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Dieser sehnsüchtige Blick aus dem Fenster, wenn einmal mehr der Kollege nervt, der PC abstürzt, der Alltag langweilt, und man sich fragt, ob man nicht besser Surflehrer geworden wäre. Oder Biobauer.
Jannike Stöhr hat genug vom Träumen und testet innerhalb eines Jahres dreißig Jobs. Sie ist Freizeitparkbetreiberin, Pathologin, Hebamme, lernt Menschen kennen, die ihrem Job mit Leidenschaft nachgehen. Sie nimmt den Leser mit auf ihre Reise, begleitet von Zweifeln, Überraschungen, Durchhängern und Erfolgen. Was sie findet, ist viel wertvoller als das, was sie gesucht hat. Manchmal braucht es nur den Mut, loszulassen, dann geschieht der Rest von ganz alleine.
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Seitenzahl: 332
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Einleitung
1: Erzieherin
2: Fernsehredakteurin
3: Reiseleiterin
4: Verkäuferin
5: Headhunterin
6: Lehrerin
7: Bäuerin
8: Winzerin
9: Beraterin für Selbstentwicklung
10: Familienaufstellerin
11: Journalistin (Online)
12: Start-up-Gründerin
13: Heilerziehungspflegerin
14: Videoproduzentin
15: Karriereberaterin
16: Architektin
17: Pathologin
18: Texterin
19: Mitarbeiterin der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit
20: Tierpräparatorin
21: Tanzlehrerin
22: Concept Artist
23: Koordinatorin in einer gemeinnützigen Organisation
24: Opernagentin
25: Freizeitparkbetreiberin
26: Journalistin (Print)
27: Pastorin
28: Tischlerin
29: Politikerin
30: Hebamme
Nachwort
Dieser sehnsüchtige Blick aus dem Fenster, wenn einmal mehr der Kollege nervt, der Computer abstürzt, der Alltag langweilt, und man sich fragt, ob man nicht besser Surflehrer geworden wäre. Oder Biobauer. Jannike Stöhr hört auf zu grübeln und handelt. Innerhalb eines Jahres testet sie dreißig Jobs. Sie ist Freizeitparkbetreiberin, Pathologin, Hebamme, schaut Menschen über die Schulter, die ihrem Job mit Leidenschaft nachgehen. Und findet etwas, mit dem sie nicht gerechnet hat. Jannike Stöhr nimmt den Leser mit auf ihre Reise, begleitet von Zweifeln, Überraschungen, Durchhängern und Erfolgen. Manchmal braucht es nur den Mut, loszulassen, dann geschieht der Rest von ganz alleine.
Jannike Stöhr, geboren 1986, ist mit sieben Jahren mal auf einen rostigen Nagel getreten – direkt danach aber geimpft worden und hat, als sie 25 Jahre alt war, in China einen Skorpion gegessen. Der war aber tot, weil frittiert. Heute ist sie gelernte Kauffrau für Bürokommunikation und hat einen Bachelor of Science in Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Personal und Organisation. Eineinhalb Jahre arbeitete sie als Personalerin in Peking, die vergangenen 5,5 Jahre arbeitete sie im Personalwesen eines großen Industrieunternehmens.
JANNIKE STÖHR
Das
Traumjob-Experiment
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Text- und Bildredaktion: Juliane Schindler
Umschlaggestaltung: Christiane Hahn, www.christianehahn.de
Unter Verwendung eines Motives von © Robert Maschke, Bergisch Gladbach
Motiv Innenteil: © shutterstock/Tribalium
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2367-2
www.eichborn.de
www.bastei-entertainment.de
Für meine Eltern.Danke.
Der Wunsch, dir eine Kleinigkeit zu schenken, ließ mich unter dem Stichwort »Mut« suchen.
Papa
Gibt es einen Zustand, in dem alles gut ist? Man einfach zufrieden ist?
Eigentlich sollte ich mich bereits in diesem Zustand befinden. Mit einem anspruchsvollen Job, der gut bezahlt wird, bin ich materiell abgesichert. Meine Wohnung ist hell und hat einen Garten. Technisch bin ich gut ausgestattet, meine Möbel sind neu und mein Kleiderschrank voll. Die Musikanlage meines neuen Leasing-Autos verbindet sich automatisch mit meinem Handy und spielt meine Lieblingsmusik. Die Sommer verbringe ich auf anderen Kontinenten. Mit siebenundzwanzig Jahren kann ich eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen, ein Studium, fünf Jahre Berufserfahrung, davon eineinhalb Jahre im Ausland. Aber die Fragen begleiten mich nun schon seit einigen Jahren. Gibt es einen Zustand, in dem alles gut ist? Mir nichts mehr fehlt? Zufrieden bin ich nicht. Und was mir fehlt? Ich weiß es nicht.
Mehr Konsum, mehr Verantwortung und Herausforderung im Job, weitere Reisen sind es nicht; ich habe es ausprobiert. Je mehr ich den Fragen nachgehe, desto stärker wird das Gefühl: Ich bin fehl am Platz.
Ich teste Hobbys, Sportarten, Ehrenämter, melde mich zu Sprachkursen an. Ich suche mein Glück in Ratgebern: Job, Leben, Gesundheit, Arbeit, und starte den Selbstversuch. Wenn ich glücklich werden will, soll ich gärtnern. Also lege ich meinen ersten Garten an. Wenn ich glücklich sein will, muss ich mich gesund ernähren. Ich esse vegan und trinke grüne Smoothies. Konsumverzicht macht glücklich? Ich lebe ein halbes Jahr konsumfrei, Nahrungsmittel ausgeschlossen. Fernsehen ist Zeitverschwendung und verhindert wahres Glück. Ich lege eine medienfreie Zeit ein und lasse Fernseher und Radio aus. Das Glück liegt in den kleinen Dingen des Lebens. Ich führe ein Foto-Dankbarkeitstagebuch. Ich gehe zu einer Berufsberatung, die mir einen Job verspricht, der mich zufrieden macht. Ich pilgere den Jakobsweg.
