auch eine sich als säkular verstehende Person kann so ein ursprüngliches Ergriffensein erleiden oder erfahren. Auch in so einem Fall muss diese formlose, unausdrückbare Erfahrung in irgendeiner Form ihren Ausdruck finden. Daher wird die jeweilige Form der Erfahrung dann durch den Lebens- und Erfahrungshintergrund der jeweiligen Person bestimmt. Das bedeutet, dass jede Aussage über spirituelle, transzendente, numinose Erfahrungen zwangsläufig vom Erlebenden durch Erfahrungen seiner persönlichen Lebenswelt eingefärbt und vermittelt sind. Die Art der Vermittlung, zum Beispiel als Liturgie in der Kirche, psychotherapeutisches Selbsterleben, intime partnerschaftliche Durchdringung, Großziehen von Kindern, kulturellen oder soziologischen Gegebenheiten, unterliegt immer der jeweiligen zeitbedingten Form und Interpretation. Eine verbindliche Definition ist daher schlechterdings nicht möglich. Jede Generation und Kultur findet ihre eigene Deutung. Da man also an Formlosigkeit, Deutung und Formgebung nicht vorbeikommt, das heißt am amorphen Kern spiritueller Ergriffenheit, verwende ich Begriffe, die ich im Zusammenhang mit Transzendenz sehe, unscharf und austauschbar. Dazu gehören unter anderem Begriffe wie »Nicht-Ich«, »Numinoses«, »Transzendenz«, »das Göttliche«, »kosmisches Bewusstsein«, »aktiver Intellekt«, »das Unbenennbare« oder »das Sakrale«. In diesem Buch werden die Begriffe so verstanden, dass sie auf etwas verweisen, was intellektuell nicht beweisbar, sondern gegebenenfalls erfahrbar ist. Insofern können die Begriffe das Formlose nicht definieren, sondern nur darauf hindeuten, so wie das Tetragrammaton JHWH, die Bezeichnung für das Göttliche im Alten Testament (= »Ich werde da sein, als der ich dann da sein werde«), keine definierende, greifbare, festlegbare Form erlaubt, woraus sich das Bilderlosigkeitsgebot im Judentum ergibt. Das Letztendliche an sich bleibt unfassbar.

1Die Isomorphie und Verflochtenheit zwischen Göttlichem und Menschlichem wird im nachfolgenden Text anschaulich dargestellt: »Da gibt es eine einzige Essenz, die von allen Dreien [Gott, Mensch und Welt] geteilt wird, wenn wir der Ableitung folgen, dass das Wissen von Gott äquivalent ist mit Selbst-Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis äquivalent ist mit Wissen vom Kosmos. Diese Konsubstantialität von Selbst und Gott in der kabbalistischen Literatur … ist verknüpft mit der Übereinstimmung von Mikrokosmos und Makrokosmos, dem Bild der Welt als ein großer Mensch (adam gadol) und dem Menschen als eine kleine Welt (olam qatan). Gott, Welt und Menschen sind verschränkt in einem wechselseitigen sich Spiegeln.« (Wolfson 2005, S. 32)

1 Therapeutische Begegnung

»Alles kann in Einsamkeit erreicht werden – außer geistiger Gesundheit.«

(Friedrich Nietzsche in Cozolino 2006, S. 229)

»Wenn du den Bereich reinen Seins erreichst, psychologisiere ihn nicht.«

(Lancaster 2004, S. 273)