Mein Vater wird krank, Diagnose Krebs. Das ist nicht möglich, denn mein Vater ist unverwüstlich. Ich lese Ratgeber über das Sterben. Ein Zitat von Schauspieler Tom Hiddleston fällt mir in die Hände: »We all have two lives. The second one starts when we realize that we only have one.«
Jetzt oder nie. Bei meinem Arbeitgeber beantrage ich eine dreijährige Freistellung. Wie ich sie nutzen werde, weiß ich nicht. Ich tendiere zu einem Master-Studium. Vielleicht werde ich auch Journalistin oder Tischlerin. Oder Schaffnerin. Was weiß ich. Zur Not mache ich eine Weltreise. Ich bewerbe mich an der Kopenhagener Business School. Die Chance, genommen zu werden, steht nicht gut; mein Bachelor ist dafür nicht der richtige. Die Bewerbungen für die anderen Unis schicke ich nicht mehr ab, ich zweifle bereits, ob das Studium der richtige Weg für mich ist. Ich spare, suche einen Nachmieter für meine Wohnung, kündige den Fitnessstudio-Vertrag, verkaufe meine Möbel, übergebe meinen Job. Ein weiterer Ratgeber fällt mir in die Hände. »Wie man die richtige Arbeit für sich findet«. Der Autor erzählt von der Belgierin Laura van Bouchout, die sich zu ihrem dreißigsten Geburtstag ein Jahr Zeit schenkte, um verschiedene Jobs zu testen. Ich muss nicht weiterlesen, um zu wissen, wie ich meine Auszeit nutze. Das ist es.
Mein Plan nimmt nun schnell Formen an. Dreißig verschiedene Jobs möchte ich innerhalb von zwölf Monaten testen, so lange müssten meine Ersparnisse reichen. Für die Jobs will ich mir jeweils eine Woche Zeit nehmen, meine Eltern bieten mir für unbegrenzte Zeit ihr Gästezimmer an. Andere Kulturen oder Sprachen sollen nicht Thema meiner Traumjob-Suche werden, die Jobs will ich also alle im deutschsprachigen Raum testen. Für die Praktika suche ich Menschen, die ihren Traumjob bereits gefunden haben und ihrem Beruf leidenschaftlich nachgehen. Ich schätze meine Chancen, bei kleinen Unternehmen oder Selbstständigen mitlaufen zu dürfen, größer ein. Geld soll keine Hürde sein, ich werde unentgeltlich arbeiten. Hotels werde ich mir nicht leisten können, dennoch ist es mir wichtig, die Jobs nicht nur in meinem Heimatort zu testen. Die Lösung: Couchsurfing – die sympathische Alternative zum Hotelleben, nette Gesellschaft inklusive. Per Post trifft die Bestätigung meiner freiwilligen Krankenversicherung ein, denn dafür bin ich jetzt selbst verantwortlich. Mit ihr die Zusage aus Kopenhagen. Sieben Tage habe ich Zeit, um mich zu entscheiden. »Nimm das Studium«, sagen Freunde und Familie, »dann hast du hinterher was in der Hand.« Am siebten Tag schlage ich den Studienplatz aus. Zweifel bleiben.
Ob ich dreißig verschiedene Praktika organisieren kann? Ob ich auf diese Art überhaupt meinen Traumjob finden werde? Ob ich mit meinen Ersparnissen hinkomme? Ob ich auf meine eigenen vier Wände verzichten kann?
Mein Vater stirbt.
Ich mach das jetzt einfach.
Gleich am ersten Tag komme ich angepisst nach Hause. Etwas naiv hatte ich angenommen, jetzt würde alles anders werden. Nun ja, etwas anders ist es schon. Dieses Mal ist es nämlich wörtlich zu nehmen.
Um einen ersten Erfolg verbuchen zu können, starte ich mit einem leichten Job und nehme die Einladung von Julia, der Schwägerin einer ehemaligen Arbeitskollegin, an, eine Woche als Erzieherin in einer Kindertagesstätte in Lehrte bei Hannover zu verbringen. Mit Ein- bis Dreijährigen sollte ich klarkommen.
Am Sonntagabend reise ich an. Couchsurferin Susanne ist im Alter meiner Mutter und wohnt in einem rund zwanzig Kilometer entfernten Nachbarort. Ich bin ihr erster Gast, und es soll mir an nichts fehlen. Sogar ein eigenes Zimmer habe ich bekommen. Gemeinsam mit ihren Freunden verfolgen wir auf dem Sofa vor dem Fernseher, wie Deutschland Weltmeister wird. Ob mein Vater sich über den Sieg gefreut hätte?
Immer wieder schrecke ich in der Nacht hoch. Werde ich den Weg finden und pünktlich sein? Sind die Kollegen nett und nehmen mich gut auf? Werden sie mich an ihrem Arbeitsalltag teilhaben lassen? Ob eine Woche ausreicht, um ein Gefühl für den Job zu bekommen? Um sechs Uhr erlöst mich der Wecker. Als ich leise die Tür hinter mir schließe, befinden sich Hausschuhe in der Tasche, die ich auf Wunsch von Kita-Leiterin Jennifer Müller* mitgebracht habe. Die Vorstellung, wie ich mit Hausschuhen in meinem alten Büro sitze, lässt mich schmunzeln.
Ich schwinge mich auf das Fahrrad, das mir Susanne am Vorabend zur Verfügung gestellt hatte. Ein Feldweg führt mich vorbei an Kornfeldern zum örtlichen Bahnhof, der Sonnenaufgang kann noch nicht lange her sein. So schön still. Der Zug bringt mich nach Lehrte, von dort fahre ich die letzten Kilometer mit dem Fahrrad zur Kita. Zwanzig Minuten vor Arbeitsbeginn komme ich an einer Krippe an. Allerdings nicht bei der Kita, in der man mich diese Woche erwartet, das verrät mir das Türschild. Mist. Trotz alledem schaffe ich es, pünktlich am verabredeten Ort zu sein. Ich erkenne das Gebäude von einem Foto im Internet wieder.
Ich rüttle an der verschlossenen Tür, klingle. Nichts passiert. Eine Mutter mit kleinem Kind kommt auf mich zu und verrät mir das Geheimnis: Gleichzeitig auf Schalter und Tür drücken. Die Mutter übernimmt, als ich es trotz Anleitung nicht hinbekomme, und bringt mich zu Hindernis Nummer zwei, einem Flurgitter. Ähnlich unvermögend scheitere ich am Öffnen und lasse der jungen Mutter den Vortritt. Wie soll meine Woche nur werden, wenn ich bereits am Eingang kläglich scheitere? Was habe ich mir überhaupt gedacht? Ich gehöre nicht in die freie Wildbahn des Arbeitsmarktes, ich gehöre in ein Büro. Ein Büro, für dessen Tür ich einen Schlüssel habe, mit einem Schreibtisch, Computer, Telefon und zwei Mülleimern, der eine für Papier, der andere für Restmüll. Dort finde ich mich zurecht. Dort kann ich zeigen, was ich kann.
Ein Wand-Tattoo empfängt die Besucher der Kita hinter der Eingangstür. Es ist ein Zitat von Reformpädagogin Maria Montessori: »Der Mensch ist darauf ausgelegt, neugierig die Welt zu erkunden.« Lauter kleine Bänke stehen ringsum an den Wänden des Flurs, über ihnen Regale und Kleiderhaken für die Jacken und Schuhe der Kinder. Namensschilder geben ihre Besitzer bekannt.
Wie bei Besichtigungen frisch renovierter Wohnungen stehen hier Einwegüberzieher in einer Kiste für die Eltern bereit. Keine Straßenschuhe in den Aufenthaltsräumen.
Wo soll ich mich eigentlich melden, frage ich mich und schaue mich unschlüssig um. Der Himmel schickt Praktikantin Hannah um die Ecke. Sie ist in der Ausbildung zur Sozialassistentin und schon seit fast einem Jahr blockweise in der Kita. Kurz darauf kommt auch die Kita-Leiterin hinzu. »Sie sind also Jannike!«, begrüßt mich Frau Müller und nimmt mich mit auf einen Rundgang. Es gibt zwei Etagen. Unten Krippe, oben Kindergarten. Neben zwei Spielräumen, einem Badezimmer, der Personalküche und einem Gäste-WC gibt es in der Krippe auch einen Schlafraum. Lauter kleine Betten oder Körbe sind darin zu finden. So muss sich Schneewittchen gefühlt haben, als sie das Haus der sieben Zwerge betrat. Zu den Räumen des Kindergartens gibt es in der ersten Etage noch eine Cafeteria und ein Sportzimmer. Diese beiden Räume werden von den Krippenkindern mitgenutzt. Für mich geht es diese Woche zu Praktikantin Hannah in die Eichhörnchengruppe. Die Gruppenleiterin ist krank, deswegen übernimmt Frau Müller zusätzlich die Betreuung. Im Spielraum rennen ruck, zuck elf schreiende Kinder im Alter von eins bis drei quer durch den Raum und wieder zurück. Zumindest der Teil von ihnen, der schon laufen kann.
Hannah läutet den Sitzkreis ein. Ein Kind darf beim Aufbauen der Kreismitte helfen. Durchsichtige Tücher in verschiedenen Farben werden übereinandergelegt, auf sie ein Eichhörnchen aus Pappkarton sowie eine elektrische Kerze. Hannah stimmt das »Eichhörnchen-Lied« an, das jeden Morgen zur Begrüßung gesungen wird. Danach ist Wunschkonzert. »Mein großer, mein runder, mein blauer Luftballon steigt höher und höher, er fliegt mir fast davon« singen Hannah und die Kinder, während sie mit ihren Händen den Luftballon darstellen. Reihum dürfen sich die Kinder die Farbe ihres eigenen Luftballons aussuchen. Nach der ersten Farbe stimme ich zaghaft in das Lied mit ein.
Hannah singt gut – und hoch. In den hohen Lagen bricht meine Stimme immer wieder weg. Einen Job als Sängerin sollte ich besser nicht in Erwägung ziehen. Ich setze darauf, dass mich die Kinder trotzdem mögen und die Erzieherinnen mein Gekrächze aus den Kinderstimmen nicht heraushören können.
Die Kinder verteilen sich im Raum. Jetzt darf gespielt werden. Meine Hemmschwelle im Umgang mit den Kindern ist höher als erwartet. Ich versuche es in der Bücherecke. Ein Buch sollte ich doch vorlesen können. Das erste Kind setzt sich auf meinen Schoß. Ein wenig befremdlich. Ein weiteres Kind schmiegt sich an meinen Arm. Es hat Schnupfen. Ich will meinen Arm wegziehen, aber ich widerstehe meinem ersten Reflex und lese weiter. Nach und nach verlassen mich die Kinder, bis ich schließlich alleine zurückbleibe. Ich bin ihnen wohl zu langweilig. In meiner Vorstellung war ich die ganze Woche über von Kindern umringt, einfach nur weil ich als Neue spannend bin. Aber ganz so leicht scheint das nicht zu funktionieren.
Plötzlich wird es laut, also noch lauter, und ein kleines Handgemenge artet in der ersten Schreierei aus. Julia hat geschubst! Was nun? Ich bin ratlos. Soll ich das schubsende Kind zurechtweisen, das heulende in den Arm nehmen? Leon wischt sich seinen Schnodder mit einer gekonnten Handbewegung bis zur Schläfe hinauf. Ein Glück, das erspart mir das Naseputzen, für das ich hier bestimmt verantwortlich bin.
Die Zeit vergeht im Schneckentempo. Um neun Uhr ist endlich Frühstückszeit. Ich nehme das dicke Kind, das noch nicht laufen kann, auf meinen Arm und folge den Erzieherinnen und den anderen Kindern die Treppe hoch Richtung Cafeteria. Die Benutzung des Handlaufs ist für alle Pflicht. Dass aber auch immer wieder jemand zeigen muss, dass er es schon alleine kann. Wir haben alle Hände voll zu tun.
Jeden Tag der Woche gibt es etwas anderes zum Frühstück, von Müsli über belegte Brote hin zu von den Kindergartenkindern selbstgebackenen Quarkbrötchen. Heute ist Müsli-Tag. Ich sitze zwischen den beiden Kleinsten, beide knapp über ein Jahr alt. Sie treffen beim Essen noch nicht zuverlässig den Mund mit dem Löffel. Ich helfe, wo ich kann, bin allerdings nicht schnell genug, zwei hungrige Mäuler gleichzeitig zu versorgen. Die Milchlache auf dem Tisch breitet sich immer weiter aus, das Müsli landet auf der Hose, im Hochstuhl und unter dem Tisch. Gibt es nicht schnell genug Nachschub, behelfen sich die beiden Jungs mit der Hand und stecken in den Mund, was sie kriegen können. So verteilen sich die Haferkörner im Nu im Gesicht und in den Haaren. In meinem Aufsichtsgebiet sieht es aus wie in einem Schweinestall. Nach dem Frühstück bringt jeder seinen Teller zurück zum Geschirrwagen und leert die Reste in einem dafür vorgesehenen Mülleimer aus. Lena ist fix und dreht ihren Teller um, die Müsli-Reste landen auf dem Boden. Frau Müller grinst. »Das passiert schon einmal«, sagt sie und zwinkert mir zu.