Die Person des Therapeuten als Hauptwerkzeugder Therapie

Im psychotherapeutischen Selbstverständnis spielt die Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine zentrale Rolle. Sie gilt als Hauptwirkfaktor in der psychotherapeutischen Behandlung (Lambert & Barley 2001; Strupp 1996). Allan Schore (2003a) betont die Fähigkeit, Gefühle mit dem Gegenüber gemeinsam erleben und teilen zu können, als wichtigsten Heilfaktor in der Klient-Therapeut-Beziehung. Dieser sei inzwischen in allen therapeutischen Schulen anerkannt und Grundlage aller therapeutischen Interventionen (S. xvii). Nach Orlinsky und Rønnestad (2005, S. 6) variiere die psychotherapeutische Wirksamkeit mehr mit der Person des Therapeuten als mit der angewandten therapeutischen Technik. In diesem Verständnis ist das therapeutische Hauptwerkzeug der Therapeut selbst. Somit wären wir mit einem anderen Werkzeug konfrontiert, je nachdem, mit welchem Therapeuten wir es gerade zu tun bekommen (Evans 1993, S. 69). In der Traumabehandlung wird zusätzlich angenommen, dass nicht die Empathiefähigkeit des Therapeuten, sondern seine Fähigkeit zur Koregulation neurophysiologischer Zustände beim Klienten über deren Wirksamkeit entscheidet (van der Kolk 2004). Diese Sichtweise stellt manche Therapiemethodenstudie infrage, wonach eine Methode an sich wissenschaftlich untersucht werden soll, unabhängig von der Person des jeweiligen Behandlers. Diese Vernachlässigung der behandelnden Person als eigenständige Funktion führt zum Teil zu unerklärten Effekten, wie zum Beispiel in einer Studie über die schützende Wirkung von Trauma-Behandlungsmethoden beschrieben wird (McNally et al. 2003). Oder wie es auch in der Unterscheidung zwischen streng wissenschaftlicher Effektwirksamkeit (efficacy) an ausgewählten klinisch vorsortierten Stichproben und praktischer Alltags-Handlungswirksamkeit (effectiveness) deutlich wird (Spinazzola, Blaustein & van der Kolk 2005).

In der Kognitiven Verhaltenstherapie sind keine der angewandten Techniken aus den wissenschaftlichen Kognitionsstudien entstanden, sondern durch klinisch-praktische Herangehensweisen, die schlicht auf gesundem Menschenverstand beruhen (Hayes et al. 2005, S. 3). Sie resultieren daher aus der tatsächlich gelebten Anwendungspraxis, nicht aus idealisierten, standardisierten und oftmals praxisfernen Forschungsmethoden. Daher ist es sinnvoll, dass Wissenschaftler vorschlagen, mehr Prozessforschung zu betreiben, um die Wirkweise des Behandlers als zentrale therapeutische Kraft besser zu verstehen (Orlinsky & Rønnestad 2005). Einige Autoren sehen dabei den inneren Zustand des Therapeuten als wesentlich für die Wirksamkeit der Behandlung und betonen die Notwendigkeit, mehr Klarheit über das »Instrument Therapeut« zu erlangen (Grepmair & Nickel 2007). Wichtiger als alle Techniken, Veränderungsstrategien und Interventionen beurteilen sie den »inneren Zustand des jeweiligen Begleiters« (Senge et al. 2005, S. 180). Der 1988 verstorbene deutsche Zen-Meister Karlfried Graf Dürckheim formuliert diesen Sachverhalt so: »… [d]ie Wirklichkeit, zu der man den anderen entbindet, hängt davon ab, in welcher Wirklichkeit man selber steht« (1984, S. 135). Der Begründer der Initiatischen Therapie ist davon überzeugt, dass der Therapeut im Klienten das erzeugt, was er für sich selbst als substanziell und existenziell erkannt hat. Was immer wir mit großer Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit als wirklich und relevant für uns erkannt haben, werden wir, ob gewollt oder ungewollt, als Wirklichkeit in unserer Umgebung ausstrahlen. Und der resultierende Seinszustand wird von der inneren Wirklichkeit der uns umgebenden Menschen aufgenommen. So weist zum Beispiel eine deutsche Studie nach, dass in einer psychosomatischen Klinik bessere Therapieergebnisse erzielt werden, wenn die Therapeuten am Morgen vor ihrer Tätigkeit Zen-Meditation praktizieren und damit Einfluss auf ihren Eigenzustand nehmen (Grepmair et al. 2007; Grepmair & Nickel 2007).