Wieder unten angekommen, nehme ich den Kindern die Lätzchen ab und ziehe ihnen Schuhe und Jacken an. Wir dürfen jetzt draußen spielen! Währenddessen werden einige Kinder von Frau Müller gewickelt. Wickeln darf ich nicht. Die Kita-Leiterin legt großen Wert darauf, dass sich die Kinder beim Wickeln wohl fühlen. Deswegen gibt es für das Wickeln zwei Regeln: Das Kind muss die wickelnde Person kennen, und man muss genügend Zeit einplanen, damit keine Hektik aufkommt. Ich bin nicht allzu traurig, dass diese Aufgabe an mir vorübergeht.
Ein Kind nach dem anderen entlasse ich nach draußen zum Spielen. Als ich fast fertig bin, fällt mir der nasse Fleck auf meinem Oberschenkel auf. Aha. Offensichtlich hat mich eines der Kinder angepinkelt, während es auf meinem Schoß saß und die Schuhe angezogen bekam. Nur welches? Ich mache mich auf die Suche, denn logischerweise hat das Kind nicht nur mich, sondern auch sich selbst vollgepinkelt und braucht eine neue Hose. Ich finde es nicht. Eine Erzieherin sieht die Misere und sprüht meinen Schritt großflächig mit Desinfektionsspray ein. Mittlerweile könnte man denken, ich habe mich selbst eingenässt. Leider habe ich für meine Verabredung am Abend nur ein Ersatz-T-Shirt eingepackt, keine Ersatzhose. Na, es hätte schlimmer kommen können.
»Oh, schauen Sie, Jannike, Mirco hat eine Schnecke gefunden. Passen Sie bitte auf, dass die Schnecke nicht in der Hosentasche landet?«, ruft mir Frau Müller zu. Meine Aufmerksamkeit gilt ab jetzt elf Kleinkindern plus Schnecke.
Die zwei im Garten befindlichen Pfützen habe ich unterschätzt. Sie reichen aus, um nach einer Stunde lauter Erdmännchen aus ihren Klamotten schälen zu können. Auch die Kindergartenkinder toben sich an der frischen Luft aus. Sie haben den Sandkasten gekapert. Erzieherin Kerstin dreht den Wasserschlauch auf und richtet ihn auf den Sandkasten. Wasser marsch! Das Wasser sprudelt durch gebuddelte Gräben und Kanäle, wird umgeleitet und versucht aufzuhalten. »Ich weiß, warum ich meinen Job so liebe«, sagt Kerstin, »wenn ich fünfzehn Kinder mit einem einzigen Wasserschlauch beschäftigen kann. Herrlich!«
Nach anfänglichen Berührungsängsten auf beiden Seiten läuft es gegen Mittag recht rund. Ich sitze wieder bei den beiden Kleinen, da greift Paul mit der Hand in den Kartoffelbrei und streckt sie mir grinsend entgegen. »Da!« Ich bin hin und her gerissen zwischen Ergriffenheit und Hilflosigkeit und nehme das Geschenk zumindest per Hand in Empfang. Wenn ein dickes Kind mit einem das Essen teilt, dann sollte man das zu schätzen wissen.
Es ist Schlafenszeit. Die Klamotten werden wieder ausgezogen, Schlafsäcke übergezogen, Schnullis in den Mund gesteckt und Kuscheltiere in den Arm genommen. »Es ist Feierabend. FEIERABEND!«, ruft Alexander wie ein kleiner Diktator aus seinem Bett heraus, als die anderen Kinder nicht unmittelbar still sein wollen. Mit welchen Worten ihn wohl seine Eltern ins Bett schicken? Zu dritt sitzen wir zwischen den Betten und kraulen und kuscheln dort, wo es gewünscht wird. Und während es im Schlafsaal immer stiller wird, fallen auch meine Augen langsam zu. Nur eine der vier Mittagspausen kann ich mich durchgängig wach halten. Ganz schön anstrengend, so ein Kita-Alltag. Der Blick aufs Handy muss bis Feierabend warten.
Lukas will während der gesamten Woche partout nicht schlafen und quengelt, was das Zeug hält. Hannah nimmt ihn mit in den Spielraum und beschäftigt ihn, während der Rest schlummert. Mit allen Mitteln versuchen wir, ihn zum Einschlafen zu bringen, aber die ganze Woche haben wir keinen Erfolg. Am Donnerstag schlägt die gesundete Gruppenleiterin Steffi wieder in der Kita auf und weiß mit einem Blick in den Schlafsaal, was das Problem ist: »Lukas’ Bett ist am falschen Platz. Er schläft nur in der Ecke des Raumes.« Klar, darauf hätten wir kommen können.
Als die Atemzüge gleichmäßiger werden, schleiche ich mich auf Zehenspitzen aus dem Raum. Jetzt schnell in die Pause. Bis der Erste wieder aufwacht, wird es nicht lange dauern. Allein sitze ich im Personalraum und stochere mit meiner Gabel in der Salatschüssel aus dem Supermarkt herum. Die Mittagspause machen die Kita-Kräfte versetzt. Denn auch wenn die Kinder schlafen, muss jemand da sein. Meine gute alte Mittagspause im Büro fällt mir wieder ein. Mit meinen tollen Kollegen und ihren Geschichten, über die wir schon Tränen gelacht haben. Dagegen erscheinen mir die Mittagspausen in dieser Woche fast trostlos. Auf der anderen Seite tut ein bisschen Ruhe zwischen dem ganzen Geschrei gut.
Ich komme aus der Pause zurück und habe Gelegenheit, Frau Müller ein wenig über ihren Traumberuf auszufragen. Sie erzählt mir etwas über die Arbeit in der Kita. Nach Emmi Pikler arbeiten sie hier und nach Maria Montessori. Die pädagogischen Ansätze der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler stehen unter anderem für eine achtsame Pflege und eine freie Bewegungsentwicklung. Dazu zählt, sich beim Wickeln Zeit zu lassen und die Kinder nicht in Situationen zu bringen, in die sie weder allein hinein- noch allein wieder aus ihnen herauskommen. Angelehnt an das Berliner Eingewöhnungsmodell sollen die Kinder in Anwesenheit ihrer Bezugsperson eine neue Bindung zum Erzieher, zur Erzieherin aufbauen, bevor sie allein in der Kita bleiben. Die Eingewöhnung gilt als abgeschlossen, wenn das Kind eine stabile Beziehung aufgebaut hat und sich beispielsweise von der Erzieherin trösten lässt.
Auch hier gibt es also Konzepte. In meiner Vorstellung bestand eine Kita bisher nur aus Spielzeugen und Sandkästen. Einen Vortrag bereitet Frau Müller gerade für einen Gottesdienst vor mit der Frage: »Was verstehen wir unter Familie?« Die Mitarbeiter der Kita verstehen sich selbst als Teil der Familie des Kindes. In erster Linie geht es dabei um Beziehungsarbeit. Nicht um das Ersetzen von Mama oder Papa, vielmehr um ein Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Erzieherin, in dem alle Probleme gelöst werden können, ohne dass es vieler Tränen bedarf.
Ich stelle sowieso immer wieder fest: In den Arm nehmen hilft immer. Die ersten erfolgreich getrockneten Tränen machen mich ein wenig stolz. Die ersten Arme, die sich nach mir ausstrecken, auch. Mit den Tagen finde ich mich besser zurecht. »Jannike, Sie werden ja immer freier!«, ruft mir Frau Müller zu, die gerade den Raum betritt. Ich finde mich – ein wenig über mich selbst erschrocken – auf allen vieren krabbelnd und bellend auf dem Fußboden wieder, Nathalie steht kichernd vor mir.
Nach Feierabend bin ich ganz schön geschafft. Vom vielen Bücken, Heben und Tragen tut mir alles weh. Dreckig bin ich auch. Meine Klamotten sind vollgespuckt und voller Schnodder, und ein bisschen angepinkelt. Trotzdem ein schöner Start in das Jahr, dem ich voller Aufregung entgegensehe. Ob jeder Job so anstrengend sein wird? Ich verstehe, warum dieser Beruf ein Traumjob sein kann. Man bekommt viel zurück. Und als Erzieherin hat man sogar das Glück, über einen längeren Zeitraum die Entwicklung eines Kindes begleiten zu können.
Für mich ist dennoch klar, dass ich meinen Traumjob im Beruf der Erzieherin nicht gefunden habe. Auch wenn mir die Arbeit Freude bereitet hat, habe ich es lieber ruhiger und bin sicher zu ungeduldig und kopflastig.
Wieder zurück im Gästezimmer meines Elternhauses, bin ich ziemlich erschöpft und liege einen Tag später mit Fieber im Bett. Ich weiß genau, bei wem ich mich angesteckt habe. Bei dem dicken Kind, das nicht laufen konnte. Im Geheimen ist es mein Lieblingskind gewesen. Erzieher und Lehrer sind in der Anfangszeit in einer neuen Einrichtung häufig krank, weil sie so vielen Viren ausgesetzt sind. Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper allerdings daran. Ein Einrichtungs- bzw. Schulwechsel kann hingegen aufgrund anderer Viren wieder zu hohen Ausfallzeiten führen.
Für wen der Job etwas sein könnte: Du hast viel Geduld und bist gefühlvoll. Du spielst gern, hast einen gesunden Rücken und kannst gut heben. Du ekelst dich weder vor Schnodder noch vor vollen Windeln. Du liebst Kinderlieder und kannst einigermaßen gut singen. Berührungsängste hast du keine.Wer lieber die Finger davon lassen sollte: Du brauchst messbare Erfolgsgrößen für deine Arbeitszufriedenheit. Du bist nicht gern draußen und bist lärmempfindlich. Du liebst Ordnung.Ich quäle mich aus dem Bett, um zweihundertfünfzig Kilometer zu der Fernsehproduktion TV Plus in Hannover zu fahren und mein zweites Praktikum zu beginnen.
Fünf Arbeitstage werde ich im Team der Bingo-Redaktion verbringen, einer Umweltlotterie im NDR Fernsehen, die in sieben Bundesländern gespielt wird. Dabei werde ich ganz verschiedene Berufe kennenlernen: Cutter, Autorin, Redakteurin und Regisseurin. Wichtigster Tag in der Woche ist hier der Sonntag, an dem die Zuschauer am Bildschirm live mitverfolgen können, ob ihr Los ihnen Glück gebracht hat. Silke, die leitende Redakteurin, hat sich viel Mühe bei der Planung meines Praktikums gegeben und für jeden Tag einen besonderen Einblick vorgesehen. Zustande gekommen war der Kontakt zu ihr über einen meiner ehemaligen Chefs, der mit einer Mitarbeiterin aus dem Bingo-Team befreundet ist.
An einer zuvor vereinbarten Straßenecke steige ich zu drei mir unbekannten Menschen ins Auto. Die Situation hat was Absurdes. Neben der Autorin sind noch Kameramann Mike und Tonassistent Hauke mit an Bord. Im Kofferraum: die Kamera-Ausrüstung. Es geht in den Harz. Nur: Was hat der Harz mit Bingo zu tun?
Ein Dreh steht auf dem Programm, zu dem ich die freiberufliche Autorin Frigge Mehring begleite. Thema: die Natur im innerdeutschen Grenzgebiet. »Für drei Minuten Film sollte man immer einen ganzen Tag einplanen«, erklärt sie mir, während sie sich Notizen in ein kleines Büchlein macht.
Die Protagonisten Christian Barsch und Dr. Gunter Karste treffen wir in Bad Harzburg. Beide arbeiteten zu Zeiten der DDR als Förster im Grenzgebiet. Einer im Osten, einer im Westen. In dieser Zeit kamen sie intensiv mit der Natur im ehemaligen Harzer Todesstreifen in Berührung. Der Grenzstreifen wurde damals durch Abschub des Mutterbodens und den Einsatz von Pflanzengift frei gehalten. Gemeinsam mit der Kamera sollen die beiden heute entdecken, ob sich die Natur ihren Raum zurückerobern konnte.
Wir folgen dem Wagen der beiden Protagonisten hoch in den Nationalpark. Ich komme mir vor wie ein Ranger, denn alle anderen Besucher müssen das Gelände zu Fuß erschließen. Bis Mikes Wagen mehrfach auf Felsbrocken aufsetzt, die aus dem Waldboden herausragen, und auch wir aussteigen und zu Fuß weitergehen müssen. Während ich mir aufgrund der Geruchsentwicklung Sorgen um das Fahrzeug mache, lässt Mike seinen Wagen mehrfach zurückrollen, um dann Vollgas zu geben und über die Steine zu brettern. Mit drei Personen weniger im Auto bahnt sich Mike dann doch seinen Weg und verhindert, dass wir die schwere Kameratechnik den Berg hinauftragen müssen.