Transzendenz des Therapeuten

Als Grundvoraussetzung für therapeutische Arbeit muss sich daher ein Therapeut selbst hinterfragen und transparent sein für seine innere und wechselseitige Landkarte in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen. Menschen, die diesen Weg gegangen sind, machen dabei eine paradoxe Erfahrung: Je mehr sie sich in sich selbst vertiefen, umso selbsttransparenter und selbsttranszendenter werden sie, wie folgende Zeilen andeuten:

»Weißt du, das Paradox, realer zu sein, bedeutet, immer virtueller zu werden und daher weniger substanziell und entschlossen. Er fügte hinzu: ›Ein Leben in Weisheit hat damit zu tun, ständig loszulassen und den Schein und die Zerbrechlichkeit des Selbst immer deutlicher hervortreten zu lassen. Wenn du jemandem begegnest, der wirklich über diese Fähigkeit in vollem Zustand verfügt, dann hat das eine Wirkung auf dich. Wenn du diesen Menschen begegnest, gehst du in eine Art Resonanz mit ihnen. Du entspannst – da gibt es etwas Erfüllendes in dieser Art des Anwesendseins. Da ist Freude in dieser Art Leben.‹« (Senge et al. 2005, S. 100 f.)

Eine Beschreibung ähnlicher immaterieller Qualitäten findet sich bei Dürckheim (1989) als Frage nach der rechten Form eines Menschen, die ihm eine besondere Qualität des Seins und Daseins ermöglicht. Die Form ist gekennzeichnet durch eine Transparenz von Sein, die uns durchlässig macht für die Anwesenheit und Strahlung des »Numinosen«, einer Qualität von Andersartigkeit, die sich nicht aus der psychologischen Psychodynamik eines Menschen ergibt, sondern aus seiner Teilhabe an einem Mysterium. Dieses Mysterium entzieht sich dem manipulierenden Erfassen durch den rationalen Verstand und ist rein gedanklich nicht zu erfassen. Es ist »die Qualität, die untrüglich und unverwechselbar die Präsenz einer anderen Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein anzeigt … Sie ist nirgends einzuordnen. Sie sprengt jedes Wort, jeden Begriff, jedes Bild, ist nicht der Superlativ eines besonderen Gefühls des Schönen zum Beispiel oder des Guten« (Dürckheim 1989, S. 100). Das Tetragrammaton JHWH, die Bezeichnung für das Göttliche im Alten Testament, hergeleitet aus der hebräischen Übersetzung, bedeutet: »Ich werde da sein, als der ich dann da sein werde« (Gerbl 2017). Damit weißt eines der ältesten Psychologiebücher der Menschheit, die Bibel, unser Dasein als Teilhabe an einer formunbestimmten Wirklichkeit aus, die sich unserem erfassenden, instrumentellen Denken entzieht.

Mit diesen Beschreibungen geraten wir in eine Beziehungs- und Erlebnisorientierung, die über den immanenten, das heißt in sich abgeschlossenen, psychologischen Erlebnisraum form- und strukturgebundener Psychodynamik eines Es-Ich-Über-Ich-Triebmodells ebenso hinausgeht wie über eine einseitige Introspektionsorientierung in der Transpersonalen Psychologie (Ferrer 2002). Stattdessen eröffnet sich eine andere Erlebensqualität, die durch Teilhabe an andersartigen amorphen Bewusstseinsqualitäten beschrieben werden kann. Jorge Ferrer, Verfechter eines Transzendenzverständnisses als integraler Teil von erfahrbarer Wirklichkeit und Menschsein, verdeutlicht Teilhabe an relevanten Lebenswirklichkeiten mithilfe des Beispiels Teilnahme beziehungsweise Teilhabe an einer Party:

»Eine Party ist ein Teilnehmen an einer Feierlichkeit des Lebens und des anderen. Eine Party gehört niemandem, weil man sie nicht besitzen kann. Eine Party ›ereignet sich‹ immer dann, wenn eine bestimmte Kombination von Bedingungen zusammenkommt. Das Maximalste, was wir tun können, um eine Party gelingen zu lassen, ist, diese Bedingungen zu optimieren. Wir können uns zum Beispiel psychologisch darauf vorbereiten, uns kleiden in festlicherer, eleganterer oder farbenfroherer Art und Weise. Wir können offene, interessierte Menschen mit ähnlicher Einstellung einladen, besondere oder farbenfrohe Dekorationen verwenden, reichhaltige und nährende Speisen bereiten oder Spiele, Aktivitäten und Rituale vorbereiten, die Selbstausdruck, wechselseitiges Mitmachen und Öffnung für Lebensenergien fördern. Eine Party kann sich auch spontan ereignen, zum Beispiel durch ein ungeplantes Treffen einiger alter Freunde in einem Café. Wichtig ist es, festzustellen, dass sowohl interne als auch externe Bedingungen erfüllt sein müssen für das Teilnehmen an einer Party. Wir alle kennen es gut, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, uns abgeschnitten von oder verschlossen für Lebensenergien fühlen. Dann wird auch die festlichste Umgebung für uns kein Partyerlebnis kreieren. Deshalb ist eine Party auch kein objektives oder subjektives Phänomen, sondern ein Phänomen von Teilhabe.« (Ferrer 2002, S. 117 f., Übersetzung des Autors)

Teilhabe an einem Mysterium

Teilhabe erfordert, dass man sich für eine Sensitivität der Wahrnehmung öffnet, die durch Sprache schwer zu beschreiben ist, weil die Teilhabe an dieser Qualität als »gefühlt« wahrgenommen wird (Schmidt 2013). Verbalsprache kann Teilhabe an immateriellen Bewusstseinsqualitäten nur in Vergleichen ausdrücken, das heißt Bezug nehmen auf etwas, was wir schon kennen. Dennoch bleibt es schwierig bis unmöglich zu beschreiben, wie Knoblauch schmeckt, ein Wald riecht oder wie ein Liebesgefühl unsere Wahrnehmung, unser Sein und unser Erleben von Lebendigkeit verändert. Der Bereich der Phänomenologie (Heidegger 1962; Merlau-Ponty 1945/2006; Schutz & Luckmann 1988; Valle 1998; van Manen 1990) bemüht sich darum, diesen unterschiedlichen Erlebensqualitäten Ausdruck zu verleihen, damit sich die inneren Empfindungsqualitäten ausdrücken können. Das folgende phänomenologische Beispiel von der unterschiedlich erlebbaren Qualität von Schweigepflicht oder Geborgenheit in sakralem Raum mag nichts beweisen, kann aber auf qualitativ erlebbare Unterschiede verweisen:

Vor einigen Jahren erforderte es eine konfliktreiche Situation, mit einer psychotherapeutisch arbeitenden Kollegin ein rückhaltlos aufrichtiges Gespräch zu führen, von dem eine Reihe von Personen betroffen war. Die Bereitschaft, sich selbst und dem anderen gegenüber aufrichtig zu sein, war berührend und verbindend. Später, als wir im Auto ein Stück des gemeinsamen Weges fuhren, sagte die Kollegin, die gleichzeitig ordinierte Priesterin in der episkopalen Kirche war, plötzlich zu mir, sie würde dieses Gespräch aufgrund der Intensität und Aufrichtigkeit unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses halten. Zunächst dachte ich an einen schlechten Witz der Kollegin. Als ich aber äußerst fragend in ihrem Gesicht gelesen hatte und mich in diese scheinbar völlig absurde und kontextfremde Aussage vertiefte, bemerkte ich in mir eine deutlich wahrnehmbare Veränderung. Ich fühlte mich plötzlich psychisch entlastet in einer Weise, die mir schlagartig den Unterschied zwischen Schweigepflicht und des Teilhabens einer inneren Wirklichkeit in einem sakralen Raum verdeutlichte. Das entstehende Gefühl von Befreiung, Schutz und damit Erlösung war deutlich anders als ein Wissen, dass das Teilen vertraulicher Informationen oder Selbstoffenbarungen durch Nichtweitergabe schützt. Die befreiende und verbindende Qualität in dieser Begegnung berührte eine buchstäblich ganz andere gefühlte Wirklichkeit und brachte ein entlastetes Lächeln auf mein Gesicht. Gleichzeitig entfuhr mir ein tiefer Entlastungsseufzer. Es war, als wären die geteilten Informationen in einem qualitativ ganz anderen Raum innerlich geborgen. Seit diesem Erlebnis erscheint mir die professionelle Schweigepflicht als die Oberfläche einer Begegnung, die erst durch eine andere Tiefe ihr volles befreiendes Potenzial entfalten kann. Diese andere Tiefe wird von manchen Autoren als Teilhabe an einem Mysterium bezeichnet, das sich kognitiver Durchdringung entzieht und trotzdem in uns wirksam ist (Lancaster 2004).

Den qualitativen Unterschied obiger Episode kann vielleicht folgende Grafik augenfälliger machen (s. Abbildung 1). In Anlehnung an Shulman (2004) wird in dieser Grafik eine mögliche Darstellung des menschlichen Bewusstseins versucht. Dabei wird ein Urgrund des Bewusstseins angenommen, der als Transzendenz, fundamentales Bewusstsein, Urgrund des Seins oder nach dem jeweiligen Verständnis benannt wird. Bewusstsein wird als außerhalb des menschlichen Gehirns angenommen, als eigene ontologische Wirklichkeit, an der der Mensch partizipiert (Forman 2011; Lancaster 2004). In diesem Verständnis ist Teilhabe an Bewusstsein Teilhabe an der Quelle, die die immanente psychologische Natur des Einzelnen überschreitet und damit an sich schon das alleinige Gefangensein in psychodynamischen Kräften relativieren kann, sofern eine Empfänglichkeit für diese Dimension in uns erhalten bleibt. Aus diesem Bewusstseinsurgrund, dieser Teilhabe am Nicht-Ich, erhebt sich das menschliche Bewusstsein selbstreflexiv und richtet sich interessiert, neugierig fragend gegen sich selbst. Dort stellen sich die großen Fragen der menschlichen Existenz: Wer oder was bin ich, was will ich oder wohin gehe ich mit mir? Es ist quasi eine Zweite-Person-Perspektive, wie sie der Philosoph Georg Northoff (2003) beschreibt, die im subjektiven Empfinden des Erlebenden aus dem »Ich« ein »Mich« macht. Wir denken über uns nach und werden uns selbst zur Frage.

Abb. 1: Aus dem Bewusstseinsurgrund (Purusa, Universelles Bewusstsein, …), das außerhalb des menschlichen Gehirns existiert, erhebt sich das menschliche Bewusstsein und betrachtet sich selbst.

Offen bleibt die Frage, ob diese Perspektive allein uns befähigt, Empfindungen wahrzunehmen, die uns Klarheit geben über Antworten, die wir von woandersher empfinden beziehungsweise empfangen. Anstelle von objektivierender oder rein subjektiver Selbstreflexion geschieht empfundene Teilhabe an einem Mysterium über eine Qualität von Andersartigkeit. Das ist eine andere Form von Empfindung als ein Gefangensein in unbewussten, überemotionalisierten oder dysregulierten Eigenprozessen. Die Erfahrung von Einssein oder sakraler Teilhabe bleibt in letzterem Fall unmöglich. Eine Verflachung und Verdinglichung von Leben stellt sich ein. Intellektualisierung, kompensatorische Konsum- oder Suchtverhaltensweisen, problemfokussierte Psychologisierung oder aktionsgetriebene Unruhe versuchen oft fehlende Seinsfühlung zu überdecken. Auch das wissenschaftliche Nicht-beschreiben-Können von Tiefendimensionen des Menschseins führt zu einer diskriminierenden Abkehr von dieser nicht messbaren, qualitativen Wirklichkeit. Die Differenzierung subtiler Wahrnehmungsqualitäten, die schließlich die empfundene Teilhabe am Urgrund erlauben, erfordert die Möglichkeit, sich einer feineren Wahrnehmung zuzuwenden und dabei Innen- und Außenwahrnehmung zu einer einheitlichen Wahrnehmung zu verbinden.

In Abbildung 1 ist unser reflektierendes Tagesbewusstsein angesiedelt in der Spitze des Pfeiles, wo es unserem Willen unterliegt und wir identifiziert sind mit dieser Art des intentionalen, ichgesteuerten Fühlens, Empfindens und Wahrnehmens.