Wir sind an der Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Mike baut die Kameratechnik auf, Tonassistent Hauke kümmert sich um die Mikros und verkabelt die Protagonisten. Frigge sucht einen passenden Drehort. Dann hält die Kamera fest, wie sich ost- und westdeutscher Förster zum ersten Mal unterhalten und von ihren Erlebnissen im umliegenden Wald berichten.
»Um den Wildwechsel zwischen Ost- und Westdeutschland nachvollziehen zu können, haben wir Färbemittel in die Futterkrippen hinzugegeben. In unterschiedlichen Farben, versteht sich. So konnte man dann anhand der Farbe der Losung, so nennt man den Kot von Hirschen und Rehen, erkennen, ob das Tier aus dem Osten oder Westen kam«, erklärt Christian Barsch seinem ostdeutschen Kollegen. Frigge und das Kamerateam stehen während des Interviews in einer Reihe hinter dem jeweils Zuhörenden. So soll für den Zuschauer ein realitätsnahes Gespräch aufgezeichnet werden. Außerdem fällt es in dieser Aufstellung nicht so sehr auf, wenn der Protagonist dem natürlichen Reflex nachgibt, in die Kamera zu schauen.
Zwischen den Szenen bespricht Frigge den weiteren Ablauf mit den Protagonisten. Kameramann Mike ist währenddessen auf der Suche nach guten Motiven für die Zwischenschnitte. Hauke läuft ihm hinterher und zeichnet die zugehörige Geräuschkulisse auf. Zwischenschnitte nutzt man beispielsweise dann, wenn sich einer der Protagonisten verspricht. Der Versprecher lässt sich im Schnitt leicht entfernen. Während das Herausschneiden von Szenen auf der Tonspur nicht auffällt, würde man das auf der Bildspur direkt sehen. Der Protagonist würde von einem Ort zum anderen springen, da einige, wenn auch kleine Bewegungen fehlen würden. An solchen Stellen können im Schnitt andere Aufnahmen eingesetzt werden, während der Protagonist weitererzählt. In unserem Fall könnten das Pflanzen, Schmetterlinge oder ein Panorama-Schwenk sein.
»Jannike, kannst du mal herkommen und dich so hinstellen, dass du einen Schatten auf den Boden hier wirfst?« Mike möchte Nahaufnahmen von Pflanzen machen, die sich ihren Weg zwischen den Pflastersteinen im Boden bahnen, über die gerade noch beide Darsteller spaziert sind. Die Wolken, die während der letzten Aufnahmen noch Schatten auf die kleinen Mini-Biotope warfen, sind jetzt verschwunden. Worauf man alles achten muss.
Gegen siebzehn Uhr sind wir wieder zurück in Hannover. Ich bin ganz schön geschafft, als ich mich auf den Weg zu Couchsurferin Betti mache. Die achtundzwanzigjährige Fotografin wohnt mit ihrem Vater in dem Haus, in dem schon ihre Urgroßeltern lebten. Ein weiterer Couchsurfer ist zu Gast und wohnt in ihrem Gästezimmer, bleibt für mich die Couch im Wohnzimmer. Dieses Mal also echtes »Couch«-Surfing. Kaum bin ich da, drückt sie mir auch schon einen eigenen Haustür- und Fahrradschlüssel in die Hand. »Von hier ist es nicht weit zur Redaktion. Da kannst du morgen gut mit dem Rad hinfahren«, bietet sie mir an. Ich bin überrascht von dem großen Vorschussvertrauen. Betti kommt mir vor wie eine alte Schulfreundin, mit der man sich nach Jahren viel zu erzählen hat. Sie habe oft Couchsurfer zu Besuch, erzählt sie mir. »Und einmal im Monat veranstalten wir ein Wohnzimmerkonzert«, ergänzt sie. »Dann kommen Musiker zu uns und spielen ein Konzert in unserem Wohnzimmer. Dafür kann man sich im Internet registrieren.« Alle, die zum Konzert kommen möchten, melden sich bei ihr an und bringen eigenes Essen mit. Nach dem Konzert geben die Künstler dann ihren Hut herum, in den jeder das legen kann, was er möchte. »Meistens übernachten die Musiker dann noch bei uns, und wir frühstücken am nächsten Tag gemeinsam. Das ist ziemlich witzig«, sagt Betti. »Du kannst nächstes Mal auch gern kommen!«
Spät am Abend, als alle sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben, krieche auch ich unter die Bettdecke auf meinem Sofa. Meine Nase und Ohren sind verbrannt, und zwar nicht zu knapp. Hätte ich die Sonnencreme mal nicht ausgeschlagen, die mir Frigge einige Stunden zuvor hingehalten hatte. In Zukunft höre ich besser auf die Ratschläge der Profis. Ich schlafe unruhig. Erst ist es zu kalt, dann zu hell. Irgendwann ist wieder Morgen, von den anderen ist noch nichts zu hören. Ich schleiche mich aus dem Haus, schwinge mich auf das Rad. Die Hannoveraner sind schnelle Radfahrer, fortlaufend werde ich überholt.
Mit Cutter Lars geht es in den Schnitt unseres Grenzstreifen-Videomaterials. »Dein Projekt ist ja wie ein Sechser im Lotto«, sagt er begeistert, als er erfährt, warum ich dort bin, und bemüht sich jetzt redlich, mir den Beruf des Cutters schmackhaft zu machen. Wenn er während seiner Ausführungen nicht am Schreibtisch vor seinen Bildschirmen sitzt, steht er auf demselben am sperrangelweit geöffneten Fenster und raucht. »Es gibt Interlaced und Progressive, merk dir das bitte, Jannike. Einmal mit fünfundzwanzig Frames, einmal mit fünfzig. Hase, schau mal bei dieser Version – die Augen sind viel schärfer zu erkennen!« Ich sehe nichts. Ein anderes Beispiel macht deutlich, was mir Lars erklären möchte. Nach einer halben Stunde ist mein Speicher im Kopf voll. Lars überschüttet mich mit Informationen: Wie Film und Fernsehen funktionieren, auf was es im Schnitt zu achten gilt, welche Programme sich wie unterscheiden und welche Anekdoten er in seiner bisherigen Karriere als Cutter und Regisseur schon erlebt hat. Als Frigge dazukommt, sichten wir schließlich die Bildmaterialien. Wir hören uns die Tonspuren an, entscheiden, welche Aussagen der Protagonisten genutzt werden sollen, überlegen, in welcher Reihenfolge die Bildsequenzen abgespielt und Zwischenschnitte eingesetzt werden sollen. »Wenn zu viele Nebengeräusche, wie vorbeifahrende Autos, mit aufgenommen wurden, hinterlegen wir die Bilder hin und wieder mit anderen Audiospuren, zum Beispiel mit Vogelgezwitscher. Da muss man genau aufpassen, dass man sich das richtige Vogelgezwitscher für die jeweilige Jahreszeit aussucht. Es gibt nämlich immer wieder Zuschauer, die sich sonst telefonisch beschweren und die Glaubwürdigkeit des Beitrages anzweifeln«, erzählt Frigge. Um die Bilder auf dem Bildschirm über das Interview hinaus zu erklären, liest Frigge einen Text in das Mikrofon ein. Dieses Stilmittel beim Film nennt sich Voice-over. Frigges Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Sie hat eine Moderatoren- und Sprecherausbildung gemacht und kann mit ihrer Stimme einiges anstellen. Gegen achtzehn Uhr sind wir endlich fertig. Gemeinsam sehen wir uns das Endprodukt an. Ich bin begeistert. Die Geschichte des Grenzstreifens im Harz läuft flüssig über die Bildschirme. Man könnte denken, dass die drei Minuten und fünfzehn Sekunden am Stück gedreht wurden. Dass aber tatsächlich zwei Tage Arbeit darin stecken, sieht man nicht. Von der Zeit zum Planen mal ganz abgesehen.