Mit dieser immanenten, vielleicht psychodynamisch gespeisten Wahrnehmungs- und Reflexionskategorie kommen wir dennoch irgendwann an natürliche Grenzen. Vom vielfach angefeindeten Theologen und Psychotherapeuten Bert Hellinger stammt die Aussage, dass derjenige, der mit dem Mikroskop die Tür sucht, nie den Ausgang finde. Er beschreibt damit das Gefangensein in einem zu eng gefassten Horizont, der Lösungen unmöglich macht. Es gilt daher, einen Weg zu finden, unseren Geist empfänglich zu machen, ihn zu »formatieren in Übereinstimmung mit einem höheren Bereich« (Lancaster 2011, S. 238). Ihn zu formatieren für die Teilhabe an einem »Nicht-Ich«, an einem Feld, das als transzendent erlebt wird (Schmidt 2013). Wenn wir also den Rückschlägen des Lebens, Enttäuschung, Frustration, Schmerz, Leid, Leere, Sinnlosigkeit oder auch Berührtheit und tief empfundenem Staunen ausgesetzt sind, dann lösen wir uns aus den »normalen« Alltags- und Selbstbezügen, und etwas in uns sucht nach anderen Antworten und Verständnismöglichkeiten. Es beginnt eine manchmal verzweifelte, manchmal resignierende, manchmal berührte innere Bewegung vom materiell-sinnlich orientierten Sehen zum bewusstseinsbasierten Schauen, vom Hören zum Lauschen, vom Wissen zum Ahnen, vom sinnlichen Fühlen zum bewusstseinsteilhaftigen Empfinden. Es werden dann andere innere und äußere Aneignungsmöglichkeiten ernst genommen, die von reiner Sinneswahrnehmung zu Bewusstseinsempfindung graduell wechseln.

Ich versuche den Unterschied zu verdeutlichen: Sinneswahrnehmung beruht im anatomisch-physiologischen Verständnis auf dem Gebrauch unserer fünf Sinne. Diese nutzen zu können, ist zwangsläufig notwendig, hilfreich, wichtig und nützlich. Dennoch bleibt die Frage, ob die fünf Sinne die gesamte Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit unseres Menschseins abdecken. Ich denke an eine Mutter, einen Vater, die plötzlich »intuitiv« wissen, dass mit ihrem Kind auf dem Schulweg etwas passiert ist – oder die ein merkwürdiges »Gefühl« haben. Die Sinne reichen nicht zum Schulweg, weil die Eltern zum Beispiel zu Hause sind. Dennoch gibt es ein Wissen darüber, dass etwas Zentrales vorgefallen ist. Ich denke an die Frauen oder Männer, die »intuitiv« wissen, dass der Partner fremdgeht und vom Partner darüber belogen werden. Oft stellt sich später heraus, dass diese Wahrnehmung realen Hintergrund hatte. Ich denke an den Soldaten im Schützengraben, der »intuitiv« den Platz wechselt und an dessen alten Standplatz danach eine Granate explodiert. Ich denke an die morphogenetischen Feldbeobachtungen eines Rupert Sheldrake (1981, 2003). Ich nenne diese Art der Wahrnehmung Empfindung oder Bewusstseinswahrnehmung im Gegensatz zur tendenziell mehr sinnlich vermittelten dinglichen oder Gefühlswahrnehmung. Ob und wie scharf die beiden Formen getrennt sind, vermag ich nicht zu sagen. Aber um die Teilhabe an einem Nicht-Ich, am Numinosen, an transzendenter Präsenz leichter empfinden zu können, bedarf es vermutlich einer Feinheit von Wahrnehmung, einer Empfindungsfähigkeit, die über das Wahrnehmen von Dinglichkeit und Gefühlen hinausgeht. Viele Menschen finden quasi von selbst in Meditation, Musik, künstlerischen Aktivitäten oder anderen Übungen, die die Wahrnehmung verfeinern, sowie in ästhetischen Genüssen zu einer Formatierung der Empfindungsfähigkeit. Wenn also dauerhaft die alleinige Identifikation mit dem Alltagsbewusstsein (= grauer Punkt in Abbildung 1) bestehen bleibt, erlaubt das nicht die Einheitserfahrung, sakrale Teilhabe oder Geborgenheit in einem Urgrund, nach dem sich etwas im Menschen sehnt. Der französische Philosoph Gabriel Marcel spricht in diesem Zusammenhang von einem »Bedürfnis nach Transzendenz« (1950, S. 39), bei dem es darum geht, das innere, implizite Wissen mit externer, erfahrbarer Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Selbst wenn wir in dieser Welt mit allen Dingen ausgestattet sind, die uns ein zufriedenes Leben ermöglichen sollten, bleibt ein Unbehagen. Wo der inspirierende Aspekt transzendenter Teilhabe sich nicht entwickeln konnte, setzen Unruhe und Unzufriedenheit über das Erreichte ein. Der jüdisch-chassidische Autor Friedrich Weinreb beschreibt diese Tatsache mit der Behauptung, dass der Mensch normalerweise »krank« sei, weil er ein unbewusstes Gefühl dafür habe, dass ihm was »ganz Prinzipielles fehle« (Weinreb 1999, S. 10). Er bringt damit zum Ausdruck, wie essenziell Teilhabe am Leben »dort« in einer geistigen Wirklichkeit, einem immateriellen Leib ist, um Ganzheit und Zufriedenheit empfinden zu können. Karlfried Graf Dürckheim (1983) allerdings erwähnt auch die Existenz seinsblinder Menschen, denen diese Dimension menschlicher Erfahrung – vermutlich zumindest temporär – verschlossen ist. Integration vom immateriellen Empfinden und Erleben zu ermöglichen, stellt aus meiner Sicht heute eine zentrale Aufgabe von fortgeschrittener Psychotherapie und Gerontopsychologie dar, die sich als Schnittstelle zwischen klinischer Heilkunde und seelsorgerischer Mitmenschlichkeitsverantwortung zeigt. Mit anderen Worten:

»Es ist das Wichtigste, was wir im Leben lernen können: das eigene Wesen zu finden und ihm treu zu bleiben. Allein darauf kommt es an …: Dass wir begreifen, wer wir selber sind, und den Mut gewinnen, uns selber zu leben. Denn es gibt Melodien, es gibt Worte, es gibt Bilder, es gibt Gesänge, die nur in uns, in unserer Seele schlummern, und es bildet die zentrale Aufgabe unseres Lebens, sie auszusagen und auszusingen.« (Ulrich Peters im Vorwort zu Drewermann 2015, S. 10)

Gerade die Leere und der fehlende Zugang zu spiritueller Teilhabe und Selbstrealisation inmitten von materieller Übersättigung führen in Kombination mit vielfältigen Enttäuschungen und Frustrationen im Leben zu psychischer Selbstentfremdung. Innere Leere, oberflächliches Konsumverhalten, Verlorenheit in digitalen Fiktionswelten werden zu Ersatzhandlungen. Schließlich werden wir uns selbst zur Frage, und das Finden unserer Empfindung zu dieser Teilhabe wird für unseren Seelenfrieden existenziell. Im psychologischen Raum nach Erfülltsein zu suchen, bleibt allein unbefriedigend. In langwierigen therapeutischen Prozessen zur Heilung komplexer Traumatisierungsfolgen können sich Menschen irgendwann nicht mehr mit dem Schaden an ihrer Person und der Zerstörung ihres Lebens konfrontieren. Es braucht die Verbindung zu einer Form von Heilung und Selbstheilung, die mehr von außen empfangen als von innen erarbeitet wird. Dadurch beginnt ein andersartiger Prozess. Wir lösen unseren verengten Alltagsblick und weiten ihn in eine andere Form von Bewusstsein. Unser Bewusstsein öffnet sich nach innen und außen gleichermaßen, mit der Bereitschaft, andere Wirklichkeiten, anders Wirkendes zu empfangen. Wo rationales Durchdenken, Drehen und Wenden der Fragen nicht weiterführt, wo gewohnheitsgesteuertes Emotionieren sich im Kreise dreht, wo Spüren und Fühlen an seine Grenze kommt, beginnen wir lauschend Gedanken und Empfindungen zu vernehmen, und Gedanken und Empfindungen »fallen in