Als ich tags darauf in der Redaktion aufschlage, treffe ich endlich auf Silke und Petra. Ohne die beiden wäre meine Woche bei TV Plus wohl nicht zustande gekommen. »Hast du Bingo überhaupt schon einmal gesehen?«, fragt mich Silke. »Nein«, sage ich und werde ein bisschen rot. Ursprünglich wollte ich mir die Sendung aufheben, bis ich mein silbergraues Haar zweimal im Monat auf Lockenwicklern eindrehen lasse. So schnell können sich die Pläne ändern. »Es ist gar nicht schlecht, dass du die Sendung noch nie gesehen hast, denn dann kannst du sie dir unvoreingenommen ansehen und mir ein Feedback dazu geben«, sagt Silke und grinst mich an. Ich suche aus der NDR-Mediathek die letzte Aufzeichnung heraus und drücke auf Play. Ein Einkaufsgutschein geht an einen Gewinner, an den nächsten ein Elektroroller, dann eine Rundreise durch Indien und schließlich ein Auto. Zwischendurch werden immer wieder kurze Naturdokumentationen gezeigt. Mit einer DIN-A4-Seite voller Fragen und Anmerkungen sitze ich kurz darauf an Silkes Schreibtisch und werde Stück für Stück schlauer. Jetzt verstehe ich, nach welchem System die einzelnen Bingo-Felder belegt werden. Auch das Muster hinter den Risikofragen wird mir klar. Bei einer Risikofrage gewinnt der Anrufer nicht direkt nach der Wahl des Bingo-Feldes, sondern muss zuerst noch eine Frage korrekt beantworten. Antwortet er falsch, gibt es einen Trostpreis.
Genau so eine Risikofrage soll ich als Nächstes erstellen. »Kennst du Nandus?«, fragt mich Silke und ergänzt, als sie meinen fragenden Blick sieht: »Nandus sind Laufvögel, die eine Besonderheit haben. Finde bitte heraus, welche das ist, und überlege dir eine Frage für die Sendung dazu. Sie sollte weder zu schwer noch zu leicht zu beantworten sein. Wir hatten schon einmal einen Beitrag über Nandus. Guck mal, welche fünfzehn Sekunden davon wir im Hintergrund zur Risikofrage laufen lassen können. Von Petra kannst du dir das Videomaterial aus dem Archiv geben lassen.«
Ich recherchiere, schaue das Material und recherchiere wieder. Der Nandu ist ähnlich dem Strauß in Südafrika und dem Emu in Australien ein flugunfähiger Vogel und ist in Südamerika in der freien Wildbahn zu finden. Seit dem Ausbruch einiger Nandus aus einem norddeutschen Privatgehege gibt es sie aber auch in der deutschen Wildnis. Ob Silke das mit Besonderheit meinte? Irgendwie bekomme ich keinen gescheiten Satz auf das Papier. Und dabei hatte ich mir die Aufgabe so einfach vorgestellt. »Bleib locker, und lass es einfach laufen«, ruft mir Petra vom benachbarten Schreibtisch zu. »Du musst hier keinem was beweisen!« Ich fühle mich ertappt. Petra hat recht. Ich möchte zeigen, was in mir steckt, und verkrampfe dabei total. Ihr Hinweis hilft, und kurze Zeit später stehen mehrere Fragen und Antwortmöglichkeiten.
Der nächste Arbeitstag ist ein Sonntag. Um siebzehn Uhr wird Bingo live im norddeutschen Fernsehen übertragen. Seit mittlerweile siebzehn Jahren produziert TV Plus die Sendung. Sonntags vergrößert sich das Team um ein Vielfaches. Mit einem gemeinsamen Mittagessen geht es im sogenannten Bingo-Café los. Für die Gäste gibt es hier vor der Sendung Kaffee und Kuchen und die Möglichkeit, Smalltalk mit den Moderatoren zu halten. Das dient weniger der Senioren-Belustigung als der Sicherstellung von pünktlichen Gästen. Denn wer zu spät kommt, darf nicht mehr ins Studio und muss von der Ersatzbank zuschauen. Live-Übertragung eben.
Vor Beginn der Sendung begleite ich Regisseurin Simone zur Generalprobe in den Übertragungswagen. Ich ziehe meinen Pulli über. Ganz schön kalt hier. Die eine Wagenwand ist von oben bis unten voller Bildschirme. In mehreren Reihen sind Pulte aufgebaut, hinter denen das Regie- und Redaktionsteam sitzt. Auf den Pulten befinden sich unzählige kleine, bunte Tasten. Als die Probe beginnt, flitzen Simones Finger in unfassbarer Geschwindigkeit über die Tasten. Über Funk ist sie mit allen Beteiligten verbunden und teilt ihnen fortlaufend mit, wessen Kanal auf dem Bildschirm in der nächsten Sekunde zu sehen sein wird und was dort zu zeigen ist.
Die beiden Moderatoren der Sendung Michael Thürnau und Ann-Katrin Schröder führen probeweise durch das Programm. »Und diese Woche im Jackpot sind drei Millionen Euro«, ruft Michael Thürnau mit verstellter Stimme in das Mikro und zwinkert uns durch die Kamera zu. Vielleicht sollte ich doch mal Bingo spielen. Der echte Jackpot-Betrag ist allerdings niedriger. Im Ü-Wagen geht es mittlerweile heiß her. Noch nicht alle Einspieler, Einstellungen und Abläufe klappen reibungslos. Zudem sind die Buzzer für das Publikumsquizz nicht startklar. Ich werde nervös.
»Drei, zwei, eins, wir sind live auf Sendung! Kamera eins, Schwenk Kamera vier, drei zoomen!« Der Lautstärkepegel explodiert, alle rufen durcheinander Anweisungen in ihre Mikros oder geben Rückmeldungen. Nichts darf schiefgehen. Jeder Fehler kommt unmittelbar bei den Zuschauern an. »Einspieler ab, Kamera zwei beide Moderatoren!« Simone reiht ein Kommando an das andere. Jeder Griff muss sitzen. Ich habe weder eine Aufgabe, geschweige denn Verantwortung, aber nach sechzig Minuten bin ich völlig fertig. »Man gewöhnt sich an alles«, beruhigt mich Toni, die im Ü-Wagen neben mir sitzt. »Aber etwas Aufregung gehört auch immer dazu.«
Nach einem weiteren Tag im Büro ziehe ich die Tür des TV-Plus-Gebäudes hinter mir zu. Mein zweites Praktikum ist beendet, und ich bekomme eine Ahnung von dem, was in den nächsten Monaten auf mich zukommt. Gerade habe ich mich einigermaßen eingelebt, schon muss ich wieder los. Meine Gefühle schwanken zwischen Begeisterung und Wehmut. Ob bereits einer der Jobs aus dieser Woche mein Traumjob sein könnte? Jeden Tag einen anderen Beruf kennenzulernen war toll, um Fernsehen zu verstehen. Aber was es bedeutet, in einem dieser Berufe zu arbeiten, kann ich nicht sagen. Um Cutter oder Autorin zu werden, fehlt mir die Geduld. Und ob meine Nerven es durchhalten würden, in die Regie zu gehen, weiß ich auch nicht. Zumindest nicht bei einer Live-Sendung. Am ehesten könnte ich mir einen Job in einer Redaktion vorstellen. Was die tägliche Arbeit eines Redakteurs ausmacht, sollte ich mir noch einmal an anderer Stelle anschauen. Ein Tag bei TV Plus war auf jeden Fall zu kurz.
Tipp: Ein Tag ist wirklich sehr knapp, um einen Beruf kennenzulernen. Deswegen sollte man mindestens eine Woche einplanen, um sich ein Bild zu machen. Dabei ist es hilfreich, jemanden zu begleiten, der einen offen an seinem Alltag teilhaben lässt. Dazu hat sich in meinem Projekt bewährt, nach Menschen mit Leidenschaft für ihren Beruf zu suchen. Sie geben in der Regel gern weiter, was ihren Beruf für sie ausmacht. Trotzdem kann eine Woche fast immer nur einen Bruchteil der Arbeit zeigen, deswegen sind Fragen unverzichtbar. Die meisten Dinge über die Jobs habe ich in den Gesprächen erfahren.
Nach der Stadt der schnellen Radfahrer jetzt also die Stadt der schönen Menschen und jungen Familien, denke ich, als ich mit Reiseleiter Dr. Andreas Klute über den Münsteraner Marktplatz schlendere. Die Menschen scheinen entweder vom Segelboot oder aus dem Jura-Hörsaal zu kommen. Sie tragen rot, blau, weiß, Segelschuhe, karierte Blusen und Hemden. Viele von ihnen schieben einen Kinderwagen oder halten Kleinkinder an der Hand. 2004 wurde Münster zur lebenswertesten Stadt der Welt bis 750.000 Einwohner gewählt. Und weil sie das auch wirklich sei, wolle niemand wieder weg, erklärt mir Andreas, während die Gäste unserer Samstagstour die Münsteraner Filialen gängiger Geschäfte auf eigene Faust erkunden. »Viele Studenten bleiben nach Studienabschluss einfach hier, auch wenn der Arbeitsmarkt überschwemmt ist. Deswegen hat Münster unglaublich viele Anwälte, Ärzte und Lehrer«, ergänzt er, bevor er uns zwei Cappuccini an Wolles Marktstand bestellt.
Mit einem meiner ehemaligen Arbeitskollegen war Andreas zur Bundeswehr gegangen, bevor er erst in die Brauerei seiner Eltern einstieg und sich schließlich als Reiseleiter selbstständig machte. »Als Reiseleiter musst du gut organisieren können. Oft ändern sich die Pläne kurzfristig. Du musst darauf reagieren, um deine Gäste zufriedenzustellen«, erzählte Andreas mir bei einem ersten Briefing am Abend zuvor. Er war gerade von einer Fahrradtour mit etwas älteren Kunden zurückgekommen. Eine Frau war gleich zu Beginn mit dem geliehenen Elektro-Fahrrad umgefallen. Sie hatte sich zwar nicht verletzt, dafür aber so erschrocken, dass sie die Tour sowie die für den nachfolgenden Tag geplante Tour absagte. Nach dem Motto »Keiner bleibt zurück« entschied sich die ganze Gruppe dagegen, noch einmal auf das Fahrrad zu steigen. Was für Andreas wiederum bedeutete, ein Ersatzprogramm für den nächsten Tag auf die Beine zu stellen.
Und während dieses Ersatzprogrammes stehen wir also bei Wolle, trinken Cappuccino und beobachten das Treiben von Münsters Who’s who. Mit einem Blick auf die Uhr deutet Andreas an, dass wir uns auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machen müssen. Pünktlich geht es mit der neun Mann starken Reisegruppe vorbei am Wilsberg Antiquariat hin zur Lambertikirche. Zwischendurch hält Andreas an und erzählt Anekdoten aus der Geschichte der Stadt. Immer wieder wird er dabei von einem der Herren unterbrochen, der aus eigener Sicht über alles besser Bescheid weiß. »Einen Vorlauten hast du in jeder Gruppe dabei«, raunt mir Andreas beim Weitergehen ins Ohr. »Auf die musst du gut aufpassen, sonst machen sie dir unter Umständen noch die ganze Führung kaputt. Am besten bremst du die gleich am Anfang aus.« Mit Blick auf den vorlauten Siebzigjährigen muss ich lachen. Wahrscheinlich wusste er bereits in der Schule alles besser als seine Lehrer.